Theater der Zeit 03/2019

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Thema: Italien in der Krise / Neustarts in Detmold und Stendal / Am Sozialäquator: Das Schauspiel Essen / Thomas Oberender über die Weltpremiere des DAU-Projekts in Paris / Künstlerinsert Hamster Damm

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

März 2019 • Heft Nr. 3

Work, Bitch

Die Regisseurin Pınar Karabulut


“Comrades, I Am Not Ashamed of My Communist Past”* Erinnerungspolitik – 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer 11.–17.3. / HAU1, HAU2, HAU3 Mit: andcompany&Co., Club Real & Elie Gregory, Nicoleta Esinencu / Teatru Spălătorie, Maximilian Feldmann, Annett Gröschner, Houseclub, Florian Keller, KGI, Karsten Krampitz, Klaus Lederer, Luise Meier, Sanja Mitrović, Carola S. Rudnick, She She Pop u.a. * Zitat aus dem Film “WR: Mysterien des Organismus” von Dušan Makavejev / Titel der Produktion “Drugovi, ja se ni sada ne stidim svoje komunističke prošlosti / Comrades, I Am Not Ashamed of My Communist Past” von Sanja Mitrović.

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Gefördert im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.


editorial

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N

icht nur bei der Berufung neuer Intendanzen und nicht nur wegen wiederholter personeller Fehlentscheidungen wie zuletzt beim Schauspiel Köln läuft die Debatte über Leitungsstrukturen an Theatern fortgesetzt auf Hochtouren: Forderungen nach mehr Transparenz seitens der kulturpolitischen Entscheidungsträger, nach kuratierten Findungskommissionen und der Offenlegung von ­Kriterien werden laut, gekoppelt an die Empfehlung von Doppelspitzen, Leitungskollektiven, Frauenpower und so weiter. In der Kritik steht das Theater als patriarchales, autoritäres, weißes und hierarchisches System. Dass mit dem DAU-Projekt, welches nach der gescheiterten Realisierung in Berlin seine Welt­ premiere jetzt in Paris erlebte, mit dem russischen Regisseur Ilya Khrzhanovsky gerade ein autoritär agierender Künstler und ein Kunstwerk mit autoritären Strukturen so viel Aufmerksamkeit für sich generieren konnten, zeigt, wie wenig geklärt die Frage ist, unter welchen Bedingungen Kunst, also auch Theater, entsteht. Unter demokratischen? Thomas Oberender, Intendant der Berliner Fest­ spiele, war in Paris und erfuhr Khrzhanovskys Produktionswelt, Arbeit und Präsentation als ein Kunstwerk neuen Typs, das er als ein Purgatorium versteht: „Es will eine dunkle Läuterungserfahrung mit den Mitteln der Kunst sein – ein seltsames Menschenverwandlungsexperiment, das die Grenzen zwischen Leben und Werk, Produzieren und Konsumieren auflöst.“ Die Kritik an autoritären Strukturen greift aber nicht nur die Institutionen, sondern auch die „Institution“ Regietheater an, bei der sich in der Person des Regisseurs enorm viel Macht vereint. Das thematisiert der neue Schauspielchef am Landestheater Detmold Jan Steinbach gleich in einer seiner ersten Inszenierungen, in Shakespeares „Der Sturm“, in der ein Prospero als selbstherrlicher Theaterchef über eine Bühnen-Insel herrscht und gnadenlos am Ensemble scheitert. Mit Detmold und dem Theater der Altmark in Stendal, an dem Wolf E. Rahlfs als neuer Intendant angetreten ist, stellen Jens Fischer und Gunnar Decker den Neustart zweier Landesbühnen und ihrer federführenden ­Regisseure vor. Eine junge Regisseurin wie Pınar Karabulut profitiert nicht nur von den schon spürbaren Veränderungen, die der Kampf für Gleichberechtigung der Geschlechter an den deutschen Bühnen erzielt hat: Sie hat sich diesen Kampf auch auf die Fahnen geschrieben. Da ist sie ganz Kind ihrer ­Generation, schreibt Martin Krumbholz in seinem Porträt – und zeigt, wie sich diese neue female power in ihren Inszenierungen niederschlägt. Mit einem Szenenwechsel nach Italien beschleicht einen dennoch der Gedanke, dass die deutschen Probleme nahezu Luxusprobleme sind. „Gegenwärtig ist das italienische Theater im Vergleich zum deutschen auf Dritte-Welt-Niveau“ – so beschreibt Antonio Latella, Regisseur und Intendant der Theaterbiennale in Venedig, die finanziell prekären Arbeitsbedingungen an italienischen Bühnen, die mit dem neuen Haushaltsgesetz weitere Kürzungen zu erwarten haben. In unserem Länderschwerpunkt stellt Peter Kammerer mit dem Teatro delle Albe und dem Teatro Elfo Puccini zwei ­Ensembles und deren Künstler vor, die unter diesen Bedingungen seit Jahrzehnten ihre individuellen ästhetischen und institutionellen Strategien verfolgen und sich in ihren Arbeiten mit den Problematiken der Gegenwart kurzschließen. So berichtet es auch Renate Klett über die neue Produktion des Teatro delle Albe. Dass es mit Latellas eigener Kompanie stabilemobile oder der Performergruppe Anagoor, deren Produktion „Orestea“ Friederike Felbeck im Mülheimer Theater an der Ruhr gesehen hat, auch immer wieder Neugründungen gibt, lässt hoffen. Den Auftakt unseres Heftes bildet vielleicht auch deshalb Gunnar Deckers Porträt eines so ­eigenwilligen Performers, Puppenspielers, Bühnenbildners, Installationskünstlers, Zeichners ... wie Joachim Hamster Damm, der sich jenseits aller Institutionen und im Zusammenspiel seiner Begabungen einen eigenen Kosmos geschaffen hat. Wir haben versucht, ihn in unserem Künstlerinsert abzubilden. // Die Redaktion

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Inhalt März 2019 thema: italien

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Altruismus oder Kampf Wie begegnet Italiens Kulturszene dem budgetären Raubbau, fragt der Intendant der Theaterbiennale in Venedig Antonio Latella

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Auf der Bühne steht der Mensch Ermanna Montanari und Marco Martinelli schließen mit ihrem Teatro delle Albe die ursprünglichen Energien des Theaters mit den sozialen Problematiken der Gegenwart kurz. Wie, erzählen sie im Gespräch mit Peter Kammerer

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Renate Klett Ich klage an! „fedeli d’Amore“ vom Teatro delle Albe ist ein J’accuse großer Dimension und kulminiert in einem rasenden Rundumschlag gegen Mafia und Politik

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Peter Kammerer Immer im Prozess Das Teatro Elfo Puccini in Mailand schafft seit Jahrzehnten mit Ensemblegeist und langem Atem große Inszenierungszyklen und pflegt seinen Hausgeist Shakespeare

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Friederike Felbeck Lawine der Rache Starke Bilder und Gegenwartsbezüge – die „Orestea“ der italienischen Künstlergruppe Anagoor am Theater an der Ruhr in Mülheim

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künstlerinsert

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Fluchtkunst von Hamster Damm

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Gunnar Decker Fluchträume träumen Puppenstuben, aus denen niemand entkommt – die Fluchtkunst des Bühnenbildners, Puppenspielers und Künstlers Joachim Hamster Damm

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Martin Krumbholz Vom Hirn übers Herz in den Körper Die Regisseurin Pınar Karabulut begegnet Theaterstoffen mit weiblichem Selbstbewusstsein und prinzipiellem Optimismus

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Thomas Oberender Das Werk als Passage Über die Pariser Weltpremiere des Projekts DAU von Ilya Khrzhanovsky

kolumne

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Ralph Hammerthaler Der wilde Hans von Kosovo Was mein Künstlermonolog in Prishtina unvermutet über albanische Künstler verrät

protagonisten

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Gunnar Decker Ein amerikanischer Traum Wolf E. Rahlfs, neuer Intendant des Theaters der Altmark in Stendal, startet mit Tempo – und fokussiert die Träume und Albträume in Zeiten unheilvoller Ideologisierung

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Jan Fischer Keine Anbiederung, nirgends Unter neuer Intendanz zeigt sich am Landestheater Detmold auch der neue Schauspielchef Jan Steinbach ambitioniert

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Sascha Westphal Essener Verhältnisse Unter der Intendanz von Christian Tombeil stellt das Schauspiel Essen mit partizipativen Projekten und politischen Stoffen den Bildungsauftrag in das Zentrum seiner Arbeit

protagonisten

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inhalt

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look out

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Martin Krumbholz Ich denke anders, also bin ich Der Regisseur Evgeny Titov befragt Sinn und Unsinn des menschlichen Daseins mit den Mitteln der Metaphysik

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Chris Weinhold Moderne Zeiten Das Theaterkollektiv WuK bereichert die freie Szene in Halle mit klugen Inszenierungen über die Katastrophen unserer Welt

auftritt

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Augsburg „Europe Central“ (UA) nach dem Roman von William T. Vollmann in der Regie von Nicole Schneiderbauer (Christoph Leibold) Aarau „Alles wahr – Ein Stück Verschwörungstheorie“ (UA) von Daniel Di Falco in der Regie von Olivier Keller (Elisabeth Feller) Bamberg „Leere Herzen“ (UA) von Juli Zeh in der Regie von Daniela Kranz (Sabine Leucht) Kassel „Intervention“ (UA) von Rebekka Kricheldorf in der Regie von Schirin Khodadadian (Joachim F. Tornau) München „Amsterdam“ (DSE) von Maya Arad Yasur in der Regie von Sapir Heller (Christoph Leibold) Oberhausen „Salome“ von Oscar Wilde in der Regie von Stef Lernous (Lisa Kerlin) Rostock „Grete Minde“ (UA) nach Theodor Fontane in der Regie von Kay Wuschek (Gunnar Decker) Zürich „Das Leben des Vernon Subutex“ (UA) von Virginie Despentes in der Regie von Peter Kastenmüller (Dorte Lena Eilers)

stück labor

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Kleinfamilie in der Medienhölle Joël László über sein Stück „Die Verschwörerin“ im Gespräch mit Elisabeth Maier

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Die Verschwörerin von Joël László

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Die einzige Verbindung nach draußen Anna Papst über ihr Stück „Freigänger“ im Gespräch mit Elisabeth Maier

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Freigänger. Eine Reportage fürs Theater von Anna Papst

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Der Kalte Krieg in meinem Körper Marina Skalova über ihr Stück „Der Sturz der Kometen und der Kosmonauten“ im Gespräch mit Elisabeth Maier

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Der Sturz der Kometen und der Kosmonauten von Marina Skalova

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Wunderdinge 2.0 Das Laborfestival „Challenge my fantasy – more“ am Theater an der Parkaue Berlin erkundet virtuelle Theaterformen Gebärden einer Sprache der Liebe Das inklusive Theaterprojekt Possible World in Berlin arbeitet seit zehn Jahren mit gehörlosen und hörenden Darstellern und entwickelt daraus eine eigenwillig unmittelbare Bühnensprache Geschichten vom Herrn H. Alle Räder stehen still Die raue Diva Zum Tod der Schauspielerin und Regisseurin Ursula Karusseit Bücher Heinrich Breloer, Bertolt Brecht und Corinne Orlowski

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magazin 98

aktuell

was macht das theater?

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Meldungen

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Premieren im März 2019

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TdZ on Tour in Erlangen

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Sabine Westermaier und Dorothea Lautenschläger im Gespräch mit Jakob Hayner

Titelfoto: Pınar Karabulut. Foto Ben Wolf (Mit Dank an das Maritim Hotel Bremen.)

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Arbeiten von Hamster Damm: (Im Hintergrund) Fluchtkunsttournee „Kursbuch“ in Schweden, 2001. (Rechts oben) Die Mobile Sauna des Fluchtkunst-Projekts bei der Breminale 2016. Zuvor stand sie unter anderem (rechts unten) 2008 beim Kiosk Festival in Bremen und (links unten) 2005 am Loes Theater Maastricht. Fotos Hamster Damm



Arbeiten von Hamster Damm: (Im Hintergrund) Bühne und Kostüm zu „Effi“ nach Theodor Fontane, eine Inszenierung von Kay Wuschek, 2018 am Theater an der Parkaue in Berlin. Foto Christian Brachwitz. (Rechts oben) Hamster Damm mit seinem Bruder bei einer Probe zum „Glücklichen Ritter von Trinitat“ von Franz Fühmann, 1977. Foto Eckart Damm. (Oben) „Das Wassertheater“ im Feuerlöschteich der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, 1990. Foto Hamster Damm. (Links oben) „Johnny zieht in den Krieg“ nach dem Film von Dalton Trumbo, in der Regie, ausgestattet und gespielt von Hamster Damm, 2018 in der Schaubude Berlin. Foto Jonas Thiemann. (Links unten) Eintrittskarte zu „König Ubu“ von Alfred Jarry, 1983 an der Erweiterten Oberschule in Güstrow. Foto Hamster Damm. Bühne und Kostüm zu „Sein oder Nichtsein“ nach dem Film von Ernst Lubitsch, inszeniert von Steffi Kühnert, 2018 am Staatstheater Schwerin. Foto Silke Winkler


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Fluchträume träumen Puppenstuben, aus denen niemand entkommt – die Fluchtkunst des Bühnenbildners, Puppenspielers und Künstlers Joachim Hamster Damm von Gunnar Decker

I

mmer gibt es einen Grundimpuls, der jemanden dazu treibt, etwas aus sich heraus zu schaffen. Bei Joachim Hamster Damm scheint dies die Flucht zu sein. Weg aus der schnöden, hässlichen und gemeinen Wirklichkeit? Ja, aber nur, um sich mit Wucht hin-

einzuwerfen in eine imaginierte Gegenwelt, die noch schnöder, noch hässlicher und noch gemeiner als die vorfindliche ist! Hamster Damm baut sich eine Welt aus Puppen, mit denen spielt er dann ein böses Spiel, und er entwirft Bühnen, auch für ­andere, die sehen aus, wie vom Tim-Burton-Virus infiziert. Idyllen, denen man nicht trauen sollte, Puppenstuben, aus denen niemand entkommt: Himmel und Hölle zugleich. Bei Fontanes „Grete Minde“, Anfang dieses Jahres von Kay Wuschek am Volkstheater Rostock inszeniert, platzierte Hamster Damm zwei großformatige BreughelBilder an den Seitenwänden einer possierlichen Kleinwelt, in der die Passionsgeschichte einer jungen Frau erzählt wurde. Auf der einen Seite die Hölle, direkt gegenüber der Himmel. Manchmal fliegen ganze Heerscharen von selbst gezeichneten hageren Engeln vorbei, eine ferne Erinnerung an Schutz und Geborgenheit, die Hamster Damm per Video auf die Häuserdächer projiziert. Aber wo ist der Unterschied zwischen Himmel und Hölle? Von Dämonen bevölkert scheinen sie beide – und wer glaubt, der Hölle glücklich entkommen zu sein und vom Himmel gerettet zu werden, der täuscht sich sowieso. Darum geht es bei Hamster Damm: Die Flucht hört nie auf, findet kein Ende, ein rettendes ohnehin nicht. Darum ist Hamster Damm ein notorischer Fluchtweg­ sucher. Seine Arbeit „Johnny zieht in den Krieg“ von Dalton Trumbo, ein Kammerspiel für 13 Puppen und einen Spieler, hat er im Herbst 2018 selbst inszeniert, ausgestattet und als Spieler umgesetzt, allein mit den Puppen inmitten einer surrealen Albtraum­ szenerie. All das unter dem Logo „Fluchtkunst“. Und gab es da nicht auch einmal das „Fluchtlandfahrzeug“? Eine Art fahrbarer Truck mit Sauna, Live-Musik und Performance, mit dem er durchs Land fuhr, zu Festivals und Weihnachtsmärkten? Der Subkulturtraum aus der DDR-Nische lebte noch eine Zeit lang in damit fraternisierenden Milieus weiter: Man macht sich seine Party ­ grundsätzlich selbst und nimmt sich alle Freiheiten dazu? Den Traum hat er vor drei Jahren als unzeitgemäß geworden b ­ egraben müssen. Nackte auf dem Weihnachtsmarkt, die aus der mobilen Sauna entsteigen und sich ums Lagerfeuer gruppieren? Das ­Unverständnis der Unbeteiligten wuchs, es gab Beschwerden und Anzeigen. Die Gesellschaft definiert Freiheit heute offenbar anders, nicht mehr lustvoll – man driftet ab ins Puritanische. Sich Hamster Damm zu nennen, wenn man eigentlich ­Joachim heißt, das konnte nur ein Pubertätseinfall der späten achtziger Jahre in der DDR sein, und auch das nur von jemandem, der in Alfred-Jarry-Welten lebte, der das Spiel auf engstem privatem Raum ständig über die Grenze des anerkannt Üblichen trieb. Wenn man schon nicht nach Amsterdam kommt, dann wenigstens Hamster Damm sein! Das Erstaunliche dabei: Er blieb, obwohl fast Mitte fünfzig, bis heute Hamster Damm, das Kind, für das das Puppenspiel eine Form von Flucht gewesen ist, bei der er sich mit sich selbst unterhalten konnte. Gerade hat er ein Buch im Rostocker Hinstorff ­Verlag herausgebracht, das seinen Briefwechsel mit dem Schriftsteller Franz Fühmann enthält. Als er ihn begann, war er neun Jahre alt. Er endete mit Fühmanns Tod 1984. Und worum ging es

Solo mit Puppen – Joachim Hamster Damm in „Psychogramme einer Revolution“ (1989). Foto Jörg Metzner


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bei diesem ersten Briefwechsel, den der bedeutende Autor mit dem Kind (ganz im Stile Goethes) führte? Darum, dass das Kind ihn beauftragte, ein Puppenspiel zu schreiben! Ein Jahr später erhält Joachim per Post einen dicken Briefumschlag, Absender Franz Fühmann. Darin das Stück „Der glückliche Ritter von Trinitat oder Wie wird man Oberdiskutierer“. Ein Brief beiliegend, in dem Fühmann den Neunjährigen wie einen erwachsenen Partner über prozentuale Beteiligung an den Einnahmen, über Lizenzrechte und Steuern instruiert. „So besaß ich nicht nur ein für mich geschriebenes Stück, sondern sogar die ­alleinigen Rechte daran.“ Fühmann kommt im Winter 1977 sogar zur Premiere im kleinen Familien- und Freundeskreis. Er ist auf der Flucht vor einer unerträglich gewordenen DDR-Wirklichkeit, das Klima war nach der Biermann-Ausbürgerung eisig geworden. Die Mutter, die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Damm, kündigt ihre Stellung im Kulturministerium und wird freischaffende Schriftstellerin. Aber worüber schreiben? Sie beginnt ein Buch über Kinderbuchautoren. Eine schicksalhafte Entscheidung, denn so ­begegnet sie Alfred Wellm, der mit „Pause für Wanzka oder Die Reise nach Descansar“ in den sechziger Jahren einen unerhörten Roman über das Bildungswesen der DDR schrieb, in dem einseitig begabte Außenseiter ebenso wenig eine Chance haben wie idealis­ tische Lehrer. Bildungsministerin Margot Honecker wollte das ­Erscheinen des Buches mit allen Mitteln verhindern, Staatschef Walter Ulbricht persönlich – die Honeckers, fand er, hatten einen Denkzettel verdient – gab die Druckerlaubnis. Der großartige Alfred Wellm, der feinsinnige, der subtile Stilist, vor dem man auch heute noch, nach dem Lesen einiger Zeilen, sofort in Demut niederkniet! Genau diese Wirkung übte er auch auf Sigrid Damm aus. Sie verliebte sich heillos, trennte sich von ihrem Mann und einem der Söhne und zog mit Hamster Damm, der nicht wusste, was ihm geschah, 1979 aufs Land nach Lohmen bei Güstrow zu Alfred Wellm. Da beginnt dann so etwas wie die Geschichte von „Fanny und Alexander“ aus Ingmar Bergmans Film. Denn privat war Wellm ein Patriarch, ein Tyrann, noch dazu ein notorischer Erzieher von Frau und Stiefsohn. Vorbei die freigeistigen Zeiten. Im Haus musste absolute Stille herrschen, denn Wellm arbeitete immer. Sigrid Damm stand nachts heimlich auf, um zu schreiben – ungestört von ihrem dominanten Mann, der nichts gelten ließ. Hamster Damm fühlte sich bald wie in einem Horrorfilm und sann nur noch auf Flucht. Fühmann sah dem Drama ratlos zu, es kam wohl auch zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Wellm in der Akademie der Künste. Fotos zeigen die versteinerten Mienen der beiden Männer. Dabei schrieb Wellm damals ein Buch, das nicht nur für mich das stärkste Stück Literatur der späten DDR ist: „Morisco“, ein schonungsloses Selbstporträt, die Chronik einer Identitätsvernichtung, die im Inferno endet. Da finden sich auch beklemmende Passagen über den Jungen, der ihn hasst und sagt, er werde einmal einen töten – und sich dann einschließt, um weiter an seinen schrecklichen Puppen zu bauen. Hamster Damms erste Inszenierung, Alfred Jarrys „König Ubu“, fand 1983 an der Erweiterten Oberschule in Güstrow statt, mit dreißig selbstgebauten Puppen. Die Reclam-Ausgabe hatte ihm Fühmann geschenkt. 1986 begann Hamster Damm an der Kunsthochschule BerlinWeißensee Bühnenbild zu studieren, wurde Meisterschüler bei

joachim hamster damm

Volker Pfüller. Der hatte einige Jahre zuvor die Bühne zu Alexander Langs ­legendärer Inszenierung von Büchners „Dantons Tod“ am Deutschen Theater Berlin gebaut – eine Art Guckkasten, in dem die Revolutionäre wie ferngelenkte Puppen auftraten. Da schloss sich für Hamster Damm ein Kreis: Puppenspiel und Bühnenbild, das galt es fortan – immer unter surrealistischem Vorzeichen – zusammenzudenken. Sofort begann er einen Soloabend für Puppen aus „Dantons Tod“ zu entwickeln, mit dem er heute noch auftritt. Für den Fühmann-Briefwechsel zeichnete Hamster Damm auch eine Art Comic, das seine Freude daran, Realitäten fantastisch zu überformen, in aller Opulenz zeigt: Franz Fühmann, der 1984 starb, 1989 bei der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz auf der Rednertribüne stehend – und unter den Demons­tranten erkennt man Hamster Damm, das legendäre Wendeherbst-Plakat mit dem gerade gewählten neuen Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz als Rotkäppchens böser Wolf darauf emporhaltend. „Großmutter, warum hast du so große Zähne?“ schrieb Geschichte. Dieses Plakat habe er in der Nacht zuvor gezeichnet, sagt Hamster Damm. Anfang der neunziger Jahre traf er Uwe Dag Berlin, arbeitete in Bochum mit ihm, verliebte sich nebenbei in Steffi Kühnert, die bevorzugte Hauptdarstellerin des Intendanten Leander Haußmann, pendelte zwischen Bühnenbild und Puppenspiel, zwischen Ausdrucksformen der klaustrophobischen Enge und der Flucht ins imaginierte Weite. So auch jetzt, in seiner neuen Arbeit für Arthur Millers ­„Hexenjagd“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, zusammen mit Regisseur Martin Nimz. Mit Lubitschs „Sein oder Nichtsein“ hatte er dort im vergangenen Jahr, zusammen mit ­seiner Frau Steffi Kühnert, die Regie führte, für Furore gesorgt. Absurde Verhältnisse betreffend, Theater auf dem Theater – inmit­ten einer mörderischen Geschichte. Aber ebenso das Motiv in die Gegenwart hinüberspielend, so, wenn wir uns über­raschend dem Portal der Berliner Volksbühne gegenübersehen. Bei einem Konzert während des Musiksommers Mecklenburg-Vorpommern in der Festspielscheune von Ulrichshusen kam er auf die Idee für die Bühne von „Hexenjagd“ – ein Stück über den Rufmord, der sich hysterisch bis zum bitteren Ende steigert: dem Triumph der suggestiven Lüge über die komplizierte Wahrheit! Ein Scheunendach, auf rohen Stämmen lastend, das hoch- und runterfährt, ständig den Raum verändert. So lässt sich Angst erzeugen, die an einen dunklen Wald oder eine mediale Kampagne denken lässt. Beides gleich bedrohlich für einen Flüchtenden. // Hamster Damm, geboren 1965 als Joachim Damm in Saalfeld, widmete sich nach einem Bühnenbildstudium früh dem Figurentheater. Seit 1988 entstanden so Soloperformances mit Puppen wie „Dantons Tod“, mit dem er heute noch tourt. 1995 wandte er sich dem Maschinentheater zu. Sein installatives „Wassertheater“ präsentierte er 1999 auf dem Festival Theater der Welt in Berlin. Als Bühnenbildner arbeitete er u. a. mit den Regisseuren Leander Haußmann, Uwe Dag Berlin und zuletzt Steffi Kühnert zusammen. Aus seinem Projekt „Fluchtkunst“, mit dem er 2003–2008 durch Deutschland tourte, entwickelte er Projekte mit Schülergruppen zum Figurentheater. Das Theaterstück „Hexenjagd“, für das Hamster Damm die Bühne entwarf, feiert am 1. März am Mecklenburgischen Staatstheater Premiere.

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„Italienische Verhältnisse“ feiert und fürchtet der Deutsche abwechselnd. Letzteres zunehmend mit Blick auf eine deutsche Parteienlandschaft ohne solide Regierungsmehrheiten. Wie sieht es aber in der italienischen Theaterszene aus, deren Arbeitsbedingungen immer prekärer werden? Wir haben Antonio Lattella, den ­ ­Intendanten der Theaterbiennale in Venedig, gefragt, stellen mit dem Teatro delle Albe, dem Teatro Elfo Puccini sowie der Performergruppe Anagoor von Künstlern gegründete Ensembles und ihre Arbeiten vor.


italien

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Altruismus oder Kampf Wie begegnet Italiens Kulturszene dem budgetären Raubbau, fragt der Intendant der Theaterbiennale in Venedig Antonio Latella

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m Jahr 2018 versprach Italiens neuer Kulturminister Alberto ­ onisoli von der Fünf-Sterne-Bewegung mehr Geld: für Musik, die B ­Theater und a­ ndere Kulturbereiche. Doch das Gegenteil ist der Fall. Das Haushaltsgesetz für 2019 sieht weitere Kürzungen des Kulturetats vor, der sich von der r­ adikalen Halbierung durch die Regierung Berlusconi 2008 nie e­ rholt hat. Die Arbeit vieler Theater, Museen, Orchester und Kultur­einrichtungen ist bedroht. Italiens Kulturszene hat noch keine Antwort darauf gefunden, auch keine politische. Ich mache Theater, seit ich 17 bin. Heute bin ich 52, habe viele Regierungen kommen und gehen sehen, viele Versprechen gehört, sogar engagierte Kulturminister erlebt – und doch haben sich die Zustände nicht verbessert. Im Gegenteil, in mancher Hinsicht sind sie schlechter geworden. Heute frage ich mich: Warum? Wer trägt dafür die Verantwortung? Meine einzige Antwort ist, dass die italienischen Theater­ macher nie wirklich für ihre „künstlerische“ Freiheit gekämpft haben, nicht für ihre Arbeitnehmerrechte, nicht für die Anerkennung ihrer Kunst als Arbeit, die oft als voluntaristischer Zeitvertreib verstanden wird. Junge Theaterschauspieler in Italien müssen heute viele Jobs jenseits der Bühne suchen, um über die Runden zu kommen. Gegen Ende der achtziger Jahre bekam ich als Schauspieler den gewerkschaftlichen Mindestlohn in Höhe von 54 000 Lire, während einige Schauspieler in meinem Ensemble eine Million am Tag bekamen. Beachtliche Summen, die zeigten, dass das Theater nicht arm war. Eine wahre Verschwendung, die unsere Väter mitfinanzierten, besonders an den institutionellen Bühnen und im Unterschied zu den schon immer stiefmütterlich behandelten experimentelleren Theatern. Was haben wir gegen diese wirtschaftlichen Ungleichheiten unternommen? Wir hatten so wenig, dass wir aus Angst, auch noch das zu verlieren, nicht gekämpft haben. Haben wir vielleicht Einschnitte, verheerende Kürzungen legitimiert, weil wir zeigten, dass wir auch im Elend noch zurechtkommen? Ein oft gehörtes Motto war: „Es wird sowieso weiter Theater gemacht, auch mit wenig Geld.“ Wir haben es zugelassen. Gegenwärtig ist das ­italienische Theater im Vergleich zum deutschen auf Dritte-Welt-

„Ich sterbe in einem Shakespeare-Drama, aber nicht an Hunger für den italienischen Staat.“ – Kulturschaffende aus allen künstlerischen Bereichen demonstrieren 2018 in Rom erstmals gemeinsam gegen die italienische Sparpolitik. Foto dpa

Niveau. Ein italienischer Schauspieler kann sich glücklich schätzen, wenn er drei oder vier Monate arbeiten kann. Warum ist es so gekommen? Vielleicht weil ihr Deutschen zuerst für die Würde der Arbeit und dann erst für die der Kunst gekämpft habt? Ich stelle das nur als Frage in den Raum. Angesichts der italienischen Widrigkeiten bin ich froh, trotzdem auf talentierte junge Künstler zu stoßen. Leider werden sie finanziell nicht gefördert, weshalb ich mich als Intendant der Thea­terbiennale, mit Unterstützung von Biennale-Präsident ­Paolo Baratta, gerade für sie einsetze. Jedes Jahr fördern wir die Produktion eines Regisseurs unter dreißig Jahren mit 110 000 Euro. Das ist für einen italienischen Regisseur eine stattliche Summe. Auch junge italienische Autoren finden oft keinen Ort, an dem sie sich Gehör verschaffen können. Um auch sie zu unterstützen, haben wir unsere Ausschreibung so erweitert, dass neben Regisseuren auch junge Autoren 2020 ins Festivalprogramm aufgenommen werden können. Wir kämpfen. Nicht für uns, sondern für die nach uns. Besonderen Wert legen wir auf Ausbildung und die Begleitung der Künstler in ihren Arbeitsprozessen – und auf ­ ­Altruismus. Das italienische Theaterpublikum ist meines Erachtens bereit, sich aufrütteln zu lassen, um neue Ausdrucksformen zu erleben. Leider trifft dies wohl nicht auf die Künstlerischen Leiter der Theater zu, die zu sehr wirtschaftliche Aspekte geltend machen – mit der Folge, dass sie häufig sehr konventionelle Programme ­gestalten und der Geburt eines neuen Publikums keine Chance geben. Manchmal müsste man den Mut haben, Zuschauer zu ­ ­verlieren, um ein neues Publikum heranzuziehen – den Mut zur Unbequemlichkeit. In Italien Theater zu machen ist also von vornherein politischer Kampf, weil wir in der Ungewissheit versuchen, unsere Stimme zu Gehör zu bringen. Meine kulturpolitische Entscheidung ist es, heute jungen Menschen zu helfen, gerade, weil ich Glück hatte: Meine Kompanie stabilemobile hat sich entschieden, ohne jegliche staatliche Unterstützung zu arbeiten, um der von den Gesetzen ­verlangten Kommerzialisierung des Theaters zu entgehen. Leider glaube ich nicht, dass Experimentieren und Qualität in naher Zukunft mehr Wertschätzung erfahren werden. Ich fürchte, dass nur die Zahlen zählen. Aus den Zahlen herauszukommen, ist jedoch wichtig, wenn man versuchen will, eine eigene Sprache zu finden. Aber Italien und seine Regierung haben noch nicht begriffen, dass Kultur auch ein „Wirtschaftszweig“ sein kann, dass sie Arbeitsplätze schafft. Sie bringt Konsum, wohingegen Unterhaltung etwas anderes ist. //

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Auf der Bühne steht der Mensch Ermanna Montanari und Marco Martinelli schließen mit ihrem Teatro delle Albe die ursprünglichen Energien des Theaters mit den sozialen Problematiken der Gegenwart kurz. Wie, erzählen sie im Gespräch mit Peter Kammerer

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rmanna Montanari, Marco Martinelli, Sie haben 1983 zu­ sammen mit Luigi Dadina und Marcella Nonni das Teatro delle Albe gegründet, dessen künstlerische Strategie sich seitdem aus der Verknüpfung von theatralischer Tradition, deren ursprüng­ licher Erzählfunktion, mit der Suche nach Neuem speist. Sie sind ein Paar. Was bedeutet es da, zusammenzuarbeiten? Ermanna Montanari: Wir können nicht anders. Es passiert. Das verbindet uns, das trennt uns, zerstört uns, ist unsere Freude. Eine Spirale. Es ist unsere Entscheidung, unser Schicksal, das wir verwirklichen.

Hatten Sie nie Lust, die Rollenverteilung, Sie Schauspielerin, Sie Regisseur, zu durchbrechen? Marco Martinelli: Seit vielen Jahren kündigen wir jede neue Arbeit von uns mit dem Begriff „ideazione“ an, „Grundidee“, denn am ­Anfang steht immer eine Gedankenverbindung, eine Alchemie, aus der Text, Bühnenbild, Regie und Rezitation hervorgehen. Wie beim Schachspiel betrifft jeder neue Zug uns beide, wird gemeinsam durchdacht. Dann setzen sich die Akzente. Ermanna beschäftigt sich mehr mit dem Bild, mit der Bühne, den Kostümen, während ich

Das Glück lebendiger Körper – in Montanaris und Martinellis Produktion „Eresia della felicita“ (2015) mit Mailänder Schülern. Foto Mario Spada


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mich mehr dem Schreiben und der Regie widme. Diese Verzweigungen erfolgen immer erst nach der gemeinsamen Grundidee. Montanari: Es ist so, als ob alles, was wir täglich tun, was wir lesen und was wir sehen, einen Stoff produziert, etwas ans Licht bringen würde. Das kann uns über Monate und Jahre beschäftigen, bis uns das, was wir wollen, als Theaterstück, als Buch oder Film deutlich vor Augen steht. Dann teilen wir uns die Arbeit. Marco besitzt die charismatische Fähigkeit, eine Gruppe zu bilden und zusammenzuhalten, hat eine Vorstellung von der Arbeit der Mitwirkenden. Mein Arbeitsprozess läuft anders. Die anfängliche Klarheit wird dunkel. Ich bewege mich im Nebel, falle in den Abgrund. Ich entferne mich. Auch von der Gruppe. Um meine Tätigkeit zu bezeichnen, verwende ich nie das Wort „Schauspielerin“. Denn das bin ich nicht. Ich könnte nie mit einem anderen Regisseur arbeiten, ich bin keine Interpretin, ich kann nicht die Vision eines anderen darstellen. Martinelli: Als wir anfingen, hatten wir immer Julian Beck und Judith Malina vor Augen. Alchemie als gemeinsamer Prozess zweier Schöpfer. Frau Montanari, Sie sind berühmt für Ihre Arbeit an und mit der Stimme. Montanari: Ich habe eine tiefe, fast männliche Stimme, die aus einem kleinen Körper kommt. Damit musste ich mich schon als Kind, nicht ohne eine gewisse Scham, auseinandersetzen. Diese Stimme ist da und geht in die Welt. Ich habe gelernt, ihr zuzu­ hören. Das hat mich befreit. Technisch gesehen, bin ich Auto­ didakt. Dann habe ich mit großen Lehrern gearbeitet, mit Grotowski, Thomas Richards, Luigi Ceccarelli, Marco Olivieri und anderen. Stimme ist Hören. Das haben mich die afrikanischen Schamanen gelehrt, das gehört aber auch zu unserer Antike. Das Sprechen mit verhülltem Gesicht. Pythagoras sprach zu seinen Schülern verborgen hinter einem Vorhang. Gibt es in Ihrer Arbeit von vier Jahrzehnten einen springenden Punkt? Martinelli: Die Entdeckung Afrikas, der Dialekte, der Chöre, die Freundschaft mit Mandiaye N’Diaye aus dem Senegal. Ravenna steht auf afrikanischem Boden. Man muss nur tief genug graben. Denn bei der Trennung der Kontinente ging zwischen Afrika und Europa ein Riss durch den Festlandsockel. Deren fortgesetzte Bewegung erklärt die häufigen Erdbeben in Italien. Geologisch gesehen steckt in der Tiefenschicht von Ravenna ein Splitter Afrika. Das könnte fast eine These aus der Pataphysik der Wissenschaft von Alfred Jarry sein, der zu den mythischen Gründerfiguren unseres Theaters gehört. Als wir 1989 erstmals aus Afrika nach ­Ravenna zurückkehrten, kam uns die Stadt wie ein Altersheim vor. Wir wollten gleich wieder abreisen. Dann haben wir das afrikanische und das antike Ravenna entdeckt, die unterirdischen Strömungen der Stadt. Die Stadtverwaltung gab uns das Teatro Rasi, ein Gebäudekomplex aus dem 13. Jahrhundert. Hier hat unser „Raumwerden“ begonnen, in der Erinnerung an gregorianische Choräle, Franz von Assisi und den Geruch von Ställen und Pferdemist. Ein Theater kann diese Glut der Vergangenheit neu entflammen. In Ravenna ist Dante begraben, und wir haben ein großes Danteprojekt, an dem wir seit Jahren arbeiten. Zum

italien

700. Todestag 2021 wollen wir die ganze „Divina Commedia“ aufführen. Montanari: Afrika hat uns nicht nur neue ästhetische Dimensionen erschlossen, sondern auch geholfen, die im Wirtschaftswunder untergegangene Landschaft der Romagna wiederzuentdecken,

Verbindungen zwischen Afrika und Europa – Die Open-Air-Auf­ führung von „The sky over Kibera“ (2018) mit Jugendlichen in Nairobi. Foto Andrea Signori

den Hunger, die Dialekte, die Anarchisten, die sich in Hass und Liebe verzehrenden alten Familien. Und Jarry war der Held unserer Theaterarbeit an den Schulen Ravennas und half uns mit seinen grotesken Spielen um Macht, Gewalt, Mord und Totschlag barbarische, jugendliche Energien zu entfesseln. Von diesen „Bodenschätzen“ lebt unser Theater. Sie arbeiten viel mit Jugendlichen. Nicht nur in Ravenna, sondern auch in Scampìa, dem Problemviertel Neapels, und in Nairobi. Martinelli: Wir arbeiten in Ravenna mit den Schulen zusammen und nennen diese Tätigkeit „Nicht-Schule“. Denn Theater und Schule sind sich fremd. Im Theater spielt und schwitzt man zusammen, wir entfesseln einen Spieltrieb, der in Europa weitgehend erloschen zu sein scheint, das Glück lebendiger Körper, die laufen, kämpfen, fallen, den Boden spüren, die Erde, die Sonne. In diesem Spiel erleben die alten Texte ihre Auferstehung. Wir bringen sie nicht auf die Bühne, sondern rufen sie ins Leben. In Neapel, im Viertel der Camorra, habe ich mit Hunderten von ­Jugendlichen fünf Jahre lang gearbeitet, mit Texten von Aristophanes, Molière und Jarry. Wer Neapel kennt, weiß, dass im dortigen Proletariat die Energie der Schauspiellegende Totò oder der S ­ tücke De Filippos immer noch unterirdisch pulsiert. Unsere Aufgabe war, an diese Adern heranzukommen. Matteo Garrone, der 2008 den Film „Gomorra“ gedreht hat, hat viele unserer Jugendlichen als Darsteller geholt. Im vergangenen Jahr haben wir in einer

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­ idonville von Nairobi mit 150 JuB gendlichen Szenen aus der „Gött­ lichen Komödie“ erarbeitet und ­gespielt. In jedem Kind steckt Dionysos. Das verbindet die Jugend­ lichen in Ravenna, Neapel und Nairobi. Mich interessiert mehr, was sie verbindet, als das, was sie trennt. In Neapel ist es uns gelungen, Schüler eines Gymnasiums aus den besseren Vierteln mit den Schülern aus Scampìa zusammenzubringen. Ohne die sozialen Unterschiede zu verwischen. So etwas kann das Theater. Auf der Bühne steht der Mensch mit seinem Elend und seinem Glück.

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klärungen, Worte. Aung San Suu Kyi handelt, sie macht das Mög­ liche. Kleinarbeit.

In welchem Verhältnis stehen bei Ihnen Film und Theater? Montanari: Unsere Vorstellungswelt lebt vom Kino, und das Theater sollte das nicht leugnen. Die Erfahrung mit diesem Film hat unser Theater, unsere Arbeitsweise ver­ ändert. Das Spiel von Nähe und ­Ferne, von Zeit und Raum, in den Genres benutzt unterschiedliche Sprachen, die man lernen muss und die wir zueinander in Beziehung setzen. Erstmals haben wir das 2012 in unserem Stück „PantaDiese Arbeit erfordert viel Zeit. Martinelli: Ja und nein. Je nach der ni“ versucht. Marco Pantani war ein populärer Radrennfahrer, der 1999 Offenheit, derer wir fähig sind, nach der Bereitschaft, vom anderen zu unter Dopingverdacht vom Giro Marco Martinelli, geboren 1956, war 1983 Co-Gründer d’Italia und der Tour de France auslernen. Manchmal ist man Jahre zudes Teatro delle Albe, wo er seither als Direktor und Drasammen, ohne dass etwas entsteht. geschlossen wurde. Trotz eines maturg tätig ist. Im gleichen Jahr gründeten er und seine In Nairobi war ich im letzten Jahr Comebacks verfiel er in DepressioFrau Ermanna Montanari die non-scuola, eine Theaterviermal; insgesamt nicht viel mehr nen, nahm Kokain und wurde 2004 Bildungsplattform für Jugendliche. 2017 legte er mit als ein Monat. So haben wir einen in einem Hotelzimmer in Rimini „Vita agli arresti di Aung San Suu Kyi“ sein Filmdebüt „pataphysischen“ Dante ins Leben tot aufgefunden. In der Inszenievor, mit Montanari in der Hauptrolle. Seine Texte und gerufen, einen Dante im Zeichen rung zeigen Filmaufnahmen seinen Projekte haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten, dadynamischen, wilden, wunderbaren von Jarry. runter fünfmal den italienischen Theaterpreis Ubu, und Montanari: Wir dokumentieren unKörper in Bewegung, während unwurden u. a. in Deutsch­land, Rumänien, Brasilien und sere Arbeit zudem auch in Büchern, sere Körper auf der Bühne im Geden USA aufgeführt. und wir machen Filme. 2017 haben gensatz dazu fast bewegungslos sind. Die Agonie der letzten Jahre. wir ein Stück über Aung San Suu Ermanna Montanari, geboren 1956, gründete 1983 zusamKyi geschrieben und auf dessen Durch diese Spannung entsteht men mit ihrem Mann Marco Martinelli, Luigi Dadina und eine Lektion über Körper und Raum. Grundlage den Film „Vita agli arresMarcella Nonni das Teatro delle Albe, wo sie seitdem als ti di Aung San Suu Kyi“ produziert. Martinelli: In unserer neuesten InSchauspielerin, Regisseurin und Set-Designerin arbeitet. Wir haben den Film im Theater geszenierung „Va pensiero“ greifen 2011 übernahm sie die Künstlerische Leitung des internaverschiedene Elemente ineinander: dreht und die Kulissen und Kos­ tionalen Santarcangelo Festivals. Neben ihrer Theaterarbeit tüme unserer ganzen Theatergeder Film auf einer großen Leinschreibt sie für verschiedene italienische und internationale schichte benutzt, um unser Burma, wand, die Szenen auf der eigentliMagazine; 2017 veröffentlichte sie die Kurzgeschichtenunser Myanmar zu konstruieren. chen Bühne und der Chor, der aus sammlung „Miniature Campianesi“. Montanari ist u. a. Trädem Dunkel tritt. In jeder Stadt, in Die Geschichte dieser Frau, die gerin des Eleonora-Duse-Preises sowie von vier Ubu-Preisen ­Blumen im Haar trägt und eine Reder wir spielen, kontaktieren wir als „Beste Schauspielerin“ und für das Theaterstück „Involution anführt, wird von einem einen Verein oder eine Gruppe, die ferno“ als „Bestes kulturelles Projekt“. Foto Cesare Fabbri Kinderchor erzählt. Eine besondere nach einer kurzen Probe mit uns Art des Geschichtsunterrichts. Chöre aus Verdi-Opern singt. Das Stück handelt vom Elend der Politik. Das war auch das große Thema Verdis im Risorgimento. Aung San Suu Kyi hat 1991 den Friedensnobelpreis erhalten. Heu­ Manchmal, wenn zum Schluss der Chor „va pensiero“ singt, steht te wird sie kritisiert, weil sie zur Vertreibung der Rohingya schweigt. das Publikum auf und singt mit. Wir haben einen neuen Raum geschaffen. // Martinelli: Der Weg, auf dem Aung San Suu Kyi ihr Land aus einer brutalen Militärdiktatur in eine rudimentäre Demokratie geführt hat, besteht aus Kompromissen. Wie diese konkret aussehen, ­wissen wir nicht. Im Westen zirkulieren dazu widersprüchliche Im März erscheint im Alexander Verlag Berlin Marco Martinellis Manifest Informationen. Unsere Freunde in Myanmar erzählen uns Dinge, die nicht in unseren Zeitungen stehen. Der Westen fordert Er­ „Raumwerden. Ein Traum vom Theater in 101 Bewegungen“.


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Ich klage an! „fedeli d’Amore“ vom Teatro delle Albe ist ein J’accuse großer Dimension und kulminiert in einem rasenden Rundumschlag gegen Mafia und Politik von Renate Klett

ges Leben, immer verjagt, immer auf der Flucht und jetzt sterbend im Exil. Ein anderes Bild lässt einen Esel sprechen, und zwar im Romagna  as Teatro delle Albe in RavenDialekt. Das Tier ist stolz darauf, den Dichter tragen zu dürfen, und es na gehört zu den spannendsten Bühnen Italiens. Sein Intendant Marco sieht klarer als die verblendeten Martinelli, Autor und Regisseur, InsMenschen, worin dessen Größe bepirator und Initiator, begreift seine steht. Seine Vorfahren haben Jesus Arbeiten als theatrale Abenteuer mit Christus nach Jerusalem getragen, ungewissem Ausgang, ob er nun deshalb fühlt er sich dem Kreuz vereine ganze Stadt inszeniert oder eine bunden und macht es überall aus: auf seinem Rücken, in der Natur, in einzige Person. In der Schauspielerin Ermanna Montanari hat er eine der Gestalt der Menschen, wenn sie kongeniale Mitstreiterin, die eigendie Arme ausbreiten, um ihm den ständig und unbeirrbar seinen VisioWeg zu versperren. Montanari widersteht der Vernen das Fliegen lehrt. Lautmalerisches Bühnengedicht – Marco Martinelli setzt in „fedeli d‘Amore“ (2018) Dantes Leben in Bezug Das neue Mammutprojekt suchung eseliger Lautmalerei, sie zur italienischen Gegenwart. Foto Enrico Fedrigoli schenkt dem Tier die Kraft und die der Albe, in zwei Jahren Dantes „Göttliche Komödie“ komplett auf Klarheit ihrer Stimme, nimmt es ernst und lässt es zu einer imaginädie Bühne zu bringen, wird ergänzt durch ein szenisches Poem, in dem Martinelli Leben und Wirken ren Bühnenfigur erwachsen. Für jedes Bild erfindet sie einen akustischen Rahmen, dem sie unendliche Schattierungen verdes Dichters in sieben Bildern beschreibt, die wie ein verwischter Hauch über die Bühne wehen. Montanari, das Stimmwunder, erleiht. Sie steht im Halbdunkel, hoch und schlank, ein Schatten aus dem Reich der Toten oder der Poesie. Wenn ab und zu ein knapschafft Welten aus Ton- und Wortgebilden, die einen mitreißen und einschüchtern, beglücken, verstören, erschüttern und befreiper Lichtstrahl auf sie fällt, erschrickt man geradezu vor dieser plötzlichen Begegnung mit der Realität. Das alles ist sehr kunsten. Sie wurde dafür, zum wiederholten Male, mit dem Premio Ubu als beste Schauspielerin der Saison geehrt. voll, aber nie prätentiös, auch weil die Sprache so dingfest ist, Zustände, Fakten, Stimmungen beschreibt, voll dantesker Überhö„fedeli d’Amore“, so der Titel des Gedichts, war der Name eines geheimen Dichter- und Weltverbesserer-Bündnisses in Flohung und Trauer. Am stärksten ist das fünfte Bild, in dem die Anklage bis in renz, zu dessen Bruderschaft vermutlich auch Dante Alighieri zählte. In der Aufführung steht Ermanna Montanari in der hintedie Gegenwart verlängert wird, ins heutige Italien, mit einem raren Ecke der dunklen Bühne, ein Mikrofon in der Hand, das ihre senden Rundumschlag gegen Mafia und Lega, politische VerblenStimme verstärkt, nicht aber manipuliert. Nein, das macht sie dung und den Profitzynismus moderner Demokratien. Es ist ein J’accuse großer Dimension, im Stakkato der finalen Abrechnung schon alles selbst, diese unendlichen Variationen von Schreien und Flüstern, Gurren, Befehlen, Hecheln, Knarzen, Schäumen, vorgetragen, mit verzweifelter Wucht. Italien als Sumpf der Bequemlichkeit ist stinkend, faulend und doch immer noch zum Kichern, Poltern und was nicht noch. Sie lächelt mit ihrer Stimme, Weinen schön. Viel Liebe steckt in dieser Philippika, aber das weint, balgt oder tanzt mit ihr, erarbeitet jedem Bild ein Klima, das macht alles nur noch schlimmer. ausdrückt, was Worte nicht immer können. Mit ihr auf der Bühne Martinellis Bühnengedicht hat große Strahlkraft, und in der ist der Musiker Simone Marzocchi, der ab und zu seine Trompete konzentrierten Inszenierung scheint es Berge versetzen zu können. einsetzt, um einen improvisierten Stimme-Klang-Dialog zu beDies ist seine Art der Vorbereitung auf das große Werk, das bis 2021 schwören, oder auch nur im Halbdunkel steht und zuhört. Das Stück beginnt mit Dantes Tod in Ravenna; Erinnerungskomplett entstehen soll, in Ravenna, Matera und dem rumänischen Timișoara (die letzten beiden sind Kulturhauptstädte in den Jahren fetzen, Angst und Hoffnung prägen dieses erste Bild. Der Nebel dringt durchs Fenster und spricht zu Dante, beklagt dessen trauri2020 respektive 2021). Die Erwartungen sind hoch. //

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Immer im Prozess Das Teatro Elfo Puccini in Mailand schafft seit Jahrzehnten mit Ensemblegeist und langem Atem große Inszenierungszyklen und pflegt seinen Hausgeist Shakespeare von Peter Kammerer

enn ein Theater in Italien den Namen „Ensemble“ verdient, ist es das Teatro Elfo Puccini in Mailand. Es versammelt eine Gruppe von Theaterleuten, die seit Anfang der siebziger Jahre zusammenarbeiten und immer wieder die feste Aufteilung der Tätigkeiten als Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner oder Techniker durchbrechen. Die Regisseure sind auch Schauspieler, zuweilen beides gleichzeitig, und das Duo Elio De Capitani und Ferdinando Bruni führt seit 1988/89, seit Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ immer wieder auch „vierhändig“ Regie. In der vergangenen Spielzeit inszenierten die beiden „Afghanistan“, ein zweiteiliges Riesenwerk von zehn Autoren (u. a. David Greig, Abi Morgan und Simon Stephens), die 2009 im Auftrag des Londoner Tricycle Theatre eine Geschichte des Landes von 1842 bis heute geschrieben hatten. Im einst entlegenen asiatischen Spannungsfeld zwischen Russland, Indien, England und den USA wurden exemplarisch so ziemlich alle Fehler begangen, die das Verhältnis des Ostens zum Westen heute so kompliziert machen. Das Stück erzählt sie unerbittlich und hilft somit auch, sagt Elio De Capitani, „den Blick dessen zu verstehen, der aus den Tälern des Pandschschir aufgebrochen ist und jetzt neben uns in der U-Bahn sitzt“. Das Elfo Puccini hat aus dem Tumult der Gründerjahre soziales Engagement in Verbindung mit extremer individueller Vielseitigkeit ins Heute hinübergerettet. Kein anderes Theater kann in Italien, wo sich alles verändert hat, auf eine solche personelle und ideelle Kontinuität zurückblicken. Um sie zu wahren, bedurfte es allerdings auch einiger Metamorphosen. Aus jungen Schauspielern, die 1973 in besetzten Jugendzentren spielten, wurde ein paar Jahre später die Kooperative Teatro dell’Elfo; zwanzig Jahre später erfolgte der Zusammenschluss mit dem Teatro Portaromana, und 2004 erhielt die Gruppe von der Stadt Mailand im zentralen und belebten Corso Buenos Aires einen bis 2030 laufenden Pachtvertrag und neue Räumlichkeiten. Ein zum Kino umfunktioniertes altes Opern- und Varietétheater wurde in sechs Jahren zum Teatro Elfo Puccini umgebaut, das drei Säle bespielt: die Sala Shakespeare mit 500, die Sala Fassbinder mit 200 und die Sala Pina Bausch mit 100 Plätzen. Die Daten sprechen für sich: 130 000 Zuschauer im Jahr, 589 Aufführungen (davon 220 Gastspiele anderer Theater), 194 Mitarbeiter, ein Spielplan mit 60 Titeln, davon 22 aus eigener Produktion. Und die Bezeichnung der Säle ist Programm. Shakespeares „Sommernachtstraum“ haben die „Elfen“ nicht nur ihren Namen entlehnt. Es ist auch das Stück, dessen Aufführungen in verschiedener Besetzung, unter verschiedenen Leitungen, als Theater und als Film das Selbstverständnis der Gruppe und ihre Fähigkeit, sich neuen menschlichen und künstlerischen Erfahrungen zu öffnen, geprägt haben. Es wird auch in dieser Spielzeit zu sehen sein. De Capitani, der die Regie dieses Mal allein übernommen hat, hat auch seine Rolle als Zettel an einen jüngeren Schauspieler ab- und weitergegeben. In ihrer ersten

Historisch genauer Blick auf den Nahen Osten – Das zweiteilige Riesenwerk „Afghanistan“ (2018), inszeniert von Ferdinando Bruni und Elio De Capitani am Teatro Elfo Puccini. Foto Laila Pozzo


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Fassung war die Aufführung 1981 als Rockoper konzipiert, als Einheit von Wort, Geste, Tanz und Musik. Gabriele Salvatores, ein Gründungsmitglied der Elfen, hatte den Text bearbeitet und führte Regie, machte zwei Jahre später seinen ersten Film daraus (mit Gianna Nannini als Titania) und wanderte danach endgültig zum Kino ab. Nach 1997 folgten einer neu konzipierten Aufführung noch drei verschiedene Fassungen, und 2016 hat das Theater in Kooperation mit OperaLombardia „A Midsummer Night’s Dream“ von Benjamin Britten und Shakespeare abwechselnd aufgeführt. De Capitani: „Musik ist aus diesem Text nicht mehr wegzudenken. Uns reizt, was Theseus sagt, ‚Verliebte und Verrückte / Sind beide von so brausendem Gehirn, / So bildungsreicher Phantasie, die wahrnimmt, / Was nie die kühlere Vernunft begreift.‘“ Mit diesem Blick und langem Atem arbeitet De Capitani nun auch am „Othello“, zusammen mit der jungen Regisseurin Lisa Natoli. „Seit Jahren ist es mein Traum, den Othello zu spielen, denn ich habe nie einen Mohr gesehen, der meinen Idealen entspräche. Ich spreche vom Theater, nicht vom Film. Alle rieten mir, den Jago zu spielen mit seinen neun wunderbaren Monologen. Aber mir war nicht zu helfen. Mich interessierte zwar, wie Jago, unser guter Nachbar, der ­Taxifahrer, der Mann von der Straße, soziales Gift erzeugt und zirkulieren lässt; Othello aber ist aus ganz anderem Stoff: der Schwarze, der sich weiß schminkt, weißer als alle anderen, bis er am Schluss die weiße Maske abnimmt. Er ist ein Mann des Erfolgs, einer, den man ausschicken kann, um die schmutzige Arbeit zu machen, keinesfalls wortkarg, sondern ein großer Erzähler. Er kennt die Schrecken des Krieges, für die er sich geschaffen fühlt. Da liegt seine Männlichkeit. Aussehen, sozialer Stand und sein Alter, das oft übersehen wird, machen ihn angreifbar und Jagos Gift wirksam.“ Die heutigen, von den öffentlichen und privaten Geldgebern gewünschten Produktionsbedingungen, zum Beispiel Probezeiten von nur vier bis acht Wochen, seien für Shakespeare

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völlig unzureichend. Sie genügten nur, wenn man im Rahmen der Konventionen bleibe, die das Elfo Puccini aber gerade infrage stelle. Shakespeare brauche Zeit. Das Elfo Puccini hat, am Anfang von anderen Theatern angefeindet, das rein quantitativ orientierte Punktsystem angegriffen, nach dem in Italien die staatlichen Mittel vergeben werden, und einen ersten Prozess beim Verwaltungsgericht gewonnen. Nach der Ablehnung dieses Urteils bleibt der Gruppe nichts anderes übrig, als aus der Not eine Tugend zu machen und die einzelnen Inszenierungen als Stationen eines größeren Projekts zu begreifen. „Was sie ja auch sind“, sagt De Capitani. „Denn die Funktion und Bedeutung eines Repertoires haben wir von Pina Bausch gelernt, die zusammen mit Fassbinder zu den guten Geistern zählt, die wir bei der Eröffnung des Elfo ­Puccini angerufen haben. Uns hat nicht nur die Ästhetik, sondern auch die Arbeitsweise, der Prozesscharakter ihrer Aufführungen fasziniert.“ In den achtziger Jahren spielten die Elfen als Erste in Italien Botho Strauß, aber nicht dessen „Kalldewey, Farce“ oder „Der Park“, sondern „Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle“, die Geschichte einer Gruppe, die nach dem Überschwang der siebziger Jahre ihre eigene Geschichte erkennen und abhandeln konnte: Leistungszwang, Konkurrenz, Selbstfindung. Die Kritik war begeistert, das Publikum enttäuscht, das Kollektiv gerettet. Dann kam Fassbinder: nach „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ sein „Das Kaffeehaus“ nach Goldoni. Ferdinando Bruni und De Capitani lasen dessen Bremer Aufführung von 1969 als provokatorische Antwort auf Peter Steins Bremer „Tasso“, benutzten ihrerseits Fassbinder auf der Biennale von Venedig 1991 zur Kon-

Namenspatron des „Elfen“-Theaters – die Elfen in Shakespeares „Sommernachtstraum“ (2016), unzählige Male am Teatro Elfo Puccini neuinszeniert. Foto Luca Piva

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frontation mit dem Klassiker Goldoni. Das Venedig der Dekadenz und der obsessiven Kalkulation aller Werte in allen möglichen Währungen wurde so zum Vorspiel für den nächsten Fassbinder: „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (1998). Jahrelang war diese Inszenierung durch szenische Lesungen vorbereitet worden. Und sie wurde ein großer Erfolg, auch dank der engagierten Beteiligung der jüdischen Gemeinde Mailands an leidenschaftlichen Diskussionen im Theater, im Radio, im Fernsehen über den Antisemitismus-Vorwurf gegenüber Fassbinder. Nach 24 ausverkauften Vorstellungen während eines Fassbinder-Festivals konnte die Aufführung aufgrund ihrer großen Besetzung aber nicht ins Repertoire genommen werden.

In den vergangenen Jahren hat das Elfo Puccini zunehmend die Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Traum, genauer: mit seinem allmählichen Verbleichen in den nuller und Krisenjahren gesucht. Schon mit Berlusconi in Italien, schließlich mit Donald Trump in den USA betraten die Karikaturen dieses Traums die Bühnen. Im Rückblick mag verwundern, wie lange die Schrecksekunde gedauert hat, bis die brutale Vitalität solcher Figuren bühnenreif wurde. Nanni Moretti drehte 2006 seinen Film „Il Caimano“ mit De Capitani als Berlusconi. 2013 spielte De Capitani Nixon im Stück von Peter Morgan „Frost/Nixon“, und heute, sagt er, fehle ihm für eine „Trilogie der Hurensöhne“ nur noch Trump selbst. Die Auseinandersetzung mit diesen politischen Erschütterungen und Erosionserscheinungen hat in der Arbeit des Elfo Puccini zu zwei absoluten Höhepunkten geführt: 2006 inszenierten Bruni und De Capitani Tony Kushners „Angels in Ame­ rica“ als zweiteiligen Bühnenkoloss über Sex, Macht, Korruption und Religion – mit dem sie 2010 ganz bewusst auch ihr neues Haus eröffneten; und 2013 brachte De Capitani den „Tod eines Handlungsreisenden“ von Arthur Miller auf die Bühne – mit einem Willy Loman, der in Würde einen Traum leben will, der ihn umbringt. Auch die Kehrseite amerikanischer Außenpolitik rückte in den Fokus – wie mit Laura Fortis Theaterstück „Der Akrobat“, das das Schicksal ihres Cousins José beleuchtet, der 1986 ein A ­ ttentat auf Diktator Pinochet organisiert hatte. Ein Stoff wie „Angels in America“ hat in der Ära Trump allerdings eine derart neue Dimension angenommen, dass das Elfo Puccini für die kom­mende Spielzeit eine Neuinszenierung plant. //

GASTSPIELfördEruNG & KoProduKTIoNEN ANTrAGSfrISTEN 2019 — 2.vErGABE 31.März 15.APrIL G A S T S P I E L E T h E AT E r

G A S T S P I E L E TA N z N AT I o N A L & I N T E r N AT I o N A L K o P r o d u K T I o N E N TA N z

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Ferdinando Bruni (l.) und Elio De Capitani. Foto Teatro Elfo Puccini

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GEfördErT voN

S o w I E d E N K u LT u r - u N d K u N S T M I N I S T E r I E N d E r f o L G E N d E N B u N d E S L ä N d E r : B A d E N - w ü r T T E M B E r G , B Ay E r N , B E r L I N , B r A N d E N B u r G , B r E M E N , h A M B u r G , h E S S E N , M E c K L E N B u r G - v o r P o M M E r N , N I E d E r S A c h S E N , N o r d r h E I N - w E S T fA L E N , r h E I N L A N d - P fA L z , S A c h S E N - A N h A LT, S A c h S E N u N d T h ü r I N G E N .


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Lawine der Rache Starke Bilder und Gegenwartsbezüge – die „Orestea“ der italienischen Künstlergruppe Anagoor am Theater an der Ruhr in Mülheim von Friederike Felbeck

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er Auftakt ist ohrenbetäubend. Zwischen den Schweinwerfern hängen Megafone. Der Ruf des Muezzins erklingt. Hinten eine Batterie an Lautsprecherboxen, die zu einer Stufenpyramide aufgebaut sind und deren Membrane sie zu Gesichtern werden lassen. Elektronische Klänge wüten durch den Raum ­ – akustische Turbulenzen, die zehn Jahre Krieg ausspeien. Vielen Zuschauern im Mülheimer Theater an der Ruhr sind die Klänge von Mauro Martinuz zu viel, sie halten sich die O ­ hren zu. Aber keiner geht. Das Gastspiel der italienischen Künstlergruppe Anagoor, in Koproduktion mit den Mülheimern entstanden, ausgezeichnet mit dem Silbernen Löwen des Theaterfestivals in Venedig 2018, hat einiges an Erwartungen geweckt. Die „Orestie“ des Dichters Aischylos ist die einzige erhaltene Trilogie des antiken Theaters. Sie ist der Beweis dafür, dass damals Tragödien in einem narrativen Bogen zu einem Ganzen zusam­ mengeschweißt wurden, die drei Stücke „Agamemnon“, „Choephoren“ und die „Schutzflehenden“. Es ist ein Virus von Mord und Rache, der durch die drei Stücke zieht. Am Ende des Trojanischen Krieges kehrt Agamemnon nach Athen zurück und wird von seiner Ehefrau Klytaimnestra und ihrem Geliebten Aigis­thos ermordet. Der gemeinsame Sohn Orest, der von der Mutter in die Fremde geschickt worden war, kehrt zurück und rächt den Vater gemeinsam mit seiner Schwester Elektra. Die Rachegeister der Mutter verfolgen Orest, bis er schließlich vor dem athenischen ­Gerichtshof des Aeropag vernommen und freigesprochen wird. Es ist der Übergang einer archaischen Gesellschaft in die des Rechtsstaats, die hier unabdingbar gemacht wird. Eine Inszenierung kommt einer ­Tiefenbohrung oder archäologischen Grabung gleich – das Spek­ trum der möglichen Entscheidungen ist gewaltig. Das Theaterkollektiv Anagoor hat mutig zugepackt, Aischylos’ Konstrukt durch zahlreiche Fremdtexte erweitert und in seinem dritten Teil den ursprünglichen Plot weit hinter sich gelassen zugunsten einer eigenen heutigen Sichtweise. Im Jahr 2000 von dem Regisseur Simone Derai und der Schauspielerin Paola Dallan gegründet, ist der Name der Gruppe Programm: Anagoor ist die auf keiner Karte verzeichnete, utopische

Hauptstadt eines fiktiven Landes in einer Kurz­geschichte des italienischen Schriftstellers Dino Buzzati. Zunächst künst­ le­ risch in ihrer norditalienischen Heimatstadt Castelfranco Veneto situiert, wurde bald ein breit gefächertes Projekt daraus, das sich im weiteren Sinne dem Konzept der Polis widmet ­­wie in ihrer Produktion „L.I. Lingua Imperii“, die die Sprache der Nationalsozialisten zum Thema nahm, 2015 ausgezeichnet mit dem Preis des Wettbewerbs Music Theatre NOW. Seit 2008 hat sich das Theaterkollektiv in der Nähe von Treviso angesiedelt. Derai setzt in seiner „Orestea“ wenige Zeichen, wie die Entnahme der ­ ­Organe aus dem Bauch eines Opferlamms, im ­Video konterkariert durch Bilder aus einem Schlachthof. Als Prolog werden Texte des italienischen Theologen Sergio Quinzio interpretiert. Der Schauspieler Marco Menegoni wird als „Chor“ den vierstündigen Abend wie kein anderer prägen. Die Strategie des anfänglichen Lärms geht auf – so werden stimmliche Nuancen und klangliche Feinheiten wie das Klingeln der im Kostüm der Klytaimnestra eingenähten Glöckchen oder die aramäische Sprache der nach Athen verschleppten trojanischen Königstochter Kassandra scharf gestellt. Als Agamemnon zurückkehrt und vom Krieg berichtet, kippt seine Stimme immer wieder ins Weinerliche. Wenn die Klytaimnestra von Monica Tonietto den Heimkehrer begrüßt, singt und säuselt ihre Stimme, wie es nur eine raffinierte Lügnerin kann. Der zweite Teil beginnt mit einer Beschreibung über Friedhofsrituale auf Korsika von G. W. Sebald. Sie dient als Regieanweisung an die Schauspieler, die sich langsam in einen Tanz hineinsteigern, der an den von Derwischen erinnert und an dessen Ende nur Erschöpfung steht. Im Schlussteil dieses Abends zeigt ein Video wiederum das Zuschneiden eines Marmorblocks. Die ­ Schauspieler sind als Touristen im Archäologischen Museum in Olympia unterwegs. Denn Derai plädiert, wie er sagt, nach dieser „Lawine der Rache“ für einen Quantensprung: Während Aischylos’ Trilogie eine ganze Gesellschaft beschreibt, die zur Verän­ derung gezwungen wird, fragt Derai mit „Orestea“, welche Ver­ änderung heute von uns erwartet wird. // Archeologische Grabung bis in die Jetztzeit – die „Orestea“ der Gruppe Anagoor (2018), inszeniert von Simone Derai. Foto Giulio Favotto

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Vom Hirn übers Herz in den Körper Die Regisseurin Pınar Karabulut begegnet Theaterstoffen mit weiblichem Selbstbewusstsein und prinzipiellem Optimismus von Martin Krumbholz

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o, bitte, ist das Bühnenbild? Es ist unterwegs. Der Paketbote bringt es, quittiert wird elektronisch. „Gibt es hier Starkstrom?“ Das Bühnenbild muss aufgeblasen werden. Es ist eine die ganze Bühne füllende Luftmatratze, irgendwie auch ein Trampolin. Es wird Anton Tschechows „Drei Schwestern“ und die sie verehrenden Offiziere in die Luft katapultieren, dass ihnen Hören und Sehen vergeht. So komplett anders ist dieses Setting, so weit entfernt von einem gewohnten Tschechow-Bild wie der Mond von der Erde. So, dass man sich befremdet fragt: Kann man das ­machen? Warum ist das hier so verzweifelt lustig? Wo ist die ­Melancholie, der glasige, in eine vage Zukunft gerichtete Blick, in eine Zukunft, in der alle glücklich sein werden – so in zwei- oder dreihundert Jahren? Der Blick der Regisseurin Pınar Karabulut am Schauspiel Köln auf Tschechow ist ganz gewiss nicht jedermanns Sache. So wenig wie das aufblasbare Bühnenbild von Bettina Pommer, das nach hinten durch eine große LED-Wand ergänzt wird, auf der sich Begriffe, Parolen abbilden und am Schluss der Systemfehler 404, Adressat unbekannt. So wenig auch wie die bonbonfarbenen Daunenkostüme, mit denen die Schwestern sich gegen die winterliche Kälte schützen. Olga, die Älteste (Susanne Wolff), steckt gar in ­einem grotesken Obelix-Outfit: Wenn sie jemanden küssen will, bildet ihr Bauch eine unüberwindliche Barriere; aber Purzel­ bäume schlagen kann sie ganz toll, in Nullkommanix ist die ganze Bühne überquert. Sind wir im Zirkus gelandet? Wo ist das verdammte (Selbst-)Mitleid geblieben? Geduld, es kommt um ein paar Ecken. Es ist nur so, dass Karabuluts Humor vor Tschechows Fatalismus nicht gleich kapituliert. Deshalb verlegt sie die „Drei Schwestern“ auf den Mond, also in größtmögliche Entfernung von einer Provinzstadt im

Call me Kowalski – Die Regisseurin Pınar Karabulut. Foto Ben Wolf

Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Nicht alle Figuren sind dick, manche haben auch bloß einen Buckel. Die anlässlich Irinas Namenstag auftretenden Offiziere zum Beispiel. Schöne Männer sind das nicht, aber was soll’s, es sind Männer (nicht „anderthalb“, wie Mascha grob untertreibend bemerkt) – und mindestens drei von ihnen werden sich verlieben. Werschinin, der mit Abstand Attraktivste von ihnen (Peter Knaack), hat seine Offiziersabzeichen auf einen Blaumann ge­ heftet. Seinen ersten Auftritt vor der leeren Bühne („Ich komme direkt aus Moskau!“) absolviert er in der Maskerade eines Paket­ boten; das Präsent, das er den großen Tschechow-Kindern bringt, ist die besagte Luftmatratze: eine fabelhafte Spiellandschaft, einem Kinderparadies im Ikea-Möbelhaus nicht unähnlich. Man kann nach Herzenslust darauf herumhopsen, und die auf dem Papier so trägen Bewegungen der ausgelaugten Tschechow-Figuren bekommen plötzlich einen unwirklichen Drive, als hätte es sie, eben, auf den Mond verschlagen. Der Verlust der Schwerkraft kann diesen Menschen nur guttun, und tatsächlich fangen sie an aufzu­blühen, zu fliegen, tanzen, wirbeln, beben. Zumindest bis zum Erscheinen der Schwägerin Natalia, die, ganz werkgetreu, das sanfte hierarchische Gefüge im Haus aushöhlen und auf den Kopf stellen wird. Diese Natascha, gespielt von Lola Klamroth, ist eine Wucht. Anfangs noch die gehänselte Landpomeranze mit lind­ grüner Schleife im Haar, entfaltet sie wenig später auf ihren langen schlanken Beinen, in eine ausgreifende Boa gehüllt (Kostüme Teresa Vergho), mit einem federnden Laufsteg-Gang, die Hände geziert spreizend, die Aura einer Domina, der sich unwillkürlich alle anderen unterzuordnen scheinen. Mit Plastik­palme und Ballonreifen, in Minirock und Latexanzug – so gestaltet Pınar Karabulut ihre federleichte Tschechow-Korrektur, die sich in der Metapher des In-die-Höhe-Springens wunderbar sinnlich kristallisiert. Diese Figuren sind nicht moskausüchtig – sie sind mondsüchtig. Fast erübrigt es sich, angesichts der erkennbaren Empathie für die Vier-Geschwister-Konstellation, die 31-jährige Pınar Karabulut zu fragen, ob sie selbst Geschwister habe. Hat sie natürlich, eine Schwester und drei Brüder; Karabulut, 1987 geboren, ist ein Nachkömmling. 1968 gelangte ihr Vater, aus Kayseri in Anatolien

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stammend, über Istanbul und München nach Mönchengladbach, wo der gelernte Buchhalter zunächst verschiedene Tätigkeiten ausübte, bevor er schließlich wieder in einer Bank landete. 1972 durfte Karabuluts Mutter nachkommen. Die Tochter erzählt von einem Foto, das der Vater nach Anatolien geschickt haben muss: Der junge Mann posiert stolz vor einem Zigarettenautomaten. ­Regisseurin an einem deutschen Stadttheater zu werden, war der jüngsten Tochter, wie man so schön sagt, nicht in die Wiege gelegt. Wie ist sie überhaupt auf die Idee gekommen? „Mit der Regie ist es nicht wie mit einer Marienerscheinung“, sagt sie. „Ich bin der Überzeugung, dass der Mensch, wenn er oder sie etwas will, es weiß.“ Wenn Pınar Karabulut ein Klischee erfüllt, dann das der vor Temperament überschäumenden Südländerin. Sie redet schnell und lang, rauchen tut sie aber nicht. Eine Hospitanz in der Kostüm­ abteilung am Theater Krefeld/Mönchengladbach war höchstens ein halber Einstieg in die Theaterwelt. Sie hat dann in München, wo ihre große Schwester lebt, Theaterwissenschaften studiert. Ihr Weg auf die Bühne lässt sich insofern als ein akademischer beschreiben, und doch ist sie eher nicht die kühle Intellektuelle. „Vom Hirn übers Herz in den Körper“, das ist so etwa ihr Motto. Demnach begreifen sich ihre Inszenierungen, „Drei Schwestern“ ebenso wie die ein Jahr zuvor ebenfalls in Köln entstandene Arbeit an „Romeo und Julia“, gleichzeitig als ab­ solut durchdacht wie instinktsicher. Den besten Theaterautoren, ­Shakespeare und T ­ schechow, nähert Karabulut sich mit Herz und mit Courage; sie erkennt den Mechanismus und überträgt ihn fast beängstigend zielsicher in eine zumindest dem jüngeren Publikum intim vertraute Welt. Dreimal war sie bereits zum Münchner Festival radikal jung eingeladen, gleich mit ihrer ersten eigenen Inszenierung „Inva­

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sion!“ von Hassen Khemiri, zuletzt mit „Romeo und Julia“. „Jung“, das ist ja auch so ein Klischee. Was ist denn das „Junge“ an „Drei Schwestern“ oder an „Romeo und Julia“? Sicherlich sind es die Referenzen an die Welt der Clubs und die darin heimische Musik. „Romeo und Julia“ beginnt mit einer Szene, die an das Berliner Berghain erinnern mag: Die Menschen auf dem Fest bei den Capulets tanzen zu einer hämmernden Techno-­ Musik, aber jeder für sich. Die Bühne ist ein Labyrinth aus transparenten Wänden (Bettina Pommer). Videos zeigen einzelne Szenen in Nah­aufnahme. Einen Balkon gibt es hier nicht – aber Separees, die die Menschen, wie der Name schon sagt, vonein­ ander separieren. Doch, man kann sich notfalls hier verlieben, Romeo Montague und Julia Capulet tun es ja auch. Und doch ist das Gefühl der Vereinzelung und des einsamen Posierens in dieser Club-Welt prägender als das einer (sei’s auch nur virtuellen) Gemeinschaft. Karabulut entwickelt in diesem Rahmen für jede einzelne Figur eine spannende Lesart. Mercutio (Simon Kirsch) flirtet mit dem Tod, während sein Freund Romeo (Thomas Brandt) nur mit Julia (Kristin Steffen) flirtet (und noch nicht ­realisiert, wie gefährlich auch das ist); Amme und Mönch bilden eine Art Punk-Pärchen, offenherzig und liebenswert; Tybalt hingegen ist ein vor Hass und Eifersucht vergehender Einzelgänger, brillant gespielt von Nikolaus Benda. Dass sie sich auf jede Figur, auf jede Spielerin einlässt, merkt man der jungen Regisseurin noch mehr an als jeden formalen Ehrgeiz, der ebenfalls nicht zu unterschätzen ist. Tschechow mit Drive – Pınar Karabuluts „Drei Schwestern“ (2018) am Schauspiel Köln sind mehr mond- als moskausüchtig wie hier Justus Maier und Lola Klamroth. Foto Krafft Angerer


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Nach dem Studium hat Karabulut wie viele zukünftige Regisseure an Theatern assistiert: beginnend 2009, an den Münchner Kammerspielen bei dem Stadtprojekt „Hauptschule der Freiheit“. Drei Jahre, von 2013 bis 2016, war sie schließlich Regieassistentin am Schauspiel Köln (ohne übrigens je mit ihrem Intendanten Stefan Bachmann zu arbeiten); danach leitete sie ein Jahr lang selbständig die Nebenspielstätte am Offenbachplatz (vis-à-vis vom geschlossenen, düsteren, abweisenden Schauspielhaus), erprobte sich also sozusagen planspielmäßig als Direktorin eines Theaters im Theater. „Britney“ nannte sich das Projekt – wegen Britney Spears, erklärt sie lachend, anscheinend ein Idol der frühen Jahre. Heute ist Pınar Karabulut freie Regisseurin. Am Schauspiel Stuttgart hat man sie für die Uraufführung eines Stücks von Nis-Momme Stockmann engagiert. „Das Imperium der Schönheit“. Die Sache hatte nur einen kleinen Haken: Bei Probenbeginn kannte Karabulut den Text noch nicht, bis auf anderthalb Szenen. Eine Woche vor der Premiere trennte man sich wegen „künstlerischer Differenzen“. Ohne im Gespräch auf Details einzugehen, sagt ­Karabulut, sie verstehe sich eben als eine politische Regisseurin. Das bezieht sich auf ihren prinzipiellen Optimismus, insbesondere aber auch auf ihre Sicht des Geschlechterverhältnisses. Auf all das, was da in Bewegung geraten ist – da ist sie ganz ein Kind ­ihrer Generation. Im vergangenen Jahr untersuchte sie nicht ohne Grund mit „The Great Tragedy of Female Power“ am Zürcher ­Theater am Neumarkt den klassischen Theaterkanon auf Frauenpräsenz. Und ihr liebstes Projekt bei „Britney“ nannte sich „Britney X“: ein viertägiges Festival zu den Themen Gender Diversity und sexuelle Orientierungen, das sie mit ihren Kollegen Charlotte Sprenger und Matthias Köhler auf die Beine gestellt hatte. „Jeden Tag wurde mit einer Runde Yoga ins Festival gestartet“, erzählt sie,

pınar karabulut

„danach gab es Performances, Konzerte, Lectures und natürlich Partys. Für mich war dieses Format wahnsinnig wichtig, weil es politisch einen wertvollen Raum ermöglicht hat. Einen Raum der Stärke und vor allem der Liebe, hier durfte jeder und jede alles sein, was er, sie, es sein wollte. Und das muss man erst einmal im Alltag schaffen.“ Zwar kommen ihr Kampfvokabeln wie „toxische Männlichkeit“ vielleicht einen Tick zu ironiefrei über die Lippen, andererseits gibt sie kichernd zu, dass ihr selbst ein testosteron­ gesteuertes Mannsbild wie der Südstaaten-Pole Stanley Kowalski Sympathien abgewinnen kann. Wie sollte sie ihn auch sonst inszenieren? „Endstation Sehnsucht“ ist ihr nächstes Stück, am Volkstheater Wien, ein Megahit, ein Dauerbrenner, von der toxischen Männlichkeit ­ Marlon Brandos verseucht – eine Vergewaltigung auf offener ­ ­Bühne, das wird es bei ihr nicht geben, und das Frauenbild, das die neurasthenische Blanche DuBois verkörpert, ist gewiss nicht ihres. Aber die Biografie des Autors Tennessee Williams hat sie berührt, da lässt sich der Angelpunkt ihres Interesses verorten. Im Mai folgt an der Volksbühne Berlin die Uraufführung eines Stücks von Katja Brunner mit dem Titel „Die Hand ist ein einsamer ­Jäger“. Ein stark feministisch geprägter Diskurs über weibliche Identität, zärtlich, anarchisch, auch nicht ganz frei von einem gewissen Sensationalismus – so beschreibt Karabulut dieses Projekt. Und hier fremdelt sie nicht, ganz im Gegenteil. Sie wird es ihnen zeigen. Wem? Allen. //

Die (Un)Möglichkeit der Liebe in Zeiten der Clubkultur – Die Ver­ein­ zelung des Ensembles in Pınar Karabuluts Inszenierung von „Romeo und Julia“ (2017) am Schauspiel Köln. Foto Krafft Angerer

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Das Werk als Passage Über die Pariser Weltpremiere des Projekts DAU von Ilya Khrzhanovsky von Thomas Oberender


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dau in paris

grammen und einem eigenen Wissenschaftsbetrieb –, sollte dies auch in Paris passieren; und dies ist in den zwei Gebäuden des Théâtre de la Ville und Théâtre du Châtelet sowie dem DAU-­ Außenposten im Centre Pompidou auch gelungen, wenngleich in kleinerem Ausmaß als geplant. Obwohl der Zugang am Eröffnungstag zunächst nur Freunden der Künstler erlaubt war, die Installationen noch in Arbeit waren und das Théâtre du Châtelet fast eine Woche für das Publikum geschlossen blieb, war doch von Tag zu Tag mehr vom geplanten Programm zu erleben: Konzerte, die DAU-Filme, Vorträge von internationalen Wis­ senschaftlern, schamanistische Sessions, Künstlerbeiträge von ­Brian Eno, Teodor Currentzis oder Sasha Waltz. Man bewegte sich in einem künstlerischen Gesamt-Environment, das in eine dunkle Atmosphäre getaucht schien, von Wachleuten umstellt, fremd wie ein sektenartiges Regime, das gleichzeitig Kunst­ werke und Lebensumstände von großer Intensität und Intelligenz präsentierte.

ie bringt man ein Werk heraus, das im Moment seiner Veröffentlichung aus 13 Kinofilmen besteht, die zugleich aber nur eine Facette eines Gesamtwerks darstellen, das mit der drei­ jährigen Installation einer künstlerischen Gated Community am Stadtrand von Charkiw verbunden war, mit der Entwicklung eines Internetportals und einer eigenen Publikations- und Merchandisingreihe? Das DAU-Projekt von Ilya Khrzhanovsky war zunächst ein Sozialexperiment ganz eigener Art, dessen „Abfallprodukt“ an die siebenhundert Stunden Film sind. Im Kern ging es in Charkiw um eine Experimentalgesellschaft, deren Mitglieder ihr Leben unter den Bedingungen in der Sowjetunion zwischen 1938 und 1968 führten – sie waren und sind tatsächlich berühmte Mathematiker, Theologen oder Künstler, die genauso wie Arbeiter, Wachleute oder Straßenfeger gemeinsam an diesem Ort lebten, forschten und ihre Berufe praktizierten. Sie taten dies in einer kollektiven Zeitreise, die durch drei Jahrzehnte akribisch nachgebildeter ­Sowjetgeschichte führte – vom großen Terror in den Weltkrieg und das Tauwetter. * Ursprünglich wollte der russische Regisseur Ilya Khrzhanovsky das Leben des russischen Physikers Lew Landau (auch Dau genannt), des einzigen sowjetischen Nobelpreisträgers, nach einem Drehbuch von Vladimir Sorokin verfilmen. Dafür ließ er in Charkiw ein wissenschaftliches „Institut“ bauen, das jenem entsprach, an dem Landau einst gewirkt hatte. Dieses Set wurde für die bis zu vierhundert gecasteten „Bewohner“ und ihre internationalen Stargäste zu einem Lebensraum zwischen sozialer Wirklichkeit und ästhetischer Fiktion. Die Film­ arbeiten wurden bald schon frei improvisiert, entlang der von den Bewohnern und dem Regisseur herbeigeführten Situationen, innerhalb dieses imposanten Sets von der Größe zweier Fußballfelder. Der Kameramann Jürgen ­Jürges war zwischen 2008 und 2011 mit einer einzigen 36-mm-Kamera auf dem Gelände unterwegs und drehte alles so, wie es sich vor seinen Augen ereignete, ohne ­Wiederholung einzelner Takes. Dieser sozialexperimentelle Hintergrund ist bedeutsam für die Weltpremiere dieses Werks Anfang dieses Jahres in Paris, weil auch hier nicht einfach eine Serie von Filmen gezeigt werden sollte, sondern wiederum eine Art Sonderzone inmitten der französischen Hauptstadt entstand, die man nicht wie ein Kino oder Theater betritt, Künstlich erhaltene Sowjetnormalität – Eine DAU-Installation im Centre sondern wie ein anderes Land. Daher wurden für DAU in Pompidou in Paris (2019). Foto Thomas Oberender Paris keine Tickets verkauft, sondern den Gästen Visa erteilt. * So wie bereits hinter der Mauer des Drehorts eine parallele RealiAm Set in Charkiw lebten die Menschen über Wochen und Monate in akkurat maßgeschneiderten Repliken historischer Kleidung, tät entstanden war – mit eigenen Regeln, einer für die jeweilige Sowjetepoche typischen Sprache, eigenen Zeitungen, Radioproerhielten den entsprechenden Haarschnitt, Sowjetpässe und -rubel, folgten sowjetischen Essgewohnheiten, hielten sich an die vorgestrige Sprechweise und gewöhnten sich an die Anwesenheit Ein Institut? Ein sozialer Reaktor! – Das imposante Filmset von Ilya eines eigenen Geheimdienstes. Das Team um Khrzhanovsky Khrzhanovskys DAU-Projekt in Charkiw. Foto Phenomen IP schuf in den fast drei Jahre währenden Dreharbeiten ein System

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Sorgsam abgedichtete Welt – Das Théâtre du Châtelet, in dem ein Teil der Pariser Welt­ premiere von DAU (2019) realisiert wurde. Foto Albrecht Grüß

künstlich erhaltener Sowjetnormalität. All dies führte dazu, dass die Menschen unter den intellektuellen, emotionalen und sozialen Reglements von damals plötzlich Dinge taten, die ihrem aktuellen, spontanen, von niemandem vorgeschriebenen Verhalten entsprachen, gleichzeitig aber die gewohnten Grenzen hinter sich ließen und darüber intensiv reflektierten. Das Verhalten an ­diesem Ort war von einer merkwürdigen Spannung erfüllt, denn einerseits war hier alles nur „Theater“, zugleich aber nie nur auf Probe, nie nur als ob. Eigentlich hätte am Set das Paradies ent­ stehen können – privilegierte und begabte Menschen konnten hier tun, was sie wollten. Aber die Umstände waren nicht danach. Für Khrzhanovsky war an diesem Set alles „Theater“, backstage wie in der Kulisse, und das Skript der Ereignisse war kein dialogisches Drehbuch, sondern der geskriptete Raum, innerhalb dessen sich die Episoden situativ „selbst“ schrieben; hier verwandelte sich alles zugleich in den Rohstoff des Films. Dabei lebten und arbei­ teten die Beteiligten auch wochenlang unbeobachtet von der ­Kamera. Gefilmt wurde, wenn die zwischenmenschlichen oder narrativen Zusammenhänge zwischen den Bewohnern „reif“ ­waren. Was sich dann an den „wenigen“ – immerhin 187 – Drehtagen zeigte, bringt am besten der Titel einer Essayfolge von Dmitry Kaledin zum Ausdruck, die in den in Paris veröffentlichten DAUBulletons erschien: „History teaches that it teaches us nothing“. * Von dieser Radikalität war die Präsentation in ihrer Umsetzung in Paris weit entfernt. Aber intendiert war etwas Ähnliches, eben nur in umgekehrter Form. Jetzt skriptete das filmische Werk die Umgebungswelt der beiden Theater vom Keller bis zum Dach. Im Centre Pompidou und Théâtre de la Ville gab es Räume mit ­Rekonstruktionen der Filmsets, auf den Fluren, Stühlen und an Geländern standen und saßen „Mannequins“ genannte Puppen, die lebensechte Doubles der Filmfiguren waren, welche dann

i­hrerseits als reale Menschen in ihren damaligen Kostümen auftraten. So gelangten die Besucher in das Phantasma einer dämm­ rigen, von Aufsichten überwachten Welt, mit russischem Essen und Wodka aus Blechgeschirr, nie im Klaren darüber, was als Nächstes geschieht. Aber auch der wissenschaftliche und, wenn man so sagen möchte, spirituelle Betrieb des Instituts wurde in Paris wieder aufgenommen und war in Vorlesungen, rituellen Begegnungen und Labor­experi­ menten zu erleben. Damit die Besucher während ihres DAU-Aufenthaltes niemals mit der Außenwelt in Berührung kommen, sondern immer in der Imago des Projektraums bleiben, wollte Khrzhanovsky ursprünglich eine Brücke bauen lassen, die beide Häuser verbinden sollte. Die Pariser Behörden verboten sie. Zu den bedauerlichen Verlusten der Pariser Produktion zählte auch, dass das DAU-Device, durch dessen Hilfe die Gäste durch die Veranstaltungsorte ­navigiert werden sollten, nicht einsatzbereit war und so auch die Idee, individuell kuratierte Reiserouten durch das DAU-Areal zu veranstalten, die auf den Antworten der im Visa-Antragsverfahren gestellten Fragen beruhten, nicht umgesetzt werden konnte. Gleichwohl entstand auch in Paris jene Sonderzone DAU, deren Erlebnisorte still nebeneinanderher prozessierten und so etwas wie einen großen Bienenstock experimenteller Zellen schufen, ständig in Bewegung, von eigenen ­Themen, Kunstausübungen und Interessen erfüllt. * Das soziale Leben der DAU-Zone in Charkiw beschrieb Vladimir Yermolenko in einem Interview mit Albina Kovalyova für das DAU-Magazin Prison als eine Atmosphäre „kollektiver Hypnose“, die sich durch die ästhetischen Umstände am Set einstellte – der penibel rekonstruierte Look der jeweiligen Sowjetzeit schuf nicht nur eine Form, sondern ließ auch eine Men­talität wieder aufleben, die sich tief ins künstlich arrangierte Alltagsgefühl einsenkte. Wer eine Weile in diesem Set gelebt hatte, der sagte vermutlich nicht einfach „nein“, wenn eines Tages die Kamera im Raum stand. Das Projekt war, so erscheint es mir, im selben Maße Menschenversuchungsversuch wie ästhetisches Experiment. Man sieht Menschen, die aus freien Stücken tun, was ihnen ein subtiles System aus Ermunterungen und Ängsten möglich machte zu tun. Drei Jahre sind eine lange Zeit. Das Institut von DAU enthielt nicht nur verschiedene Forschungslabore für Experimente, es war selbst ein Labor. Es war ein Traumaspätfolgenlabor der Sowjetzeit.


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Der Traum der Souveränität des Volkes führte, so Susan BuckMorss in ihrem Buch „Dreamworld and Catastrophe“, im Osten ganz ähnlich wie im Westen in zwei Weltkriege und revolutionären Terror; der Traum der prosperierenden Industrie führte zu Ausbeutung menschlicher Arbeit wie natürlicher Ressourcen in ungeahntem Ausmaß, und der Traum einer echten Volkskultur führte, verkürzt gesagt, zur Ästhetisierung einer gewalttätigen Moderne und der Betäubung der Opfer. Für Khrzhanovsky bilden sich die damit verbundenen Traumata nicht nur in den Seelen der Nachgeborenen ab, sondern auch in deren Physiognomien. Sein Team suchte für die Massenszenen unter Tausenden von Ukrainern jene Gesichter und Körper, die für den Regisseur noch heute vom Terror der dreißiger Jahre und der Nachkriegszeit gezeichnet sind. Das Wirkliche, schrieb Robert Bresson in seinen „Notizen zum Kinematographen“, ist nicht dramatisch. Das Drama wird aus einem gewissen Ablauf nichtdramatischer Elemente hervorgehen. Daher ließ Khrzhanovsky Hunderte von Set-Bewohnern über Wochen und Monate, bisweilen über Jahre gemeinsam leben, um zwischen ihnen jenes „Wirkliche“ zu schaffen, aus dem das Dramatische hervortreten kann. So baute er sein Institut in Charkiw systematisch zu einem sozialen Reaktor aus, in dem die Traumata, Utopien, das Grenzwertige und Fantastische einer anderen, östlichen Moderne, die parallel und in Augenhöhe zur westlichen verlief, noch einmal im wörtlichen Sinne durchgearbeitet wurden. Wie immer man die Pariser Premiere von DAU, ihren Größenwahn und ihr Scheitern am Eröffnungstag beurteilen mag, stellte sich doch bei der Besichtigung die Ahnung eines Werks ein, das wie die künstlichen Ruinen der Romantik den Glanz einer Ambition fühlbar macht. * Die hohen Fassadenfenster des Théâtre de la Ville, von den Künstlern mit Spiegelfolie überzogen, wirkten aus der Ferne so, als führten die Füllungen der Bögen ins Freie. Tatsächlich aber war­ tete hinter den Fassaden eine sorgsam abgedichtete Welt, vielleicht eine Läuterungsburg. Drinnen wurde jeder Besucher von Aufsichtspersonal mit Headset dirigiert, jeder ging allein und jeder anders. Auf meiner Tour erlebte ich eine Probe mit Teodor Currentzis, neben mir saß Brian Eno, der drei Tage später mit Currentzis und seinem Orchester ein gemeinsames Werk auf­ führen sollte. Currentzis arbeitete mit einer Flötistin an einer ­winzigen Passage eines Stücks von Tschaikowski, sang ihr wieder und wieder vor, wie sie die Noten betonen sollte. Sie wiederholte die Passage, und nach einigen langen Minuten ließ er das Orchester mit seinem großen Klang in die feine Stimmung hinein­spielen. Die letzten vier Tage auf diesen Proben hätten sein W ­ irken als Musiker verändert, flüsterte Brian Eno. Geht es nicht eine Nummer kleiner, fragte ich mich. Aber das ist, was man aus dem ­Umfeld von Currentzis und Khrzhanovsky hört. Stets ist die Rede von Verwandlung, von grundbrechender Erfahrung. Beide sind visionäre und autoritäre Künstler, die sich Produktionswelten ­geschaffen haben, in denen sie ihre eigenen Regeln etablieren, die zu e­ iner Erfahrung von Arbeit führen, die vollkommen Leben wird. Für Khrzhanovsky sind seine Filme ein Mittel, nicht das Ergebnis seiner Arbeit. Anders ist der enorme Aufwand seiner DAUErfahrungswelten mit ihren Kinos, Laboren, schamanistischen

dau in paris

Sessions, künstlerischen Ritualen und Verpflegungseinrichtungen, wie sie in Paris entstanden sind und noch in anderen Städten entstehen sollen, kaum erklärbar. Wahrscheinlich hält Khrzhanovsky seine Filme für das Ayahuasca der Kunst: starke Drogen, die nicht nur auf eine Reise führen, sondern tatsächlich verändernd wirken. Daher die Idee der Zuhörer-Boxen, in denen ein seelisch geschultes Personal – in Paris eine Crew von gecasteten Predigern, Sozialarbeitern oder Hospizkräften – mit den Gästen über ihre Eindrücke nach der Sichtung der Filme spricht. Mit den ursprünglich geplanten DAU-Devices sollte man diese Gespräche aufzeichnen, um sich am Ende selbst wie einen Fremden im Film anzusehen. Mit der entsprechenden Zustimmung ginge dieser Film ins große DAU-Archiv über und fütterte das Werk des Künstlers, verwischte damit die Grenze zwischen Produktion und Rezeption, Kunst und Leben ein weiteres Stück. * Khrzhanovsky hatte das Filmset in Charkiw, so sagt Vladimir Azhippo, einer seiner wichtigsten Protagonisten, in ein Gefängnis verwandelt, und an ein solches erinnerte auch das Théâtre de la Ville. Das durch die laufenden Bauarbeiten auf das Betonskelett freigelegte Theater wirkte wie ein U-Boot-Bunker, an der Bar gab es russisches Gefängnisessen aus Blechschüsseln. Der Check-in, der Einschluss des eigenen Mobiltelefons und der Tasche, die Metalldetektoren und die Allgegenwart von Aufsichten schufen eine seltsame Spannung, wie sie nur entsteht, wenn man sich nicht mehr sicher fühlt und es einen – einer seltsamen psychologischen

CREATING OUR FUTURE THEATRE! BACHELOR Regie Schauspiel | Regie Musiktheater | Gesang MASTER Dramaturgie Schauspiel | Dramaturgie Musiktheater | Gesang | Liedgestaltung | Oper BEWERBUNGSSCHLUSS FÜR DAS WINTERSEMESTER 2019/20 1. APRIL 2019 Ansprechpartnerin: Marjan Yassen E-Mail: marjan.yassen@hfmt-hamburg.de Harvestehuder Weg 12, 20148 Hamburg www.hfmt-hamburg.de/Theater www.facebook.com/TheaterakademieHamburg

THEATERAKADEMIE HOCHSCHULE FÜR MUSIK UND THEATER HAMBURG

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protagonisten

Logik folgend – der beklemmenden Umstände wegen nach der Freiheit drängt. Keiner der Gäste war hier frei. Aber nicht auch seltsam stimuliert? Khrzhanovsky hatte die beiden Theatergebäude in eine philosophisch-metaphorische Architektur verwandelt. Auf kleinen Wandtafeln erschien das Gebäude als ein Organismus mit eigenen Bedeutungs- und Erkenntniskreisläufen. Die Ebene mit dem großen Kinosaal, der sich in einer Arena aus nackten Betonstufen befand, hieß „FUTURE“. Von den oberen Reihen herab schaute man auf das entkernte Bühnenhaus. Frei im Raum schwebte eine große Leinwand, unter der sich der Abgrund der ausgebauten Orchesterwanne und Unterbühne erstreckte. Dort stand „GODS“ an der Wand, in den darüberliegenden Etagen ein jeweils anderer Begriff, der die dort befindlichen Räume einem größeren Thema zuordnete. Die zwei zentralen Treppenhäuser, die wie Blutbahnen die unterschiedlichen Erlebnisebenen verbanden, hießen „BODY“ und „BRAIN“. Das Kellergeschoss mit dem offenen Archiv des ungeschnittenen Rohmaterials hieß „HISTORY“ und ein kleiner Screening Room „INHERITING“. Durch diese Environments wurde man als Gast hindurchgeleitet wie durch einen Freimaurertempel, und auch hier bestimmte das Ritual den Weg, nicht man selbst. DAU, das wurde selbst an diesem fehl­geschlagenen Premierentag deutlich, will eine Passage sein, einen Übergang schaffen, der ein Erlebnis ermöglicht, das nicht nur Konsum ist, sondern, schwer zu sagen: Hingabe, Begegnung, Erfahrung? Das Werk DAU wurde in diesem Theater wieder Raum, so wie es in Charkiw aus dem Raum zum Werk wurde. Auch im Théâtre du Châtelet sah ich in den Folgetagen ­Mottos wie „UTOPIA“ oder „SEX“ als Etagenthema, die zum Teil durch russische Kunstwerke illustriert wurden, die als kostbare Leihgaben des Centre Pompidou inmitten des DAU-Environments standen. So begrüßte die Besucher zwischen den Metall­ detektoren im unteren Foyer und den archaischen Lichtsäulen im DAU-Design das aus Hunderten von Dominosteinen erbaute „Mausolée en os“ von Yuri Avvakumov. Im völlig entkernten Bühnenhaus war, so berichteten Besucher, eine Arbeit von Philippe Parreno zu sehen, andere erzählten von Performances von Marina Abramović. Im Backstagebereich wurde für DAU eine Etage komplett rot gestrichen und beherbergte bereits seit Monaten das ArtDepartment, die Produktionsleitung und das Synchronstudio des Projekts. Diese Produktionsräume waren – ähnlich wie zuvor bei der Vorbereitung des Berliner DAU-Projekts – mit historischen Möbeln, Kunstwerken und Sowjetdevotionalien eingerichtet, sodass auch hier eine morbide Set-Atmosphäre entstand. Auch das

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Inventar des berühmten Porno-Shops aus der Rosa-LuxemburgStraße, das Khrzhanovsky nach der Insolvenz des Ladens für die Ausstattung seiner Berliner Büros aufgekauft hatte, tauchte hier wieder auf. Nach dem Scheitern des Berliner Projekts hatten die Künstler aus Protest gegen das Verhalten der Berliner Beamten die komplette untere Hälfte der roten Räume in Paris, inklusive der Bilder und Möbel, grau gestrichen – auch die farbenfrohen Wandgemälde, die sechs russische Künstler im großen Salon des Châtelet in wochenlanger Arbeit angefertigt hatten, um an die große Tradition der Ballets Russes an diesem Haus zu erinnern. * Auch wenn die Pariser Umstände widrig blieben und die Grenzen des für die Produktion bewältigbaren Veranstaltungspensums deutlich sichtbar wurden, ist das Projekt DAU doch ein Meilenstein und ein Kunstwerk neuen Typs. Man kann Khrzhanovskys Werk nicht in einem herkömmlichen Theater oder Kino aufführen und es ist auch mehr als nur eine soziale Praxis. Es ist ein Purgatorium: Es will eine dunkle Läuterungserfahrung mit den Mitteln der Kunst sein – ein seltsames Menschenverwandlungs­ experiment, das die Grenzen zwischen Leben und Werk, Produzieren und Konsumieren auflöst. Es steht dem Geiste nach den Erfindungen des Silicon Valley näher als den Objekten der Kunstgeschichte und hat mehr mit den von wirklichen Türstehern bewachten Clubs zu tun als mit Theater – in eben dieser Bandbreite des Immersiven ereignet sich hier etwas Neues, das man nicht erfasst, wenn man die einzelnen Elemente dieses sozialen Reaktors an ihre klassischen Repräsentationsorte zurückverweist und sagt, die Filme gehören ins Kino und die Aufführung ins Theater. In DAU wird nichts mehr repräsentiert, sondern eine Welt gebaut, eine Testgesellschaft. In ihr ist schwer zu entscheiden, was Fake und was real ist, was historisch und was gegenwärtig, was freiwillig und was durch verborgene Manipulationen herbeigeführt wird. So erscheint das Projekt DAU moralisch ambigue; als Teilnehmer werde ich in Dilemmata verstrickt, die in der ­realen Welt durch Cambridge Analytics und russische Trolle, Fakeschlösser und Schamanen, den schamlosen Verschleiß von Natur und Gefühlen allzeit spürbar sind. DAU kreiert eine Welt, der ihr fester Boden systematisch entzogen wird. In diesem Z ­ arenreich der totalen Kunst stürzt jeder in den Taumel seines eigenen Glaubens. //

Thomas Oberender ist Intendant der Berliner Festspiele, die Veranstalter des DAU-Projekts waren, das in Berlin 2017/18 realisiert werden sollte.

Master Expanded Theater Anmelden bis 15. April 2019

hkb.bfh.ch


kolumne

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Ralph Hammerthaler

Der wilde Hans von Kosovo Was mein Künstlermonolog in Prishtina unvermutet über albanische Künstler verrät

H

ast du das Stück geschrieben? Ja, ist von mir. Erstaunlich, denn genau so sieht es bei uns aus. Die Werte verfallen, die Künstler verzweifeln. An einem Freitag Ende Januar schneit und schneit es auf Prishtina, und eine Zeitlang fürchten wir, dass unser Flugzeug keine Landeerlaubnis bekommt. Besim sagt, nur halb im Spaß, die da unten seien zu faul, die Landebahn freizuschaufeln. So drehen wir also Schleifen im Himmel über Kosovo, leise besorgt, sie könnten uns abweisen und nach Tirana umleiten. Von dort aus wäre es schwer vorstellbar, die Straße nach Prishtina zu nehmen und rechtzeitig im Theater zu sein, die Straße wäre zugeschneit, und selbst die fleißigen Albaner würden sie nicht so schnell räumen können. Aber dann dürfen wir doch hinunter, das Flugzeug setzt auf, der Pilot erhält Applaus, und alle sind erleichtert. „Alleinunterhalter“ ist das erste meiner ins Albanische übersetzten Stücke, das hier auf die Bühne gelangt. Der Monolog eines gescheiterten Entertainers, der sich für einen großen Künstler hält. Am Ende wird er vom Publikum verhöhnt und verstoßen, von der Presse vernichtet; jemand tritt mit dem Fuß gegen sein Tastofon. Und als wäre das nicht genug, verliert seine junge Geliebte die Nerven und gefährdet seine mit dem Geld der Ehefrau aufrechterhaltene Existenz – er muss sie sich vom Leib schaffen. Zum Glück gibt es Jacques, der nicht buchstabengetreu nach dem Gesetz lebt; jeder weiß es, aber keiner kann ihm etwas anhängen. „Gut, wenn du ihn nicht brauchst; gut auch, wenn doch.“ Naim Berisha spielt Hans Klipp, und er führt auch Regie. Kurz vor der Premiere im Nationaltheater wurde Naim wie Hans Klipp verstoßen und musste in ein anderes Theater ausweichen. Der Nationalintendant wollte ihn im großen Haus nicht haben. Naim sagt, er habe gegen den Intendanten etliche Strafanzeigen gestellt, drei wegen Korruption. Klar, dadurch entsteht keine Zuneigung. Jeton aber, mein Verleger, hat eine andere Version gehört: Naim habe ohne Absprache und Vertrag einfach die Bühne geentert und zu proben begonnen. Da brauche er sich jetzt nicht zu wundern. Ich weiß nicht, was zutrifft. Aber zu Jeton sage ich, dass ich das eigenmächtige Entern der Bühne für eine coole Aktion halte. Diese Leidenschaft würde ich mir auch fürs deutsche Theater wünschen.

Kosovos Theater ist, durchaus im Sinne Jerzy Grotowskis, ein armes Theater, ganz auf die Schauspieler konzentriert. Und so schmeißt Naim den ganzen Abend, indem er einerseits überdreht, andererseits durchlässig bleibt, fragil, fast schutzbedürftig. Selbst ich verstehe, dass dieser Hans Klipp Albaner ist, ein missachteter Künstler, der sich nach einer Zeit der Wertschätzung zurücksehnt, nach dem alten Jugoslawien. Ich spüre es am Atem des Publikums. Und so wie Matthias Brenner bei der Uraufführung in ­Halle schöne alte Lieder aus der DDR gesungen hat, so lässt auch Naim Berisha schöne alte Lieder spielen und tanzt dazu, alles ein bisschen kitschig, aber nur für Leute, die kein Herz haben. Auf dem Empfang danach lerne ich Afrim Kasapolli kennen, einen großen alten Schauspieler, der zurzeit in Brechts ­„Arturo Ui“ auf der Bühne steht, natürlich im Nationaltheater. Für das Stück findet er die tollsten Worte, die ich gerne zwei- oder dreimal hören würde, während er an der Aufführung leicht herummäkelt: nicht schlecht, aber nicht so gut, dass sie richtig gut wäre. Ich sehe ihm an, dass er an ein ruhigeres, psychologischeres Spiel denkt, nicht an einen Hans Klipp, der atemlos um sein Leben kämpft. Ohne lange nachzudenken, schlage ich mich auf Naims Seite, seine Wildheit, ­seine Verletzlichkeit. Später in der Bar sitzen wir, wie es sich auf dem Balkan gehört, in einer Männerrunde zusammen. Naim trinkt keinen Tropfen Alkohol. Er sagt, er als Schauspieler in Kosovo bräuchte eine wie Roswitha, die ihn ernährt. Roswitha heißt die Ehefrau von Hans Klipp, und eine Roswitha wünschen sich alle. Als ich Besim nach den Frauen frage, neigt er den Kopf zur Wand, drüben sind sie, bei der Musik. Auch der Soziologe Shemsi Krasniqi ist in der Runde. Alle, die irgendetwas mit Kunst zu tun haben, haben bei ihm studiert, teils schon in den Neunzigern, in Privatwohnungen, um der serbischen Repression zu entgehen. Naim zum Beispiel oder Jeton, der heute Stücke schreibt und Bücher verlegt, oder auch Florentin, früher ein Maler, der sich der UÇK als Kämpfer anschloss. Alle seid ihr von Shemsi ausgebildet worden, sage ich, mit analytischem Verstand und sozialem Bewusstsein. Und jetzt nehmt ihr alles so hin. Wo bleibt die Revolution? Einen Moment lang sagt niemand etwas. Dann meldet sich Florentin zu Wort: Das Problem ist, dass die Hälfte von uns Alkoholiker sind. Alle lachen. Und am lautesten lacht Naim, weil ihn das nichts angeht. //

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Ein amerikanischer Traum Wolf E. Rahlfs, neuer Intendant des Theaters der Altmark in Stendal, startet mit Tempo – und fokussiert die Träume und Albträume in Zeiten unheilvoller Ideologisierung von Gunnar Decker

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er Spruch „Du hier und nicht in Hollywood!“ ist zu­ gegebenermaßen weder neu noch originell. Aber wenn Wolf E. Rahlfs in Stendal in den Spiegel blickt, sagt er ihn sich dann doch manchmal? Denn eigentlich wollte er einmal in die USA auswandern und Filmregisseur werden, so einer wie Coppola oder Scor-

sese. Und weil er das gründlich angehen wollte, zog er gleich nach der Schule nach England, bestand zu aller Überraschung (auch seiner eigenen) die englischsprachige Aufnahmeprüfung am

Bestes „Berlin Babylon“-Feeling, doch auch ein Tanz auf dem Vulkan vor 1933 – Wolf E. Rahlfs inszeniert John Kanders Musical „Cabaret“ (2018) am Theater in der Alt­mark in Stendal mit sicherem Sinn für Tempo und Rhythmus. Foto Kerstin Jana Kater


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­ iverpool Institute for Performing Arts. Dort studierte er drei JahL re, ging dann noch zwei Jahre nach London, um an der Middlesex University Regie zu studieren. Klingt so, als ob es ernst gemeint ge­wesen wäre mit dem amerikanischen Traum? War es auch, sagt Wolf E. Rahlfs, einundvierzig Jahre alt, jungenhaft-drahtig, ge­ radezu sportiv, mit langen, zum Zopf nach hinten gebundenen Haaren. Ist der neue Intendant gerade vom Rennrad gestiegen, oder kommt er von einem Rockkonzert? Beides falsch, die Altmark hält ihn fest im Griff. Und er hat auch sein Tempo schon mal unfreiwillig reduziert. Neben seinem Schreibtisch lehnen zwei Krücken: Sehnenriss im Fuß. Mit „Cabaret“ und „Tod eines Handlungsreisenden“ stemmte er zu Beginn dieser Spielzeit zwei schwierige Auftakt-Inszenierungen seiner Intendanz, jetzt wartet jede Menge Papier auf ihn. Das Theater der Altmark in Stendal hat als Landestheater eine Vielzahl von Kooperationspartnern und Spielstätten in der Region. Und mit allen müssen Details für Gastspiele geklärt werden. Aber das kann er ausnahmsweise auch im Sitzen erledigen. Was zog ihn damals denn so zum Angelsächsischen hin? Das weiß er genau: eine Sehnsucht, die aus der Musik kam. Er spielte schon als Schüler in Bands und liebte die Doors. Viel mehr Gründe bedarf es wohl nicht für jemanden, der in Hannover aufgewachsen ist. Die Gründung der Kunsthochschule in Liverpool wurde einst von Paul McCartney initiiert und versammelt heute angehende Schauspieler, Tänzer, Musiker und Manager unter der Überschrift Performance. Über Rahlfs’ Schreibtisch hängt ein merkwürdiges Bild, man erkennt einen Entenschnabel, der auf einer Art Kartoffelkopf sitzt. Das hing bei seinen Vorgängern Dirk Löschner und Alexander ­Netschajew aber noch nicht dort – ist das etwa Donald Duck? Auf Wolf E. Rahlfs’ Gesicht legt sich ein Schatten, der besagt, dass sein Gegenüber gerade bei einer entscheidenden Prüfung durchgefallen ist. Ich gehöre ganz offensichtlich nicht zur Frank-Zappa-Gemeinde. Denn das hier ist Thing-Fish, der böse Prinz (eher ein Monster!), der einen hehren Kampf für die Renaissance des Musicals am Broadway führt. Klingt nach bitterer Satire, ist aber auf punkig-postmoderne Weise von Zappa auch wieder ernst gemeint gewesen. „Thing-Fish“ also scheint ein hässliches Anti-Werk zu sein, mit dem Zappa der glatten Unterhaltungsindustrie die Faust ins Gesicht schlagen wollte. Die Thing-Fish-Maske fertigte ein Liverpooler Kommilitone im Fach Bühnenbild, der sie ihm schenkte. Das eigentlich unaufführbare Werk haben sie als Studenten in Liverpool tatsächlich aufgeführt, schon die Rechte dafür von der Witwe zu bekommen kostete ein Jahr lang hartnäckige Telefonate. Ein Vorgeschmack auf die Prosa des Intendanten-Alltags. Manchmal geht auch, was eigentlich nicht geht, wenn man nur einen starken Traum hat! Mit dem surrealistischen Bilderkosmos von „Thing-Fish“ im Gepäck kam er dann 2003 doch an deutsche Bühnen, arbeitete in Aachen, Koblenz, Bruchsal, aber auch am Deutschen Theater im rumänischen Timişoara. Wieso diese Rückkehr? Kapitulation vor unerwarteten Schwierigkeiten, ein verlorener Traum? Nein, sagt Rahlfs, es gebe im deutschsprachigen Theater einen großen Formenreichtum, die Chance, sich an einem Ort innerhalb eines Ensembles zu entwickeln. Das habe er erst nach und nach im praktischen Vergleich deutscher und englischer Theaterrealitäten als großen Vorzug bemerkt. Statt Hollywood, oder wenigstens

theater der altmark

London, nun also Stendal. Ist das am Ende auch eine Folge von Frank Zappa, der ein Weltstar und zugleich eine IndependentFigur war? Vielleicht will das ja die Maske von Thing-Fish als Underground-Symbol an der Wand demonstrieren – ein Fingerzeig, dass man seinem unverkäuflichen Traum überallhin folgen soll. Den angelsächsischen Texten ist er jedenfalls treu geblieben. „Cabaret“ von John Kander und Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ tragen seine Inszenierungshandschrift. „Cabaret“ lief bereits viermal, immer ausverkauft, und bringt das Haus mit seinen 75 Mitarbeitern jedes Mal an die Belastungsgrenze. Ein vierzigköpfiger „hochprofessioneller Laienchor“, wie ihn Rahlfs nennt, ist immer dabei, auch die Mitteldeutsche Kammerphilharmonie Schönebeck. Zu Gastspielen fahren sie dann in drei Bussen – eine enorme logistische Herausforderung. Statt amerikanischem Roadmovie einmal quer durch Sachsen-Anhalt! Aber im Grunde ist es dasselbe: immer unterwegs sein, sein Publikum überall da auf­ suchen, wo es ist – oder sein könnte. Aber das ist eine Frage des Lebensrhythmus, so Rahlfs, man muss die Musikalität schon in sich tragen, um sie auf der Bühne aus sich herauslassen zu können. Vielleicht klingt der Satz des Stendaler Oberbürgermeisters Klaus Schmotz in Rahlfs’ angelsächsisch trainierten Ohren weniger bedrohlich als in meinen: Wenn Stendal eine Aktie wäre, dann wäre sie ohne Theater sehr viel weniger wert als mit Theater. Die alte Hansestadt Stendal mit einer Aktie verglichen? Aber immerhin, die Landesbühne wird von der kommunalen Politik als Wertsteigerungsfaktor aufgefasst, das ist etwas, worauf man mit aller Vorsicht bauen, oder wenigstens etwas, womit man spekulieren kann. Rahlfs’ erstes Spielzeitmotto lautet „Sehnsucht“. Welche Sehnsucht damit gemeint ist, die, seinem Traum in die Ferne zu folgen, oder aber die, an einem Ort, den man Heimat nennen kann, sesshaft zu werden, bleibt offen. Vielleicht ist beides ja unauflösbar miteinander verbunden. In „Cabaret“ liegen die widersprüchlichen Gefühls- und ­Bewusstseinslagen offen. Rahlfs selbst hat einmal als junger Schauspieler den amerikanischen Schriftsteller Clifford Bradshaw gespielt, der 1929 in den Moloch Berlin kommt. Bestes „Berlin Babylon“-­ Feeling, ein Tanz auf dem Vulkan, der 1933 mit der Machtüber­nahme der Nazis abrupt endet. Jede Inszenierung des Musicals muss gegen den Film von Bob Fosse mit Liza Minnelli als

Wolf E. Rahlfs, geboren 1977 in Hannover, war nach einem Schauspiel- und Regiestudium von 1998 bis 2001 in England als freischaffender Schauspieler und Regisseur tätig, u. a. an der ­Badischen Landesbühne, dem Theater Koblenz, dem Deutschen Staatstheater Timişoara in Rumänien sowie dem Soho Theatre London. Am Londoner Battersea Arts Centre inszenierte Rahlfs 2003 die Welturaufführung seiner Adap­tion von Frank Zappas einzigem Musical „Thing-Fish“. Seine Arbeiten wurden mehrfach auf Festivals eingeladen und ausgezeichnet, u. a. seine Inszenierung der „Bakchen“ nach Euripides, die den Jury- und Publikumspreis der Versionale 2009 erhielt. Seit der Spielzeit 2018/19 ist Rahlfs Intendant am Theater der Altmark. Foto Kerstin Jana Kater

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Nachtclubsängerin Sally Bowles anspielen, will sie mehr sein als seine blasse Kopie. Und da zeigt sich der Performance-Hintergrund von Rahlfs, sein sicherer Sinn für das Zusammenspiel von Tempo, Rhythmus, Tanz, Sprechen im Wechsel zum Gesang. Es ist, als ob Thing-Fish ihm dabei über die Schulter blickt. Er vermeidet nicht nur jede sentimentale Anverwandlung falscher Romantik samt Plüsch und Rotlicht, nein, er taucht die Szenerie bewusst in kaltes Licht: ein Eiskeller in Violett und Blau. Das hier wirkt wie ein Querschnitt durch den Rumpf der Titanic – und ganz unten im Kiel befindet sich der Kit-Kat-Club, wo man hofft, im Taumel der Musik und anderer Räusche der drohenden Realität draußen vor der Tür zu entgehen. Der Conférencier (Andreas Müller) mit seinem „Willkommen, bienvenue, welcome“ steht im Trikot im Licht des auf ihn gerichteten Spots, seine Bewegungen sind ruckartig. Er wirkt, als sei er hier nicht nur für die Unterhaltung, sondern auch für un­ angenehme Handlungen zuständig. Das Leben ist eine einzige Enttäuschung?, ruft er. Macht euch nichts draus! Seine bösen Treppenwitze verbleiben konsequent diesseits des schlechten Geschmacks: „Was haben verliebte Hochhäuser in New York? Flugzeuge im Bauch.“ Auch die Cabaret-Girls (vier großartige Tänzerinnen!) sehen sich einer jede Political-Correctness-Ideologie durchkreuzenden Ankündigung ausgesetzt, die jedoch zu ihrer Tätigkeit im Kit-Kat-Club passt. Rosi heißt so wegen der Farbe ­ihrer Lippen, und Texas hat eine besonders flotte Zunge. Ja, diese ganze dekadent freizügige Welt scheint ein einziger Puff – aber welch ein Paradies, gemessen an jener Zucht und Ordnung, die schon darauf warten, hier sauber zu machen. „Bitte, schont mein Renommee!“, singt Sally Bowles (herb und eigenwillig: Michaela Fent) – doch was sich hier anbahnt, das kennt keine Schonung. So gelingt es Rahlfs auf klug-unaufdringliche Weise, eine gegen­ wärtige gesellschaftliche Beunruhigung spürbar zu machen, aus der Sicht des strangers Clifford Bradshaw (virtuos: Helge ­Gutbrod)

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blickend, der aus den USA kommt und wieder zurückgeht – andere aber bleiben unrettbar zurück. Rahlfs muss unser Gespräch nun schnell beenden, gleich ­beginnt im Kleinen Haus die Vorstellung von Arthur Millers „Tod ­eines Handlungsreisenden“. Ein Stadtrat, der sich immer sehr für das Theater eingesetzt hat, soll nach der Vorstellung verabschiedet werden – auch das gehört zu den Aufgaben eines Intendanten. Die Aufführung ist ein hochgradig düsteres Kammerspiel vom Untergang einer Familie, in der der reisende Vertreter Willy Loman (stark in seiner fanatischen Art, den amerikanischen Traum wie eine ­Droge zu benutzen: Hannes Liebmann) auf seinen Selbstmord zusteuert, der das allzu späte Eingeständnis einer großen Lebenslüge bedeutet. Seine Frau Linda (eindrucksvoll: Katrin Steinke) konnte ihm niemals mehr als ein illusionärer Ruhepol inmitten der allgemeinen Auflösung sein. Die beiden Söhne Biff (Matthias Hinz) und Happy (Ole Xylander) sind seine größten Feinde geworden. Wie konnte es dazu kommen? Wolf E. Rahlfs’ Inszenierung verlegt den Kampf des Vaters mit seinen Söhnen in die Mitte des Raums – eine Art Arena (Bühne: Sofia Mazzoni), ein schwarzes, vierzig Zentimeter hohes Podest, die Zuschauer sitzen dicht drum herum. Wieder ein forciertes Tempo, eine Dynamik, die sich beim Zuschauen überträgt. Biff und Happy werfen sich über die Köpfe des Vaters Bälle zu, mitunter so scharf, dass sie nicht gefangen werden können – und manch ein Zuschauer vermag sich gerade noch zu ducken. Worum es ihm bei seiner Inszenierung ging, hat Rahlfs auch gesagt. Ganz im Sinne von Arthur Miller: um die Autonomie der Kunst in Zeiten unheilvoller Ideologisierung. Auch der amerikanische Traum ist eine Ideologie, falsches Bewusstsein, das jedem die Illusion vermittelt, er könne reich und erfolgreich werden, wenn er sich bloß richtig anstrenge. Willy Loman lebt diesen Traum bis zum bitteren Ende, bis zur völligen Erschöpfung. Seine Söhne aber haben sich davon längst verabschiedet, zelebrieren es geradezu, gescheiterte Existenzen zu sein. Es ist, so Rahlfs, auch die Geschichte von Lomans Abdriften ins Paranoide, in Wunschträume und Angstvisionen, die fast gleichzeitig über ihn hereinstürzen. Das ist dann wie eine ­ Aktie ohne Wert: Loman bezahlt vor seinem Tod noch die letzte Rate für sein Haus. Aber wohnen wird er darin nun nicht mehr, er wüsste auch gar nicht wie. Denn zu leben hat er nie gelernt auf seiner irren Jagd nach immer n ­ euen Aufträgen, nach all dem zermürbenden Druck, dem er schließlich doch erliegt. Ein amerikanischer Albtraum, hier mit hinreißender Wucht in Szene gesetzt. //

Hochgradig düsteres Kammerspiel vom Untergang einer Familie – „Der Tod eines Handlungsreisenden“ (2019), in Szene gesetzt vom neuen Intendanten Wolf E. Rahlfs. Foto Kerstin Jana Kater


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Keine Anbiederung, nirgends Unter neuer Intendanz zeigt sich am Landestheater Detmold auch der neue Schauspielchef Jan Steinbach ambitioniert

von Jens Fischer

Das Theater als letzte Insel selbstherrlicher Chefs? – Jan Steinbach inszeniert Shakespeares „Der Sturm“ (2018) als Kommentar zum autori­ tären Regietheater. Hier mit Emanuel Weber, Jürgen Roth und Patrick Hellenbrand. Foto Landestheater Detmold


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icht nur die Chefetage ist neu besetzt. 40 der 273 Beschäftigten nehmen frisch engagiert ihre Arbeit auf. Aufbruchseuphorie im ehemaligen Hoftheater des Fürstentums Lippe mitten in Detmold. Im heutigen Landestheater. Alles steht auf Anfang. Nichts wie hin. 19 Uhr. In der idyllisch ums Residenzschloss kuschelnden, zur Geisterstadt geleerten City herrscht zu dieser Zeit schon aufgeräumte Ruhe. Nur an Theatertagen huschen zu solch später Stunde noch mal kurz bis zu 650 Menschen aus dunklen Parkplatzwinkeln der sparsamen Jugendstilschönheit des Bühnen­ hauses entgegen. Nicht unwahrscheinlich, dass dort auch der leibhaftige Schlossbewohner Stephan Prinz zur Lippe, als Mitglied des Vorstands der Theaterfreunde, Platz genommen hat nebst Gemahlin Maria, Gräfin zu Solms-Laubach. Was Bürger und Adel eint, „ist hier eine besonders große Liebe zum Theater als Fixpunkt des Kulturlebens, das merke ich bei jedem Gespräch in der Stadt“, hat die neue Chefdramaturgin Lea Redlich festgestellt, nachdem sie von der sturmumtosten Nordseeküste ins windstille Tal am Fuße des Teutoburger Waldes gewechselt war. Schauspielchef Jan Steinbach holte sie an seine Seite. Beide haben an der Landesbühne Niedersachsen Nord in Wilhelmshaven zusammengearbeitet, bringen also die für Detmold notwendige Erfahrung für Produktionen mit, die sowohl im Stammhaus wie auch in ­Aulen, Gemeindehäusern, Stadthallen der Region funktionieren müssen. Steinbach ver­antwortet in seiner ersten Saison für das Schauspiel 292 Aufführungen in Detmold und 117 an Gastspiel­ orten. Mit allen Sparten gastiert das Haus insgesamt an 52 Orten. 1,6 Millionen Euro des 21-Millionen-Etats werden daheim, 1,4 Millionen auswärts eingespielt, 10,3 Millionen spendiert das Land, weiterer Gelder kommen unter anderem vom Kreis, von der Stadt, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Was Steinbach an dieser Situation reizt? „Der Intendant ­Georg Heckel. Ich kannte ihn überhaupt nicht, wir wurden einander vorgestellt, und es war sofort Liebe auf den ersten Blick in künstlerischen Fragen“, erklärt der Schauspielchef. Das passte prima, denn der klassisch ausgebildete Gesangsolist Heckel war bisher als Chefdisponent, künstlerischer Betriebsdirektor und Operndirektor tätig, ist also Fachmann für M ­ usiktheater sowie Verwaltung und brauchte für das Vier-Sparten-Haus dringend

Jan Steinbach, geboren 1976, studierte nach einem Germanistik-, Anglistik- und Philosophie­ studium von 2003 bis 2007 Theaterregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main und legte in dieser Zeit erste Regiearbeiten am Staatstheater Wiesbaden vor. Ab 2007 arbeitete er als freiberuflicher Regisseur, u.  a. in Greifswald, Meiningen, Kaisers­ lautern, Stendal, Wiesbaden, Bremerhaven und Wilhelmshaven. Seine Wilhelmshavener Inszenierung von Goethes ­ „Stella“ wurde 2010 als „Beste Regie“ für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST nominiert. Seit der Spielzeit 2018/19 ist Jan Steinbach Schauspieldirektor am Landestheater Detmold. Foto A. T. Schaefer

Vorstadtgeplapper oder die Banalität des Normalen – Heiner Junghans und Alexandra Riemann in „Gute Nachbarn“ von Will Eno in der deutschsprachigen Erstaufführung von Jan Steinbach am Landestheater Detmold. Foto Jochen Quast

j­emanden, der auch Sprechtheater kann. Steinbach kann. Elf ­Jahre hat er zwischen Kiel und Bregenz, Greifswald, Stendal, ­Meiningen und Bonn als freier Regisseur gearbeitet, „das Hinund-her-Fahren auch sehr geliebt“. Aber Spartenleitung sei nun der reizvoll nächste Schritt seiner Karriere, nicht mehr nach Premieren aus der Stadt zu verschwinden, „sondern mit Publikum und Ensemble gemeinsam zu wachsen“. Eine weiße Seite hochwertig mattes Papier, Landestheater Detmold 2018 / 2019 darauf gedruckt, in einer fett mit Serifen auf altmodisch getrimmten Schrifttype, darüber die modern stilisierte Minigrafik des Säulenportals des Bühnentempels, darunter eine abstrahierte Lippische Rose: So nüchtern prunkt das Cover des ersten Spielzeithefts um Aufmerksamkeit. 176 Seiten dick. Nicht künstlerisch ausgefuchste Porträts der Mitarbeiter sind darin der Hingucker, sondern ihre Kunst dezenten Lächelns auf seiten­ großen Passbildern. Keine Anbiederung, nirgends. Woran sich auch die Eröffnungspremiere des Schauspiels hält. Am Anfang ist der leere Raum. Warten auf den Urknall. Den „Sturm“. Shakespeares philosophische Zauberromanze, in der von Natur und ­Zivilisation, Macht und Unterwerfung, gerechter Herrschaft und Realpolitik die Rede geht. Steinbach nutzt den Stoff als Präsenta­ tionsplattform für das neue Ensemble. Sechs Schauspieler suchte er per Vorsprechen aus, sechs Etablierten verlängerte er den Vertrag, und seine beiden Lieblinge aus Wilhelmshaven und Bregenz brachte er mit. Alexandra Riemann betritt die 256 Quadratmeter schwarzen Nichts. Geflochtenes Blondhaar, schwarzer Hosenanzug, mürrischer Blick einer gelangweilten Managerin. Es werde Licht – fingerschnipsend lässt sie Scheinwerfer erglühen. Nimmt sich ein Mikrofon und bläst säuselnd hinein, beginnt zu fauchen, zerreißt und zerknüllt Papier, stößt Möwenschreie aus, wedelt auch mit


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dem Donnerblech. Gespeichert und gemixt per LoopStation formieren sich die Geräusche zu einem formidablen Sturmgebraus mit Brandungsgetöse und dem Geknarze eines Schiffs in Seenot. Statt überwältigendem Bühnenbild – ein faszinierendes Hörspiel. Riemanns Ariel ist nicht der Luftgeist eines Märchenspiels, sondern Toningenieurin, Bühnenmeisterin, später auch noch Regieassistentin und Abendspielleiterin. Die benötigten Schauspieler führt sie herein wie eine Schar willenloser Geschöpfe. Überein­ander purzeln sie und springen später nur zu ihren Stichworten auf, um Text abzuliefern – und wieder zusammenzusinken. Wände werden um das Menschenknäuel aufgerichtet. Prunkvolle Renaissancekostüme liegen bereit. Das Spiel kann beginnen. Die Insel, über die der dorthin verbannte Prospero herrscht: ist eine Bühne. Seine Magie - die des Theaters. Er selbst der regieführende Intendant, der noch einmal die großen Themen des Lebens und des Dramas zum Auftritt nötigt. Für Steinbach ist Prospero aber kein Musterbeispiel an Güte, sondern ein selbstherrlicher Chef, der sein Ensemble wie ein Puppenspiel dirigiert. Wobei Anna Crons im Zeitgeistjargon kalauernde Übersetzung auch zum Herumalbern treibt. Wenn ­Miranda ihren Ferdinand erstmals erblickt, ist das ein Kerl im Bodybuilding­design, und sie tiriliert: „Papa, der ist so süß.“ Herzschmunzelnd durchturteln sie ihre Verliebtheitsturbulenzen. Von Steinbach als klamaukige Trunkenheitsnummern angelegte Clownsszenen geraten hingegen nervötend. Nicht einmal die Übertitelungsanlage kommt als Übersetzungshilfe dem Gelalle hinterher und zeigt nur noch: „????“ Immer wieder schält die Regie aber auch kurze Soli aus dem Text, in denen Figuren ihre Utopien von gemeinschaftlichem Arbeiten und sozialem Miteinander artikulieren. Final darf Prospero nicht seine große Vergebungsshow abziehen. Die Schauspieler haben einfach genug von seinem autoritären Regietheater, die Tochter genug von seinem herrischen Vatergetue, also hauen sich alle ein Loch ins Bühnen­ gefängnis und fliehen – in die Schauspiel­ zukunft des Landestheaters. Der Abend ist durchaus programmatisch gemeint. „An die Tiefe der Menschen herankommen; wenn wir die Rollen auf der Bühne ausarbeiten, dann ist immer Komik und Tragik vereint. Wenn sich das später mal als Marke für unsere Arbeit in Detmold durchsetzt, hätte ich nichts dagegen“, betont Steinbach. Auch der Spielplan sucht die Gegensätze. Aufgrund des langen Planungsvorlaufs waren Wiederaufnahmen sowie zwei Premieren bereits vor seinem Antritt fixiert, sodass geplante spartenübergreifende Arbeiten und neue Text-/Theaterformen, etwa die erste JelinekInszenierung in Detmold, erst in den kommenden Spielzeiten möglich sein werden. So vereint Steinbachs Spielplan erst mal „Klassiker, die Spaß machen sollen“ - neben seinem „Sturm“ Frischs „Andorra“ und Kleists „Kohlhaas“ -, zeitgenössische Texte von Jan Neumann, Duncan Macmillan, Marius von Mayenburg sowie Verkaufshits für die Gastspiele wie „Sonny Boys“. Jan Steinbach nahm sich Will Enos „Gute Nachbarn“ vor, weil es um sein Lieblingsthema geht: die absurden Missverständnisse im Scheitern menschlicher Kommunikation. Zu erleben ist im Vorstadtgeplapper, wie zwei Ehen im Leerlauf verdämmern. Statt Brandy zur

Frustbewältigung steht aber Mineralwasser auf dem Tisch. Die Auseinandersetzungen werden also gesitteter als bei Albee, Reza & Co. eskalieren. Es ist auch eher unterschwelliges Unbehagen denn offener Hass zu spüren, wenn die Paare aneinander vorbeireden. Immer bemüht, ihre Ängste und Gefühle, alles, was sie an- und umtreibt, zu verbergen. Ganz offensichtlich aber bandeln sie in ihrer Einsamkeitsnot über Kreuz miteinander an. Streifen auch Existenzielles: Beiden Ehemännern hat der Autor eine degenerative ­neurologische Erkrankung angedichtet – sodass ihr Leben unzweifelhaft eine Krankheit zum Tode und vom drohenden Verlust der Selbstbestimmung gekennzeichnet ist. Wieder ein Fest für Steinbach, hochfliegend Tragisches und abgründig Komödiantisches zu vereinen? Er versucht, mit Pausen, Stilisierungen, gedehnten Momenten auf das Unausgesprochene zu verweisen und die Komik der Vorlage nach Art der Sitcoms zu bedienen. Die Schauspieler schaffen den Spagat nicht, auch weil die Regie keinen Rhythmus, keine übergreifende Melodie findet. Die Pointen der Ping-Pong-Dialoge verpuffen, Inhalte wirken überdeutlich ausgestellt. Bis das lustige Leidensquartett in ihre Beziehungen zurücktändelt und trotz allem mal schauen möchte, was noch so geht. Also Mut machen will. Was den Abend immerhin sym­ pathisch macht. Ansonsten wirkt Steinbachs Auftakt vielver­ sprechend. Der Spielplan zeigt künstlerische Ambitionen, das Ensemble Experimentierfreude, die Regieteams beweisen Mut. Auf der Suche nach einer Ästhetik nicht verzweifeln wollender Heiterkeit. //

VON BERLICHINGEN VON J. W. VON GOETHE INSZENIERUNG TILMAN GERSCH PFALZBAU BÜHNEN LUDWIGSHAFEN

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WWW.THEATER–IM–PFALZBAU.DE

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Essener Verhältnisse Unter der Intendanz von Christian Tombeil stellt das Schauspiel Essen mit partizipativen Projekten und politischen Stoffen den Bildungsauftrag in das Zentrum seiner Arbeit von Sascha Westphal

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ssen ist eine geteilte Stadt. Gleich zwei Mauern, die als Lärmschutzwände zu beiden Seiten die Autobahn A40 einhegen und den Anwohnern eigentlich nur ein bisschen Ruhe schenken sollen, zerschneiden die Stadt. Die stark befahrene Autobahn, die euphemistisch als eine Art Lebensader des Ruhrgebiets beschrieben wird, in Wahrheit aber eher einer chronisch verstopften, kurz vor dem Infarkt stehenden Arterie gleicht, bildet eine deutlich sichtbare Grenze. Sie separiert den Norden vom Süden der Stadt und damit die alten Arbeiterviertel von den Villensiedlungen im Grünen. Wer nördlich der A40 aufwächst, schafft kaum einmal den Sprung auf die andere Seite, und wer dort in den südlichen Stadtteilen lebt, wird die Autobahn höchstens zur Arbeit oder zum Shopping überqueren. Der Weg ins Kino, die Mall oder ins GrilloTheater führt zwar auf die andere Seite der Stadt, endet aber doch auf quasi neutralem Boden. Denn dort mischen sich die gesellschaftlichen Schichten noch ein wenig. Ansonsten bleibt man eher unter sich. Dieses soziale und natürlich auch monetäre SüdNord-Gefälle ist für viele Städte des Ruhrgebiets charakteristisch. In Essen offenbart es sich aber besonders deutlich. Hier ist die eingemauerte A40 tatsächlich eine Art „Sozialäquator“. Nicht ohne Grund sagt Christian Tombeil, der die Leitung des Schauspiels Essen im Sommer 2010 von Anselm Weber übernommen hat: „In Essen liegen viele Themen auf der Straße.“ Und einer, der sie dort aufsammelt und dann ins Theater hineinträgt, ist der für seine politischen und oft auch agitatorischen Arbeiten bekannte Regisseur Volker Lösch. Im vergangenen Jahr, für „Der Prinz, der Bettelknabe und das Kapital“, seine wütende Überschreibung von Mark Twains Märchen „Der Prinz und der Bettelknabe“, hatte Bühnenbildnerin Carola Reuther eine Mauer mitten durch den Zuschauerraum des Grillo-Theaters gezogen. Im Süden saßen die Zuschauerinnen und Zuschauer wie gewohnt auf roten Theaterstühlen und blickten auf die mit einer Art Portal verzierte Bühne. Im Norden versperrte dagegen die Mauer die Sicht auf das Bühnengeschehen. An dem konnte das dort auf dem Boden sitzende Publikum nur über ein paar im Raum verteilte Monitore teilhaben. Auf der einen Seite also Bürgerlichkeit pur, auf der anderen die Erfahrung, ausgeschlossen zu sein.

Ganz so klar und simpel sind die Verhältnisse in Essen natürlich nicht. Aber einen unvergesslichen Eindruck davon, was es heißt, auf der falschen Seite der A40 aufzuwachsen, hat einem Volker Löschs Inszenierung auf jeden Fall vermittelt. In dieser Hinsicht ist sie geradezu exemplarisch für Christian Tombeils Ausrichtung des Theaters, zumal im Zentrum der Aufführung sechzehn Essener Jugendliche – acht stammten aus dem Norden, acht aus dem Süden – standen. Durch partizipative Arbeiten, die seit Jahren ein wichtiger Bestandteil des Essener Spielplans sind, bauen Christian Tombeil und sein Team Brücken in die Stadtgesellschaft hinein. Brücken, die es zudem den Beteiligten und dem Publikum ermöglichen, reale wie gefühlte Mauern zu überwinden. Kunst und ­Sozialarbeit vermischen sich dabei auf inspirierende Weise. „Das Ruhrgebiet ist ein idealer Ort für partizipative Projekte“, erzählt Marc-Oliver Krampe, der in den ersten Jahren von Christian Tombeils Intendanz als Dramaturg am Schauspiel ­Essen war. Mit „Balls“ und „Pornoladen“ hat er damals zwei dieser Stadtprojekte initiiert und inszeniert. Seine Erkundungen der lokalen Fußballszene haben ebenso wie seine Recherchen zur Prostitution von der ungeheuren Diversität der Bevölkerung in diesem Ballungsraum profitiert. „Einer der großartigen Aspekte des Lebens im Ruhrgebiet ist, dass man dort zu jedem gesellschaftlich relevanten Thema Beratungsstellen und tolle Experten findet.“ Gerade diese Fülle von Experten, die im Rahmen der Produktion „Pornoladen“ von ihrem Leben im Milieu der Erotikshops wie des Straßenstrichs erzählten, hob die Inszenierung aus dem Gros ­partizipativer Projekte heraus. Die eindrucksvollen Biografien der Beteiligten glichen Puzzlestücken, die sich zu einem großen ­Gesellschaftspanorama zusammensetzten. Fragt man Christian Tombeil nach den Erfolgen der partizipativen Projekte, verweist er nicht nur auf hervorragende Auslastungszahlen. Er erzählt dann auch sofort von Maurice Birkner, einem Jugendlichen aus dem Essener Norden, den die Behörden nach zwei gescheiterten Maßnahmen schon aufgegeben hatten. In Volker Löschs Inszenierung war er mit seiner Wut die Leitfigur der unterprivilegierten Jugendlichen, nun macht er ein einjähriges Praktikum in den Werkstätten des Theaters, das zu einer Ausbildungsstelle führen kann. In einer vom Strukturwandel geprägten Region bieten sich solche Aufstiegschancen nur in Maßen an. Nach der Industrialisierung des Ruhrgebiets Ende des 19. Jahrhunderts folgte Ende des 20. die Deindustrialisierung. Als vor einigen Monaten die


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Meldung kam, dass der thyssenkrupp-Konzern, der mit der Geschichte Essens wie des ganzen Ruhrgebiets eng verknüpft ist, aufgespalten werden soll, schlug diese Nachricht in Essen keine großen Wellen. Solche Einschnitte ist man hier gewohnt; in den letzten 150 Jahren ging es immer wieder rasant auf- und ebenso rasant abwärts. Und das ist in Christian Tombeils Augen „ein ungeheurer Standortfaktor“. In der Spielzeit 2017/18, in der das Essener Grillo-Theater seinen 125. Geburtstag feierte, hatten Christian Tombeil und sein Team die Geschichte des Ruhrgebiets ganz in den Fokus ihrer Arbeit gerückt. „Der Fall der Götter“, Jan Neumanns Inszenierung von Peter Litschers Bearbeitung von Luchino Viscontis „Die Verdammten“, griff die Geschichte des Krupp-Konzerns vor und während des NS-Regimes auf und eckte damit bei einem Publikum, für das der Name Krupp doch untrennbar mit dem Aufstieg der Stadt verbunden ist, auch an. Ähnlich umstritten war Bernd Freytags und Mark Polschers Bearbeitung der „Proletenpassion“, die Heinz R. Unger in den 1970er Jahren gemeinsam mit der Band Schmetterlinge geschrieben hatte. Freytags und Polschers desillusionierender Blick auf die Geschichte des Proletariats ließ keinerlei Revolutions­ romantik aufkommen, enttäuschte so zwar einige Fans der Schmetterlinge, warf aber die entscheidende Frage auf, ob gesellschaftliche Veränderungen überhaupt noch möglich sind. Weniger umstritten war die Eröffnung der Jubiläumsspielzeit mit Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, denn das Essener Publikum hatte diesen modernen Klassiker im Rahmen der Aktion „Wünsch dir was“ selbst auf den Spielplan gesetzt. Von mehreren zur Auswahl stehenden Stoffen konnte der „Besuch der alten Dame“ 42 Prozent auf sich vereinen. Christian Tombeil schwärmt noch heute von der Entscheidung seines Publikums. Für ihn zeugte sie von einer Offenheit und einer Bereitschaft, sich mit den Realitäten der Stadt und der Region künstlerisch auseinanderzusetzen. Dementsprechend liegt Dürrenmatts verarmtes Dorf Güllen in Thomas Krupas Inszenierung unverkennbar im Ruhrgebiet. Thilo Reuthers Bühnenbild beschwört eine Atmosphäre des Verfalls herauf, die sofort lokale Assoziationen weckt. Natürlich

Der Essener Sozialäquator verläuft mitten durch den Theaterraum – Volker Lösch lässt in seiner Inszenierung „Der Prinz, der Bettelknabe und das Kapital“ (2018) am Schauspiel Essen das Publikum jenseits einer Mauer Exlusion live erfahren. Foto Martin Kaufhold

ist Essen nicht Güllen. Aber die Gefahr des Absturzes ist dem Essener Publikum schmerzlich bewusst. Die wechselvolle Geschichte schwang aber auch in allen anderen Spielplänen des Schauspiels mit. Dafür stehen neben Volker Lösch auch Regisseure wie Hermann Schmidt-Rahmer und Thomas Krupa. Schmidt-Rahmer hat 2011 in Essen seine stilbildende Inszenierung von Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“ erarbeitet und hier seither seine ganz eigene Form eines politischen Theaters zwischen Agitation und Verstörung, Satire und tieferer Bedeutung konsequent weiterentwickelt. Anders als Volker Löschs Arbeiten sind seine Inszenierungen zwar nicht direkt auf die Essener Verhältnisse zugeschnitten, aber sie spüren Stimmungen nach, die auch das Leben im Ruhrgebiet prägen. Als Stefan Diekmann in „Ulrike Maria Stuart“ ein Exemplar von Stéphane Hessels „Empört Euch!“ in die Höhe hielt und das Ensemble das Publikum zu politischen Aktionen im Stadtraum aufrief, dachte man natürlich sofort an die „Wutbürger“ jener Jahre. Wenn Christian Tombeil voller Überzeugung sagt, „Theater kann sehr wohl politische Bildung leisten“, dann meint er damit Schmidt-Rahmers radikale Befragungen unserer Gegenwart ebenso wie Thomas Krupas 2012 entstandene Bühnenadaption von ­Peter Weiss’ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“. Damals hatte Krupa ganz bewusst die integrative Wirkung von Bildung und Kultur betont. Wer sich mit den großen Werken der Literatur und der Kunst, des Theaters und der Philosophie beschäftigt, wird eher ­Widerstand gegen autoritäre Entwicklungen und Tendenzen leisten. Damit lag Krupa ganz auf der Linie Christian Tombeils: „Das Stadttheatersystem hat einen Bildungsauftrag. Es kann Denkmodelle ebenso wie ästhetische Modelle zur Diskussion stellen und damit einen entscheidenden Teil zur Volksbildung beitragen.“ //


Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Ich denke anders, also bin ich Der Regisseur Evgeny Titov befragt Sinn und Unsinn des menschlichen Daseins mit den Mitteln der Metaphysik

B

ei Evgeny-Titov-Inszenierungen muss man auf Überraschungen gefasst sein. Mal fällt eine ausgewachsene Kuh vom Schnürboden – so geschehen 2017 bei der „Hexenjagd“ von Arthur Miller am Düsseldorfer Schauspielhaus –, ein anderes Mal wird der Titel eines Stücks gleich ganz neu definiert, wie jüngst am Staatstheater Wiesbaden. „Der eingebildete Kranke“ als Fall von Hypochondrie, davon will Titov nichts wissen. Starb nicht der Verfasser Molière an einem Blutsturz in der Garderobe seines Theaters? „Einbildung“, das liest dieser Regisseur strikt im biblischen Sinn: In Argan, der Titelfigur, sei wie in uns allen die Ursünde „eingebildet“. Vermutlich hat es mit Titovs russischer Herkunft zu tun (er wurde 1980 in Kasachstan geboren), dass er anders, also genauer liest. Und diese Lesarten haben durchaus metaphysische und pathetische Aspekte. Ich denke anders, also bin ich. Ohne die geringsten Deutschkenntnisse kam Titov, nach einer Schauspielausbildung an der Theater­ akademie St. Petersburg, nach Wien und studierte am Max Reinhardt Seminar bei Martin Kušej Regie. (Angenommen worden war er erst beim zweiten Anlauf. Titov erwähnt Kränkungen in seiner Biografie fast mit einer gewissen Inbrunst.) Seit gut zwei Jahren inszeniert der 38-Jährige nun selbst und fand auf Anhieb viel ­Beachtung. Die Bühne in Wiesbaden ist kein bürgerlicher Salon, sondern eine kahle Gruft, in die eine gemauerte Treppe hinabführt. Nichts als ein Gully und ein Schlauch sind da zu sehen. Rainer Kühn als Argan ist eine hagere, knochige Gestalt, in einen schäbigen Schlafsack gehüllt. Sinn und Zweck seines Daseins sind Reinigungsrituale aller Art. Einmal ertönt eine Gespensterstimme und rät dazu, sich notfalls einen Arm abzuhacken oder ein Auge auszureißen. Das steht so bei Molière, eher als scherzhaftes Aperçu. Es steht genauso aber auch in der Bibel, und darauf will Titov hinaus. Denn in der Bibel wird nicht gescherzt.

Ob man über seine Inszenierung nicht auch mal lachen könne, will Evgeny Titov wissen. Nun, Vater und Sohn Diafoirus, beide sind Ärzte, haben in ihrer Pat-und-Patachon-Anmutung schon eine gewisse Komik. Aber die Ärztesatire ist nicht das, was Titov als Regisseur interessiert. Es gibt in dieser Aufführung Erfindungen, die nicht gleich ins Auge stechen, Feinheiten, die erklärungsbedürftig sind, aber trotzdem ihre Wirkung tun. Zum Beispiel hat Titov jeder der sieben Figuren, die bei ihm auftreten, eine der Todsünden zu­ geordnet. Angélique, das Töchterchen, das Argan mit einem idiotischen Doktor verehe­ lichen will, ist demnach träge bzw. melancholisch. Argan selbst verkörpert die Superbia, den Hochmut. Es ist in diesem Fall eine Art Sündenstolz. Der Rest ist Nietzsche. Am Schluss, anstelle eines Happy Ends, zitiert Argan aus „Also sprach Zarathustra“: Vom „Überdruss an allem Dasein“ ist da die Rede. „Ekel, Ekel, Ekel!“ In Michail Bulgakows Roman „Hundeherz“, den Titov als Nächstes in Düsseldorf inszeniert, geht es um den Versuch, den „immer gleichen“ Menschen in etwas Größeres, Erhabeneres zu transformieren. Professor Preobraschenski bedient sich dazu der leiblichen Hülle eines Straßenköters, dem er menschliche Hoden, eine Hypophyse etc. einpflanzt. Ob am Ende tatsächlich ein Übermensch à la Nietzsche entsteht? Oder doch nur ein zweites Frankenstein-Monster? Beim Erzählen und Fantasieren taut Evgeny Titov auf. Bald ist er nicht mehr zu bremsen. Er redet sich in Rage – über den Theaterbetrieb, über Sehgewohnheiten, Kritik, falsche Bewertungen, über das KBB (nicht zu verwechseln mit KGB oder KBW), alles mit sehr viel Charme. „Bitte, schreiben Sie das nicht!“ Aber der abgewandelte Descartes-Spruch, den wir gemeinsam erfinden, der gefällt ihm sehr, und den darf man zitieren. // Evgeny Titov. Foto privat

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Martin Krumbholz

Michail Bulgakows „Hundeherz“ in der Regie von Evgeny Titov ist am Düsseldorfer Schauspielhaus wieder am 8., 21. und 28. März zu sehen.


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Look Out

Moderne Zeiten Das Theaterkollektiv WuK bereichert die freie Szene in Halle mit klugen Inszenierungen über die Katastrophen unserer Welt

espielt wird auf einem bedruckten PVC-Boden: konzentrische schwarze Quadrate auf weißem Untergrund, die Unendlichkeit suggerieren – für die Spielenden ohne Ausweg. Von außen ragt einzig ein roter Keil in die Mitte als mögliche Unterbrechung – das Ende eines endlosen Spiels. „Finistère“, so der Titel des Stücks, heißt das westlichste kontinentale Département Frankreichs. Gelegen am äußersten Rand der bretonischen Halbinsel, wurde es bereits zu römischen Zeiten „Finis terrae“ genannt: das Ende der Welt. Es bildete den Fluchtpunkt der alten Welt, die äußerste Spitze der Erde. So wenig jedoch die Welt an der französischen Küste endet, so wirkmächtig ist die Vorstellung eines Ortes geworden, dem nicht zu entrinnen ist und dessen Insassen der Glaube an den totalen Untergang verbindet. Einzig noch das Bild des Keils, der vom Publikum aus in die Spielfläche ragt, dem „Roten Keil“ von El Lissitzky ähnlich, vermag einen Bruch im Kosmos einer wahnhaft gewordenen Welt zu setzen. Mit „Finistère“ sowie der ersten Eigenproduktion „Paare in Zeiten der Hysterie“ begann im November 2017 unter dem Titel „#1 Hysterie“ das erste „Kapitel“ des WuK-Theaters in Halle. Das freie Theaterkollektiv um Nicole Tröger und Tom Wolter hat das Panorama der freien Szene in Halle entscheidend erweitert und sorgt für Verblüffung. Verblüffend ist nicht nur die Fülle an Projekten (Lesungen, Workshops, Demonstrationen, Eigenproduktionen und Kooperationen), sondern auch die Dichte der Gedanken, mit denen das Kollektiv, das sich nunmehr im „Kapitel #5“ befindet, sein Publikum konfrontiert. Anfangs noch mit der Renovierung seines Spielortes, des ehemaligen Kulturhauses Kurt Wabbel, beschäftigt, hat sich das WuK (der Name steht für den Verein „Werkstätten und Kultur Halle (Saale)“) die Räumlichkeiten nun ganz angeeignet. Mit jedem Kapitel wächst das Haus und wird von Spielstoffen durchdrungen: Ein Mosaik aus Spiegeln begrüßte das Publikum zum Kapitel „#3 Kapitalismus“, ein Baustellengraben wurde zum Burggraben des Kapitels „#4 Si-

Das WUK-Team – Tom Wolter, Nicole Tröger, Elsa Weise und Sarah Peglow. Foto WUK

G

cherheit“, und ihr Artist in Residence, Marc-Antoine Petit, erweitert mit jedem Kapitel den Gang zur Bühne zu einer begehbaren Traumcollage. Von „Hysterie“ über „Moskau, Moskau“ und „Kapitalismus“ bis hin zu „Sicherheit“ wird zwar jedes Mal ein neues Kapitel aufgeschlagen – doch könnte man sich diese als Teil eines einzigen Buches vorstellen, als dessen Klappentext ein Motto fungieren könnte, das bereits im ersten Stück auftauchte: mit jedem Projekt psychische Fallhöhen auszuloten. In „Finistère“ bildet Becketts „Endspiel“ den Ausgangspunkt, doch zur Enttäuschung derjenigen, die sich eine farbenreich-komische Musealisierung von Hamm und Clovs Einöde gewünscht hätten, zeigt die Inszenierung von Tom Wolter nicht die Welt nach der Katastrophe, sondern die des Katastrophismus der PrepperBewegung, einer wachsenden Gruppe von Menschen, welche den nahen Zusammenbruch der Welt erwarten. Die Clownerie wird überführt in einen Zustand, dem der Witz abhandengekommen ist, der einzig noch darin komisch ist, dass er auf Dauer überhaupt ertragen werden kann. In „Modern Times“ lässt Tom Wolter Chaplins Film mit der Szenerie einer Arbeitswelt kollidieren, die Freiheit und Flexibilität suggeriert und in der Gegenüberstellung zur Pantomime gerinnt – der bloßen Vorstellung, dem Schein von Freiheit. Selbst Trump vermochte man in Halle eine angemessene Hommage zu bereiten, die zugleich antiamerikanische Ressentiments enttäuschte, Dämonisierung verhinderte und doch die Brutalität und Bösartigkeit der Figur aufnahm. In der Reflexion auf solch clowneske politische Charaktere, verhandelt das WuK vor allem die Frage, was das Theater gegen deren offenen Zynismus anrichten kann. Der Gegenwart wird der Prozess gemacht, als Grund aller Veränderung wird ihr das Begehren ent­ gegengesetzt. Folgerichtig trägt das fünfte Kapitel den Titel „neu beginnen“ und die Eigenproduktion: „Und am Anfang war Sex. Oder warum wir aufbegehren“. // Chris Weinhold „Und am Anfang war Sex oder warum wir aufbegehren“ ist am 12. und 13. April im WUK Theater Quartier in Halle (Saale) zu sehen.

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/ TdZ März 2019  /

Zeitschrift für Theater und Politik

Abo-Vorteile

Thema: Italien in der Krise / Neustarts in Detmold und Stendal / Am Sozialäquator: Das Schauspiel Essen / Thomas Oberender über die Weltpremiere des DAU-Projekts in Paris / Künstlerinsert Hamster Damm

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März 2019 • Heft Nr. 3

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Theater der Zeit März 2019

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Die Regisseurin Pınar Karabulut

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Buchverlag Neuerscheinungen

Newton Moreno Wüstes Land, Agreste (Malven-Rose)

28

Was passiert, wenn Dorfbewohner entdecken, dass eine Frau als Mann seine/ihre große Liebe gelebt hat, erzählt Wüstes Land, Agreste von Newton Moreno.

Grace Passô Für Elise Silvia Gomez Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm Pedro Brício Fast verlorene Liebesmüh Paulo Santoro Das Ende aller Wunder Sergio Roveri Hängepartie (mit Innenansichten)

Theaterstücke aus Brasilien

ilianinschaft profiiens erausgenoAugusto eretzt.

auftritt

/ TdZ  März   // März 2019 2018

Unbeherrschbare Ereignisse, Gefühle und Kontrollzwang bringen in Grace Passôs Für Elise vier Personen einander näher als erwünscht. „Alles unter Kontrolle“, erklärt die Krankenschwester in Silvia Gomez’ Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm über die Sehnsüchte und Ängste ihrer Patientin. Theaterstücke von Newton Moreno Grace PassÔ Silvia Gomez Pedro Brício Paulo Santoro Sérgio Roveri

In Pedro Brícios Fast verlorene Liebesmüh improvisieren und streiten vier Schauspieler auf einer Theaterprobe über die Mathematik der Liebe und des Theaters. In Paulo Santoros Das Ende aller Wunder philosophieren ein alter Professor und seine Frau im Rollstuhl über den Kosmos und bezahlten Sex im Alter. In Sergio Roveris Hängepartie (mit Innenansichten) lästern und lamentieren zwei Fensterputzer an einem Hochhausturm über die da drinnen und die da draußen über dem Abgrund.

Dieser Band versammelt sechs Theaterstücke aus Brasilien, die erstmalig in deutscher Sprache vorliegen.

Dieser Band versammelt sechs Theaterstücke aus Kuba, die erstmalig in deutscher Sprache vorliegen.

Newton Moreno: Wüstes Land, Agreste (Malven-Rose) Grace Passô: Für Elise Silvia Gomez: Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm Pedro Brício: Fast verlorene Liebesmüh Paulo Santoro: Das Ende aller Wunder Sergio Roveri: Hängepartie (mit Innenansichten)

Yerandy Fleites Pérez: Passion King Lear Carlós Celdrán: Zehn Millionen Agnieska Hernández: Mehr, Macbeth! (Ein dokumentarisches Fest) Reinaldo Montero: Eldorado Yunior García: Jacuzzi

Aufführungsrechte: vertrieb@theaterderzeit.de

Abel González Melo: Mechanismen (Ein Spiel mit den Gesetzen der Bewegung)

Dialog 28 Theaterstücke aus Brasilien Herausgegeben von Henry Thorau

Dialog 30 Theaterstücke aus Kuba Herausgegeben von Omar Valiño

Paperback mit 214 Seiten ISBN 978-3-95749-152-7 EUR 22,00 (print). EUR 18,00 (digital)

Paperback mit 300 Seiten ISBN 978-3-95749-154-1 EUR 22,00 (print) . EUR 18,00 (digital)

Wer Visionen hat, sollte ins Theater gehen. Markgraf Georg Wilhelm baute den Erlangern 1719 ein besonders schönes und legte damit den Grundstein für das heute älteste bespielte Barocktheater Süddeutschlands. „300 Jahre Theater Erlangen“ lädt – mit Anekdoten, Interviews und vielen Bildern – zu einer facettenreichen Zeitreise ein und entwirft neue Visionen für ein Stadttheater der Zukunft.

Der Theaterregisseur Herbert König war ein Ausnahmekünstler. Als Quereinsteiger begann er seine Theaterkarriere und war, sofern die staatliche Zensur dies zuließ, an verschiedenen Bühnen der DDR tätig, u.a. – als Weggefährte von Frank Castorf – in Anklam, bis ihm nur die Ausreise in den Westen blieb. Seine radikale Theatersprache wurde als Verstörung wahrgenommen. Königs Weg zur Bühne und seine Arbeiten in der DDR der 1970er und 1980er Jahre zeichnet Thomas Wieck genau, anschaulich und engagiert nach. Ergänzt wird diese theatergeschichtliche Betrachtung durch zahlreiche Kritiken, bisher unveröffentlichtes Archivmaterial, eindrucksvolle Fotografien sowie ein Inszenierungsverzeichnis.

300 Jahre Theater Erlangen Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft Karoline Felsmann und Susanne Ziegler (Hg.) Paperback mit 240 Seiten Mit zahlreichen farbigen Abbildungen ISBN 978-3-95749-160-2 EUR 30,00 (print). EUR 24,00 (digital)

RECHERCHEN 140 Thomas Wieck Regie: Herbert König Über die Kunst des Inszenierens in der DDR Paperback mit 210 Seiten ISBN 978-3-95749-198-5 EUR 18,00 (print) . EUR 14,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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Auftritt Augsburg

„Europe Central“ (UA) nach dem Roman von William T. Vollmann  Aarau

„Alles wahr –

Bamberg „Leere Herzen“ (UA) von Juli Zeh  Kassel „Intervention“ (UA) von Rebekka Kricheldorf München „Amsterdam“ (DSE) von Maya Arad Yasur  Oberhausen „Salome“ von Oscar Wilde  Rostock „Grete Minde“ (UA) nach Heinrich Theodor Fontane  Zürich „Das Leben des Vernon Subutex“ (UA) von Virginie Despentes Ein Stück Verschwörungstheorie“ (UA) von Daniel Di Falco


auftritt

/ TdZ  März 2019  /

Oberhausen (das Haupthaus wird seit Januar 2019 generalsaniert). „Europe Central“ hat es also an den Stadtrand verschlagen. Dafür

Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

aber bietet die wuchtige Architektur des hoch aufragenden sogenannten Ofenhauses mit der von hohen Fenstern strukturierten Fassade und einem Baukörper, der an eine Kirche mit

THEATER AUGSBURG: „Europe Central“ (UA) nach dem Roman von William T. Vollmann Regie Nicole Schneiderbauer Ausstattung Miriam Busch

»Gameplay@stage« Theaterarbeit trifft (Computer)Spiel 5 Workshops

Mittel- und Seitenschiffen erinnert, die ideale Kulisse für diese theatrale Kraftanstrengung. Schneiderbauer und ihre Dramaturgin Kathrin Mergel haben den Abend als Tripty-

ab Februar 2019

chon konzipiert. Im ersten Teil hebt eine Art

www.bundesakademie.de

AUGSBURG

historisches Grundrauschen an, ein Gewirr von Stimmen, die dem Zuschauer über KopfMittendrin. Im Zentrum. Im Mittelpunkt. Das

hörer ins Ohr flüstern. Man spürt im Wispern

ist eine privilegierte Position. Aber auch eine

und Hecheln mehr die Beklemmung, als dass

Kräfte die Demokratie in Mitteleuropa (und

exponierte. Je nachdem, wie man es nimmt:

man Details begreifen würde, ehe sich dann

anderswo) massiv bedrohen, trifft Schneider-

Man ist herausgehoben, vor allen anderen.

doch Satzfragmente zu einzelnen Erzählfäden

bauer mitten ins Mark unseres Gemeinwesens.

Oder aber: eingekeilt, dem Druck ringsum

verdichten, denen man folgen kann. Die sechs

Diese Inszenierung ist den weiten Weg in die

ausgesetzt. „Europe Central“ heißt der Tau-

Akteure – vier Frauen, zwei Männer – sind in

Augsburger Peripherie unbedingt wert. //

send-Seiten-Wälzer von William T. Vollmann,

uniformes Grau gekleidet. Auch wenn Einzelne

US-Autor mit deutschen Wurzeln. Der Titel

aus dieser Masse Mensch heraustreten, um

seines Romans meint Mitteleuropa, das im ­

sich den historischen Protagonisten anzunä-

20. Jahrhundert im Fokus der Geschichte

hern, bleiben sie auf Distanz zu ihren Figuren,

stand. Mit eurozentristischer Weltsicht hat

erzählen von ihnen in der dritten Person.

das nur entfernt zu tun. Eher mit einem

Der Mittelteil ist ein Schlachtengemälde

Zustand des Zerrieben-Werdens zwischen ­

aus Wortgewalt und Klangmalerei. Einem Flü-

zwei totalitären Systemen: Faschismus und

gel mit eingeknickten Beinen, der an den

Stalinismus.

Kadaver eines toten Tiers erinnert, werden ­

Exemplarisch: die Schicksale berühm-

klopfend und schlagend düstere Töne ent-

ter Künstlerpersönlichkeiten. Die Bildhauerin

lockt. Um die Einkesselung von Leningrad

Käthe Kollwitz, die bereits im Ersten Welt-

geht es unter anderem, angesichts derer auch

krieg einen Sohn an der Front verliert und

dem Letzten klar werden dürfte: Mittendrin

ihre antiheroische Kunst im Nationalsozialis-

zu sein ist manchmal die elendste aller Posi-

mus nicht mehr ausstellen darf. Die Dichterin

tionen.

Christoph Leibold

AARAU Wach bleiben! THEATER TUCHLAUBE: „Alles wahr – Ein Stück Verschwörungstheorie“ (UA) von Daniel Di Falco Regie Olivier Keller Bühne Dominik Steinmann Kostüme Senta Amacker

Anna Achmatowa, die sich unter Stalin dem

Teil drei der Aufführung schließlich

Vorwurf der Dekadenz ausgesetzt sieht. Sowie

fällt demgegenüber etwas ab. Im Wesent­

der Komponist Dmitri Schostakowitsch, der

lichen wird nun nur noch die Lebens­

in der Sowjetunion mal als Volksheld verehrt,

geschichte Dmitri Schostakowitschs bis an

„Es muss über Nacht passieren, wenn wir

mal als Staatsfeind bedroht wird. Ihre Bio­

ihr Ende abgewickelt. Da erliegt die Auffüh-

schlafen. Dann kommt es zum Austausch mit

grafien bilden die verlässlichen Leitmotive im

rung mit einem Mal der summarischen Nach-

dem Doppelgänger“, sagt der junge Arzt Miles

Gespinst polyphoner Perspektiven, als das

erzählung, die sie bis dahin so erfolgreich

Bennell in „Alles wahr“. Er ahnt in diesem

Vollmann sein Buch angelegt hat.

vermieden hat. Ansonsten aber findet Schnei-

Moment wohl, dass es auch ihn erwischen

Für das Theater Augsburg hat nun

derbauer eine Übersetzung von Vollmanns

könnte – dank einer Schote aus dem Garten,

Hausregisseurin Nicole Schneiderbauer die-

„Europe Central“, die ohne biederes Nach-

aus der sich Bennells Doppelgänger winden

ses Monumentalwerk adaptiert, als Eröff-

buchstabieren und simple Illustration aus-

wird, um von da an ein identisches Leben wie

nungsproduktion in der neuen Ausweichspiel-

kommt. Stattdessen öffnet sie in Wort, Bild

das Original zu führen; allerdings bar jeg­

stätte „brechtbühne im Gaswerk“, einer

und Klang Assoziationsräume, zusätzlich er-

licher Gefühle sowie ohne eigenständiges

formidablen Industriekathedrale im Stadtteil

weitert durch vielfach ausdeutbare Videopro-

Denken. Also gibt es für Bennell nur eines:

jektionen sich geschwürartig ausbreitender

fliehen. Aber: „Wo willst du denn hin? Da

Schwarz-Weiß-Muster auf der betongrauen

draußen gibt es keinen mehr wie dich“, sagen

Bühnenrückwand. Das ist die große Stärke

ihm vermeintliche Freunde. Doch Bennell

dieses vierstündigen Abends, der sich mit

ahnt: Auch sie sind bereits durch Doppel­

seinem Blick in die Gewaltgeschichte des­ ­

gänger ersetzt worden.

Menetekel für die Gegenwart – „Europe Central“ (hier mit Patrick Rupar (l.) und Roman Pertl) nach dem Roman von William T. Vollmann am Theater Augsburg. Foto Jan Pieter Fuhr

20. Jahrhunderts wie ein Menetekel für die

Unheimlich, beklemmend und mitun-

Gegenwart ausnimmt. In Zeiten, da autoritäre

ter auch ironisch ist „Alles wahr – Ein Stück

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/ 44 /

auftritt

/ TdZ März 2019  /

Verschwörungstheorie“, das der Autor und

schwörungstheorien geht, wie es sie bei-

men alles, um mit viel Tempo und sprachli-

Journalist Daniel Di Falco für das Theater

spielsweise auch in Bezug auf die Terroran-

chem Variantenreichtum den Spannungsbo-

­Marie maßgeschneidert hat. In seinem unlängst

schläge vom 11. September 2001 gibt.

gen zu halten. Dass dies nicht gelingt, liegt

für dieses Ensemble entwickelten Kurzstück

Hinzu kommen zwei weitere Erzähl-

an der kaum überblickbaren, auch erschöp-

„Alles, was uns bleibt“ lässt Di Falco einen

stränge: Zum einen diskutieren die blitz-

fenden Überfülle des Materials sowie an den

Kunsthistoriker sein Wissen auf Keramikplat-

schnell von einer Themenebene und damit

sprunghaften, nicht immer plausiblen Wech-

ten kritzeln, um das gegenwärtige Wissen für

von einer Rolle zur anderen wechselnden Pro-

seln der thematischen Ebenen, die den Fluss

die Zukunft zu konservieren. Auch in „Alles

tagonisten über das 1969 erschienene Zivil-

spannenden Erzählens immer wieder unter-

wahr“ beschäftigt sich der Autor mit der Welt

verteidigungsbuch, in dem der Schweizer

brechen. //

von morgen, diesmal allerdings in einer er-

Bundesrat die Bevölkerung unter anderem vor

schreckenden, von Aus- und Gleichschaltung

dem Kommunismus warnt, zum anderen

bestimmten Variante. Als Vorlage diente ihm

spielen sie Szenen aus der TV-Polittalkshow

der aus dem Jahr 1956 stammende Science-

„Arena“ vom 24. Februar 2017 nach, in der

Fiction-Film „Invasion of the Body Snat-

unter dem Titel „Trumps Krieg gegen die Me-

chers“ („Invasion der Körperfresser“) von

dien“ heftig über die Glaubwürdigkeit der

Don Siegel. An diesem längst Kult geworde-

Medien gestritten wurde. Aufgelockert wird

nen Werk orientiert sich Di Falco; Bühnen-

dieser, so Di Falco, „stimmungsvolle Ver-

bildner Dominik Steinmann hat ihm dafür

schwörungsteppich“ durch Twitter-Botschaf-

eine zeitlose Bunkerlandschaft kreiert.

ten des US-Präsidenten.

Elisabeth Feller

BAMBERG Im Besorgte-Bürger-Land ETA HOFFMANN THEATER „Leere Herzen“ (UA) von Juli Zeh Regie Daniela Kranz Ausstattung Martina Suchanek

Analog zum Film treten auch im Thea-

Der Abend soll laut Autor die Denkwei-

ter außerirdische Invasoren auf, die nach und

sen von Verschwörungstheoretikern, ihrer An-

nach die Bewohner einer Stadt durch äußer-

hänger und Kritiker entlarven. Fakten, so die

lich identische Doppelgänger ersetzen, was

Kernaussage von „Alles wahr“, werden heute

Miles Bennell, der alles durchschaut, verhin-

immer öfter als Meinungen dargestellt, die –

dern will. Di Falco bereitet mit diesen Szenen

je nach Perspektive – als falsch betrachtet

Wie verteidigt man am besten die Demokra-

ein spielerisches Feld, um über das Problem

werden könnten. Deshalb, so die unausge-

tie? Indem man demokratiefeindliche Kräfte

von Original und Kopie, Fakt und Fake nach-

sprochene Losung: Bloß nicht schlafen, wach

eliminiert? Oder muss man sie schützen

zudenken. So werden die Filmszenen von

bleiben! Will heißen: kritisch sein.

­helfen, sofern sie durch Wählerentscheidun-

14 Passagen flankiert, in denen es um Ver-

Fly me to the truth – denn in „Alles wahr“ von Daniel Di Falco entpuppt sich so manche Wahrheit als Lüge. Foto Andreas Zimmermann

Das ist zweifellos ein hochaktuelles

gen an die Macht gekommen sind? Das sind

Thema mit Zündstoff – wie geschaffen für das

zentrale Fragen in Juli Zehs Roman „Leere

ausgezeichnete Ensemble des Theaters Marie

Herzen“, dessen Uraufführung in Bamberg mit

(Judith Cuénod, Barbara Heynen, Diego Vals-

der Entscheidung für eine der beiden Optio­nen

ecchi, Michael Wolf und Daniel Steiner) und

endet – und mit Zweifeln: „Ich bin nicht

dessen Regisseur Olivier Keller. Sie unterneh-

sicher, ob ich verstehe, warum du das getan hast“, bekennt Babak gegenüber Britta. Die beiden betreiben eine zwielichtige Praxis namens Die Brücke, die anno 2025, als die Besorgte-Bürger-Bewegung ein „Effizienz­ paket“ nach dem anderen verabschiedet und Menschen- oder gar Völkerrecht aus der Mode gekommen ist, Selbstmordwillige kategorisiert. Die Softies unter ihnen werden geheilt, die Wildentschlossenen einer „sinnvollen“ Verwendung zugeführt. Denn wenn sie für den Dschihad oder radikale Umweltinitiativen sterben, füllt das die Geldbeutel der „Therapeuten“ und sorgt für eine gewisse Hygiene im Terror­ business, die Stümper werden ausgesiebt, und ein bisschen Bedrohung muss schließlich sein. Britta vergleicht sie mit „einer juckenden ­Stelle, die jede Gesellschaft braucht, um sich gelegentlich ausgiebig zu kratzen“. Ja, Britta – Nachname Söldner – ist zynisch, aber alle sind zynisch geworden in Zehs Dystopie, weil man erlebt hat, dass „Oberspinner“ wie Trump und Putin den Syri-


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enkrieg beendeten und hehre Absichten sich in ihr Gegenteil verkehren. Zehs Text dient der Illustration dieses

Deutschland. Ein Winterthriller – „Leere Herzen“ von Juli Zeh (hier mit Ewa Rataj (l.) und Anna Döing). Foto Martin Kaufhold

KASSEL Das Reich des Rausches

„Paradoxienschmerzes“ und seit kurzem möglichen Folgen. Als stets öffentlich präsente

STAATSTHEATER KASSEL: „Intervention“ (UA) von Rebekka Kricheldorf Regie Schirin Khodadadian Ausstattung Ulrike Obermüller

Intellektuelle, SPD-Mitglied und seit Kurzem

Für die Zwischentöne sind die Helfershelfer

auch Verfassungsrichterin in Brandenburg ist

ihres Läuterungsprozesses zuständig. Allen

Zeh die richtige Person, ihn mit Details anzu-

voran Anna Döing, die Brittas stets fröhliche

reichern. Als Literatin aber verhebt sie sich

Freundin Janina und die zunächst düstere

an der Fülle. Der Roman will Menetekel sein

Selbstmordkandidatin Julietta spielt, die zur

und Fanal, Gesellschaftsanalyse und Thriller.

Regisseurin des Schlusses mutiert und Britta

Kein Wunder, dass Zeh sich dabei verlaufen,

den Ritterschlag als „Mensch“ verleiht. Hin-

verkrampft, verkonstruiert und oft auch im

zu kommt der bald diabolische, bald joviale

Man macht sich viel zu selten Gedanken dar-

Ton verhoben hat. Viel Pathos und Kitsch, viel

Stefan Herrmann als Spinner, Bösewicht oder

über, wie eigentlich die Droge aussieht. Nicht

Thesenhaftes kommt über die Lippen der Fi-

nur gnadenlos pragmatischer Geheimdienst-

eine spezielle Droge, sondern die Droge an

guren, was die Bearbeitung des Bamberger

ler Guido Hatz. Um diese Figur und die

sich: die Drahtzieherin, die hinter jeder Be-

Chefdramaturgen Remsi Al Khalisi etwas ein-

restaurative Untergrundorganisation namens ­

rauschung steckt, sozusagen. Ist sie anzie-

dämmt oder klug kanalisiert. So lässt er Britta

„Empty Hearts“ entspinnt sich die Kriminal-

hend oder abstoßend? Sympathisch oder un-

die allzu gestelzten Sätze zum Publikum hin

geschichte, die die Regie in nahtlos ineinan-

sympathisch?

sprechen, während die anderen Akteure im

der übergehenden Szenen voranpeitscht.

Gesicht? Dank des Kasseler Staatstheaters

Trägt

sie

überhaupt

ein

Studio des ETA Hoffmann Theaters in Zeit­

Martina Suchanek hat dafür ein Maiso-

lupe weiterspielen oder zu Familienaufstel-

nette-Apartment auf die Bühne gestellt, in

lungen der selbstgenügsamen Mittelschicht

und um das herum vieles gleichzeitig stattfin-

Wink ist so etwas wie der stille Star des

gefrieren. So beginnt auch die Inszenierung

den kann. Durch die großen Panoramaschei-

Theaters in der documenta-Stadt. Seit 15 Jah-

von Daniela Kranz: Vater-Mutter-Einzelkind

ben des Zuschauerraums schaut man in den

ren gehört er zum Ensemble, und obwohl er

stellen sich hinter die Betonarbeitsplatte der

realen Park hinter dem Theater, in dem Britta

sich mittlerweile schon nah ans Rentenalter

Küche von Brittas Wohnung, die so ist, wie

mit Babak (Marcel Zuschlag) joggt und aus

herangespielt hat, sprüht ihm immer noch ju-

Ewa Rataj diese Figur anlegt: „Gerade Linien,

dem schon mal ein Mordopfer, mit dem Die

gendlicher Schalk aus der zerfurchten Miene.

glatte Flächen, frei von Zweifeln.“ So kann

Brücke eigentlich noch Geschäfte machen

Er kann frech, er kann albern, er kann nach-

Rataj, ohne rot zu werden, mit zackig-funk­

wollte, mit Kunstblut und Karacho gegen die

denklich, er kann zynisch. Und ohne dass er

tionalen Bewegungen sehr entschlossen Sätze

Scheibe knallt. Das bringt Dynamik in die Ge-

sich in den Vordergrund drängen müsste, ist

von sich geben wie „Moral ist Pflicht für die

schichte. Und Spannung. Und doch kann das

da, wo er ist, das Zentrum. Mithin: eine Ideal-

Schwachen, die Starken beherrschen die

geschmeidige Schnurren der Theatermaschi-

besetzung, wenn es darum geht, der Idee der

Kür.“ Oder gegen Ende: „Jetzt weiß ich, dass

nerie weder das Knirschen des Plots noch die

Droge ein Gesicht zu geben.

richtig und falsch erst existieren, nachdem

Message übertönen.//

man sich entschieden hat.“

wissen wir nun: Oh ja, das tut sie. Es ist das von Jürgen Wink.

In Rebekka Kricheldorfs „Intervention“, Sabine Leucht

der bereits siebten Auftragsarbeit der preis­


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auftritt

/ TdZ März 2019  /

gekrönten Vielschreiberin für das Kasseler

schrumpft schnell zum Zwergpony und löst

Erscheinungsformen. Zeigt sich zerknirscht

Staatstheater – von Schirin Khodadadian auf

sich schließlich ganz auf: Die Eine stellt ihren

über das, was sie in einem Körper anrichten

der Studiobühne zur Uraufführung gebracht –,

ADHS-Sohn mit Ritalin ruhig, die andere

kann, und stolz auf das, was ihr die Kunst

hat die Droge ihren großen Auftritt. Erkundet

schluckt Antidepressiva und muss sich vor der

verdankt. Wehrt sich gegen „Verleumdungen“

wird das Reich des Rausches zwischen Be-

Intervention erst einmal Mut antrinken, und

und zitiert Paracelsus: „Allein die Dosis

täubung, Erleuchtung und Ballermann, es

die Dritte pflegt ihren Frust über das doch

macht, dass ein Ding kein Gift ist.“ Am liebs-

geht um Sucht und Abhängigkeit und vor al-

nicht so große Aussteigerinnenglück im Alko-

ten aber philosophiert die Droge über ihre

lem: ums Trinken. Kricheldorf, eine Theater-

hol zu ersäufen.

wechselnde Wertschätzung, abhängig von

autorin mit Gespür für die absurden Abgrün-

Statt zu helfen, projizieren sie nur ihre

Zeiten, Moden und Kulturen. Heroin wurde

de unserer Gegenwart, spielt durch, was sie in

eigenen geplatzten Lebensträume auf das

einst von Bayer erfunden, Kokain von Merck

Online-Anleitungen für sogenannte Interven-

Objekt ihrer Intervention. Am Ende sind alle

produziert, und mit dem heutigen Hipster­

tionen bei Alkoholikern gefunden hat. Und

sternhagelvoll, und es ist ausgerechnet Lily –

getränk Gin soffen sich im 19. Jahrhundert

das sind vor allem Ratschläge, wie Freunde

von Rahel Weiss erfrischend direkt und ordi-

die Ärmsten der Armen um den Verstand.

und Verwandte einen Säufer mit seinem

när gegeben –, die sich dabei den nüchterns-

Neu sind diese Gedanken nicht, doch

­Problem konfrontieren und zum Entzug bewe-

ten Blick bewahrt: Vom Leben will sie nicht

selten wurden sie so originell präsentiert. Und

gen könnten. Sehr wohlmeinend, penibel

mehr als ihre Ruhe und genügend Geld für

hinterher lässt sich bei einem Glas Wein treff-

durchchoreografiert und, in der Lesart von

die Miete und ein paar Drinks. „Willst du

lich darüber nachsinnen. //

Kricheldorf, zum Scheitern verurteilt.

nicht dein Leben ändern? Von Grund auf?“ –

Annika (Michaela Klamminger) will ihre beste Freundin Lily (Rahel Weiss) vom Trinken

Für die rund zweistündige, pointierte

abbringen; zur Unterstützung hat sie Lilys

Inszenierung, der man nur gelegentlich noch

Schulfreundin, die psychisch kranke Poetin

etwas mehr Drive und etwas mehr Vertrauen

Frans (Anna-Sophie Fritz), und Lilys vor Jahren

in den Witz der Kricheldorf’schen Screwball-

nach Goa ausgewanderte Hippie-Tante Mar-

Dialoge gewünscht hätte, hat Ulrike Ober­

lene (Eva-Maria Keller) einbestellt. Doch das

müller eine schlichte, helle Bühne von nur

hohe Ross, auf dem sich das Trio gerne sähe,

wenigen Metern Breite geschaffen. Zur Showbühne macht sie ein goldener Vorhang, umrahmt von sechzig Glühlampen, den die

Zwischen Betäubung und Erleuchtung – Rebekka Kricheldorfs (Anti-)Säufer-Komödie „Intervention“ (hier mit Rahel Weiss (l.) und Michaela Klamminger). Foto Marina Sturm

Joachim F. Tornau

„Hä? Nö. Warum?“

Droge für ihre kommentierenden Einwürfe ­ auf- und zuzieht. In bizarren Verkleidungen, vom Glitzeranzug bis zum Krokodilskostüm,

MÜNCHEN Offene Rechnung MÜNCHNER VOLKSTHEATER: „Amsterdam“ (DSE) von Maya Arad Yasur Regie Sapir Heller Ausstattung Anna van Leen

erzählt sie von sich und ihren verschiedenen Eine offene Rechnung, an die sich offene Fragen knüpfen. Die Situation verlangt natürlich nach Antworten. Und tatsächlich handelt Maya Arad Yasurs Stück „Amsterdam“, zumindest zum Teil, von einer historischen Spuren­ suche, an deren Ende ein paar – mögliche – Antworten stehen. Die Fährte führt zu einer Frau, die 1944, verraten vom eigenen Ehemann, ins KZ verschleppt wird. Die überlebt. Die zurückkehrt in ihre Amsterdamer Wohnung. Und die alsbald von den Behörden eine Rechnung zugestellt bekommt über das Gas, das die Nazis verbrauchten, die während ihrer Inhaftierung die Wohnung in Besitz genommen hatten. Keine Strom-, keine Wasser-, nein, eine Gasrechnung. Der Zynismus ist unübersehbar. Die Frau weigert sich zu zahlen, die Mahngebühren potenzieren sich. Jahrzehnte später wohnt eine andere Frau in der Wohnung, eine junge, jüdische Musikerin, die nun ihrerseits eines Morgens eine Gasrechnung erhält, über die horrende Summe von


auftritt

Auf der Showbühne der Erinnerung – Nina Steils, Jonathan Hutter und Philipp Lind in „Amsterdam“ von Maya Arad Yasur. Foto Gabriela Neeb

Regisseurin schickt Nina Steils, Jonathan Hutter und Philipp Lind mit strahlendem Lächeln und in grün schillernden Kostümen auf eine Art Showbühne, über der sich ein Stahlbogen voller Halogenlampen wölbt. Eine Livemusikerin steuert Elektrosounds bei. Die drei Darsteller sind ständig in Bewegung, werfen sich in Posen, verknäulen sich zu Körper­ skulpturen, debattieren miteinander, wenden sich kommentierend ans Publikum und wirbeln wie Tänzer auf ihren Absätzen um die eigene Achse. So verleihen sie den im Kopf der Protagonistin umherschwirrenden Gedanken, die ein unkontrollierbares Eigenleben führen, körperlichen Ausdruck. Das funktioniert vor allem in der ersten Hälfte des Abends vorzüglich, weil hier auch im Stück der Gedankenstrudel im Vordergrund steht, in den die Protagonistin eintaucht, und weil die Choreografie des Performer-Trios überwiegend atmosphärisch und abstrakt wirkt. In der zweiten Hälfte wird die Reflexion der Gegenwart zunehmend von der Rekonstruktion der Geschichte abgelöst. In gleichem Maße nehmen die Aktionen von Steils, Hutter und Lind eher illustrativen 1700 Euro. Von wem, ist nicht ganz klar. Ver-

titelgebende Amsterdam als Schauplatz ist

­Charakter an. So kann Hellers Inszenierung

mutlich vom Nachbarn, der ebenfalls in die

der Inbegriff einer liberalen Großstadt. Zu-

das hohe Niveau des Anfangs nicht bis zum

Geschichte verstrickt ist.

dem war der Widerstand in der NS-Zeit dort

Schluss halten. Das ist ein wenig schade. Tut

Die junge Frau beginnt zu recherchie-

besonders groß. Aber auch in Holland über-

der Freude über Stück und Inszenierung aber

ren und findet heraus, wie sich die Dinge zu-

stieg die Zahl der Kollaborateure und Mitläu-

letztlich kaum Abbruch. // Christoph Leibold

getragen haben könnten. Die letzte Gewiss-

fer die der Widerständler um ein Vielfaches.

heit allerdings verweigert Yasurs Text, der

Was macht es mit einem Menschen, wenn ihn

beim Berliner Theatertreffen 2018 mit dem

die düstere Geschichte selbst an einem so

Stückemarktpreis ausgezeichnet und nun

weltoffenen Ort wie Amsterdam auf Schritt

nach seiner Uraufführung in Haifa am

und Tritt verfolgt? Wenn einen das Klackern

Münchner Volkstheater auf Deutsch erstauf-

der eigenen Absätze auf dem Kopfstein­

geführt wurde. „Amsterdam“ ist ein Konzert

pflaster plötzlich an das Stampfen schwerer

von Stimmen, die sich ergänzen, aber eben

Stiefel erinnert? Wenn man sich an der Super-

auch ins Wort fallen oder widersprechen und

marktkasse von seinen Mitmenschen gemus-

nicht nur versuchen, einen Fall aus der Ver-

tert fühlt, als wäre man irgendwie anders?

gangenheit aufzurollen, sondern zudem eine

Oder wenn einem bei der Trennung des Mülls

Art Widerhall der Geschichte in der Gegen-

am Container jäh das historisch belastete

wart erzeugen. Der Kopf der Hauptfigur wird

Wort „Selektion“ ins Hirn schießt?

dabei zum Echoraum, in dem diese Stimmen

Man kann sich Yasurs elegant kompo-

samt den Gedanken, die sie formulieren, wilde

niertes Stück beim Lesen gut als Hörspiel

Interferenzen produzieren.

vorstellen. Auf der Bühne aber brauchen die

OBERHAUSEN Im Sumpf der Genderdebatte THEATER OBERHAUSEN: „Salome“ von Oscar Wilde Regie Stef Lernous Bühne Sven Van Kuijk Kostüme Hsin-Hwuei Tseng

Wie ihre Protagonistin hat die israe­

Stimmen Körper und benötigt die Erzählung

Der Abend im Theater Oberhausen beginnt

lische Dramatikerin Maya Arad Yasur als

einen Ort. Das ist die Herausforderung, mit

vielversprechend: In fahlem Mondlicht, zwi-

Künstlerin in den Niederlanden gelebt. Das

der Sapir Heller aber umzugehen weiß. Die

schen Farnen und Katzengras, spielt eine

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auftritt

/ TdZ März 2019  /

Morsch und verrostet – Salomes Königreich ist in Stef Lernous Version eine prollige Welt (hier mit Clemens Dönicke und Ronja Oppelt). Foto Ant Palmer

Lässige Unterspanntheit wird zu mangelnder Entschlusskraft. Der Abend beginnt sich zu verzetteln. „Gelobt sei der Ewige / Gelobt sei der Unsterbliche / Er wird kommen, er wird kommen / Halleluja, er wird kommen.“ Laut Programmheft waren die Süd­ staaten der USA mit ihrer speziellen Ikonografie eine Inspiration für Regisseur Stef Lernous. Genauer: die Art, wie dort der christliche Glaube gelebt wird, sowie die besonders temperamentvollen Gottesdienste. Rothaug spielt den Propheten aber als nervösverklemmten Priesteranwärter, piefig statt ­exal­tiert. Das mag in seiner klamaukigen Art vielleicht amüsant sein, allerdings geht so ­weder Gefahr noch Hoffnung von ihm aus. Die Gemeinde (das Theaterpublikum) wird nicht Band vor dem eisernen Vorhang. In bester

Frau wird in Oberhausen also von einer

„Hamburger Schule“-Manier – leicht unter-

Schauspielerin gelenkt. Eine Entscheidung

spannt, aber mit klugen Texten – untermalen

mit viel ungenutztem Potenzial.

mitgerissen. Die Band bleibt während des Abends vorne auf der Bühne. Dank ihr wird die vierte

vier Musiker um den Sänger Tom Liwa den

Als sich der eiserne Vorhang hebt, wer-

Wand eingerissen, die Zuschauerinnen und

­Einlass. „Heut scheint der Mond / über dem

den noch mehr wild wuchernde Farne, eine

Zuschauer sind auch Konzertpublikum. Da-

Sumpf / so mega blass / als wär’ er ein Fass / als

morsche Holztreppe und ein verrosteter Cara-

durch erinnert das Ensemble an Poetry-Slam-

wär’ er zu voll zu früh.“ Seltsam, dieser Mond,

van sichtbar: Salomes Königreich ist eine

merinnen und -Slammer, die ihre Texte f­ rontal

und seltsam, diese Atmosphäre: dunkel, aber

prollige Welt. Langeweile, Hoffnungslosigkeit

ins Publikum sprechen und keine Gelegen-

wenig bedrohlich. Spannungsvoll, aber lässig.

und Alkoholismus sind Alltag, die Menschen

heit bekommen, in Beziehung zueinander zu

Eine Frau (Lise Wolle) und ein Mann

haben sich aufgegeben. Abgesehen von Salo-

treten. So bleiben sowohl Salomes Faszinati-

(Clemens Dönicke) treten hinter Liwa auf und

me (Ronja Oppelt), die beschwingt die Trep-

on für Jochanaan als auch ihre Verzweiflung

sprechen als Hauptmann Narraboth und als

pen hinuntersteigt und Befehle erteilt. Eine

über seine Zurückweisung rätselhaft. Die Ge-

Page die ersten Zeilen des Abends. Ihre Zun-

Trashprinzessin, die weiß, was sie will: den

schichte wird zu einem Sumpf, die Textmas-

gen sind schwerfällig, ihre Kleidung ist abge-

Propheten Jochanaan gegen den Willen ihres

sen gehen in ihm unter. Und wie ein Konzert

ranzt, sie trinken Dosenbier. Sie sprechen

Vaters Herodes kennenlernen.

fühlt es sich dabei auch nicht an, weil die

über den Mond, der eigentlich eine Frau, eine

Spätestens ab dem Auftritt von Jocha-

Mondin sei, und über die Prinzessin Salome.

naan (Daniel Rothaug) wird leider deutlich,

Narraboth ist zutiefst von ihr fasziniert. Er

dass die Inszenierung ihre Versprechen vom

gibt zu, es nicht lassen zu können, sie anzu-

Anfang nicht halten kann. Was in den ersten

dias

schauen. Der männliche Blick auf eine junge

15 Minuten charmant ist, läuft nun ins Leere.

­(Torsten Bauer) förmlich herbei in der Hoff-

Bewerben und Studieren Regie Abschluss Bachelor of Arts Bewerbungsfrist WS 19|20: 15.03.19

Dramaturgie Abschluss Master of Arts Bewerbungsfrist WS 19|20: 26.04.19

Weitere Informationen unter anderem zum Bewerbungsverfahren & Terminen www.adk-bw.de

Musik deutlich zu leise ist und die Musiker häufig im Halbdunkeln stehen. So sehnt man den Auftritt von Hero­ (Susanne

Burkhard)

und

Herodes

Demnächst

06. April 2019 | 14 – 17 Uhr EDGE 101. Equality & Diversity for Gender Equality. Workshop. By Ebru Nihan Celkan »Montags an der ADK« Aussichten. Einsichten. Gespräche. Jeweils 20.00 Uhr | ADK, Turm 08. April 2019 Frauen und Theater. Eva Jankowski und France-Elena Damian, Pro Quote Bühne 03. Juni 2019 Streit muss sein. Kritikfähigkeit als Kunst Meredith Haaf, Journalistin und Autorin 01.Juli 2019 Umgang mit dem kolonialen Erbe Inés de Castro, Direktorin Linden-Museum Stuttgart


auftritt

/ TdZ  März 2019  /

nung, dass sie dem Abend den nötigen Ener-

Fontane hat ein Talent dafür, Frauengeschich-

germünde nicht, man müsste sie erfinden,

gieschub geben mögen. Doch auch sie kön-

ten zu erzählen, von Effi Briest bis ­Jenny Trei-

denn ohne ihr Opfer wäre die Kleinstadtwelt

nen die angezogene Handbremse nicht lösen,

bel. Es sind Frauen jenseits des klassischen

keine heile Welt.

auch nicht mit Adiletten und maximal prolli-

Opfer-Täter-Schemas, stark und schwach zu-

Joachim Hamster Damm baut der sich

gem Gebaren. Die Verwicklungen zwischen

gleich, unruhevoll Getriebene, die an den Rand

anbahnenden kollektiven Ermordung der ­Grete

den Eheleuten und ihrer Tochter werden zwar

der Gesellschaft geraten. Grete Minde würden

Minde eine Puppenstube aus lauter penetran-

ausgesprochen, aber es will einfach keine

andere Autoren vielleicht zu einer Art Jeanne

ter Frömmigkeit und Wohlanständigkeit. Aber

Spannung entstehen.

d'Arc stilisieren, sie in eine Passionsge-

diese heile Kleinwelt bekommt bereits Risse,

Seltsam. Es ist alles da, was ein Thea-

schichte stellen. Bei Fontane hat sie dafür zu

wo man doch meint, in einer unaufkündba-

terabend brauchen kann: eine schöne Bühne

viele Brüche, er zeichnet einen ungereimten

ren Tradition von Rechtgläubigkeit und Wohl­

(Sven Van Kuijk) mit hervorragendem Licht,

Charakter, der mit der Prosa der Kleinstadt-

anständigkeit zu stehen.

ein motiviertes Ensemble, eigens komponier-

verhältnisse kollidiert. Es geht um herrschende

Ist das die Windstille vor dem Sturm

te Songs, eine weltberühmte Geschichte

Lieblosigkeit, Missgunst und bittere Rache.

der Apokalypse? Wuschek lässt das Tanger-

mit politischem Sprengstoffpotenzial. Doch

Fontane hat dabei das engherzige Regiment

münder Kleinstadtpersonal wie dunkle Vögel

Lernous setzt keinen klaren Fokus. Am Schluss

vor Augen, das das Deutsche Reich von 1870

über die Bühne ziehen, erschafft eine grotes-

lässt er auch noch Herodes das letzte Wort

führte, mitsamt dem Kulturkampf des protes-

ke Szenerie, in deren Schatten das Unheil

sagen – und was für eins: „Tötet diese Frau“,

tantischen Preußens gegen das katholische

wächst. Die so geschaffene Künstlichkeit ist

sagt er, und er meint damit Salome. Der wei-

Bayern. Die Katholiken sind uns fremd, sie

von kühler Distanz. In fast lehrstückhafter

ße Mann hat gesprochen. Ein irritierender

sind tückisch und eine latente G ­ efahr!, so die

Strenge vollzieht sich hier ein vorhersehbares

Abschluss eines Abends voll verpasster Chan-

Berliner Propaganda dieser Jahre. Fontane

Schicksal. Grete Minde wird im Hause ihres

cen. Sich gerade diese letzte entgehen zu

dagegen erzählt von einer u ­nglücklichen

Onkels wie ein Dienstbote behandelt, wächst

lassen ist ungewöhnlich für das Theater Ober-

Frau, die – nach kurzem e­ uphorischem Auf-

ohne Liebe auf. Schließlich läuft sie weg,

hausen, hat sich doch das Team um Florian

bruch, der mit einem Ausbruch aus bürgerli-

kehrt zurück und verlangt das Erbe ihres Va-

Fiedler institutionell sehr starkgemacht in

cher Enge einhergeht – von engen Verhältnis-

ters, das ihr verweigert wird. Es kommt zum

Sachen Diversität und Gleichberechtigung.

sen zerstört wird und sich dagegen wehrt,

Prozess, jeder weiß um ihr Recht, aber es

Es besteht also begründete Hoffnung, dass

indem sie in die Katastrophe flüchtet.

wird ihr vorenthalten. So werden aus Betroge-

die nächsten Premieren entschiedener zur Tat schreiten. //

Der historische Fall ist das eine, Fontanes literarische Vorlage das andere – doch wie

Lisa Kerlin

nen Gesetzlose, die auch vor Gewalt nicht zurückschrecken.

das Drama von Grete Minde auf die Bühne

Diese Rostocker Inszenierung zeichnet

bringen? Regisseur Kay Wuschek und Büh-

ein durchgängig pittoresker Zug aus. Reisende

nenbilder Joachim Hamster Damm machen am Volkstheater Rostock das einzig Richtige:

ROSTOCK Banale Dämonen VOLKSTHEATER ROSTOCK: „Grete Minde“ (UA) nach Theodor Fontane Regie Kay Wuschek Ausstattung Joachim Hamster Damm

Eine junge Frau wird zum Sündenbock. ­Sophia Platz spielt sie am Rostocker Volkstheater mit aller radikalen Jugendlichkeit, die sich zu empören weiß. Wer ist diese Grete Minde? Theodor Fontane fand sie als historische Vorlage für seine Erzählung von 1879 in Tangermünde am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges. Die Stadt steht in Flammen, Brandstiftung. Nur eine kann das gewesen sein, diese Tochter einer Katholikin mit dem dunkel-flammenden Blick, der direkt aus der Hölle zu kommen scheint.

Sie erfinden ein Modell dafür, wie eine Institution erst Außenseiter produziert, um sie dann im kollektiven Ritual zu vernichten. Mit anderen Worten, gäbe es Grete Minde in Tan-

Ein ungereimter Charakter, der mit der Prosa der Kleinstadtverhältnisse kollidiert – Sophia Platz als Grete Minde (hier mit Alexander von Säbel). Foto Frank Hormann

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Puppenspieler (die Hamlet-Assoziation einer Unheil verheißenden fahrenden Truppe) ma-

ZÜRICH

chen die Drehbühne immer wieder kurz zum Hauptakteur. In dieser Szenerie agiert ein hoch motiviertes Volkstheaterensemble. Allen voran Sophia Platz als Grete Minde. Sie kont-

Unter uns die Leichen der Kommunarden

Ein wütendes, ausuferndes, ätzendes, berührendes Gesellschaftspanorama – in dessen Zentrum ein aufwühlender Martin Butzke als Vernon Subutex agiert. Foto Maurice Korbel

rastiert aufbegehrende Leidenschaft mit mikroskopischer Genauigkeit, zeigt so, wie aus Sehnsucht, die ins Leere geht, ein furchtbarer Furor erwächst. Es ist schwer, dauerhaft Unrecht zu erleiden, ohne selbst Unrecht zu tun! Die kleinstädtischen Honoratioren aber scheinen blind und taub zu sein für jene Gefahr, die sie selbst durch ihr unrechtes Tun

THEATER NEUMARKT: „Das Leben des Vernon Subutex“ (UA) von Virginie Despentes Regie Peter Kastenmüller Bühne Alexander Wolf und Justus Saretz Kostüme Aino Laberenz

In „Vernon Subutex“ von Virginie Despentes ist die Härte der sozialen Spaltung universal. Während die linken Intellektuellen in Cannes rumänische Filme auszeichnen, Kaviar kotzen und sich die Nase mit Koks vollstopfen, stürzen Menschen wie Vernon, ehemaliger Plattenladenbesitzer, nunmehr Langzeitarbeits­ loser, immer weiter die soziale Leiter hinab.

befördern. Stark die Riege der alten (man

„Die linken Intellektuellen“, sagt Xavier, „ste-

möchte fast sagen, nach zahlreichen Sparrunden noch übrig gebliebenen) Volkstheater-

Als Colette starb, brach für Xavier eine Welt

hen auf Roma.“ Doch sobald einer von ihnen

schauspieler, die die steile Spielvorlage, mit-

zusammen. Er kenne nichts Traurigeres als

den Mund aufmache, suchten sie sich andere

samt wohlkalkulierter Übertritte ins Absurde,

einen Morgen, an dem er das Frühstück ma-

Opfer für ihren Kult.

auf furiose Weise nutzen: Bernd Färber als

che und sie nicht komme, sagt er. Ihre Asche

Gerade machen sie den Mund auf. Das

unaufrichtiger Onkel Grete Mindes, der seine

habe er in einer Schachtel zwischen seine

Mädchen mit den zerschnittenen Armen, der

Betrugsabsichten hinter moralisierenden Wort-

Bücher gestellt. Als Satana starb, brach für

Flüchtling, der den Stacheldraht von Melilla

hülsen verbirgt: ein flackerndes Irrlicht. Dazu

niemanden eine Welt zusammen. Keiner trau-

überwunden hat, die Krankenschwester, die

die großartigen Steffen Schreier, Ulrich K.

erte um sie, nur ein schwarzer Musiker zog

durch die Schreie der Kranken in ihrer Ohn-

Müller, Petra Gorr, Ulf Perthel und Sandra-

sich seinen schicksten Anzug an, ging zu ih-

macht taub geworden ist. Dies alles ist „Ver-

Uma Schmitz. Sie alle scheinen wie aus ei-

rer Beerdigung und heulte Sturzbäche hinter

non Subutex“: ein wütendes, ausuferndes,

nem Brueghel-Gemälde entlaufen – um dann

seiner Ray-Ban. Er wusste, wie Satana gestor-

ätzendes, berührendes, politisches Manifest

doch von einer Realität wieder eingeholt zu

ben war. Patrice würde es später als ein wei-

in Form eines dreibändigen Gesellschafts­

werden, in der das Böse zumeist nicht dämo-

teres Beispiel dafür anführen, dass die Rei-

panoramas.

nisch überzeichnet, sondern auf banale Weise

chen machen könnten, was sie wollten, und

Es ist ein irres Vorhaben, Despentes

gewöhnlich wirkt. Wie beides, das Dämoni-

dass das Recht, die Armen zu töten, zu ihrem

Romantrilogie mit seinem großen Personal

sche und das Banale, immer wieder inein­

Arsenal gehöre. Colette, der Hund, starb an

auf die Bühne bringen zu wollen. Am Theater

anderfließt, damit spielt diese Inszenierung

einem Hirntumor. Satana, die Prostituierte,

Neumarkt aber gelingt es irre gut. Die Büh-

an ihren Verletzungen.

nenbildner Alexander Wolf und Justus Saretz

souverän. //

Gunnar Decker


auftritt

/ TdZ  März 2019  /

haben im Zickzack einen Catwalk durch den

Butzke die Platten nachdenklich auf einen

So dicht der erste Teil des vierstündigen

Raum gelegt, an dessen Längsseiten wir Zu-

Satzfetzen zurück: „… der fürs Nichtstun be-

Abends gebaut ist, so sehr gerät der zweite

schauer sitzen. Ein Laufsteg des Lebens, auf

zahlt wird.“

Teil, der Roman zwei und drei umfasst, in

dem die Unsichtbaren um Sichtbarkeit kämp-

Wie klug arrangierte Tracks auf einer

eine Unterspannung, die bereits in der Vorla-

fen, kurz davor, zur reinen Unterhaltung zu

LP gehen die zahlreichen Stationen von

ge angelegt ist. Der mittlerweile obdachlose

werden, wie im Grunde auch hier, im Theater.

Vernons anschließendem Couchsurfing-Trip

Subutex und seine Freunde haben sich zu

Eine unbequeme Situation.

durch Paris (Fassung Peter Kastenmüller

einer Aussteigersekte zusammengeschlossen.

Acht Schauspielerinnen und Schau-

und Inga Schonlau) ineinander über. Es

Partys, Mondlicht und Alpha-Waves durchzie-

spieler teilen sich im schnellen Wechsel 19

geht um Wohnungsnot, Islamismus, Islam-

hen die Handlung, bis sich zwei Anschläge

Rollen, ohne auch nur eine einzige ihrer In-

hass, den Krieg in den sozialen Netzwerken

ereignen. Zunächst im Bataclan, der zweite

tensität zu berauben. Egal wie schräg, wie

und die Verflachung der Filmindustrie. Ein

trifft die Subutaner selbst. Initiator soll der

böse, wie gewalttätig, wie sexsüchtig, wie

wütender, verzweifelter Leidenstrip eines

reiche Filmproduzent Dopalet sein, der Sata-

faul, wie rechts, wie links sie sind, bei Jan

Absteigers, der die Erosion ganzer Gesell-

na auf dem Gewissen hat und aus den Ereig-

Bluthardt, Marie Bonnet, Simon Brusis, De-

schaftsschichten dokumentiert, koloriert durch

nissen nun eine Serie drehen will. Gähn. „Die

borah De Lorenzo, Hanna Eichel, Miro Maurer

die schreiend anachronistischen Achtziger-

Fabriken produzieren Granaten, die Dopalets

und Sarah Sandeh erlangen sie Würde. „Ich

Jahre-Outfits, die Aino Laberenz den Figu-

produzieren die Geschichten“, resigniert

schreibe aus dem Land der Hässlichen und

ren verpasst hat: Leopardenanzüge, Kroko-

Subutex. Fast hätte diese Kapitulation den

für die Hässlichen“, skizziert das Programm-

dilleder, Wetlook. Aïcha, die junge Musli­min,

Abend beendet, da folgt noch ein Hidden

heft – Despentes „King Kong Theorie“ zitie-

wird zum Sinnbild dieser Verlorenheit, als

Track: Patrice bei den nuits débouts, den

rend – die Erzählperspektive dieses Panora-

sie erfährt, dass ihre Mutter, nachdem sie

Menschen auf Frankreichs Straßen, unter de-

mas, in dessen Zentrum ein aufwühlender

die

Prostituierten

ren Füßen „die Leichen der Kommunarden

Martin Butzke als Vernon Subutex agiert. Re-

Vodka Satana wurde. Aïcha, schreibt Virgi-

von 1871 verscharrt“ sind. Da ist sie wieder,

gisseur Peter Kastenmüller lässt die Szene, in

nie Despentes, sei „ein Zimmer, in dem

die Wut der angeblich Wertlosen, die um ihren

der Subutex wegen Mietschulden aus seiner

man den Inhalt aller Schränke auf den

Wert in der Gesellschaft kämpfen. //

Wohnung geworfen wird, an einem altertümli-

Boden geworfen hat – verwüstet“. Aus die-

chen Turntable-Pult spielen. Die Stimmen

ser Verwüstung heraus agieren Despentes

kommen von Platte. Immer wieder scratcht

Charaktere.

Familie

verließ,

zur

Dorte Lena Eilers

Ab 12.4.19

Komödie von Anton Tschechow Regie Mélanie Huber +41 71 242 06 06 theatersg.ch

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stück

/ TdZ März 2019  /

Anna Papst

Joël László

Dominik Busch

Marina Skalova

Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik Eine Verschwörungsgeschichte über den Einsatz von Giftgas, Berichte aus einem Schweizer Gefängnis, ein Roadtrip von Berlin nach Moskau – die Ergebnisse des Stück Labor sind so vielfältig wie seine Autorinnen und Autoren. Seit 2011 hat das vom Theater Basel initiierte Schweizer Förderprogramm 23 Hausautorenstellen an renommierten Schweizer Theaterhäusern ermöglicht. In der Saison 2017/18 kooperierte es erstmals mit einem Westschweizer Theater, dem POCHE/GVE in Genf. Dabei ist der Text „Der Sturz der Kometen und der Kosmonauten“ von Marina Skalova entstanden, der auf Französisch am 4. Februar 2019 am POCHE/GVE uraufgeführt wurde und hier in deutscher Übersetzung abgedruckt wird. Ebenso finden sich in diesem Heft „Die Verschwörerin“ von Joël László, uraufgeführt am 2. November 2018 am Theater Basel, sowie die Theaterreportage „Freigänger“ von Anna Papst, deren Uraufführung sie am 24. Januar 2019 am Konzert Theater Bern selbst inszenierte. Aktuell arbeiten im Stück Labor am Theater Basel Thiemo Strutzenberger, am Konzert Theater Bern Julia Haenni und am POCHE/GVE Sarah Jane Moloney an neuen Theatertexten.


joël lászló_die verschwörerin

/ TdZ  März 2019  /

Kleinfamilie in der Medienhölle Joël László über sein Stück „Die Verschwörerin“ im Gespräch mit Elisabeth Maier

Joël László, in Ihrem Stück „Die Verschwörerin“

direkt. Die Energie aus der Öffentlichkeit ­

setzen Sie das Privatleben der Toxikologin Sil-

Joël László, geboren 1982 in Zürich, stu-

via, die zur Geschichte des Giftgases forscht, in

dierte Islamwissenschaft und Geschichte

Beziehung zum politischen und historischen

an der Universität Basel und absolvierte

Das Spiel mit dokumentarischem und histori-

Kontext von Kriegen in unterschiedlichen Epo-

das Förderprogramm Dramenprozessor am

schem Material ist eine Triebfeder Ihrer Drama-

chen. Von geheimnisvollen Informanten be-

Theater Winkelwiese. Sein Stück „Wie-

turgie. Wie war die Zusammenarbeit mit dem

kommt sie Material zu chemischen Waffen zu-

genlied für Baran“ gewann die Publikums-

ungarischen Regisseur András Dömötör am

gespielt, die im Nahen Osten eingesetzt werden.

preise bei der Langen Nacht der neuen

­Theater Basel?

Das weckt ihr Interesse und wühlt den Alltag

Dramatik an den Münchner Kammerspie-

Er hat die Ebenen sehr gut auseinandergehal-

ihrer Kleinfamilie auf. Zugleich geht es um Ver-

len

Heidelberger

ten – und doch verbunden. Seine filmisch

flechtungen mit der Wirtschaft. Das Stück ist

Stückemarkt 2017. Mit dem Theater Ma-

geprägte Formsprache hat mir gefallen. Vor

sehr komplex gebaut. Was hat Sie daran gereizt,

rie erarbeitete er 2016/17 eine Neuüber-

Probenbeginn gab es ein sehr intensives Ge-

den Stoff in die Sprache des Theaters zu über-

setzung und Neufassung des ungarischen

spräch mit ihm. Da hat Dömötör mir und dem

tragen?

Theaterklassikers „Liliom“. Für Textwerk-

Text richtig auf den Zahn gefühlt. Aus diesem

Für mich war es eine Herausforderung, zwi-

stätten mit syrischen Flüchtlingen am

Dialog ging ich mit dem guten Gefühl heraus,

schen den verschiedenen Ebenen in der „Ver-

Schauspielhaus Graz („Our Stories“) und

dass es sich alleine für ihn als Leser gelohnt

schwörerin“ eine Durchlässigkeit zu erschaf-

am Schauspielhaus Zürich („Our Voice /

hat, mein Stück zu schreiben. In den Proben

fen. Die Verschachtelung des Privaten, also

Our Hope“) verfasste er die Übersetzun-

war ich dann nicht mehr dabei. Ich habe den

des Familienlebens der Toxikologin Silvia, mit

gen aus dem Arabischen. 2017/18 war

Text aber gerne losgelassen.

dem Beruflichen und mit den Ereignissen in

Joël László Hausautor am Theater Basel,

unserer Gegenwart hat mich besonders in­

wo zurzeit sein Stück „Die Verschwörerin“

Sie haben als Assistent am Seminar für Nahost-

teressiert. Also habe ich die Handlung in

gezeigt wird.

studien an der Universität Basel gearbeitet und

2016

sowie

beim

wirkt ins Private hinein.

­konzentrischen Kreisen angelegt. Besonders

in diesem Bereich auch selbst geforscht. Jetzt

wichtig ist mir dabei die Metapher des Top-

liegt Ihr Schwerpunkt auf dem Schreiben. Wie sind Sie zum Theater gekommen?

fes: Nach und nach greift die brodelnde Hitze auch auf den intimsten Familienkreis über.

auskristallisiert. Es ist ein Chor der Stimmen,

Das war vielleicht meine älteste Liebe. Sie

Dieses Bild steht also für das Private, das zu-

die ihre Meinung kundtun. Die Choristen grei-

reicht bis in die Gymnasialzeit zurück. Ich

nehmend von den Ebenen des Kriegs und der

fen aber auch aktiv ein. Öffentlichkeit ist

habe mich bewusst gegen Studiengänge ent-

Verschwörung vereinnahmt wird. Um die

heute nicht mehr passiv, sie entwickelt ihre

schieden, die das Schreiben in der Praxis leh-

Übergänge sichtbar zu machen, ist das Thea-

eigene Dynamik. Selbst die Zeitungen fühlen

ren. Ich ging an die Uni, um meinen Horizont

ter für mich das ideale Medium. Denn auf der

sich in unserer Gegenwart angegriffen durch

zu erweitern. Fremdsprachen waren mir im-

Bühne ist es möglich, zwischen den Ebenen

das Brummen, das um sie herum entsteht.

mer wichtig. Während des Studiums war ich

hin- und herzuspringen. Zugleich ist das

Für die Medien wird das gesellschaftliche

monatelang in unterschiedlichen Ländern im

Theater ein Ort, der zur Gleichzeitigkeit ­

Leben zunehmend unkontrollierbar. Früher ­

Nahen Osten. Das verändert den Blick auf

zwingt. Der Diskurs über chemische Waffen

konnten deren Macher noch von einer Kanzel

eine Region entscheidend und macht im

etwa lässt sich parallel zur Rolle der Medien

herab predigen und Meinungen ihres Lese­

Grunde genommen ihre Komplexität erst

verhandeln.

publikums beeinflussen. Inzwischen regt sich

sichtbar. Heute kann ich diese Zeit nicht

gegen diese Meinungsherrschaft Widerstand.

hoch genug schätzen. Sie hat meine Perspek-

Der Chor spielt im Stück eine zentrale Rolle. Die

Zunehmend wurde mir im Schreibprozess die

tive auf die Welt geprägt. Im Stück versuche

Tradition dieser kommentierenden Instanz reicht

Energie dieses Chors bewusst. Diese Kraft,

ich, diese globale Verflochtenheit zu brechen,

bis in die Antike zurück. Sie denken deren Funk-

die immer stärker wird, prägt die Debatten

indem ich einen Bereich ins Spiel bringe, der

tion nun aber neu. Was ist die Aufgabe des

unserer Gegenwart. Anfangs sind der Chor

zum Intimsten und Verletzlichsten gehört,

Chors in Ihrem Stück?

und die Kernfamilie noch getrennt. Dann

das wir kennen: der Raum, der entsteht,

Im Schreibprozess hat sich der Chor immer

aber treten immer mehr Figuren aus dem

wenn wir ein Kind in die Welt bringen und

mehr als eine Instanz der Öffentlichkeit her-

Chor heraus und adressieren die Familie

großzuziehen beginnen. //

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stück

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Joël László

Die Verschwörerin Figuren Silvia Magnus Karl Magnus Delfi Chor der Interpreten Weitere Rollen: Chorführer Nahostkorrespondent Anwalt Mittelsmann Mutter im Kriegsgebiet Verteidigungsminister Insider

Meine Mama führte oft grausige, wenn auch wahre Beispiele aus der Geschichte an, statt sie zu vergessen und durch schönere zu ersetzen, die es nie gegeben hatte. Bora Ćosić, Die Rolle meiner Familie in der Welt­revolution

EINS

1/500 Tropfen Lost genügt um auf der Zunge Infektionsbedingungen zu schaffen die zum Tode führen In 25 Tagen werden 13.000 Bomben abgeworfen davon 3.000 mit Gas gefüllt Im ganzen Rif-Gebirge kann man keine Baumfrucht keine Feldfrucht mehr essen die Ernte ist zerstört das Land auf Jahre hinaus vergiftet Lost wirkt über die Haut die Augen die Atemorgane den Magen und ist krebsauslösend Bis heute über 90 Jahre nach Beginn der Gasoffensive hat sich keine Regierung in Madrid zum Einsatz des Massenvernichtungsmittels bekannt Die Krebsrate im Rif-Gebirge in Marokko liegt auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts signifikant über dem weltweiten Durchschnitt

Familien Wahrheit (Karl und der Chor neben einer Kleinkindwiege)

Deutsches Gas und spanisches Flugzeug Verschwörerin Am 22. Juni 1924 starten drei spanische Fliegerstaffeln im Nordwesten des spanischen Protektorats in Marokko Die Flugzeuge tragen Geschosse vom Typ C je gefüllt mit 25 Kilogramm Giftgas Im Lauf des Tages werfen sie 99 Bomben ab Es ist der erste aerochemische Großangriff der Geschichte Geliefert wird das Gas heimlich und in heller Missachtung des Versailler Friedensvertrags von Deutschland Hugo von Stoltzenberg entwirft annotiert und perfektioniert die Strategie der chemischen Kriegsführung und im Schutze der Heimlichkeit schauen Briten Franzosen und Italiener mit umso größerer Wissbegierde zu wie der Gaskrieg im Rif-Gebirge sich entfaltet von Stoltzenbergs aerochemische Strategie wird zum Vorbild für die italienischen Gaseinsätze in Libyen in den 1920er und Äthiopien in den 1930er Jahren und beeinflusst maßgeblich die Weiterentwicklung der deutschen Giftgas­ industrie Der in Marokko eingesetzte Kampfstoff heißt Lost von Stoltzenberg vermerkt in seinem Tagebuch:

Karl Freunde Chor Karl Karl Freunde Chor Karl Karl Karl Wenn ich an so einem Abend an die Welt da draußen denke und ich habe das Kind die Krippe im Rücken dann begreife ich wie die Realität wie unsere Idee von Wahrheit in der Stube am Küchentisch ja in der Familie sich erst herstellt Chorführer Hört hört Karl und seine Krippe Chor Ists nicht wieder typisch Kaum ein Kind da Wird der schlimmste Hacker Zum Reaktionär Karl Ihr versteht mich nicht Chorführer Sicher verstehen wir dich Das ist die Familienreaktion

Ganz logisch Chor Chemo Bio Logisch Chorführer Aber keine Angst Freunde es geht vorbei Karl Familie nicht Familie wir jetzt in diesem Moment nenns wie du willst uns genau uns mein ich Am Schluss sinds ein paar Freunde eine winzige kleine Kette von Menschen die einmal die immer wieder Hand für Hand für Hand um die ganze Welt herumzureichen versucht und sich so jeden Tage aufs Neue irgendwie die Welt erklärt Chorführer Sagt hat er wirklich mal Informatik studiert Chor Ach Karl Chorführer Die Familie als kleinste Einheit weltweiter Wahrheitsherstellung Chor WWW Oh weh oh weh oh weh Ein Informatiker Der sich selbst Und das Internet Hasst Karl Lacht nur aber ich schau da nicht mehr rein Chorführer Willst du wirklich den Rest deines Lebens einem kleinen Hosenscheißer hinter Chor Herr Internet-Melancholiker Karl Ich weiß nur dass dieser Hosenscheißer da hinten unschuldig ist und in seiner ganzen Unschuld eben grad die Welt zu denken beginnt Chorführer Schau zu dass du in deiner Unschuld die Welt nicht aus den Augen verlierst Chor Wisst ihr Jungs Was die Welt Für uns in diesem Moment Die Schüssel Makkaroni Da hinten Auf Karls Herd Karl Die sollten gut sein Chor Klar sind die gut


joël lászló_die verschwörerin

/ TdZ  März 2019  /

Makkaroni Karl Sind immer gut

Schiffe versenken Karl Da hier mein Kleiner dudu nimm ihn da schau nur ja super genau so schau einer an großartig du er nimmt ihn er nimmt den einfach wow wunderbar er hat den Schnitz Silvia er nimmt den Birnenschnitz und stopft ihn sich wie schaust du nur wie schaut das denn aus mein kleiner Kerl diese Birne dieser riesige Schnitz da in deinem Mäulchen genau wie Großpapa wie der Opa wenn er sein Pfeifchen schau nur Silvia der schmaucht hier schmaucht uns in aller Ruhe am Abend sein Birnenpfeifchen Verschwörerin Karl tut mir leid ich bin Karl Dieser Schnitz diese Birne ich möchte wissen wies in deinem Gehirn was da jetzt alles reinexplodiert Verschwörerin Bitte Karl kannst du einen Moment Karl Ist was Verschwörerin Seid doch einfach bitte ich bin hier Karl Was sagst du Wir kommen mal rüber ja da sitzt sie die Mama am Computer drückt schau hier Dropbox von der Mama da das Twitter bewegt sich was im Fenster drin da staunst du so gehts vom Mundeln gleich rein in die neuen Medien Verschwörerin Karl bitte ich kann nicht mehr zu wenig geschlafen morgen die Vorlesung Karl einen Moment nur ja bitte bitte Karl Was Silvia was ist los Verschwörerin Was Karl was die Vorlesung was ich sagen will was ich zusammengetragen was in dem Ordner drin müsste Karl müsste mit dem Datum für morgen ich verstehs nicht alles der ganze Ordner Vorlesung Tag Datum weg weg einfach verschwunden dafür hier dieses diese Scheiße was ist das was ist das für ein Karl Das ist ein Schiff Silvia

Verschwörerin Danke Karl für diesen Hinweis Karl Schau dort mein Kleiner ein Schiff Verschwörerin Scheiße Karl ich will dieses Schiff nicht ich will meine Vorlesung zurück wie löscht man wie macht man sowas weg wie Karl Du musst bei den Einstellungen Verschwörerin Bitte Karl bitte mach das weg Karl Und du bist sicher dass das nicht dein Verschwörerin Zum wievielten Mal Karl Hast du sie ausgedruckt Verschwörerin Was Karl Hast du einen Ausdruck ins Altpapier Verschwörerin (springt auf sucht wühlt sagt im Suchen) Karl Karl vor einer Woche Karl Karl Karl Ist weg Verschwörerin Was Karl Das Schiff Verschwörerin Karl Karl Karl du Großer du Genie ein Ausdruck ein analoger Informatikgenie du hier alles mit den Korrekturen alles alles da Karl In deinem Kopf drin da explodiert die Birne und der Mama fliegt ein Internet um die Ohren Verschwörerin Ach Karl Karl tut mir leid Karl Karl Komm her du weißt doch wie gern ich Schiffe versenk Verschwörerin Danke euch beiden komm mein Kleiner komm ich bring dich ins Bett (Pause) Verschwörerin Karl Karl Ja Verschwörerin Das Schiff da waren Fässer drauf Karl Keine Ahnung Silvia Fässer Schiff alles versunken jetzt

Sarin, eine deutsche Geschichte Verschwörerin Am 11. Mai 1943 macht die britische Armee in Tunesien einen deutschen Gefangenen Der Mann der in den amtlichen Aufzeichnungen ohne Namen bleibt ist ein Chemiker aus Spandau dem bedeutendsten Kampfstofflabor der Nazis Der unbekannte Informant erzählt den Briten von einer klaren farblosen Flüssigkeit mit leichtem Geruch Immer wieder wiederholt er dass dieser Kampstoff nicht mit herkömmlichen Gasen verglichen werden könne Er wirke nicht von außen auf den Körper die Schleimhäute ein dieser Kampstoff schädige das Nervensystem direkt von innen heraus Die Pupillen schrumpfen auf die Größe eines Stecknadelkopfs asthmatische Atemschwierigkeiten treten augenblicklich ein jede höhere Konzentration führt nach spätestens fünfzehn Minuten zum Tod Der Informant nennt das Nervengift nach seinem Decknamen Trilon 83 Bekannt wird das Gift unter dem Akronym seiner vier Erfinder Schrader Ambros Rüdriger und van der Linde SARIN

Vom Erscheinen der Gegenwart Delfi Alles was wir über die Welt wissen wissen wir über die Medien Was aber wurde aus dieser Welt in unserer Gegenwart und was für Medien braucht es damit sie uns sichtbar wird und wir etwas von ihr in uns und uns in ihr erkennen heute zu dieser Frage live zugeschaltet unser Nahostkorrespondent Nahostkorrespondent Hallo ja wie soll ich sagen das sind nicht die Misérables von Victor Hugo das ist der Nahe Osten und hier gibts mehr als nur Schwarz und Weiß trotzdem kommt irgendwann der Tag wo du dich hinstellst mit deinen beiden Gutachten

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stück

und laut sagst: Sarin und Hand aufs Herz es ist Sarin da bin ich mir sicher aber anstatt dass es den Leuten damit auf einen Schlag sonnenklar wird glaubts dir die eine Hälfte nicht und die andere auch nur so halbherzig Delfi Es ist ein Königreich der Deutung um das Sie trauern Nahostkorrespondent Naja so eine Welt der Alternativen was hält die noch zusammen woher scheint uns da das Licht Delfi Das frage ich Sie was bedeutets für den Korrespondenten was bedeutets für uns vor den Bildschirmen liebe verunsicherte Zuschauende Nahostkorrespondent Es geht ja nicht darum dass du auf dem Hoteldach stehst während hinter dir Bomben auf Bagdad regnen und der Nachthimmel hell leuchtet im Gegenteil meine tägliche Arbeit als Korrespondent ist es dass ich meine Hand ausstrecke und sage: Sehen Sie hier diesen Staub der Seitenstraßen sehen Sie diese kleinen Partikel die trage ich zu Ihnen in die Stuben rein und glauben Sie mir auch darin glitzert was vom großen Zusammenhang Delfi Eine Goldgräberstimmung der Wahrheit liegt plötzlich in der Luft Nahostkorrespondent Sehen Sie und genau das brauche ich so ein Vertrauen und eine Zuschauergeduld dass er sich lohnt dieser tägliche Kampf ums Gold der Fakten Delfi Faktum liebe schicksalsgläubige Zuschauende kommt aus dem Lateinischen und heißt: vom Menschen gemacht Nahostkorrespondent Das verstehe ich jetzt nicht auf welcher Seite sind Sie eigentlich Delfi Uns Gegenwärtige auf Herz und Nieren zu prüfen das ist mein Sendeauftrag Nahostkorrespondent Sie sitzen im Warmen und kauen am Lorbeer

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während wir hier draußen versuchen von der Realität zu retten was noch zu retten ist Delfi Wir wertschätzen lieber Kollege alle Ihre unschätzbare Arbeit Ich stelle lediglich liebe ergebnisoffene Zuschauende die Frage in den Raum ob uns in Ihrem staubigen Kampf ums Faktum tatsächlich unser aller Fatum ereilt oder ob es sich nicht eher umgekehrt verhält Karl Diese heroische Pose Mein Gott als wäre jede Live-Schaltung nach Erbil eine Mondlandung Verschwörerin Er wirkt männlich und doch ziemlich verloren Karl Das ist im Fernsehen schon vielen passiert Nahostkorrespondent Mich ereilen gleich die Kopfschmerzen Wenn Sie schon alles so genau wissen an was habe ich gekaut als unsere Sendung losging Delfi Wollen Sie mich werter Kollege wirklich prüfen Nahostkorrespondent So aus dem Sendefauteuil heraus ganz ohne Recherche hat man gut reden und weiß doch nicht allzu viel (Das Kind meldet sich) Verschwörerin Mist Karl Mist Verschwörerin Gehst du Karl Ich hab den Morgen gemacht

Farbglasscherben Welt (Die Verschwörerin schaukelt die Wiege) Verschwörerin Liebes Kind Lieber Bub Kleiner Bär Keine Sorge was sie uns da rüberwerfen vom Bildschirm das sind Scherben mein Kleiner siehst du nichts als Scherben kleine farbige rot grün blau gelbe Glasscherben und die setzen Papi und ich dir für dich für uns zusammen

damit uns die Welt am Schluss irgendwie warm irgendwie wahr und irgendwie bunt in unser Leben hineinleuchtet siehst du spürst dus das Licht das Glasscherbenfenster leuchtet schlaf weil ja wir legen uns jetzt hin zusammen eng umschlungen und einigermaßen versöhnt mit all den verstörenden Dingen rund um uns herum (Die Verschwörerin legt sich zu Karl ins Bett) Verschwörerin Karl Karl Ja Verschwörerin Ich liebe dich Karl Ich liebe dich auch

Giftgasgiganten Verschwörerin Spricht man über Giftgas spricht man über Deutschland Man kann aber auch zur Abwechslung über England reden Ich zitiere Winston Churchill 1919: „Ich verstehe nicht diese ganze Zimperlichkeit wenn es um den Einsatz von Giftgas geht im Gegenteil ich unterstütze vehement den Einsatz von Gas gegen unzivilisierte Stämme“ Die unzivilisierten Stämme das sind Afghanistan und der Irak und nochmals Churchill britischer Giftgasgigant das Memorandum vom 14. April 1944: „Es ist absurd das Thema des Gases von moralischer Seite her zu betrachten im letzten Krieg sah man die Bombardierung von ungeschützten Städten als verboten an jetzt tut es jeder als ob es sich um eine Selbstverständlichkeit handeln würde es ist ganz einfach eine Frage der Mode die hier genauso wechselt wie zwischen langen und kurzen Frauenkleidern


joël lászló_die verschwörerin

/ TdZ  März 2019  /

ich wünsche dass eine kaltblütige Einschätzung darüber vorgenommen wird ob es günstig für uns wäre Giftgas einzusetzen wir könnten die Städte an der Ruhr und viele andere Städte Deutschlands derart überschütten dass der größte Teil der Bevölkerung eine ständige medizinische Hilfe benötigt ich sehe nicht ein warum wir immer die ganzen Nachteile des Gentleman in Kauf nehmen sollen während sie sich der ganzen Vorteile des Schurken erfreuen ich bin völlig damit einverstanden dass es einige Wochen oder sogar Monate dauern kann bis ich sie bitten werde Deutschland mit Giftgas zu durchtränken und wenn wir es tun sollten dann sollte es hundertprozentig sein ich wünsche dass die Angelegenheit in der Zwischenzeit von vernünftigen Leuten kaltblütig durchdacht wird“

Anwalt und Schiff (Die Verschwörerin ordnet ihre Blätter nach der Vorlesung ein Mann steht vor ihr hinter dem Mann weitere Hörerinnen und Hörer) Anwalt Frau Magnus Verschwörerin Entschuldigen Sie ich muss gleich los Anwalt Nur kurz Verschwörerin Nächste Woche ja bitte kommen Sie doch nächste Woche in meine Sprechstunde Anwalt Frau Magnus Verschwörerin Bitte lassen Sie mich jetzt durch nächste Woche ja Danke

Anwalt Nächste Woche bin ich nicht da Verschwörerin Dann übernächste Anwalt Bitte Frau Magnus nehmen Sie von meinem Klienten (Der Anwalt drückt der Verschwörerin eine Mappe in die Hand) Verschwörerin Sie wissen in Vorlesungen nehme ich grundsätzlich keine Hausarbeiten

Verschwörerin Ich rufe die Polizei an Anwalt Tun Sie das nicht Verschwörerin Sie haben gestern Abend meinen Dropbox-Account gehackt haben private Ordner gelöscht und diese Schiff-Fotos hier Anwalt Ich weiß nicht von was Sie reden Frau Magnus Ich weiß nur wenn Sie jetzt die Polizei rufen dann ist dieses Schiff hier für immer verschwunden

(Die Verschwörerin blättert hält erschrocken inne) Verschwörerin Was ist das Anwalt Ich weiß es nicht (Die Verschwörerin beginnt in ihrer Tasche nach dem Telefon zu suchen) Verschwörerin Wer sind Sie Anwalt Ich bin ein Anwalt Verschwörerin Das ist ein Schiff Anwalt Tatsächlich ein Foto von einem Schiff Verschwörerin Was machen Sie hier Anwalt Ein Klient schickt mich und Verschwörerin Wer wer schickt Sie Anwalt Das darf ich Ihnen nicht sagen Verschwörerin Hören Sie auf damit das ist kein Spiel Anwalt Ich bin Anwalt ich spiele nie

(Die Verschwörerin zögert, steckt schließlich das Telefon wieder ein und nimmt die Mappe)

Morgen Interpretation Chor Unsere alltägliche Erfahrung Ist ein Komplex Aus Fehlschlägen und Erfolgen Im Geschäft der Interpretation Wir stecken im Sand Und arbeiten uns raus Dies ist eine Erhebung Mit Fake Fuck unterfaktet Damit ists Schluss Eine Öffentlichkeit Die noch immer meint Interpretiert noch nicht Wir wollen nicht länger blöder sein Als unsere eigene Realität Wir nehmen die Welt Und schaffen uns Tatsachen Ganz für uns allein Wir sind die Keimzelle Urform vom Widerstand Wir sind überall In jedem Loch Mit WLAN und Mobiltelefon Und interpretieren Bis die Welt uns explodiert Oder überkocht Unter uns sind Sand und Boden Und unter dem Sand warten die Tunnels

HEIN-HECKROTH-BÜHNENBILDPREIS 2019 Nach Erich Wonder, Karl-Ernst Herrmann, Achim Freyer, Robert Wilson, Christoph Schlingensief, Anna Viebrock, Bert Neumann und Gero Troike geht der neunte Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis an

Foto: Konrad Brack

KATRIN BRACK Öffentlicher Festakt zur Preisverleihung: Sonntag, 7. April 2019, 11 Uhr – Stadttheater Gießen, Südanlage 1, 35390 Gießen www.hein-heckroth-ges.de

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Wer Tunnels hat Braucht keine Straßen mehr Wir sind die Öffentlichkeit Die underground geht Die eine Hälfte der Welt Spielt sich ab im Sonnenschein Die andere Hälfte aber ist dunkel Und geht im Dark Net ab Und diese Hälfte Freunde Wird dunkler und größer Von Tag zu Tag

Sandkasten Karl Ich habs gesagt Sandkasten das ist noch viel zu früh Verschwörerin Schau er fühlt sich pudelwohl Karl Das ist grad die vierte Hand voll Sand die er sich sag mal mit was für Leuten hast du gestern wer zum Teufel Verschwörerin Hab was überprüft Karl Ich versuch einzuschlafen und du brüllst eine geschlagene Stunde in den Bildschirm rein Verschwörerin Das war kaum eine Viertelstunde das war der Chef von einer Reederei in Piräus die Verbindung war mies und sein Englisch ich sag dir ich hab fünf Minuten gebraucht bis ich den Schiffsnamen endlich Karl Reederei in Piräus sag mit was für Leuten Silvia und wieso zum Teufel Verschwörerin Jetzt schrei nicht so alle schauen Karl Da schon wieder Verschwörerin Was Karl Sand in den Mund Verschwörerin So ab und zu eine Hand voll Dreck wie sonst Karl willst du dass er die Welt Du lernst spucken schau lacht schon wieder Karl Ich verstehs nicht mehr was machst du

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Du bist Historikerin Silvia und deine staubigen Akten die haben mit der Gegenwart nicht das Geringste Verschwörerin Jetzt Karl da schaut die Geschichte halt irgendwie grad durchs Fenster rein Karl Darum hab ich Angst Silvia ich sag dir das verstehst du nicht das alles ist nur noch manipuliert und viel perverser als dus begreifst da schau Verschwörerin Was Karl Jetzt steckt er endgültig fest Verschwörerin Lass ihn das sind grad seine ersten Schritte Karl Er krabbelt Silvia er verkrabbelt sich und versandet Verschwörerin Es ist ein Zusammensetzbild Karl Karl Was ist ein Zusammensetzbild Verschwörerin Wie für Kinder diese kleinen schwarzen Punkte eins zwei drei neunzehn vierundreißig du suchst die Zahlen verbindest die Punkte ich mach ein Kriegspunktezusammensetzspiel Karl Karl Und was siehst du bei deinen Punkten wenn dus zusammensetzt Verschwörerin Einen dicken alten Europäer der zittrig Hegemoniallinien zeichnet Karl Im Ernst jetzt hol ich ihn Verschwörerin Hol ihn und weißt du was ich sehe Karl Krieg ich seh den Krieg ich sehe immer mehr und mehr vom Krieg

ZWEI Wahrheiten Eifersucht Chorführer Habt ihr gewusst Freunde Frauen die abgestillt haben wenn ihre Hormone vom Stillniveau wieder aufs Paarungsniveau sich herübermodifizieren Karl Halt schon die Klappe

Chor Wieso Was ist mit denen Karl Ich sag ich wills nicht wissen Chor Ich wills wissen Sags jetzt Karl Du sagsts nicht Chorführer Statistisch Karl zu über fünfzig Prozent gehen sie fremd Karl Was ist los Mann Was willst du mir sagen Chorführer Nichts Karl Da ist doch was Chorführer Nichts wirklich Karl Dann sags Chorführer Nicht weit von mir Karl da gibts dieses Internetcafé so eins wie früher mit Tischchen mit Sperrholz-Wändchen und weißt du Karl wen ich da schon zum dritten Mal Karl Silvia Chorführer Dann weißt dus Karl Ich weiß es nicht Ich habs geahnt Chor Was macht sie dort Karl Ich weiß es nicht Chor Wer Karl braucht heute Noch ein Internetcafé Chorführer Nur Illegale Chor Nur solche die sich selbst Oder sonst was verborgen halten Karl Sie ist an was dran Chor Was immer es ist Karl Wo sie dran ist Karl Rein historisch ists nicht

Gas ein Meister aus Deutschland Verschwörerin Wir machen den Schritt zur Karl Kolb GmbH einem dieser Tage wieder hochgelobten Traditionsunternehmen aus dem hessischen Dreieich Schwerpunkt: Technologietransfer


joël lászló_die verschwörerin

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in den Nahen Osten Bereits Firmengründer Karl Kolb wird 1984 ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für entwicklungspolitische und außenwirtschaftliche Leistungen während zeitgleich zur Ehrung seine Karl Kolb GmbH die prompte entwicklungspolitische Hinstellung einer ganzen Serie von Nazigiftgasfabriken ins irakische Muthanna verantwortet Die UN-Inspekteure reden bei ihren späteren Giftgas-Inspektionen explizit vom irakischen Sauerkraut-Boulevard vorerst aber regnet das mit deutscher Technik hergestellte Gas die 1980er Jahre über weitgehend ungestört auf iranische Soldaten während im Schutze ihrer Heimlichkeit Briten Amerikaner mitnotieren anerkennend registrieren dass den irakischen Chemikern eine interessante Modifikation am Senfgas gelingt und die Amerikaner vor lauter Anerkennung ihre Ausfuhrbestimmungen lockern um mit einigen Schiffsladungen Milzbrand Gasbrandbazillen Pilzerregern übertragbaren Tierseuchen Saddam Hussein neben dem Gasauch noch in den Biowaffenhimmel hochzurüsten

Topf und Mutter und Kind (Die Verschwörerin spricht im Internetcafé mit einem Übersetzer hinter dem Übersetzer eine Mutter mit Kind) Verschwörerin Was sagt sie Was sagt sie so laut die ganze Zeit Mittelsmann Männer kommen durch die Wand sie sagt Männer Männer durch die Wand Verschwörerin Welche Männer Mittelsmann Der Raum

sie sagt ein Loch im Raum und sie sind da Verschwörerin Es tut mir schrecklich leid Wer wer hat das getan Mittelsmann Wir wissen es nicht Verschwörerin Schauen Sie sie an Sie haben die Spuren gesehen am Körper Sie wissen was für Spuren das Mittelsmann Eine chemische Substanz Verschwörerin Was für eine chemische Substanz Mittelsmann Wir wissens nicht Verschwörerin Ich versteh Sie nicht Was soll ich tun Mittelsmann Sie müssen nichts verstehen merken Sie sich die Gesichter merken Sie sich das Gesicht der Mutter des Kindes das ists was ich Ihnen sagen soll Verschwörerin Wer von wem sollen Sie mirs sagen Mittelsmann Der Mann der mich fürs Übersetzen bezahlt Verschwörerin Wer ist das Mittelsmann Er schreibt Emails Verschwörerin Ich höre nichts wieso schreit sie so laut Mittelsmann Hören Sie hin Verschwörerin Ich verstehs doch nicht Mittelsmann Es ist immer das gleiche Wort Verschwörerin Ich verstehs nicht Mittelsmann Eine zwei Salven

so auf den Topf die Makkaroni an die Wand Tomatensoße durch die Tür ins Schlafzimmer zum Kind Tomatensoße Makkaroni auf den Fernseher drauf aufs Bett aufs schreiende Kind die Soldaten haben Masken sind ohne Ausdruck so große schwarze Masken Verschwörerin Das alles tut mir schrecklich leid Mittelsmann Wir müssen jetzt aufhören Wir müssen hier weg Die Gesichter merken Sie sich die Gesichter Verschwörerin Ich verstehe das alles nicht Mittelsmann Sie erzählen unsere Geschichte Verschwörerin Was soll ich erzählen Mittelsmann Finden Sies raus und erzählen sies und glauben Sie mir auch wir verstehens längst nicht mehr erzählen Sies bitte (Ende der Verbindung)

Familie im Krieg Karl Silvia Verschwörerin (sagt nichts) Karl Silvia Wo warst du Verschwörerin (sagt nichts) Karl Mit wem hast du wieder

GENDER MAINSTREAMING

mit Rosana Cade, Motus, Anta Helena Recke & Julia*n Meding, Lucy McCormick, Adrienne Truscott

DAMIEN JALET / CEPRODAC OMPHALOS [Europapremiere] WILLIAM FORSYTHE & SADLER‘S WELLS A QUIET EVENING OF DANCE MOHAMMAD AL ATTAR / OMAR ABUSAADA THE FACTORY LIGNA KLASSE KINDER! HAJUSOM AZIMUT DEKOLONIAL – EIN ARCHIV PERFORMT [Uraufführung]

9 1 0 2 R MÄ GEL HA K A MPN A

MBURG

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stück

Verschwörerin Ich weiß es nicht Karl Ich will diesen Satz nicht mehr hören Verschwörerin Was willst du hören Eine Familie im Krieg Karl im Krieg

Tok Tok Tomahawk Chor Von uns unersättlichen Interpreten heißts Dass wir Verschwörungstheoretiker In unserer Wahrheitswut längst Wahrheitswüstlinge geworden sind In unserem Wüten gerade seis Dass wir die Wahrheit auswüsten Gemeinsames Vertrauen zertrocknen Und den Glauben an die Realität In Hirngespinste zersanden Tweet Retweet Tomahawk Marschflugkörper Tok Tok Tok Wir drücken und hacken Klicken uns durch die Opfer Und Tweet Retweet Tok Tok Tok Schleudern wir die Information Durch den Äther Bis alles um sich schlägt Umschlägt ins Gegenteil Vom Gegenteil und endlich Ganz und gar verschwindet Wir wie blöde reinstarren In Tausendundein Fensterlein Voll Online-Kasino Und Pornographie Herzschlag Retweet Tok Tok Tomahawk Werkzeug Kriegsbeil Marschflugkörper Jeder Sprenger Ist der Gesprengte Wir fliegen längst alle Irrsinns durch die Luft Drum ein letztes Freunde Ein allerletztes Mal: We do not tolerate Outrageous conspiracy theories Unverschämte Verschwörungstheorien Die tolerieren wir nicht Verschwörungstheorien Freunde Die machen wir selbst

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denke ich wenigstens zwei Tage drüber nach Karl Über was willst du noch nachdenken Verschwörerin Man kanns als Chance sehen Karl Chance für was Verschwörerin Fürs historische Gedächtnis für all die Dinge die ständig vergessen sind Karl Silvia wir reden über den Talkshow-Mond Verschwörerin Ja und Karl Dort ist Schluss mit Wissenschaft da wartet die Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit die erinnert nicht im Gegenteil dort ändert sichs Silvia ständig weils prozessual ist weils ist wie mit dem Hirn dem Computer dem Internet der Sprache überhaupt jeder Struktur die in irgendeiner Form Wissen verarbeitet da gibts keinen Moment der Ruhe keinen Stillstand und weils das nicht gibt Silvia gibts auch den Moment der Wahrheit nicht Verschwörerin Kein Moment der Wahrheit Karl Kein Moment der Wahrheit Verschwörerin Und was ist die Moral von der Geschichte Karl Diese Talkshows wo man meint man hört Wahrheiten ticken wie Zeitbomben wo man Experten beim Entschärfen zuschaut und doch nur darauf wettet wens zuerst in die Luft jagt und nur deshalb Silvia weil sie immer wieder ins Nichts hineinexplodieren mit ihren Wahrheiten schauen wir überhaupt zu (Der Chor kommen rein)

Ereignisgott Verschwörerin Ich hab keine Ahnung wie die ausgerechnet auf mich kommen Karl Es ist lächerlich Verschwörerin Natürlich ists lächerlich Karl Und genau darum Silvia gehst du da nicht hin Verschwörerin Jetzt wo sie mich einladen

Verschwörerin Sag was machen die hier Karl Hab dir gestern dreimal gesagt dass wir heute Chor Vrumm Vrumm Vrumm Verschwörerin Karl was soll das Karl Silvia ich hab dir dreimal gestern dass wir heute Chor Vrumm Vrumm Vrumm Chorführer So ists doch Silvia

genau so eine Formel 1 Silvia Chor Argumente Silvia Vrumm Vrumm Vrumm Chorführer Rasen im Kreis Silvia Chor Vrumm Vrumm Vrumm Chorführer Und du wartest Silvia Chor Vrumm Vrumm Vrumm Chorführer Nur auf den Crash Silvia Chor Vrumm Vrumm Vrumm Chorführer Die Jahrhundertkarambolage Vrumm Vrumm Vrumm Chor Es knallt Es fliegt in die Luft Es blutet Vrumm Vrumm Vrumm Chorführer Wie so ein Ereignisgott Silvia wie so eine Rechtfertigung Chor Vrumm Vrumm Vrumm Chorführer Für deine letzten Chor & Chorführer Dreieinhalbtausend Stunden TV Verschwörerin Schluss jetzt Chor Vrumm Vrumm Vrumm Verschwörerin Schluss jetzt Chor Vrumm Vrumm Vrumm Verschwörerin Meine berufliche Laufbahn Karl sag das deinen Freunden ist keine Sportmetapher und jetzt: raus Chorführer Komm bleib schon locker Silvia Verschwörerin Das sind so Ratschläge vielen Dank Karl hast du eine Idee wie kriegen wir die was machen wir Chor Vrumm Vrumm Vrumm Verschwörerin Das darf nicht wahr sein ihr schaut tatsächlich Formel 1 Karl Silvia heute das ist der Große Preis von Chor Vrumm Vrumm Verschwörerin Moment Ruhe Eilmeldung: Erneuter Giftgaseinsatz Still jetzt schnell wo ist die Fernbedienung Karl Was ist


joël lászló_die verschwörerin

/ TdZ  März 2019  /

(Auf dem Bildschirm: Eilmeldung erneuter Giftgaseinsatz) Verschwörerin Es ist wieder passiert Karl Was ist passiert was ist los Verschwörerin Ein erneuter Giftgaseinsatz (Auf dem Bildschirm: Eilmeldung erneuter Giftgaseinsatz dazu Bilder der anderen Familie) Verschwörerin Er ist da Karl Wer ist da Verschwörerin Der Ereignisgott Das da ist die Familie im Krieg Chor Der Krieg Freunde der Krieg Seht ihrs könnt ihrs riechen Er ist der allergrößte Aller Interpreten Im Handumdrehen Macht er dir aus Tausend Afghanen Eine Legion von Mickey Mouse Und alles Denken jede Struktur Ist in seinen Augen nur eins: Eine unendliche Ressource Für Löcher Wir bohren Freunde Wir sprengen Wir schneiden Unermüdlich Freunde Tag und Nacht Löcher in die Wände Löcher in die Böden Löcher in Eure Tage In Eure Realität Karl Was immer du gesehen hast es ist von irgendwo her Tausende Kilometer hoch zu einem Satellit und wieder runter in ein schäbiges Internetcafé Bewegte Bilder mit einer Tonspur in einer Fremdsprache die du nicht verstehst haben mit der Realität Silvia nicht das geringste zu tun

Verschwörerin Ich habe eine Familie gesehen Karl mutmaßlich Opfer von Giftgas Karl Du bist selbst längst ein Opfer Wenn du ernsthaft glaubst dass dich irgendwer einfach so etwas wissen lässt Verschwörerin Ich weiß was ich tue Ich rede über die Kriegspunkte ich werde nur sagen was ich beweisen kann

Raketen Fläschchen (Karl und der Chor vor dem Bildschirm der Sohn schreit Karl wippt der Chor rennt sucht Fläschchen versucht im großen Topf Milch warm zu machen Fläschchen fallen um Milch läuft über Fläschchen fliegen durch die Luft) Karl Hats schon angefangen Chor Es kommt Karl Bitte mein Kleiner sei ruhig deine Mama du bist doch sonst nicht so wenn mal die Glotze Chor Krass Das ist wirklich Der Verteidigungsminister Wow Schau dir die Silvia an Karl Schau mein Kleiner da ist sie Chorführer Darum schreit er doch Karl Weil er die Mama sieht Karl Hast du die Flasche wo ist die Flasche Chor Wenn ich die Silvia da so sehe Neben dem Verteidigungsminister Karl Was

Chorführer Sags nicht Das will er jetzt nicht hören Karl Bitte Was will ich nicht hören Mann die Flasche Chorführer Fuck die Milch Karl das darf nicht kochen oder Karl das geht hier irgendwie einfach drüber und Karl Mischs mit kalter einfach kalte Milch rein in den Topf nur nicht anbrennen es wird bitter wenns anbrennt Chor Was sagst du Karl Bitter bitter wirds Chorführer Karl Hab nicht aufgepasst Chor Wow Die Silvia Chorführer Ich nehm einfach ne neue Pfanne und Karl Mach einfach schnell ja Chor Karl Wir müssens jetzt einfach sagen Karl Was ist los Mann Chor Silvia Karl Wow Karl Sag jetzt nicht Rakete

Theater Marie argovia philharmonic Heitere Fahne Bern 8. / 9.3.2019

Musiktheatralische Inszenierung der 3. Symphonie von Ludwig van Beethoven in einer komponierten Interpretation von Bo Wiget

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stück

Chor Genau das Karl Grad so Neben dem Verteidigungsminister Einfach ne Rakete Karl Einfach ne verdammt heiße Rakete Diese Silvia

Moral Sandalen Kanzler Delfi Das alles ist keine Antwort auf die Frage: Soll man auch diesen erneuten Giftgaseinsatz militärisch unbeantwortet lassen Verteidigungsminister Soviel kann ich Ihnen sagen Frau Delfi meine Regierung wird immer für die Opfer einstehen und zusammen mit unseren NATO-Partnern sind wir bereit die moralische Verantwortung zu übernehmen Delfi Sie glauben an die moralische Wirkung von Bombardements Verteidigungsminister So hab ich das Frau Delfi nicht gesagt Aber ja es geht um unsere Glaubwürdigkeit Verschwörerin Die Frage ist sind tatsächlich wir es die berufen sind das Humanitäre in Verbindung mit dem Gas dermaßen zu beurteilen um glaubhaft humanitär loszuschießen Gehts Ihnen Herr Verteidigungsminister um die Glaubwürdigkeit oder gehts um die Opfer Verteidigungsminister Unsere Glaubwürdigkeit Frau Magnus verhindert weitere Opfer Delfi Wie informiert und glaubwürdig Herr Verteidigungsminister fühlen Sie sich Was wissen wir wirklich Was wissen wir noch nicht Verteidigungsminister Es gibt ganz eindeutig Dinge von denen wir wissen dass wir sie wissen daneben gibt es eine ganze Reihe von Dingen von denen wir wissen dass wir sie nicht wissen Darüber aber sollten wir nie vergessen: es gibt auch Dinge von denen wir nicht wissen dass wir sie nicht wissen Verschwörerin Herr Verteidigungsminster Verteidigungsminister Frau Magnus Verschwörerin Und was ist mit den Dingen von denen wir nicht wissen dass wir sie wissen Verteidigungsminister Das Frau Magnus weiß ich nicht

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Verschwörerin Ich zitiere die 118. Plenarsitzung des Bundestags vom Januar 1989 Es geht um die deutsche Hinstellung einer Kampfgasproduktion nach Rabta Libyen Bundeskanzler Helmut Kohl ist nicht anwesend und doch ist er anwesend Der Kanzler lacht zum Thema Kanzleramtchef Wolfang Schäuble zitiert Kohl: Das ist doch alles falsch zitiert! Schäuble gleich nochmal hinterher: In Kohlsnamen es ist komplett unwahr Es kann ihm gar nicht dumm genug sein! Delfi Das ist kryptisch Verschwörerin Das ist die Stimmung im Bundestag lachen lachen nur nicht heulen angesichts folgender Tatsachen: 1980–84: deutsche Kampfgasanlagen für den Irak am Sauerkraut-Boulevard 1984­–89 Kampfgasanlagen für Libyen in Rabta 1990-96 schon wieder für Libyen die größte unterirdische Giftgasfabrik weltweit Ich stelle fest: Zu jeder Wahlperiode war die Kanzlerschaft von Helmut Kohl eine Massenvernichtungswaffen exportierende Kanzlerschaft Delfi Bei allem Respekt Frau Magnus schauen Sie mich nicht so an ich bin nicht Helmut Kohl Verschwörerin Wir alle sind Helmut Kohl Delfi Herr Verteidigungsminister Weinen Sie noch oder lächeln Sie schon Verteidigungsminister Ein wenig von beidem Frau Delfi Wir sprechen über Sicherheit und als Sicherheitspolitiker regt sich in mir gerade unwillkürlich ein Gefühl von Dankbarkeit wie ich zurückdenke an all die Urlaubsgrüße die Hannelore und Helmut uns Jahr für Jahr aus dem Salzkammergut geschickt haben der Traunsee gekräuselt von einer Sommerbrise bis plötzlich wie ein Wassermann der Kanzler uns entgegensteigt der sicherheitspolitische Inbegriff aller Urlaubsgrüße ist faktisch nicht begründbar und dennoch war die Welt nach dieser Botschaft wenigstens ein paar Wochen lang europäischer und friedlicher Delfi Ich schlage vor dass wir an dieser Stelle eine Schweigeminute Verteidigungsminister Helmut Kohl war ein großer Europäer Verschwörerin Es gibt keine kleinen Europäer

Verteidigungsminister Für Europa für den Kanzler Verschwörerin Schließen Sie die Augen und schauen sie zu wie ein deutscher Kanzler zuschaut wie in Libyen Sarin hergestellt wird Verteidigungsminister Das ist sehr unsachlich Helmut Kohl war nie in Libyen Verschwörerin Bundeseigene Rüstungsunternehmen haben die Pläne der Anlage gezeichnet Verteidigungsminister Sagen Sie doch gleich: Helmut Kohl steigt ins Flugzeug um in Libyen in einem Kochtopf das Sarin persönlich anzurühren Verschwörerin Sie werden lachen genau das sage ich Verteidigungsminister Sehen Sie jetzt lache ich wirklich Massenvernichtungskanzler Frau Magnus das können sie hundert Mal sagen trotzdem bleibts beim Kanzler der Einigung denn woran man sich erinnern will das schreiben Sie sich hinters historische Öhrchen daran erinnert man sich gut und oft und kleine Europäer da haben Sie recht die gibts tatsächlich nicht ganz einfach weil niemand sie haben will Delfi Frau Magnus jetzt sag ichs Ihnen ganz direkt: mit diesem Helmut Kohl sind wir noch lange nicht angekommen im Heute Liebe momentbeflissene Zuschauende denken Sies sich so: Direkt vor Ihnen auf meinem Körper erscheint uns allen die Gegenwart und diese Gegenwart ist kein Gesicht kein lachendes kein weinendes Auge eher ist sie so etwas wie ein Orakelspruch als Orakel aber Chor Silvia Tok Tok Hör zu Die Opfer Silvia Von den Opfern erzähl Verschwörerin Das geht nicht Chor Von der Familie erzähl Verschwörerin Keiner glaubts Chor Opfer Silvia Opfer Das zieht Das rüttelt wach Verschwörerin Es geht nicht ohne Beweise


joël lászló_die verschwörerin

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Chor Draußen sind Tausende Die glaubens sofort Tweet Retweet Es verändert alles Den Opfern Herzschlag Tok Tok Tok Bist dus schuldig Verteidigungsminister (leise) Unter uns eine Bemerkung Chor (leise) Herzschlag Tok Tok Tok Verschwörerin Hört auf damit Verteidigungsminister (leise) Gut gemeint fast persönlich Chor (leise) Herzschlag Tok Tok Tok Verschwörerin Warum flüstern Sie Verteidigungsminister (leise) Der Verrat an der eigenen Gemeinschaft Chor Herzschlag Tok Tok Tok Verteidigungsminister Einen Augenblick lang Frau Magnus mags sich anfühlen wie grenzenlose Freiheit Chor Tok Tok Tok Verteidigungsminister Am Ende aber sitzt man Chor Tok Tok Tok Verteidigungsminister In Russland Chor Tok Tok Tok Verteidigungsminister Wie Edward Snowden und dient Chor Tomahawk Verteidigungsminister Einer fremden und bösen Macht

Verschwörerin (laut) Was wollen Sie damit sagen Lassen Sie mich Delfi Herr Verteidigungsminister Verteidigungsminister Frau Delfi Delfi Worauf zielen Sie Verteidigungsminister Wir halten an der roten Linie fest Wir verhandeln zeigen Verständnis jenseits der roten Linie aber sprechen wir eine andere entschlossenere umso moralischere Sprache Vergessen wir nicht: Alle unsere Bemühungen sind stets strikt humanitär Feinde bekämpfen wir zu unseren Bedingungen wenns aber mal so weit ist: Gnade ihnen Gott Delfi Ein Schlusswort vielen Dank Herr Minister Verteidigungsminiser Ich danke Ihnen Frau Delfi Chor Schnell Silvia schnell (Die Verschwörerin zieht ein Foto mit einem Schiff heraus) Delfi In letzter Sekunde: Ein Schiff Chor Tweet Retweet Silvia erzähl Verteidigungsminister Ein Schiff auf hoher See Frau Magnus ich gratuliere Delfi Es ist ein Schiff mit Fässern drauf Chor Weiter Silvia erzähl Verteidigungsminister Dieses Foto geradezu rührend Verschwörerin Rührend wissen Sie was in diesen Fässern Herr Verteidigungsminister angerührt

Verteidigungsminister Frau Magnus das Fass ohne Boden Verschwörerin Nachdem man 2011 Gaddafi wegbombt geraten die libyschen Waffenlager in Bewegung und diese Fässer fahren aufs Meer hinaus Delfi Ich verstehe Frau Magnus Es ist das im Kochtopf von Helmut Kohl persönlich angerührte Verschwörerin Sarin hier bitte Frachtpapiere Fotos vom Verlad Delfi Der Verteidigungsminister lächelt und steht doch irgendwie verkrampf im Studio liebe gekitzelte Zuschauende ich fühle wie etwas tief in mir in Schwingung gerät Verschwörerin Der Kapitän Frau Delfi Delfi Wer ist der Kapitän Verschwörerin Der CIA Delfi Der CIA ist der Kapitän Verschwörerin Der CIA organisiert den Waffenschmuggel Delfi Großartig Verteidigungsminister Mein Gott wenn Sies unbedingt wollen kann ich auch Ihnen hier wie Uri Geller einen Löffel verbiegen Chor Ruhe jetzt Die Opfer Die Opfer Verteidigungsminister Welche Opfer Delfi Es kommt ja ich fühle

Künstlerhaus Mousonturm März 2019 Ruby Behrmann & Liliane Koch DAMENGEDECK– Ein Rundgang in die Zukunft 1.–3.3. / Thorsten Lensing/ David Foster Wallace Unendlicher Spaß 7.–9.3. / Rimini Protokoll (Begrich/Haug/Karrenbauer) DO‘s & DON‘Ts FRANKFURT/MAIN – Eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt 13.–16.3., 20.–23.3., 27.–30.3. / Markus&Markus ZWISCHEN DEN SÄULEN 13. & 14.3. / Caroline Creutzburg Woman With Stones 22.–24.3. / Ant Hampton CRAZY BUT TRUE 29. & 30.3. Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main GmbH, Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt/Main

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stück

es kommt Verteidigungsminister Sowas ist doch kein Sendeplatz mehr wo ist mein Fahrer Chor Ruhe Frau Delfi sieht Delfi Ich sehe die Opfer von diesem Sarin Chor Das Orakel sieht Das Orakel spricht Delfi Sie sind Opfer von anderen als wir meinen Verschwörerin So ists Delfi Ein Opferschwindel Frau Magnus die Sendung ist um wir sind durchgedrungen zur Gegenwart es gibt einen Opferschwindel was aber bedeutet das liebe überraschte Zuschauende schalten Sie ein und seien Sie mit uns nächste Woche bis dahin vergessen Sie nicht IN ARKADIEN LEBTEN EINST EICHELESSENDE MENSCHEN DOCH EINES NACHTS ERWACHEN SIE UND SEHEN IM MONDLICHT DASS DIE EICHELN GAR KEINE EICHELN SIND DIE NÄCHSTE MAHLZEIT WURDE IHNEN EINE SCHWERE DOCH ERST SO WURDE ARKADIEN ZUM GELOBTEN LAND Verschwörerin Was wollen Sie damit sagen Chor Das Orakel hat gesehen Das Orakel hat gesprochen Ein Orakelspruch Silvia für dich allein Verschwörerin Ich will keinen Orakelspruch Chor Natürlich willst du einen Sonst wärst du nicht hier Verschwörerin Ich will diesen Spruch nicht Wo ist Frau Delfi Chor Nimm den Spruch Silvia Mach ihn dir zu eigen Arkadien Silvia Wo wirds wohl sein Verschwörerin Ich will nach Hause einfach nur nach Hause

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Der erste Schritt Karl Ich sag dir wenn Silvia das jetzt sehen könnte ich glaubs nicht wow hast du das gesehen mein Kleiner bravo ja genau so Chorführer Hat er das vorher wirklich noch nie Karl Nein schau nur ganz für sich schon wieder alle Angst wie weggeblasen ja mein Kleiner ja so geht das da steht man irgendwo und lässts los und geht rein wow wenn ich das so seh du da kommen mir jetzt Sachen in den Sinn sein erstes Engelslächeln zack und ich sehs vor mir oder wie er einmal er war vielleicht drei Wochen alt so laut in eine Sarabande vom Bach hineingeschissen hat dass du vom Barockorchester keinen Ton mehr gehört hast Mensch schau nur siehst du das Chorführer Ich hol mir noch ein letztes magst du auch Karl Klar das müssen wir feiern schau nur immer weiter noch sechs noch fünf Schritte und Chorführer Es hat nur noch eins Karl Was Chorführer Nur noch ein Bier Karl Bring zwei Gläser ja so und noch einer dann hast dus gleich und Nein oh nein Hingefallen und ausgerechnet aufs Klötzchen da komm ich nehm dich das tut weh Ruhig atmen so ists gut Laufen mein Kleiner und Umfallen leider gehörts immer noch zusammen Chorführer Jetzt hat er sich aber wirklich Karl Fest durchatmen ganz ruhig Hallo mein Kleiner hallo

Chorführer Wieso schreit er jetzt nicht mehr Karl Nicht aufhören hallo mein Kleiner schreien atmen Chorführer Karl was ist das Karl Karl Ich weiß es nicht Verdammte Scheiße Chorführer Er bewegt sich nicht Karl Verdammt hör du auf rumzubrüllen dort das Telefon schnell Kleiner bitte bitte was ist los atmen atme doch Chorführer Was soll ich 111 oder Karl 144 den Notfall Chorführer Er wird irgendwie blau Karl wieso nimmt hier keiner Hallo hallo ja hören Sie mich wir haben hier Karl was soll ich Karl Gib das Telefon (Der Chorführer gibt Karl das Telefon) Karl Hallo hören Sie mich mein Kind ein Krankenwagen jaja was ja nein noch kein Jahr er ist hingefallen ja auf ein Klötzchen und was ja er wird blau ja verdammt er ist blau Chorführer Du Karl er Karl Warten sind Sie verrückt was soll das ich will dass Sie sofort


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Chorführer Karl schau doch er er hat die Augen auf er Karl Was hallo hallo du mein Kleiner was ist nur was hier nimm (gibt das Telefon an den Chorführer) Chorführer Karl sie verbinden uns jetzt mit einem Kinderarzt Karl Was sagst du Chorführer Die haben gesagt im Arm halten sie sagen er muss schlafen sie sagen alles ist (ins Telefon) ja natürlich eine Decke und Karl Was sagen die verdammt was sagst du ist Chorführer Einen Moment bitte (zu Karl) die sagen Karl alles ein Affektkrampf Karl die sagen alles ist in Ordnung die sagen alles wird gut

Affekt Krampf Tribunal (Karl und das schlafende Kind) Die Verschwörerin Ich bin froh Karl einfach nur froh endlich zuhause zu sein (Die Verschwörerin holt sich ein Glas setzt sich zu Karl)

Du hattest recht Karl ich hätts nicht tun nicht da nie hingehen sollen es ist eine Mondlandschaft fahles totes Licht eine Atmosphäre wo jedes wahre Wort sich auflöst vor deinen Augen nochmal soviel ist sicher tu ich sowas nicht Karl ist alles in Ordnung wieso schaust du so Was was ist los Karl Er hat nicht geatmet Silvia der Körper lag ohne Spannung Tot Silvia hörst du tot hab ich ihn in den Händen gehalten

neurologisch erfasst und emotional versiegelt ja dieser Tod da liebe neurologisch aktivierte Zuschauende ist definitiv eingespeichert worden in ein Hirn und ein Leben rein Verschwörerin Der Fernseher Karl jemand soll den Fernseher Karl Der Fernseher Silvia ist aus Verschwörerin Der Fernseher jemand soll den gottverdammten Fernseher Karl Der Fernseher Silvia ist aus

(Im Fernseher drin)

Vogelmoral (das Lied der Schuldigen) (Ein Mann sitzt mit dem Rücken zum Publikum)

Delfi Gibt es die Opfer gibt es sie nicht Ist diese Familie ein Opfer oder sind wir selber Opfer von einem Opferschwindel wer opfert wen für was wieviele Opfernde und Geopferte gibts in dieser Geschichte jemand stirbt jemand stirbt nicht einer stirbt fast wir schauen zu wie jemand stirbt und in unserem Hirn drin stirbt wirklich einer ist jemand tot auch wenn wir danach erfahren dass er nur fast oder nur am Bildschirm oder womöglich überhaupt gar nicht gestorben ist der Tod in unserem Hirn soviel steht fest ist ein realer Tod ist als Tod

08./09.03.2019 Until Our Hearts Stop Meg Stuart/Damaged Goods (US/DE/BE) & Münchner Kammerspiele (DE) 09./10.03.2019 Shown and Told Meg Stuart (US/DE) & Tim Etchells (GB)

www.hellerau.org

28. – 31.03.2019 Ultimatum Dresden Frankfurt Dance Company

DREI

Delfi Welche Opfer sind wir bereit der Wahrheit zu bringen und unter welchen Bedingungen ist die Wahrheit ihrerseits bereit unsere Opfer zu akzeptieren liebe geblendete Zuschauende der Gegenwart eines steht fest: nur dank der Figur des Whistleblowers des Überläufers des aus dem Dunklen ins Licht der Öffentlichkeit tretenden Insiders ist uns bisweilen ein jäher Blick ins Herz der Macht vergönnt heute Abend zu Gast ein Mann der nicht verraten will wer er ist ein direkt Involvierter jemand aus dem allerinnersten Kreis Insider Sehen Sie Frau Delfi in meinen Kreisen da heißts: Wer seine Wahrheiten singt muss rasch hoch steigen

14. – 24.03.2019 TONLAGEN Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik #stimme

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oder er fällt noch schneller gar tief herab Delfi Öffnen Sie uns die Augen ziehen Sie uns zu sich herauf Insider Jeder Marschflugkörper der pfeifend abhebt von seinem Kriegsschiff könnte genauso ein Vögelchen sein wie ich Delfi Wollen Sie uns abschießen oder mitnehmen auf Ihren Flug Insider Unsere Welt Frau Delfi bis heute hängt sie am Pfeilbogen und an der Laute dran Delfi Wer nach Arkadien will unterscheide Vogel- von Raketenklang Insider Gerade deshalb: Nichts ist gefährlicher Delfi Und nichts ist schöner Insider Als der Gesang Delfi Die Schönheit unserer Waffen ist und bleibt verführerisch Insider We are guided by the beauty of our weapons Delfi Walter von der Vogelweide Insider Leonhard Cohen Delfi Der kam später Insider Barde bleibt Barde Delfi Sind Sie überhaupt ein Vogel Insider Ich sage nur: Als Spatz auf dem Dach denke nie du seist die Nachtigall im Zedernwald Delfi Das Benennen von Schuldigen ist wie alles Benennen ein grundsätzlich lyrischer Vorgang Insider Der Klang solcher Vogelmoral aber hat im Tirili Delfi im Fiderallala Insider im Tschilp Tschalp Delfi im Tandaradei Insider Ganz unanfechtbar morgenhell ganz zweifelsfrei nachtigallisch zu erklingen denn nur zu schnell schnellt sonst eine Hand

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aufs Spatzendach ins Drosselnest ja ins verwegene Taubenloch rein und (Der Insider dreht einem Vögelchen den Hals um) Delfi Darüber liebe ungefiederte Zuschauende vergessen wir nicht: Die Stimmbänder des Menschen sind von Natur aus weittönend und nahezu vogelgleich

Gifted gift Karl Silvia Silvia Verschwörerin (arbeitet) Karl Silvia Eben in der Tram da war einer so einer im Anzug Verschwörerin Karl von was redest du ich habe kaum geschlafen muss hier bis morgen Karl Was Verschwörerin Was Karl was die Vorlesung Karl Du hast morgen keine Vorlesung Verschwörerin (arbeitet weiter) Karl Silvia sie haben dich suspendiert Verschwörerin Sie überprüfen die Dokumente irgendein Ministerium macht Druck aufs Institut aber morgen morgen ist Dienstag und jeden Dienstag um acht Uhr habe ich Karl Weißt du was er gemacht hat Verschwörerin Wer Karl Der Mann im Anzug Verschwörerin Karl ich bin am Arbeiten jetzt ich Karl Er lächelt den Kleinen an sagt Dududu sagt es so sein Dududu dass der Kleine übers ganze Gesicht strahlt dann langt er in den Wagen hebt ihn raus unseren Sohn und grinst mich an in seinem scheiß schmierigen Anzug und sagt: Grüßen Sie mir die Frau Magnus sagen Sie der Frau Magnus

mein Klient ist verwirrt aber nicht unamüsiert drückt mir den Kleinen in den Arm und springt bei der nächsten Haltestelle raus Verschwörerin Scheiße Scheiße dieser Scheiß Anwalt Karl Silvia dieses Arschloch hat unseren Kleinen im Arm Verschwörerin Was will der von mir was denken die Karl Wer sind die Verschwörerin Ich habe keine Ahnung wer die sind es ist mir auch scheißegal wer die sind ich will hier nur Karl Scheißegal Silvia ist hier schon lange überhaupt nichts mehr am wenigsten scheißegal ists dass dieser Anwalt unser Kind aus dem Wagen hebt und angelächelt wird dafür dass er ihn morgen oder spätestens übermorgen entführen wird Verschwörerin Das ist ein Anwalt Karl nicht die Al-Qaida im Maghreb Karl Siehst dus eigentlich nicht hier bei dir bei mir bei unserem Kind auf der Stirn Al-Qaida wir sind gezeichnet überall Kriegspunkte hier und hier nur noch Kriegspunkte überall alles voll einmal hast du ihn fast umgebracht Verschwörerin Unser Sohn hatte einen Affektkrampf Karl und in jedem scheiß Elternratgeber dieser Welt steht drin dass so ein Affektkrampf Karl Noch einmal will ich sowas nicht erleben ich bring uns in Sicherheit dann kannst du hier mit der Al-Qaida und dem Anwalt und deinem Sarin Kapitän spielen so lange du willst Verschwörerin Karl bitte beruhig dich Karl Ich beruhig mich nicht Was soll ich dir noch glauben woher weiß ich noch was du tust


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gibs doch ein ins Internet Silvia Magnus dann siehst dus conspiracy woman bis in die USA hast dus geschafft für jede Wahrheit Silvia brauchts einen Empfänger brauchts ein Ohr eine Öffnung Gehirne Rezeptoren ein Publikum das sich willig vor die Wahrheit hinlegen und stimulieren aufreizen süchtig machen lassen will und weißt du was da draußen liegt sie längst deine Fan-Gemeinde gifted Silvia sexy beautiful Silvia truth bomb history professor so wunderbar gifted so talentiert ich aber Silvia nur damit dus weißt gehör ab jetzt offiziell nicht mehr dazu zu deinem Fan-Club für mich und uns hier bist du vor allem eins eine Mutter voll Gift du bist vergiftet und vergiftest längst alle und alles um dich herum Verschwörerin Hör auf hör auf hör auf oder ich sag dir Karl hier geht was wirklich geht was für alle Zeit in die Brüche (weint) Karl Das möchte ich erleben das möchte ich sehen dass hier überhaupt noch was ist was in die Brüche gehen kann (Karl geht zum Kind) Verschwörerin Was immer du vorhast der Kleine bleibt bei mir Karl (sagt nichts und geht)

Hohles Auge Welt (Wahrheitslied) Verschwörerin Heute Abend da ists kein Wiegenlied das ich dir sing mein Kind heute Abend von Mutter zu Sohn und raus in die Nacht ists ein Wahrheitslied das ich uns singen will siehst dus mein Kleiner siehst dus lieber Bub da genau da wars das große Fenster und lange Zeit haben die Menschen davor gesessen rausgeschaut durch spitze hohe Bogen in Eintracht und stillem Glauben an eine liebe weite Welt dann aber eines Tages kam eine Frau geritten und ist mit dem Besen mitten hinein ins Fenster dass es geklirrt hat in Scherben ging und wir seither kniend am Boden zusammensuchen was von der Wahrheit geblieben ist Wer erinnert sich an all die tausend Filme an all die hundertausend Bilder Wer erinnert sich im entscheidenden Moment und überprüft und wägt Manipulation gegen Manipulation Interpretation gegen Interpretation Bilder blättern fallen runter und andre Bilder von alten

und neuen Toten wachsen nach Das Kind schläft mein Mann ist fort ich kann nirgendwo hin für diese letzte Sitzung mache ich die Kamera an ist unser Medium nicht der Vorlesungssaal sondern der Livestream aus meiner Küche heraus Hier sitze ich also vor einem blinzelnden Auge worin ihr mich alle sehen und ich euch leider gar nicht sehen kann Die Zeit: Die Gegenwart so wie wir sie kennen oder doch nicht kennen der Ort: Das Kriegsgebiet im Nahen Osten worin wir eingewühlt selbst liegen Wer von uns ist der Verräter und wer ist der Verratene Wir schließen heute diesen Zyklus ab Mehr als ein paar letzte Punkte kann ich Ihnen nicht geben Suchen Sie weiter Ziehen Sie die Verbindungsstriche selbst Al-Qaida ist jetzt auf unserer Seite Al-Qaeda is on our side now Das schreibt der amerikanische Sicherheitsberater Jacob Sullivan am 12. Februar 2012 an die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton Die Dschihadisten heißen jetzt Rebellen Die Waffen aus Libyen gelangen ins Kriegsgebiet Die Feder führt der CIA Am 22. Juni 1781 führt Johann Wolfang von Goethe die Feder und schreibt an seinen Freund Johann Caspar Lavater Glaube mir unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen Kellern und Kloaken minieret wie eine große Stadt zu sein pflegt Unterminiert und unterlocht wie unsere Moral sind auch die zerschossenen Städte im Nahen Osten Mit Zement vom französischen Zementgiganten

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Kurt-Wolff-Preis 2019 für Andreas J. Meyer

DAS

JEAN GENET BAGNO / LE BAGNE

Szenische Lesung mit Studierenden der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig aus Band VIII, Teil 2, der Jean Genet Werkausgabe Dramaturgie: Matthias Döpke

23. März 2019, 19:00 Uhr CAMMERSPIELE in der Kulturfabrik Leipzig Kochstr. 132

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38 Tel. 04137 - 810529 info@merlin-verlag.de www.merlin-verlag.de

Lafarge werden kilometerlange Tunnelsysteme ganze Tunnelstädte ausgehoben Stadt zu Tunnelstadt verhält sich wie Moral zu Unmoral Eine klare farblose Flüssigkeit mit leichtem Geruch es dringt dir direkt ins Nervensystem wirkt in den Zellen manipuliert dir die Reizweiterleitung Informationsübertragung Und dort in einer Ecke der Rückseite unserer Moral stehen sie ein halbes Dutzend Fass libysches Sarin gebraut nach deutscher Art und neben den Fässern stehen Spezialkräfte mit Nachtsichtgerät und schwarzen Masken Wer sind diese Männer Gibt es sie wirklich Ich weiß es nicht Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit

Loch in die Realität (Der Insider steigt durch ein Loch in der Wand und geht zum Kochtopf) Insider Dies ist der Teil der Geschichte wo ich mir eine schwarze Maske überziehe ein Nachtsichtgerät aufsetze und Löcher in die Realität schneide um persönlich in die Küche von Frau Magnus zu treten und den Makkaroni-Topf Verschwörerin Wie kommen Sie hier rein Insider Eine klare farblose Flüssigkeit mit leichtem Geruch Verschwörerin Lassen Sie den Topf stehen

Insider Nichts ist wie es scheint Frau Magnus Glauben Sie wirklich an diese Fässer da Verschwörerin Wer sind Sie Insider Ich bin der Kapitän Frau Magnus der Anführer der Spezialkräfte Miterfinder vom großen Plan Ich bin der der Ihre Verschwörungstheorie beweisen wird Verschwörerin Was ich beweisen kann ist keine Verschwörungstheorie und wenn Sie mein Beweis sein sollten glaub ich meiner eigenen Theorie nicht mehr Welchen Hafen haben Sie angelaufen Insider Ich bin nicht der Kapitän vom Schiff Ich bin hier fürs Ende der Geschichte Verschwörerin Lassen Sie meinen Topf stehen Ich selber kenne das Ende nicht Insider Ich kenne das Ende und ich kenne Sie Verschwörerin Aber ich will Sie nicht kennenlernen Ich glaube nicht an den Insider Insider Denken Sie was Sie wollen Da draußen ist eine Familie und die erwartet noch Besuch Verschwörerin Lassen Sie meinen Topf stehen Ich lasse mich nicht länger von Ihnen manipulieren Insider Sie sind Frau Magnus dermaßen manipuliert dass Sie halb erblindet sind

Gnothi Seauton (Frau Delfi steigt durchs Loch) Delfi Gibt es die Opfer gibt es sie nicht Ist diese Familie ein Opfer oder sind wir selber Opfer von einem Opferschwindel Verschwörerin Gehen Sie ich will keine Homestory keine Talkshows Ich habe nichts mehr zu sagen Delfi Wir sind hier weil Sie uns eingeladen haben Insider Die Wahrheit Frau Magnus und nichts als die Wahrheit Verschwörerin Ihre Gegenwart Frau Delfi ist genauso leer wie blind Karl hat recht

alles zerfällt überall nur Einbildungen Lügen ein Loch das ist Ihre Gegenwart und man ruft und ruft vergebens Delfi Jede Gegenwart Frau Magnus ist ein Gericht nur gerecht ist sie leider nicht Verschwörerin Raus jetzt Delfi (zeigt auf den maskierten Insider) Sagen Sie mir wers ist und wir sind weg Verschwörerin Woher soll ich das wissen Delfi Sie wissens Verschwörerin Ich weiß es nicht Insider Sie weiß genau dass sies weiß nur wissen will sie nicht dass sies weiß Delfi Der Feind Frau Magnus das ist unsere Frage in Gestalt Verschwörerin Ich habe keinen Feind Insider Sie sind Frau Magnus von Feinden nur so umgeben (Es klopft) Verschwörerin Wer ist das Delfi Ihr Mann betrunken vor der Tür Karl Silvia hat recht und die Frage ist nur was ist mit Google und Apple wenn sie den Schalter umlegen Lost war die Vorstufe zu Sarin Google Apple Microsoft ist die Vorstufe Freunde zu was zu was verdammt nochmal Verschwörerin Karl Karl schnell Karl komm rein (Karl und der Chor steigen maskiert in die Küche) Insider Hier Frau Magnus


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haben Sie Ihre Feinde Karl Du bist nicht Silvia Verschwörerin Natürlich bin ich Silvia Insider Du bist nicht Silvia Verschwörerin Nehmen Sie die Maske runter Karl Du weißt wer ich bin Verschwörerin Du bists nicht du bist nicht Karl du kannst Karl nicht sein Karl Ich will mein Kind Wo ist er Verschwörerin Wo ist wer Karl Silvia wo ist das Kind (Der Verteidigungsminister krabbelt rein) Verteidigungsminister Hier Karl hier bin ich Verschwörerin (dreht sich zur Wiege um) Eben noch war er Insider Das Kind ist bei der Mutter Silvia Verschwörerin Ich bin die Mutter Karl Wo ist er Verteidigungsminister (krabbelt rum) Schau doch Karl schau wie ich krabble nicht mehr lange noch und ich geh ganz allein Verschwörerin (panisch) Karl ich weiß es nicht er Insider Das Kind ist bei der Mutter Karl Was soll das Wissen Sie wo er ist

Verteidigungsminister Was willst du noch Karl hier bin ich doch Karl Warten Sie nur ich krieg Sie ran Verteidigungsminister Fang mich Karl fang mich doch ich war drei Wochen weißt dus noch hab laut und lang in eine Sarabande hineingeschissen Karl Warte Kleiner ich hab dich gleich Verschwörerin Wo ist das Kind Insider Das Kind ist bei der Mutter (Die Mutter aus dem Kriegsgebiet erscheint und geht zum Insider) Verschwörerin (schreit) Wer ist diese Frau Delfi Sie wissen genau Frau Magnus wer das ist Verschwörerin Geh Karl schnell hol ihn Verteidigungsminister Tatsächlich Herr Magnus Sie haben mich erwischt Verschwörerin Hör auf Karl das ist der Verteidigungsminister Karl Wenn das ein Minister ist dann bin ich Helmut Kohl Verteidigungsminister Ich kann Sie trösten wir alle sind Helmut Kohl Vor allem aber Herr Magnus sind wir angekommen Karl Wo Verteidigungsminister Bei der roten Linie Keinen Schritt mehr Herr Magnus Hier beginnt das Kriegsgebiet

QUEER DARLINGS SOROUR DARABI TERESA VITTUCCI VINCENT RIEBEEK FOKUS MÄRZ 06 — 09

(Hinter der roten Linie am Boden liegt der Insider auf seinem Bauch das Kind) Verschwörerin (schreit) Karl Ich habs gewusst Verteidigungsminister Keinen Schritt Herr Magnus Karl Sonst Verteidigungsminister Sonst bombardieren wir Delfi Die Zeit Frau Magnus drängt Erkenne dich selbst Karl Soll er bomdardieren Verschwörerin Schluss damit Aufhören Verschwörerin Aufhören Verteidigungsminister Ich warne Sie keinen Schritt mehr Verschwörerin Ich weiß es Delfi Wer ists Verschwörerin Er ists Delfi Ist was Verschwörerin Ist ich Karl Was sagst du Verschwörerin Der da Karl bin ich der Insider dort Karl ist deine Frau Delfi Zieh die Maske runter Karl Erkenne dich selbst (Karl geht zum Insider will ihm die Maske runterziehen)

TICKETS SOPHIENSAELE.COM FON 030 283 52 66 SOPHIENSTR.18 10178 BERLIN

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Insider (laut mit der Stimme der Verschwörerin) Schluss jetzt Karl küss mich schnell Verschwörerin (mit der Stimme des Insiders) Hör nicht auf ihn Rette das Kind Karl Insider (mit der Stimme der Verschwörerin) Das Kind bleibt bei mir Das Kind Karl ist bei der Mutter Verschwörerin (mit der Stimme des Insiders) Rette das Kind Karl Nimm ihn Rette das Kind Delfi Erkenne dich selbst Karl Die Kriegspunkte Silvia du hast zuviel in die Kriegspunkte geschaut bis du dir im fremden Krieg dein eigenes Gesicht hingezeichnet hast Insider (mit der Stimme der Verschwörerin) Der Krieg Karl ist dir nicht fremd er kommt auch zu euch sieh die andere Familie nie wars was anderes als deine Frau und du Karl Er hat recht Ich bin die andere Familie Insider Du weißt was mit der anderen Familie geschehen ist Karl Niemand weiß was mit der Familie geschehen ist nur eins weiß ich es wird nochmals geschehn Verschwörerin Frau Delfi

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Delfi Ich höre Verschwörerin Es ist bei dieser Sache gar nie um die Opfer gegangen Die Eicheln sind keine Eicheln Es gibt keinen Opferschwindel Delfi Frau Magnus ist auf einer heißen Spur Verschwörerin Was wir uns erschwindeln Frau Delfi ist unsere tägliche Nicht-Täterschaft Wir reden so laut und lange vom Frieden in unserer DNA und vom Bestialischen und Unergründlichen im Schurken dass uns darüber zu unseren eigenen Kriegsbeteiligungen und Kriegsbeihilfen gar nichts mehr einfallen will Sie verteidigen Herr Minister eine Erzählung die genauso unterkomplex ist wie die Verschwörungstheorien die Sie mir in die Schuhe schieben Ständig und zuverlässig kochen Sie alle Ambivalenz runter auf jene Eindeutigkeit die Ihr moralisches Säbbelrasseln erst ermöglicht Verteidigungsminister Moralische Ambivalenz also suchen Sie Verschwörerin Zeigen Sie uns verdammt nochmal endlich Ihr wahres Gesicht Verteidigungsminister Weshalb sollte ich das tun Verschwörerin Weil ich mich selber sehen will Delfi Jetzt haben wir sie ertappt Frau Magnus will im Verteidigungsminister sich selbst erkennen Verteidigungsminister Ich habe Frau Magnus ein Mandat und kein Gesicht Karl Gehen wir Verteidigungsminister Diesmal Frau Delfi bleibe ich dran Diese Sendung ist noch nicht zu Ende rote Linie ist rote Linie Delfi Natürlich nicht Herr Minister die Kamera läuft und wir warten alle jetzt also sind wir an dem Punkt angelangt wo nicht mehr letztgültig entschieden werden kann wer der Verräter wer der Verratene welche Erzählung die wahre Verschwörung welche die wahre Wahrheit ist wollten wir wirklich jemals das wirklich Gute oder ist der Glaube an die humanitäre Tradition eine der letzten Verschwörungen oder ist im Gegenteil verschworen zu glauben in unserem Humanitären drin lauere ein Böses ist es realistischer zu denken auch mit ein wenig Bösem am Schluss das Gute gewollt zu haben oder nähern wir uns der Welt direkter wenn wir glauben dass auch wir wie viele andere oft genug das wirklich Böse getan haben

(Der Insider nimmt den Topf und bringt ihn der Verschwörerin) Verteidigungsminister Ich habe genug gesehen Der Vergeltungsschlag beginnt (Ein Vergeltungsschlag ist spürbar) Verschwörerin Was bombardieren wir eigentlich Verteidigungsminister Ein paar Militärflughäfen und einige Fabriken Karl Keine Sorge Freunde hier sind wir in Sicherheit Herr Verteidigungsminister ich gratuliere zur klaren Linie Verteidigungsminister Sehr liebenswürdig Herr Magnus vielen Dank Karl Bleib du doch auch Verschwörerin Was ist da drin Chor Was auch immer In diesem Topf hier ist Wir habens erfunden Wir habens gebraut Verteidigungsminister Danke ich habe keinen Hunger Karl Freunde was ist mit euch Was solls schon sein Makkaroni ihr wissts doch Makkaroni das passt immer Delfi Makkaroni Karl kommt vom griechischen Makaria Das ist eine Gerstensuppe die man an Beerdigungen zu Ehren der Toten gegessen hat Karl Siehst du etwas Feierliches Delfi Makaria ist griechisch und heißt Chor Gesegnet Karl In Ewigkeit Delfi Gesegnet Karl in Ewigkeit Verschwörerin Ich wünsche allen einen guten Appetit (Die Verschwörerin öffnet den Topf)

Der Text entstand 2017/18 im Auftrag des Theater Basel im Rahmen von Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik. © Felix Bloch Erben GmbH & Co. KG


anna papst_freigänger

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Die einzige Verbindung nach draußen Anna Papst über ihr Stück „Freigänger“ im Gespräch mit Elisabeth Maier

Anna Papst, in Ihrer Theaterreportage „Freigän-

ßer Unterschied. Meine Setzung ist eine an-

ger“, die auf Interviews mit Strafgefangenen und

Anna Papst, geboren 1984, wuchs in Näni-

dere. Die Art, wie Profis mit der Sprache um-

Fachleuten im Strafvollzug basiert, kommen

kon bei Zürich auf und schloss 2011 ihr

gehen,

sehr persönliche Themen von Menschen zur

Regiestudium an der Zürcher Hochschule

Schauspieler haben die Gabe, den Text so zu

Sprache, die in extremen Situationen leben. Das

der Künste ab. Seit ihrem Debüt als Thea-

sprechen, dass ihnen das Publikum an den

Stück sucht nach Motiven, die erklären könnten,

terautorin, das sie mit „Die Schläferin-

Lippen hängt. Ich setze auf Verfremdungs-

warum diese Menschen zu Verbrechern wurden.

nen“ 2010 am Theater Neumarkt feierte,

technik. Man sieht die Person nicht, die

Wie ist es Ihnen gelungen, mit den Gesprächs-

arbeitete sie als Autorin und Regisseurin

spricht, sondern einen Stellvertreter. Das Pu-

partnern eine Vertrauensbasis aufzubauen?

an diversen Theaterhäusern, unter ande-

blikum bekommt Positionen präsentiert und

Angefangen habe ich über die Institutionen.

rem am Schauspielhaus Zürich, an der

darf sich selbst entscheiden.

Ich habe sowohl den Direktor der Strafanstalt

Philharmonie Luxemburg und an der Bay-

Lenzburg als auch den Direktor des offenen

erischen Staatsoper. Ihre erste Reportage

War „Freigänger“ eine Stückentwicklung?

Strafvollzugs in Witzwil angeschrieben und

fürs Theater, „Ein Kind für alle“ aus dem

Ich habe die Proben mit einer Textfassung be-

ihnen mein Projekt vorgestellt. Beide waren

Jahr 2015, stand auf der Shortlist des

gonnen. Gerade bei Reportagen für das Thea-

sehr offen. Es war aber auch klar, dass wir

Schweizer Theatertreffens. Für das Kon-

ter ist diese aber zu Beginn nie fertig. Erst

niemanden von den Strafgefangenen zwingen

zert Theater Bern verfasste sie mit „Frei-

hält man alles für relevant, doch dann fliegt

würden mitzumachen. Dann habe ich einen

gänger“ ihre zweite Theaterreportage.

noch mal mindestens ein Viertel des Textes

ganz altmodischen Aushang gemacht. Klar

2019 wird sie unter anderem am Konzert

raus. Manches liest sich gut, was auf der

war, dass alle Interviews anonymisiert wer-

Theater Bern, am Theater Stadelhofen,

Bühne einfach nicht funktioniert. Vor Proben-

den. Und es gab auch keine Entlohnung. Das

am TMG Genf und an der Gessnerallee Zü-

beginn hatten wir auch eine andere Auftei-

ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit.

rich tätig sein.

lung und Montage.

ist

für

Laien

nicht

möglich.

Als Gegengabe habe ich den Teilnehmern Im Gegensatz zu den meisten anderen Autoren

aber Telefonkarten geschenkt. Im Strafvollzug

im Stück Labor haben Sie den Text selbst insze-

ist das ja die einzige Verbindung nach draußen. Ich war sehr überrascht, wie viele Inter-

schichten nicht selbst erzählen können oder

niert. War es für Sie keine Option, die Urauffüh-

essenten sich gemeldet haben. Sie kamen zu

wollen. Viele der Interviewpartner sind ja

rung in andere Hände zu geben?

mir in ein Büro, das ich während meiner Re-

noch im Gefängnis. Aber auch bei meinem

Anfangs war es schon denkbar. Dann war mir

cherchen bekommen habe. Da hatten wir

letzten Projekt, in dem es um den unerfüllten

aber schnell klar, dass es nicht geht. Die

Zeit, um ins Gespräch zu kommen. Das Rede-

Kinderwunsch ging, waren sich die Beteilig-

Menschen haben mir vertraut und ihre Ge-

bedürfnis war groß. In Witzwil leben viele

ten zwar einig, dass es wichtig ist, über das

schichten erzählt. Das kann ich nicht an je-

Freigänger, die kurz vor der Entlassung ste-

Thema zu sprechen. Nur wollten sie das eben

mand anderen übergeben. Andere Kollegen

hen. Mit ihnen habe ich mich wieder getrof-

nicht live vor Publikum tun. Meine Reporta-

haben die Leute nicht getroffen. Karikatur,

fen, nachdem sie in Freiheit waren.

gen für das Theater erzählen Geschichten von

Überzeichnung und Betonung sind legitime

Leuten, die selbst nicht anwesend sein kön-

Inszenierungsmittel, würden den Betroffenen

Sie haben sich für einen dokumentarischen

nen oder möchten. Spielerinnen und Spieler

aus meiner Sicht aber nicht gerecht. In der

­Ansatz entschieden. Aber anders als etwa bei

sprechen für sie. Mir geht es dabei auch um

Uraufführung wollte ich daher selbst die

Rimini Protokoll stehen Ihre Gesprächspartner

die künstlerische Qualität. Im Anschluss an

Akzente setzen. Ich würde mich aber über ­

nicht persönlich auf der Bühne. In der Urauffüh-

„Freigänger“ bieten wir Publikumsgespräche

weitere Aufführungen freuen, die neue Pers-

rung am Konzert Theater Bern, die Sie selbst

an. Ein forensischer Psychiater und ein ehe-

pektiven öffnen. Grundsätzlich halte ich es

inszeniert haben, erzählen drei Schauspielerin-

maliger Strafgefangener haben sich in die

für gut, wenn im Stück Labor erfahrene

nen deren Geschichten. Warum haben Sie sich

Öffentlichkeit getraut – ihre Berichte kom-

­Regieteams die neue Dramatik in Szene set-

für diese Form entschieden?

men auch im Stück vor. Wenn man ihre Spra-

zen. Den Trend, neue Stücke nur noch dem

Bei mir stehen Schauspieler auf der Bühne,

che jedoch mit dem Kunsttext vergleicht, den

Regienachwuchs anzuvertrauen, halte ich für

weil die Menschen, um die es geht, ihre Ge-

eine Schauspielerin spricht, liegt da ein gro-

falsch. //

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Anna Papst

Freigänger Eine Reportage fürs Theater

Einführung Witzwil ist der grösste Landwirtschaftsbetrieb der Schweiz. Auf 800 Hektar leben hier 450 Rinder, 100 Pferde, 1000 Schweine und 30 Bienenvölker. Um diese, sowie um die Äcker, Obstanlagen, die Schlachterei und sämtliche Handarbeiten von Schreinerei bis zur Textilwerkstatt, kümmern sich 166 erwachsene Gefangene, die hier ihre Strafe im offenen Vollzug verbüssen. Witzwil ist nämlich gleichzeitig die grösste offene Strafvollzugsanstalt der Schweiz, neben den Gefangenen arbeiten hier 139 Angestellte. Offener Vollzug bedeutet, dass die Männer, die hier leben, nur nachts in ihre Zelle eingeschlossen werden. Tagsüber dürfen sie sich auf dem eingezäunten Gelände frei bewegen. Es besteht Arbeitspflicht, jedem der Gefangenen wird eine Arbeit zugewiesen, die er bis zu seiner Entlassung täglich zu verrichten hat. Wer nach Witzwil kommt, hat die letzte Stufe des Vollzugs erreicht und wird in absehbarer Zeit in die Freiheit entlassen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Gefangene zuvor eine lange Freiheitsstrafe im geschlossenen Vollzug verbüsst hat, oder ob er direkt hierherkam. Entsprechend divers sind die Straftaten, die die Männer begangen haben. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Witzwil beträgt sieben Monate und zwölf Tage. In dieser Zeit dürfen die Gefangenen einmal wöchentlich während eineinhalb Stunden Besuch empfangen. Alle sieben Wochen können sie zudem bei Urlaubsberechtigung ein Wochenende in Freiheit verbringen. Kontakt zu Angehörigen kann ausserdem per Post oder per interner Telefonzelle gehalten werden. Mobiltelefone und Internetanschluss auf der Zelle gibt es nicht. Hier in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Witzwil hat die Autorin Anna Papst die meisten ihrer Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen getroffen. Nur in Deutschland und Finnland wird ähnlich viel für die Resozialisierung ehemaliger Straftäter und Straftäterinnen getan wie in der Schweiz. Um ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu fördern, werden die Gefangenen durch Berufsbildung sowie durch therapeutische Begleitung und Anbindung an bestehende Soziale Dienste bei der Planung ihrer Zukunft unterstützt. Wer im offenen Vollzug eine Regel übertritt, beispielsweise zu spät vom Urlaub zurückkehrt, wird sanktioniert oder je nach Häufigkeit und Schwere des Fehlverhaltens in den geschlossenen Vollzug zurückgestuft. Offene Strafvollzugsanstalten wie Witzwil stehen daher auf der Grenze zwischen Gefängnis und Freiheit.

Statistiken belegen, dass Straftäter, die direkt aus einer geschlossenen Institution entlassen werden, eine höhere Rückfallquote aufweisen als Gefangene, die aus einem offenen Regime entlassen werden. Allerdings stehen die Befürworter des offenen Strafvollzugs immer wieder in der Kritik, besonders, wenn Straftäter während des Vollzugs flüchten oder ein Verbrechen begehen. Deshalb wird seit rund zwanzig Jahren nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft der Täter beurteilt: Gefährlichkeitsprognosen sollen aussagen, ob eine Person wieder straffällig werden wird, und über ihre Freilassung entscheiden. Als gefährlich geltende Straftäter können zum Schutz der Bevölkerung auch nach Ende ihrer Freiheitsstrafe weiterhin inhaftiert bleiben. Sie werden verwahrt. In der Schweiz sind zurzeit 6863 Personen inhaftiert, davon 382 Frauen. 106 Institutionen regeln den Vollzug, davon sind lediglich rund zehn auf einen rein offenen Strafvollzug ausgerichtet. Weit mehr als 95 Prozent aller Inhaftierten werden nach Ablauf ihrer Strafe wieder freigelassen und kehren in die Gesellschaft zurück. Wie die Gefangenen sich in der Unfreiheit auf die Freiheit vorbereiten und wie ehemalige Straftäter in die Mitte unserer Gesellschaft zurückkehren können, davon handelt diese Reportage. Alle neun porträtierten Personen hat die Autorin persönlich getroffen. Die Gespräche wurden aufgezeichnet und sind in verdichteter Form wiedergegeben. Es gibt keine Fiktionalisierung, nur eine Anonymi­sie­ rung, da einige der Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen nicht erkannt werden möchten. Dies sind ihre Geschichten.

I Walter Künzler, 53, Kaufmann, JVA Witzwil Meine Fr… Die Freiheit, die Sie haben, die ist hier drinnen gar nicht mehr … Die ist weg. Die hat man nicht. Die ist einem gar nicht mehr bewusst. Wenn du Urlaub hast gehst du nach … Ins … gehst an den Bahnhof. Du hast Jeans an, hast dein Handy, sitzt im Zug. Siehst die Freiheit.

Siehst die Leute im Zug. Kommst nach Bern. Hauptbahnhof. Ein ungeheures Gewühl, überall wird geredet, ein Hund bellt. Du bleibst stehen, du bist versteinert und … bist sprachlos. Du schaust dich um und schaust dir alles an. Was sind Leute? Was ist ein Supermarkt? Was ist ein … ein Fahrkartenautomat? Was ist eine Tram? Was ist der ganze Lärm? Das kennst du alles nicht mehr. Es fliegt dir um die Ohren. Das ist für einen Menschen, das heisst, für mich, wie eine Droge. Du ziehst das alles in dich rein, alles auf einmal, alles gleichzeitig. Und das ist wahnsinnig. Wahnsinnig schön.

Ich kam von einem Tag auf den anderen in Haft, Untersuchungshaft. Zehn Monate. In der Untersuchungshaft versuchst du alles, um so schnell wie möglich … Du entwickelst irgendeine Strategie, probierst über Psychiater … Du willst einfach raus. Raus! Es kann nicht sein, dass du gefangen bist. Das darf man dir doch nicht antun. Du bist doch nicht so schlecht. Du fängst an, dich zu wehren. Wie ein kleines Kind. Ich will. Ich will das. Du kriegst es nicht. Ich will raus. Schluss jetzt! Du musst da bleiben. Nach der Untersuchungshaft kam ich hierher. Wenn du dich benimmst, ist Witzwil … hat man nicht das Gefühl, in einem Gefängnis zu sein. Sie lassen dir kleine Freiheiten, aber wenn du diese Freiheiten übertrittst, wirst du zurückversetzt in den Normalvollzug. Geschlossen, wo du nur in der Zelle hockst. Stundenlang. Wo du wieder … wieder anfängst zu mühlen.


anna papst_freigänger

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Ich bin erst zwei Monate hier. Muss noch mindestens dreizehn Monate bleiben. Das wäre die Zweidrittelentlassung. Die Endstrafe hätte ich erst in 20 Monaten abgesessen. Wenn ich alles zusammen … mit Untersuchungshaft … Knapp vier Jahre. Nur sehr, sehr wenige meiner Bekannten haben gefragt: Was hast du eigentlich getan? Was hast du getan? Warum … Es wurde nur getratscht. Du hast sicher da bei deinem Job im Autogewerbe, wo du warst, irgendwie … Das war alles. Ich habe nicht das Gefühl, dass es meine Betrügereien oder meine Veruntreuungen sind, die die Leute um mich herum abgeschreckt haben. Es ist eigentlich eher … äh … Sie können nicht damit umgehen. Sie können nicht damit umgehen. Sie können nicht … Zum Beispiel wenn ich anrufe, wissen sie nicht: Wie muss ich jetzt mit Walter reden? Wie gehe ich mit dieser Materie um? Wie gehe ich mit dieser Materie um? Als Häftling musst du lernen, dass selbst deine Angehörigen sich entfernen. Das ist … schmerzhaft. Sehr schmerzhaft. Das tut weh! Wenn dich dann doch jemand besucht oder anruft, legst du los mit deinem Zusammenschiss: Warum hast du dich nicht gemeldet, warum nimmst du das Telefon nicht ab, warum schreibst du mir nicht mehr? Anstatt dass du Sorge trägst, wie für eine Pflanze. Du erwartest, dass die Leute aus der Freiheit auf dich zukommen. Es ist aber umgekehrt. Du musst als Gefangener auf die Leute, die Gottseidank noch zu dir halten, zugehen. Vorsichtig sein. Bitte. Mir würde es helfen, wenn ich dich einmal am Tag oder einmal in der Woche eine Minute anrufen dürfte. Nur um deine Stimme zu hören. Ich telefoniere regelmässig mit meiner Ex-Frau. Unsere Ehe ist in die Brüche gegangen, als ich das erste Mal ins Gefängnis gekommen bin. Erst gestern

habe ich sie angerufen. Sie war deprimiert und traurig. Da denke ich doch nicht: Hey hallo, was jammerst du? Ich bin im Gefängnis. Tröste, tröste mich! Nicht ich dich! Lass das draussen, bring deine Traurigkeit nicht hier rein. Ich habe mit ihr geredet und sie unterstützt. Als ich das Telefon aufgelegt habe, habe ich gesagt: Jetzt geht es mir gut. Trotz der ganzen Scheisse, in der ich stecke, konnte ich jemandem helfen. Also bin ich nicht niemand. Ich habe in der Zeit zwischen meiner ersten und meiner zweiten Gefängnisstrafe eine neue Beziehung begonnen. Als ich zum zweiten Mal verurteilt wurde, habe ich es der Beziehung nicht gesagt. Ich habe nicht gesagt, dass ich in die Kiste muss. Ich habe das aufgeschoben. Ich dachte: Ja-ah, der Zeitpunkt wird kommen. Bei einem Gläschen Wein oder irgendwann. Den Zeitpunkt habe ich aufgeschoben, aufgeschoben, aufgeschoben. Der ist nie, nie gekommen. Nie gekommen. Bis sie mich verhaftet haben. Nach 14 Tagen Gefängnis hat meine … ich sage jetzt immer noch: Freundin, signalisiert, dass sie sich zurückziehen und ein eigenes Leben anfangen will. Da habe ich gesagt, ich muss nicht so lange bleiben. Im Gefängnis. Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich bis noch dreizehn Monate, bis nächstes Jahr … Ich habe ihr gesagt, das sind drei, vier Monate. Weil ich Angst hatte, wenn ich sagen würde, ich komme erst nächstes Jahr raus, dann ist aus die … aus die Maus. Was weiter wird, weiss ich nicht. Aber in meinen Gedanken ist sie noch da und wartet auf mich, bis ich rauskomme. Den Spruch: Es wird alles gut. Es wird alles gut. Den hört man immer hier drin, der hilft einem … Wie soll ich sagen? Wenn Sie mir das jetzt sagen würden.

Wenn Sie sagen würden, das kommt gut bei Ihnen. Was? Was kommt gut? Was kommt gut? Wenn Sie nach Hause gehen, gehe ich wieder in die Zelle zurück. Ich bin alleine, ich bin … Mir kommt es so vor, wie wenn ich … Wie wenn ich mein Leben lang sitzen müsste. Ich bin spät ins Gefängnis gekommen. Mit knapp fünfzig. Ich habe den Bogen überspannt. Ich habe gedacht, das verträgt es noch, das verträgt es auch noch. Was du da machst, bringt dich nicht ins Gefängnis. Das gibt nur ein bisschen Gericht, ein bisschen bedingte Strafe, ein bisschen Geldbussen. Mir war nicht bewusst: Wenn du so weitermachst, kommt einmal das Fallbeil und Peng. Ich habe kein schlechtes Gewissen. Ich habe Leute geschädigt, finanziell, aber die, die ich geschädigt habe, denen habe ich keine Existenzen genommen. Ich habe keine Familien zerstört. Ich habe niemanden umgebracht. Denen fehlen einfach ein paar Scheine in der Kasse. Das heisst nicht, dass ich keine Skrupel habe. Aber ich habe einfach keine … Wenn einer kommt und sagt: Hör zu, du schuldest mir noch 10 000 Franken. Dann sage ich: Ja, in Gottes Namen, ich kann sie dir nicht geben. Ich habe Scheisse gebaut. Ich entschuldige mich bei dir. Aber ich bin gesessen. Peng. Schluss. Es regt mich auf, fernzusehen hier drinnen. Wenn du ihn einschaltest, was siehst du als erstes? Probleme, Streit zuhause, Polizeiauto, Gerichte, Anwälte, Gefängnisse, Bussen. Die ganzen Medien verdienen im Prinzip auf Kosten der Leute, die straffällig geworden sind wie ich, ihr Geld. Entschuldigung, dass ich Ihnen das sage. Im Prinzip auch Sie, ja. Diese Sensationslust. Ist doch nicht interessant, wenn du einen auf den Weissenstein hochwandern

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siehst und der brät dort oben eine Wurst. Ist doch interessant, wenn einer einen Raubüberfall macht und die Polizei kommt und sucht den überall und verhaftet ihn und dann fliesst noch ein bisschen Blut. Das ist doch lustig anzusehen. Oder? Ich rege mich so wahnsinnig auf, dass man uns, die im Gefängnis sind, wie im zoologischen Garten oder als eine Art Clowns betrachtet. Zuerst fluchen sie draussen über uns, und zuhause konsumieren sie uns. Einem Polizisten, der mir gesagt hat: Ihretwegen habe ich jetzt viel Arbeit!, habe ich geantwortet: Ja. Aber Sie haben Arbeit. Sie haben einen Job. Sie haben eine Familie und Sie verdienen Geld. Meinetwegen. Ich hätte eigentlich schon vor zehn Monaten in Witzwil einrücken sollen. Stattdessen bin ich nach Barcelona gegangen. lacht Ich bin sechs Monate untergetaucht. Man ist in der Freiheit gefangen. Du bist ausgeschrieben, du wirst gesucht. Du kannst keine Wohnung mieten, weil du dich nirgends anmelden kannst. Es ist gut möglich, dass ich nach meiner Entlassung wieder in Spanien bin. Weil äh … So wie es aussieht, wird meine Zukunft nicht mehr stattfinden. In der Schweiz. Und ausserdem muss ich … muss ich einfach … Ich muss es hinter mir lassen. Das Alte. Am ersten Tag in Freiheit werde ich etwas Gutes essen gehen. Vielleicht an einem See oder in den Bergen. Ich werde in einem Restaurant sitzen und ein bisschen die Natur anschauen. Und durch … durchatmen. Durchatmen. Du hast es geschafft. Vielleicht lade ich mir jemanden ein: Verbring den Tag mit mir! Dass wir zusammen Freude haben können. Dass du an meiner Freiheit, an meiner Freude, teilhaben kannst. Das Tragische an dem Ganzen ist, dass du die Berauschtheit, die du hast, dass du die schnell verlierst. Alltagstrott. Bum. Da kommt er. Und das ist vielleicht der Grund, warum gewisse Leute,

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und vielleicht auch ich, riskieren, wieder ins Gefängnis zu kommen. Wenn man das Glücksgefühl jeden Tag hätte, die Leute, die auf dich zukommen, der Fahrkartenautomat, die Tram, die Sonne, das ganze Zeug, dann sagst du: Stopp! Ich will das alles … Ich will das alles nicht verlieren. Das muss bei mir bleiben. Ich möchte schauen, dass ich, wenn ich rauskomme, meine Freiheit behalten kann. Ich versuche es. Hm. Kann nicht sagen, ich … es ist hundertprozentig. Aber … Ich versuche es. Ja.

II Joel Weber, 37, Bauarbeiter, JVA Witzwil Wenn du dir Koks spritzt und am Anfang die klare Flüssigkeit in der Spritze drin hast und dann das Blut in die Spritze zurückziehst und wieder abdrückst, nur einen winzigen Tropfen abdrückst, dann spürst du diesen Tropfen sofort im Herz. Innerhalb von einer Hundertstelsekunde ist er da. Deine Atmung verschnellert sich. Du schmeckst das Koks auf dem Gaumen. Dein Herz pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt pumpt sich ans Limit. Du verlierst die Kontrolle. Für fünf, sechs, sieben, acht Minuten. Du rutschst an den Tod heran. Das Einzige, was mich in die Nähe dieses Gefühls bringen würde, wäre wahrscheinlich Base-Jumping. Alles andere ist Nasenwasser. Fahrradfahren oder sonst irgendwie …

ist alles Scheisse. Man sagt mir immer: Sie müssen mit weniger zufrieden sein. Sie müssen mit weniger zufrieden sein. Aber ich will einfach nicht. Scheissdreck. Ich bin schon länger kriminell unterwegs. Genau genommen, die letzten zwanzig Jahre. Man hat mich immer wieder rausgelassen. Erstens bin ich Schweizer Bürger und zweitens sind die Delikte harmlos, immer Diebstahl oder Handel oder Konsum. Das ist etwas anderes, als wenn ich einen abknalle. Als ich mit achtzehn auf der Strasse gelebt habe, bin ich jede Woche bei den Bullen gewesen. Ich habe relativ hohe Strafen bekommen, habe aber nie sitzen müssen. Dreissig Tage, sechzig Tage, neunzig Tage, hundert Tage, alles auf Bewährung. Ich habe geglaubt, das läuft so weiter. Bis dann die erste Strafe kam. Ein Jahr. Ich war zwanzig. Da kullert dir schon ein Tränchen raus. Wenn die Tür zufällt und sich von innen nicht mehr öffnen lässt. Das ganze Kistenzeug verdanke ich den Drogen und meinem ausschweifenden Lebensstil. Ich hatte mal ein normales Leben. Ich bin gelernter Weinbauer. In der Ausbildung haben wir eine Budgetplanung gemacht. Ausgerechnet, was uns am Wochenende an Geld übrig bleibt. Da … Da kriegst du Krämpfe. Man schuftet sich ab und am Schluss … hat man trotzdem nichts. Bezahlte Fixkosten. Das ist doch nicht das Leben. Wir verbringen unsere Zeit mit Arbeiten und … mit Arbeiten. Wir sind … hm … Ich weiss nicht, haben Sie nicht das Gefühl, dass Sie in einem Rädchen leben? Sie sind ein Scheisszahnrad in einem … in einem System und müssen spuren. Und das drückt. Also mich drückt es. Wenn du Heroin rauchst, fühlt es sich an wie ein Einnicken. Wie kurz bevor du in den Schlaf fällst. Du fühlst dich geborgen. Nachdem ich es das erste Mal genommen hatte, war ich mehrmals hintereinander mit einer Überdosis im Krankenhaus. Weil ich das wieder wollte. Immer wieder dorthin.


anna papst_freigänger

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Nach der ersten Strafe steigert es sich. Achtzehn Monate, vierundzwanzig, sechsunddreissig. Man verliert den Überblick. Wenn ich alles zusammenzähle, sind es schon fünf, sechs Jahre, die ich gesessen habe. Da erschrickt man schon, wie viele Tage das eigentlich sind. Ich habe eine Tochter. Wir halten telefonisch Kontakt. Bisher war ich einfach „auf Arbeit, im Ausland“, wenn ich gesessen bin. Jetzt ist sie zehn. Jetzt blickt sie langsam durch. Ich hab es ihr noch nicht gesagt. Dass der Papa Scheisse gebaut hat. Wie will man das auch … Wie will man verklickern, dass … hm … das eigene Vergnügen einem mehr wert ist, als die Zeit, die man mit der Kleinen hätte? Schwierig. Sehr schwierig. Ich glaube, so in einem Jahr, zwei, möchte ich ihr die Wahrheit sagen. Dann müsste ich auch zugeben, dass ich schuldig bin. Schuld an … Schuld. Aber äh … Ich habe nie jemanden … bedroht oder so. Ich habe nie eine Omi niedergeschlagen. Ich habe einfach genommen, was rumgelegen ist. Und wenn ich irgendwo etwas rausgenommen habe, ist meistens die Tür offengestanden. Jetzt bin ich zum Beispiel wegen eines EC-Karten-Missbrauchs hier. Ich habe eine EC-Karte gefunden, bei der der Code dabei war. Ich habe gedacht: Holst dir halt das Geld. In dem Moment, in dem du die Karte reinsteckst, ist dir klar, dass sie dich schnappen könnten. Aber es ist zu verlockend. Wenn Sie schon mal etwas gestohlen haben, einen Schokoriegel, eine DVD, ein bisschen Schminke, kennen sie den Nervenkitzel. Das Risiko erwischt zu werden, gehört dazu. Das Gehirn weist einen irgendwie … dass dort etwas ist. Eine Möglichkeit. Du wirst ein bisschen süchtig danach. Wenn man nach Jahren aus dem Gefängnis kommt, hat man das wieder. Den Kitzel, kurz vor dem …

Kurz bevor man die Straftat begeht. Ich müsste mich selbst verleugnen, wenn ich sagen würde: Das war so schlimm! Wie konnte ich nur! Nein, ich habe das bewusst gemacht. Die Welt hat mehr zu bieten als arbeiten und schlafen. Nur kannst du dir das ohne Geld nicht leisten. Ich meine nicht Luxus oder Mercedes oder weiss ich was, sondern einfach … machen, wonach einem zumute ist. Essen, worauf man Lust hat. Nicht dem Verdienst entsprechend. Sondern was man will. Das Einzige, was ich bereue, ist nicht mehr Zeit mit meiner Tochter zu haben. Das ist das Einzige. Alles andere hat sich eigentlich … hat sich alles immer gelohnt. Ist ja nicht verwerflich, dafür einzustehen. Oder sehen Sie das anders? Wenn Sie mir so beim Reden zuschauen, kriege ich das Gefühl: Gott verdammt, bin ich ein abgefuckter Charakter. Dieser Meinung bin ich eigentlich nicht. Aber ich würde trotzdem gerne wissen, ob Sie denken: Ist das ein abgewichster Arsch. Mit dem will ich nichts zu tun haben. Meine Mutter hat langsam die Nase voll davon, mich immer in Anstalten besuchen zu müssen. Sie hat sich mein Leben anders vorgestellt. Sie denkt, die Erziehung ist schiefgelaufen. Ich versuche ihr das auszureden. Ich habe nie Probleme, einen Job zu finden. Ich bin seit so vielen Jahren bei den gleichen Temporärbüros, die wissen, dass ich aus dem Gefängnis komme. Die wissen aber auch, dass ich Leistung bringe beim Arbeiten. Ich brauche für meinen Konsum pro Tag ungefähr sechshundert Stutz. Ganz legal kannst du das nicht erwirtschaften. Ich arbeite tagsüber temporär und abends schwarz. Mit der Schwarzarbeit bin ich schon wieder kriminell. Wenn alle Drogen legal wären, wäre die Kiste leer. Ich sehe das so: Die ganze Justiz ist ein einziger Riesenbetrieb. Staatsanwaltschaft, Richter. Die wollen auch Arbeit. Die schauen, dass die Karre am Laufen bleibt. Mit der gestohlenen Karte habe ich einen Tausender abgehoben. Mehr ist nicht rausgekommen. Ich hätte ja den Tausender wieder zurückzahlen können plus 500 als Busse. Dann müsste man mich nicht

acht Monate wegsperren à 350 Franken am Tag. Kostet ja viel mehr. Und helfen tut es auch nicht, weil man alle Kriminellen auf einem Haufen hat, so dass die sich … miteinander weiterentwickeln, sagen wir es so. Aber es ist eben ein Betrieb, der laufen muss. Und alle Beteiligten schauen, dass sie zu Fressen haben. Darum werden auch Leute, die Bussen nicht zahlen können, eingesperrt und bekommen pro Tag 100 Franken an die Busse bezahlt. Kosten aber 350. Also irgendwas stimmt da nicht.

III Adrian Berger, 45, Gärtner, JVA Witzwil Ich bin noch vier Wochen hier. Nicht mehr sehr lange. Ursprünglich habe ich zuerst Landschaftsgärtner und danach Topfpflanzen-Schnittblumengärtner gelernt. Und dann habe ich die Obergärtnerschule gemacht. Im Anschluss Lehrlingsbetreuer. Äh … Wo … Also … Mit 22 bin ich das erste Mal Vater geworden und habe gleichzeitig gerade das erste … die erste Gärtnerei übernommen. Und ähm … die ist dann abgesoffen. Also es hat ein Unwetter gegeben, das hat die ganze Sache überschwemmt. Danach habe ich ein Gartencenter übernommen, das geführt, dreieinhalb Jahre. Zuerst mit neun Leuten. Und dann sind mir die Leute weg … wegrationali… rationali… wegrationalisiert worden, bis wir nur noch zu viert waren. Ich war nur noch im Geschäft. Eines Tages habe ich gesagt: Ich kündige. Da hiess es: Du kannst nicht kündigen. Du bist der Chef. Ich habe die Kündigung trotzdem eingereicht. Der Personalchef hat sie zerrissen. „Du bleibst!“ Danach habe ich es ein zweites Mal gemacht. Es ist dasselbe passiert. Das dritte Mal habe ich meine Kündigung direkt in die Zentrale eingereicht. Daraufhin gab es ein Gespräch, in dem mir gesagt wurde: Ich könne nicht gehen, bis sie einen Nachfolger hätten. Aber ich war dermassen …

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nur noch im Geschäft und alles … dass es einfach nicht mehr gegangen ist, dass ich geantwortet habe: Ich kündige per sofort. Sie: Geht nicht! Da habe ich meine erste Straftat verübt. Ich bin auf die Hinterseite des Gartencenters gefahren, habe einen Kamin ins Auto geladen, habe den Sicherheitsdienst angerufen und mich erwischen lassen. Lacht So wurde mir dann doch gekündigt. Danach habe ich eine weitere Gärtnerei übernommen, mit drei sogenannten ganz grossen Aufträgen, mit denen eigentlich das Überleben gesichert gewesen wäre. Aber dass die bereits ausgestiegen sind, hatte man mir nicht gesagt. Und als ich im nächsten Frühling die Lieferung vorbeibringen wollte, hiess es: Wir haben einen anderen Lieferanten. Ja, dann musste ich halt … schliessen. Mit mehr oder weniger Verlust. Dann war ich eine Zeit lang nur noch Angestellter. Als Angestellter bin ich immer ein bisschen ein bisschen unter Zeitdruck gewesen halt. Habe es mit dem Fahren nicht so genau genommen. Immer mal wieder eine Radarrechnung kassiert. Irgendwann habe ich sie nicht einmal mehr aufgemacht. Die Familie ist auseinandergegangen und der Vater ist gestorben und alles. Ich war sowieso gerade an einem Punkt, an dem ich nicht mehr richtig wusste wie, was, wo. Irgendwann hiess es: Jetzt gehst du in die Kiste. Ein Jahr lang bin ich mehr oder weniger nur für diesen Seich …

Felix Lehmann, 63, Betriebsdisponent, JVA Lenzburg Lehmann: Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange ich schon hier bin. Denn ich zähle nicht. Ich zähle keine Jahre. Berger: Ich bin jetzt elf Monate in Witzwil. Lehmann: Es werden so fünf

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oder sechs Jahre sein, hier in Lenzburg. Berger: Ich bin noch bis zum 30. hier. Lehmann: Ich habe lebenslänglich. Berger: Mein schlimmstes Verbrechen ist, dass ich einmal einen Sekundenschlaf hatte und auf der Autobahn zwischen Münsingen und Wichtrach durch den Wildzaun gebrettert bin.Weil ich das Gebiet ein bisschen kenne dachte ich, solange die Karre läuft, einfach Gas geben, denn das ist Naturschutzgebiet. Ich hielt es für gescheiter, die Karre weiter vorne irgendwo stehenzulassen und mich später bei der Polizei zu melden.

Ich habe früher viel Sport gemacht, unter anderem Hockey gespielt, und zwei, mit denen ich Hockey gespielt habe, sind Angestellte hier, und jetzt muss man sich siezen. Aber ich sage immer: Man ist nur so gefangen, wie man sich … Wenn einer den ganzen Tag nur darüber nachdenkt: Wo bin ich jetzt und wie lange und so, der leidet dann schon. Lehmann: Bei meinem bewegten Leben kann man nicht sagen, das wäre anders verlaufen, wenn … Berger: Ich bin zum ersten Mal im Gefängnis. Lehmann: Das war eine Momentaufnahme im Zeitablauf. Berger: Nur wegen des Fahrens.

Lehmann: Eines Tages wird die Justiz in meine Zelle kommen: Ihre Strafe ist beendet. Die 25 Jahre sind vorbei. Berger: Ich war so müde, ich bin einfach nach Hause gelaufen und habe ein paar Stunden geschlafen. Lehmann: Und dann beginnt die Verwahrung. Ich bin einer der wenigen in der Schweiz, der hinterher noch eine Verwahrung hat. Unbefristet. Ich gelte als untherapierbar. Berger: Die Karre habe ich in einer Unterführung abgestellt. Das wird mir am höchsten angelastet: Fahrerflucht. Lehmann: Aber das stört mich an und für sich nicht. Mein Gesundheitszustand ist dermassen mies, ich wäre draussen auch in einem Gefängnis. Mir hat der Spezialist, der Herzspezialist, gesagt, sie haben alle sieben Faktoren für den nächsten Infarkt. Ein Wrack, aber hier drin bin ich gut versorgt. Wenn irgendetwas ist, habe ich hier einen Notrufknopf, und dann kommen sie sofort angerannt. Berger: Auch wenn sie es nicht so deklarieren, aber man ist halt trotzdem nicht die gleiche Klasse Mensch wie die, die den Schlüssel haben. Lehmann: Meistens vergessen sie den Defibrillator unten. Berger: Was für mich schwierig ist:

Lehmann: Kennen Sie Zürich? Dann wissen Sie ja, wo die Neugutstrasse ist, im Kreis 2. Dort hatte es eine Pension, die Pension Neugut. Das war in der Halbfreiheit. Dort habe ich den Gefängnisverwalter erschossen. Und einen Insassen, der ihm helfen wollte. Der Gefängnisverwalter war ein Gauner. Der hat auch versucht, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Und ich habe mir das nicht gefallen lassen. Ich habe es ihm gesagt. Zweimal habe ich es ihm gesagt. Ich habe gesagt: Hören Sie auf, mich zu schikanieren. Und er hat nicht aufgehört. Dann hat er halt in so ein Rohr hineingeschaut. Berger: Was? Lehmann: Er hat noch gesagt: Berger: Hören Sie auf, das bringt doch nichts. Lehmann: Ja, mir hat es schon etwas gebracht: 25 Jahre in der Kiste. Das habe ich gewusst, zu dem Zeitpunkt, ich habe gewusst, ich gehe lebenslänglich in den Knast. Aber die Situation war so weit fortgeschritten, dass es gar keinen Sinn mehr hatte, umzudrehen. Das war ein ganz langer Kettenablauf, ein Glied ums andere ist abgegangen. Ja. Dann habe ich halt geschossen. Auf den habe ich zweimal geschossen. Und auf den anderen einmal. Berger: Wahrscheinlich,


anna papst_freigänger

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wenn der Vater nicht gestorben wäre, wäre ich nie in die Situation gekommen, dass ich gar nicht mehr … Ja. Davor habe ich wirklich jede Busse und allen Scheissdreck gezahlt. Dann ist er vom einen auf den anderen Moment gestorben, der Vater. Lehmann: Ich hätte wegen der letzten Strafe aus dem Waffenträgerverzeichnis gelöscht werden sollen. Als ich in mein Stammwaffengeschäft gehe, kommt der Verkäufer zu mir und fragt: Waren Sie schon Kunde bei uns? Ich sage ja und gebe ihm meinen Ausweis. Er schaut im Computer nach und sagt: Richtig, sie sind drin. Man hat vergessen, mich zu löschen. Ist einfach irgendwie untergegangen. Da hatte ich natürlich Tür und Tor … Berger: Ungerecht behandelt? Lange Pause Gute Frage. Vielleicht was das Strafmass angeht. Schon ein bisschen. Es ist einfach sehr hoch angesetzt worden. Der Richter hat gesagt, es hätte mehr passieren können und vor allem müsste endlich mal ein Zeichen gesetzt werden. Im Prinzip hätten sie mir ein paar Pfosten in die Hand drücken können und dann hätte ich den Zaun selbst geflickt. Hätte ich wahrscheinlich mehr gelernt dabei. Lehmann: Mein Vater hat schon Schusswaffen gesammelt. Gewehre, Pistolen, alles. Ich bin mit Waffen aufgewachsen. Berger: Ich verabscheue Gewalt. Lehmann: Ich habe mir immer gesagt: Richte nie eine Waffe auf einen Menschen, ausser du willst sie gebrauchen. Berger: Meine Ex hat mir einmal das Fleischmesserset nachgeworfen. Lehmann: Das Problem ist, irgendwann kommt der Moment, der kommt immer, da benutzt du so eine Waffe. Berger: Ich habe mich nicht gewehrt. Lehmann: Naja.

Im nächsten Leben bin ich dann der Papst. Jetzt bin ich der Böse und dann bin ich der Liebe. Berger: Eins weiss ich: Das Gefängnis hat mich vor vielen Rechnungen bewahrt. Denn ich wäre dieses Jahr noch zahlreiche Male in eine Radarfalle geraten. Ich glaube aber nicht, dass mein Gefängnisaufenthalt wirklich so eine nachhaltige Dings hat. Ich glaube, das geht nicht lange und dann denkt man schon nicht mehr dran, wenn man wieder irgendwo unterwegs ist. Lehmann: Wenn ich mir die Welt so anschaue und rekapituliere, was draussen alles abgeht, bin ich froh, bin ich hier drinnen. Berger: Was halt fehlt, ist die Freiheit selbst. Dass man halt, wenn man, schon nur, wenn man mit jemandem telefoniert, dass man nicht sagen kann, komm, wir gehen noch einen trinken oder so, sondern dass man halt einfach sagen muss, in dem Fall, geniess es und trink einen für mich mit. Am 30., wenn ich rauskomme … Ich habe schon einen Tisch in einem Restaurant reserviert. Dort werden Meeresfrüchte serviert. Das gibt es hier drinnen nicht. Vielleicht sieht man sich einmal. Draussen. Das könnte ich mir noch vorstellen mit Ihnen. Ab. Lehmann: Ich bin gelernter Betriebsdisponent. Ich habe bei der Bahn gearbeitet. Eines Tages kommt mein Chef zu mir und sagt: Hör zu, ich hätte noch eine zusätzliche Arbeit für dich. Gibt jeden Monat 200 auf die Hand. Früher gab es unter dem Güterbahnhof vier unterirdische Stockwerke. In den untersten zwei Stockwerken waren 40 Tonnen Sprengstoff eingelagert. Plus tausende von Sturmgewehren. Dort habe ich dann mal 40 Kilo mitgenommen. Und eine Schachtel mit 29 Zündern. Aber es ist nie herausgekommen. Ich weiss nicht, ob mein Nachfolger das überhaupt gemerkt hat. Jedes Jahr gibt es eine Generalinventur. Die Palette, die sie drin haben, werden herausgenommen und der frische Sprengstoff kommt rein. Das hat ja ein Ablaufdatum,

das ist wie ein Kuchen. Der alte Sprengstoff wird in die Vernichtung geführt. Aber es ist nie herausgekommen. Ich hatte eine Bande. Wir haben Aufträge von Leuten angenommen, die irgendetwas mit einem Geschäftsgegner hatten. Da ging es zum Beispiel um einen Parkplatz. Es gab zwei Interessenten, die beide das Gelände für sich wollten und sich bis zur Verblödung bekriegt haben. Der Eine kommt zu mir und sagt: Können sie den Anderen nicht so schädigen, dass wir in aller Ruhe den Platz übernehmen können, weil der Andere anderweitig beschäftigt ist? Da habe ich gesagt: Das können wir schon machen. Da haben wir vier Bomben, kleine, das sind keine grossen Bomben gewesen, so kleine, so 100-grämmige. Es musste ja nur knallen. Die haben wir auf dem ganzen Areal verteilt deponiert. Acht Sprengstoffanschläge konnte man mir nachweisen. Dafür habe ich 16 Jahre kassiert. Keinen der Anschläge habe ich aus einer persönlichen Motivation verübt. Wir haben pro Auftrag 50 000 erhalten, das war das Minimum. Je nachdem, wie gross der Aufwand war, wurde es halt teurer. Der billigste Auftrag war ein Sexkino im Rotlichtbezirk. Da hat uns ein dubioser Verein angeheuert. Es sollte kein Sprengstoffanschlag sein, aber das Haus sollte so geschädigt werden, dass es mindestens für ein halbes Jahr ausfällt. Ja, was machen Sie da? Ich habe herumgefragt und ein Bekannter hat mir gesagt: Buttersäure. Mein Komplize und ich haben beide einen Neoprenanzug angezogen und sind mit einem 25-Liter-Kanister in das Kino reingestiefelt. Die an der Kasse hat überhaupt nicht reagiert. Die dachte vielleicht, wir seien von der Schädlingsbekämpfung. Die mussten die ganze Hütte aushöhlen, so übel hat das gestunken. Nur die Aussenmauern sind stehengeblieben. Bei den Anschlägen ist nie ein Mensch zu Schaden gekommen. Doch. Im Industriequartier ist eine alte Frau, die auf dem Balkon sass, erschrocken, weil es gegenüber so geknallt hat. Es ist ihr nichts passiert, sie ist einfach grausam erschrocken. Aber erschrecken ist eben auch eine Verletzung. Wir haben immer darauf geachtet,

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dass die Leute, die wir schädigen mit den Immobilien, nicht im Haus sind. Da haben wir schon drauf geachtet. Wir hätten keine Auftragsmorde angenommen. Ich wüsste nicht, wieso. Der eine soll den anderen selbst erschiessen, wenn er will.

IV Elmar Habermeyer, 51, Facharzt für Psycho­ therapie und Psychiatrie mit dem Schwerpunkt forensische Psychiatrie und Psychotherapie, PUK Zürich Ich kümmere mich um die Begutachtung und Behandlung von psychisch kranken Straftätern. Wobei es bei der Begutachtung darum geht, zunächst einmal eine Aussage dazu zu treffen, ob ein Straftäter überhaupt psychisch krank ist. Und dann im Weiteren Aussagen dazu zu treffen, ob ein hohes Rückfallrisiko besteht. Die Prognoseinstrumente dazu sind eine Zusammenstellung von Merkmalen, die sich als trennscharf erwiesen haben hinsichtlich entweder der Erhöhung oder der Verminderung des Risikos. Dann kriegen sie eine statistische Aussage wie zum Beispiel: Herr X hat ein relatives Risiko gegenüber einem durchschnittlichen Sexualstraftäter von 2,5. Sein Risiko, rückfällig zu werden, ist gegenüber einem durchschnittlichen Sexualstraftäter, rückfällig zu werden, um diesen Faktor erhöht. Dann sagt der Herr X, und das ist auch bundesgerichtlich so gedeckt, das ist ja schön und gut, aber für mich spielt das keine Rolle, das ist eine statistische Aussage. Und da hat der Herr X völlig recht. Also muss im nächsten Schritt untersucht werden, passt der individuelle Fall dazu.

Sybille Zschokkke, 35, Mitarbeiterin Justizvollzug, JVA Witzwil Resozialisierung ist der Auftrag des Strafvollzugs, aber es ist auch der Auftrag der Gesellschaft. Man kann im Strafvollzug viel erreichen,gerade in der Schweiz, aber danach muss die Gesellschaft ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Und da sind wir noch nicht so weit wie wir sein müssten. Ich habe auch das Gefühl, dass viele Leute nicht wissen, was hinter dem Auftrag des Strafens steckt. Und immer noch das alte Bild oder Empfinden haben, dass man jemanden mit einem Urteil bestraft

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und dann wird er weggesperrt und das ist seine Strafe und die soll er spüren. Aber das im Strafgesetzbuch auch die Resozialisierung verankert ist, das wissen die Wenigsten. Habermeyer: Nehmen wir an, der hat überhaupt keinen Zugang zu seinen Delikten, der sagt, ich bin ja der friedlichste Mensch unter Gottes Sonne, hat aber fünf schwere Körperverletzungsdelikte, oder der sagt, ich habe kein Problem mit Frauen. hat aber sechs Vergewaltigungsdelikte, dann würde man sagen: Statistisches Risiko und Individualprognose sind kongruent. Dann gibt es aber Leute, die haben ein hohes statistisches Risiko, haben aber zehn Jahre Therapie hinter sich und haben dort viel gelernt und können mir gut verständlich machen, dass da bestimmte Dinge auch verändert sind. Und dann würde man sagen, es unterscheidet sich. Zschokke: Man kann sich an der eigenen Nase nehmen. Wir haben die Verantwortung, dass Menschen, die aus dem Strafvollzug entlassen werden auch Aussicht auf einen Job haben. Seien wir ehrlich: Wenn sich Leute auf einen Job bewerben, bei dem es sowieso schon schwierig ist, dass man eine Stelle bekommt, dann ist der mit dem langjährigen Strafvollzug zuunterst auf dem Stapel. Oder bei der Wohnungssuche. Willst du den Drogenabhängigen in deinem guten Quartier nebendran? Oder bevorzugst du jemand anderen? Und da muss jeder Einzelne für sich daran arbeiten, dass man sagt, doch, eigentlich ist es eine Pflicht, dass wir das tun. Habermeyer: Es ist in diesem Kontext nicht deutlich genug zu machen, dass wir immer Risiken skizzieren. Und Risiken sind immer Risiken und keine Sicherheiten. Ich habe auch bei Leuten gesagt, die haben ein hohes Risiko, die dann aus Verhältnismässigkeitsgründen freigekommen sind, und zu meiner grossen Überraschung einigermassen parat waren. Zschokke: Von aussen werden Vollzugslockerungen oft als Luxus wahrgenommen. Jetzt kriegt der auch noch Urlaub! Dabei ist das absolut nicht für jeden eine Belohnung.

Es gibt auch Gefangene, die sich davor drücken. Und genau da merkt man, warum sie nicht wollen: Weil bis jetzt alles gut gelaufen ist, weil sie mit der Hauptherausforderung noch gar nicht konfrontiert wurden. Habermeyer: Der Hauptrisikofaktor für Delinquenz ist was? Mannsein. Ein anderer, sehr stabiler Faktor, der auch keinen überrascht, ist geringe verbale Intelligenz. Ich fange, wenn›s schwierig wird, an zu quatschen. Und jemand anderes, der das nicht so kann, der haut dann halt in so einer Situation zu. Zschokke: Der Umgang mit persönlichen Herausforderungen innerhalb des Stufenvollzugs ist eine Chance: Lieber noch in diesem kontrollierten Setting scheitern, als nachher draussen. Darum finde ich es wichtig, dass man die Öffnungen macht. Nicht als Geschenk, sondern als Auftrag, als Pflicht. Habermeyer: Im Kontext von häuslicher Gewalt gibt es überzufällig häufig eine Ansammlung von Persönlichkeitsmerkmalen oder Störungsbildern, die dazu führt, dass Leute häusliche Gewalt ausüben. Aber es gibt auch patriarchalische Einstellungen, die das genauso begünstigen. Diese Unterscheidung zu machen, ist Kernaufgabe des Gutachtens. Wenn jetzt zum Beispiel jemand ein sehr patriarchalisches Rollenverständnis hat, ist es die Aufgabe der Gesellschaft, dem eine Grenze zu setzen und zu sagen, hör mal, das mag ja schön sein für dich, aber wir akzeptieren das nicht und deshalb bekommst du eine Strafe. Wenn derjenige aber seine Frau schlägt, weil er der Meinung ist, die geht fremd, und das ist einfach sachlich falsch nämlich ein Wahn, und er hat zum Beispiel eine Schizophrenie, dann ist der Mann durch Strafe gar nicht erreichbar. Den muss ich behandeln, damit er überhaupt in die Lage kommt, zu verstehen, dass er etwas falsch gemacht hat. Das ist modellhaft dargestellt ein ganz wichtiger Punkt, wo wir auch die Aufgabe haben, dieser Gleichsetzung von Gewalt und Krankheit


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entgegenzutreten. Wir müssen deutlich machen, dass nicht jede Art von Handlung, die wir nicht verstehen können, Ausdruck einer psychischen Krankheit ist. Zschokke: Der Staat ist eigentlich eine Schlichtungsinstanz, der die Emotion zwischen Täter und Opfer rausnehmen sollte. Aber ich denke, auch der Staat kann das nicht ganz. Finanzdelikte werden teilweise hoch bestraft, Drogenhandel wird hoch bestraft, wo ich den Eindruck habe, dort fühlt sich der Staat als Opfer. Der Staat wurde angegriffen und das spürt man im Strafmass. Gegenüber einer sexuellen Nötigung, wo das Strafmass, ich sage nicht zu tief ist, ich bin sowieso eher für tiefe Freiheitsstrafen, aber einfach im Vergleich, im Verhältnis. Habermeyer: Die Entscheidung über Schuld und das Eingehen von Risiken sind juristische Aufgaben. Meine Aufgabe ist es, Risiken zu skizzieren. Ich kann nicht das Problem der Kriminalität in der Gesellschaft lösen. Ich kann auch nicht jeden Straftäter therapieren. Und ich kann auch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, wer rückfällig wird und wer nicht. Zschokke: Der Umgang mit dem weiblichen Geschlecht in einem Männerknast ist auch etwas Wichtiges. Ich kann mich an einen erinnern, der eine lange Strafe hatte. Er kam von Thorberg aus dem geschlossenen Vollzug zu uns. Ein Sexual- und Gewaltdelikt. Der hat den Umgang mit Frauen verlernt. Respektive, er hatte das Gefühl, er darf das gar nicht, als Sexualstraftäter, als Vergewaltiger darf er gar nicht mit Frauen ein tieferes Gespräch führen oder stärker Kontakt pflegen. Als er Geburtstag hatte, nein, als ich Geburtstag hatte, stand er neben mir und wusste gar nicht und hat mich dann auch gefragt: Darf ich Ihnen zum Geburtstag gratulieren? Ich habe gesagt: Sehr gerne.

Er war so gehemmt, dass er nicht wusste, ob er da schon eine Grenze überschreitet. Ich habe ihm dann die Hand gegeben und gesagt: Sie dürfen mir auch die Hand geben und gratulieren, wie wir es bei den anderen Gefangenen, die Geburtstag haben, auch machen. Es hilft keinem, wenn er sich ganz abschirmt, im Gegenteil. Deshalb muss er den Umgang im Kleinen wieder lernen. Habermeyer: Gerade in diesen Prognoseund Massnahmegutachten können wir nur nachvollziehbar Fehler machen, wenn wir Leute rauslassen. Man kann sich davor drücken, Fehler zu machen, indem man alle drinlässt. Das müssen wir uns als Gesellschaft fragen: Sind wir eine freiere und bessere Gesellschaft, wenn wir das so machen? Zschokke: Der Gefangene hat eine Strafdauer und in dieser Zeit müsste im Vollzug der Resozialisierungsauftrag erfüllt werden. Es kann sein, dass jemand zu sieben Jahren verurteilt wurde, der schon sozialisiert ist. Da ist eher die Gefahr, dass er in den sieben Jahren Haft den Bezug verliert. Und eigentlich wegen diesen sieben Jahren resozialisiert werden muss. Und bei einem Drogenabhängigen, für den man an sich viel machen könnte, den Sozialdienst einbinden etc., der aber nur eine sechsmonatige Strafe verbüsst, reicht die Zeit nicht aus. Der sitzt dann wirklich nur sein Delikt ab. Habermeyer: Was ich immer sage: Derjenige, der sich nicht helfen lässt, ist nicht zwangsläufig der gefährlichere. Oder vor allen Dingenwird er dadurch nicht gefährlicher, als er eh schon ist. Er wird halt vielleicht auch nicht besser. Zschokke: Wenn ein Gefangener entlassen wird, weil seine Strafe ausläuft, und wir sind in punkto Resozialisierung noch nicht so weit gekommen, sind uns die Hände gebunden. Ich finde das gar nicht so verkehrt. Es ist eine Chance zu begreifen, dass wir hier keine Menschen machen. Wir sind keine Industrie für gute Bürger. Ausserdem hat die Person,

die ihre Strafe verbüsst hat, auch das Recht, dass man ihr nicht weiter reinredet. Habermeyer: Was wirklich schwierig ist: Wenn Leute geoutet werden. Haben eine Wohnung gefunden, spielen in irgendeinem Handballverein, plötzlich pusten die Medien raus, das ist doch der Sexgrüsel Soundso, und dann kracht alles ein. Da kommt ein weiterer Player ins Spiel, der letztlich überhaupt keine Verantwortung übernimmt. Du kannst zum Presserat gehen und dann macht der ‹ne Rüge, aber so what. Wenn der Artikel gut geklickt hat und zustimmend kommentiert wurde, wird kein Vorgesetzter dagegen argumentieren. Wenn ich Sie jetzt frage: Würden Sie es gut finden, wenn ein Ex-Vergewaltiger neben Ihnen einzieht? Würden Sie sagen: Nein. Und genau so würde ich es auch sagen. Da schreit keiner Hurra!Und das ist auch vielen Betroffenen klar. Darum geht es nicht. In einer breiteren Debatte, und das ist mit einer der Gründe, warum ich mich mit ihnen unterhalte, geht es darum, darzustellen, was die Erfolge des resozialisierenden Strafvollzugs sind und was die Alternative ist. Die Alternative ist grauenvoll und schwierig und teuer und nicht bewährt. Immer mehr Gefängnisplätze, immer längere Strafen, das führt zu einem System wie in den USA, wo ein signifikanter Teil der Bevölkerung verklappt ist. Und nur noch Kosten produziert. Da müssen wir selbstbewusst sein und dazu stehen, dass das Resozialisierungsprinzip funktioniert.

V Joel Weber, 37, Bauarbeiter, getroffen in Freiheit in Zürich Vor drei Wochen bin ich rausgekommen. Vor drei Wochen am Sonntag. Als ich rausgekommen bin, bin ich als erstes mit meiner Tochter spazieren gegangen. Sie war mit der Schule im Wald und da haben sie einen Specht gesehen. Den wollte sie mir zeigen. Als zweites habe ich mich auf einer Alp vorgestellt. In drei Wochen fange ich dort an. Für vier Monate. Es ist nicht gerade der Haufen, was ich dort verdiene,

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aber so muss ich nicht gleich eine Bleibe organisieren. Bis dahin wohne ich bei meiner Mutter. Vorgestern bin ich abgestürzt. Ich komme ab und zu noch an gute Ware. Von einem habe ich … Der hatte gutes Zeug. Bei gutem Heroin musst du immer kotzen. Meine Mutter ist ausgerastet. Sie hat gesagt: Wenn du konsumierst, musst du gar nicht nach Hause kommen! Ich habe dann trotz Absturz bei meiner Mutter geschlafen. Aber ich habe vorsichtshalber das Zelt vom Kollegen mitgenommen, falls sie irgendwann ganz durchdreht. Bis ich zwanzig war habe ich jedes Wochenende auf einem Bauernhof gearbeitet. Ich dachte, bis es auf der Alp losgeht, könnte ich dort wieder ein bisschen aushelfen. Als ich auf den Hof zulaufe, wird mir klar: Scheisse. Es ist schon zwanzig Jahre her, seit du das letzte Mal hier warst. Damals war das alles neu. Die Traktoren haben noch geglänzt. Und jetzt sieht das richtig abgekämpft aus. Der Bauer betreibt gar keinen Ackerbau mehr. Züchtet nur noch Gemüse. Da habe ich erst gemerkt, wie lange ich schon Scheisse baue. Wie lange ich schon am Nichtstun bin. Am Nichtstun. Letzte Woche war ich im Tessin. hebt den Ärmel Sieht man es? Bei Oma. Meine Oma ist 89 und hat sich schon ein bisschen an das chillige Leben gewöhnt. Um halb zehn aufstehen, gemütlich in den Tag starten, Mittagessen so um zwei und dann ein Mittagsschläfchen bis um fünf. Jetzt, als ich da war und morgens um sieben aufgewacht bin, kam wieder Leben in die Bude. Im Tessin, am See, bei Oma habe ich überhaupt kein Reissen danach abzudriften. Das kommt erst, wenn ich wieder in die Maschinerie muss. Im Winter komme ich von der Alp runter. Ich habe jetzt schon Angst, was ich dann machen soll. Soll ich wieder in den scheiss Baustellenalltag. Dann fängt das ganze Gehetze wieder an mit Betreibungsamt, RAV, Bürokram, dass du es bis am 22. einwerfen musst, Stellenbemühungen,

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Sperrtage … Wenn es freiwillig wäre, wäre es etwas anderes. Aber müssen, weisst du, müssen … Das ist auch mein Problem mit dem Methadonprogramm: Du musst dem jeden Tag nachrennen. Du kannst nicht in der Nacht irgendwo anrufen, du musst immer zu Ladenöffnungszeiten da sein. Nein, das ist zu viel Kontrolle. Aber es ist dann legal. Das ist die legale Scheibe vom Staat. Lieber illegal, dafür bestimme ich selbst. Ich bin schon bereit, ein wenig zu spuren. Die Kistenzeit kann ja nicht für nichts gewesen sein. Seit ich draussen bin, habe ich mir immer eine Fahrkarte gekauft, wenn ich Zug gefahren bin.

VI Ruedi Szabo, 59, systemischer Arbeitsagoge // Sämi Szabo, 30, Dachdecker // Beni Szabo, 26, Elektromonteur, getroffen in Freiheit in Zürich Ruedi: Ich komme aus einer grossen Familie. Als meine Urgrossmutter 90 Jahre alt wurde, kamen 300 Verwandte zusammen. Für mich waren diese Zusammenkünfte ein Highlight. Deshalb wollte ich selbst auch eine grosse Familie. Wenn ich ein eigenes Geschäft habe, dachte ich, vermag ich das. Während einer Weiterbildung an der Polierschule habe ich meine Frau kennengelernt. Ich habe mich mit bauökologischen Materialien selbstständig gemacht. Das war eine Marktlücke und ist recht gut gelaufen. Wir haben fünf Kinder bekommen, vier Söhne Sämi: Zweitältester Beni: Drittältester Ruedi: Und eine Tochter. Alle fünf Kinder waren Hausgeburten. Ich war bei allen dabei. Von da an kam ich nach Hause und war mit meinen Kindern zusammen. Füttern, Windeln wechseln, Baden. Ich habe gerne gesungen, Gute-Nacht-Lieder. Gute-Nacht-Geschichten, aus dem Stehgreif erzählt. Alles lief super. ’93 kam die Baukrise, verschuldet durch die Banken. Renditeschwache Baugeschäfte haben keinen Kredit mehr erhalten.

Zeitgleich wurden weniger Hypotheken an Hausbesitzer vergeben. So blieben die Aufträge aus. Das Vernünftigste wäre gewesen, Konkurs anzumelden. Es gab immer mehr Streit mit meiner Frau und es ging immer um Geld. Irgendwann hatte sie einen Liebhaber, dann drei. Das habe ich nicht ertragen. Ich hatte mir ein Ideal aufgebaut: Familie, Geschäft, geglücktes Leben. Zuerst dachte ich: Ich bringe sie um. Aber ein Quäntchen Verstand hatte ich noch. Ich liebe meine Kinder über alles. Ich dachte, wenn ich meine Frau umbringe, haben sie keine Mutter mehr. Meine Frau ist ausgezogen und hat mir ein Formular vorgelegt: Ich soll 6000 Franken Alimente zahlen, oder sonst sehe ich die Kinder nicht mehr. Ich sass in meinem Büro mit einem Haufen Rechnungen, zeitweise wurde mir der Strom abgestellt. Ich konnte die Miete nicht mehr zahlen. Da habe ich mir gesagt, ich gehe das Geld dort holen, wo es liegt. Ich habe ländliche Postämter und Bankschalter ausgekundschaftet, weil das Sicherheitsdispositiv dort sehr viel geringer ist. Im Militär, als Grenadier, hatte ich gelernt, professionelle Überfälle zu machen. Sämi: Wir haben von nichts gewusst. Ruedi: Man rechnet aus und fährt die Strecke ab. Wo ist der nächste Polizeiposten, wie lange hat der? Man legt einen Fluchtweg durch die Wälder an. Man weiss, wo man die Autos deponiert, die Nummernschilder wechselt. Alles wird Schritt für Schritt geplant und entsprechend durchgeführt. Beni: Gut, das Verständnis wäre auch hinten und vorne nicht dagewesen von uns Kindern. Ruedi: In meinem Büro waren mehrere Waffen aufgehängt und meine Orden aus meiner Grenadierzeit. Ich habe meinen Mitarbeitern gesagt: Ich kann eure Löhne nicht zahlen, ich bin verzweifelt, ich weiss nicht mehr weiter, aber ich gehe es jetzt bei den Banken holen mit der Waffe. Meine Mitarbeiter waren alle sehr jung, zwischen 17 und 21 Jahren. Ich habe eine rhetorische Gabe und konnte sie dafür begeistern.


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Die Banken machen es einem auch einfach, sie als Feindbild zu zeichnen. Sie schwingen den Kugelschreiber zur Unterschrift und verdienen Millionen oder Milliarden. Andere krüppeln ihr Leben lang und kommen zu nichts. Wir hatten alles vorbereitet, um direkt nach Ladenschluss der Post, als nur noch die Mitarbeiter da waren, zuzuschlagen. Wir sind hinter einer Ecke versteckt, als die Posthalterin mit ihren Kindern aus dem Gebäude kommt und aus einem Ziehwagen Briefe und Päckchen in einen Transporter lädt. Der Transporter fährt davon, die Kinder setzen sich in den leeren Ziehwagen und die Frau kehrt mit ihnen durch die Hintertür in die Post zurück. Als ich die Kinder sehe, denke ich kurz ans Umkehren, lege den Gedanken beiseite und mache weiter. Im Militär habe ich gelernt, meine Gefühle auszuschalten. Bevor die Tür ins Schloss fällt, schlüpfen wir hinterher. Was dann passiert ist, weiss ich nur aus Zeugenaussagen. Ich habe eines der beiden Kinder gepackt, ein Mädchen, und ihr meine Pistole an die Schläfe gehalten. Dann habe ich sie losgelassen, sie ist zu ihrer Mutter gerannt, die den Jungen, ungefähr dreijährig, auf dem Arm hatte. Das Bild der Mutter, die am ganzen Körper zittert, die weint, deren Lidschatten verschmiert ist, die in Panik ihre Kinder festhält, die auch weinen, die stammelt: Bitte schiessen sie nicht, wird mich noch lange verfolgen. Ich treibe die Mutter und ihre Kinder sowie die anderen Angestellten in einer Ecke zusammen und halte sie mit der Waffe in Schach. Mein Komplize geht zum Posthalter und boxt ihm die Pistole in den Magen. Er plündert den Tresor und alle Geldschubladen, dann hauen wir ab. Ich habe mit meinem Anteil einige Rechnungen bezahlt. Aber es hat nirgends hingereicht. Darum haben wir uns gesagt, es ist so gut gelaufen, wir machen weiter. Verbrechen sind ein Rausch, eine kriminelle Energie, die sich entlädt. Die rote Linie,

die man überschreitet, nimmt man immer schwächer war. Wenn ich nicht geschnappt worden wäre, hätte ich wahrscheinlich immer weiter gemacht. Nach acht Raubüberfällen werden meine Komplizen und ich von der Polizei gefasst. Sämi: Die Verhaftung war zuhause. Beni: Zuhause. Sämi: Ich war achteinhalb. Beni: Sieben. Die Action ist mit ihm zur Tür hineingefallen. Sämi: Da kommen auf einmal Polizisten mit Schusswesten und Pistolen und schauen sich unser Haus an. Für mich war das sehr einschneidend. Die Bilder habe ich lange im Kopf gehabt. Wie sie daherkommen. Wie sie reinstürmen und wir alle in ein Zimmer geschickt werden, wo wir warten und uns ruhig verhalten sollen. Uns hat niemand gesagt, was los ist. Ruedi: Die erste Nacht in der Durchgangszelle, während der Untersuchungshaft, ist heftig. Durchgangszelle heisst, die Inhaftierten werden ein paar Stunden bis zwei Tage dort eingesperrt und dann verlegt. Die Zelle sieht entsprechend aus. Total verdreckt, die Wände verschrieben, die Wolldecke verkotzt und voller Brandlöcher, alles stinkt nach Pisse. In der Nachbarzelle ist ein Junkie auf kaltem Entzug. Er wird um neun Uhr abends in die Zelle gebracht. Er tobt bis drei Uhr morgens und hämmert an die Wand. Ich will raus! Rundrum: Halt die Fresse, du Arschloch! Wir schneiden dir die Eier ab! Ich sitze in meiner Zelle, der verdreckten, und denke: Wo bin ich gelandet? Ich war achtzehn Monate in Untersuchungshaft. In der Untersuchungshaft wird dir deine Schuld bewusst. Du liest die Anklageschriften und brichst zusammen. Du hast Suizidfantasien, weil du keine Zukunft mehr für dein Leben siehst. Ich habe während meines Gefängnisaufenthaltes

allen 15 Opfern einen Brief geschrieben. Mein Gefühl hinter dem Brief war: Es tut mir leid, dass ihr mir unter die Räder gekommen seid. Ich habe allen angeboten, mich zu treffen. Dass sie mir in die Augen blicken können und merken: Die Reue ist ernst. Die Reue ist ernst. Die Reue ist ernst. Ich habe fünf Antworten erhalten, drei Leute waren bereit, mich zu treffen. Eine davon war die Filialleiterin der letzten Bank, die wir überfallen haben. Als wir uns treffen, erschrecke ich. Sie kann nur mit grosser Anstrengung gehen. Es stellt sich heraus, dass sie vier Tage nach dem Überfall einen Hirnschlag erlitten hat und seitdem schwer behindert ist. Man vermutet, dass es eine Disposition gab und der Stress des Überfalls das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Jeder Verbrecher verharmlost sein Verbrechen, ich auch. Ich habe ja nur Geld gestohlen, ich habe niemandem etwas angetan. Dass diese Leute Todesängste ausstehen und jahrelang darunter leiden, will sich niemand ausmalen. Beni: Ich hatte lange Probleme mit der Situation. Sämi: Für mich ist es etwas anderes, in der Zeitung über deine Taten zu lesen, als wenn ich direkt mit dir spreche. Gewisse Dinge habe ich bis heute nicht gefragt und will sie auch nicht mehr wissen. Ruedi: Der erste Staatsanwalt forderte, dass ich in Sicherheitsverwahrung gesteckt werde. Der Strafvollzugsverantwortliche hat sich die Mühe gemacht, den Weg von seinem Büro zu mir in die Zelle zurückzulegen. Er ist also da und hört sich meine Geschichte an. Er sagt: Ich will ein Versprechen von Ihnen. Ich entscheide jetzt gegen die Empfehlung des ersten Staatsanwaltes, und wenn sie davonlaufen oder wieder straffällig werden, kostet das mich den Kopf. Darum müssen sie mir versprechen, keine Scheisse zu bauen. In eineinhalb Jahren Untersuchungshaft ist er der erste Justizmitarbeiter, der mir die Hand gibt. Ich werde in den offenen Vollzug verlegt. Mein erster Ausgang

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ist ein begleiteter Ausflug nach Locarno. Per Zufall finden gerade die Filmfestspiele statt. Ich bin zum ersten Mal seit Jahren wieder unter Menschen. Wir gehen an die Piazza und ich habe das Gefühl, alle starren mich an, weil hier zeigt auf seine Stirn das Wort „Knacki“ steht. Ich bin diese Menschen nicht mehr gewohnt. Ich staune mit offenem Maul über das Gewimmel, das Gewusel, die vielen Menschen. Wie schön das ist. Ich setze mich in die hinterste Reihe. Ich weiss nicht mehr, welcher Film gelaufen ist. Mein Film waren die vielen Menschen. Ich erwache morgens um vier, gehe aus dem Hotelzimmer raus, an den See, alles blüht, Tulpen, Rosen. Ich sitze einfach da. Der See schwappt, Schwäne schwimmen auf dem Wasser, die ersten Leute laufen herum, Jogger, und ich sitze einfach da und lasse das auf mich einprasseln. Freiheit. Das ist Freiheit. Jede Faser meines Körpers spürt Freiheit. Beni: Für mich ist Freiheit, wenn ich reise und nicht mehr weiss, welcher Wochentag ist. Weil es mich einfach nicht interessiert. Dann bin ich frei. Ruedi: Mein Glück war, dass ich im Gefängnis Menschen um mich hatte,

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die mich gefördert haben. Einer der ersten im Vollzug, der mein Vertrauen gewonnen hat, war der Gefängnispfarrer. Er hat einfach zugehört. Ich konnte meinen Tränen freien Lauf lassen, als ich erfahren habe, dass meine Kinder in der Schule gemobbt werden, weil ihr Alter im Knast sitzt. Beni: Im Dorf ist das schnell in aller Munde. Sämi: In der Primarschule musste ich ein paar Mal auf dem Heimweg nach Hause rennen, weil die anderen Kinder auf mich losgegangen sind. Die haben gemerkt, der hat einen schwachen Punkt. Jeder in unserer Familie hat das erlebt. Dass du fertig gemacht wirst, dass dir blöde Spitznamen gegeben werden. Beni: Unsere Mutter musste mehrmals antraben, wegen der „Lügengeschichten“, die wir erzählt haben, die keine Lügengeschichten waren. Irgendwann entwickelst du selbst Zweifel. Du wirst zum Schulleiter zitiert, musst dich vor ihm erklären, es stehen fünf Lehrer dabei und alle sagen: Hör auf, solchen Mist zu erzählen!

Ich bin jetzt 17 Jahre aus dem Knast draussen und stecke immer noch in diesen Schulden drin. Aber ich bin nie mehr rückfällig geworden, auch in schwierigsten finanziellen Situationen nie mehr rückfällig geworden. Beni: Das hat bei mir im Kopf einen Wendepunkt gebracht. Irgendwann, das weiss ich noch genau, bin ich zu dir gekommen und habe dir gesagt, wie stolz ich auf dich bin, wohin du gekommen bist. Ruedi: Inzwischen arbeite ich als systemischer Arbeitsagoge. Ich fördere in sozialpädagogischer Funktion berufliche Eingliederungen von sogenannt „schwierigen“ Jugendlichen. Und halte sie hoffentlich davon ab, selbst straffällig zu werden. Sämi: Ich habe nur mit einem einzigen Freund über die Geschichte gesprochen. Eine Freundin wollte mich mal darüber ausquetschen, da habe ich gesagt: Du kannst mich in drei Jahren fragen, wenn es uns dann noch gibt. Vorher geht dich das nichts an. Beni: Ich habe seit vier Jahren eine Freundin. Sie weiss, dass es passiert ist.

Sämi: Ich habe mich angefangen zu wehren.

Ruedi: Ihr seid schon vier Jahre zusammen?!

Ruedi: Richtig.

Beni: Aber sonst bleibt das Thema bei mir.

Sämi: Ziemlich heftig zu wehren. Ruedi: Der Gefängnispfarrer hat mir gesagt: Ruedi, du hast einen Sprung in der Schüssel. Du musst deine Aggressionen in den Griff kriegen. Dabei kann ich dir nicht helfen. Ich schicke dich in die Therapie. Mit meiner Therapeutin habe ich meine Tat aufgearbeitet und ich bin heute noch mit ihr befreundet. Ich wurde fast ein Jahr früher entlassen, habe in einer Aussen-WG des Gefängnisses gewohnt und bei der Zeitung eine Ausbildung als Journalist gemacht. So gelang mit der Einstieg. Das Problem sind Finanzen, Finanzen, Finanzen. Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, hatte ich über 620 000 Franken Schulden. Das sammelt sich an durch die Alimentenbevorschussung und die Gerichtskosten.

VII Irmela Koch, Pflegefachfrau, getroffen in Frei­ heit in Basel In der Ausbildung wurde ich eines Tages von meinem Arbeitsplatz weggerufen. Mein Pflegedienstleiter hat angerufen und gesagt, wir müssten ein wichtiges Gespräch führen. Ich war 18 und habe gedacht: Oh Gott, mir wird gekündigt! Der Pflegedienstleiter kam – in Begleitung der Seelsorgerin. Sie führten mich in den Gebetsraum des Krankenhauses und die Seelsorgerin hat mir ins Gesicht gesagt: Oma und Opa sind tot. Ich hatte 389 Millionen Fragezeichen. Warum … Warum spricht diese mir fremde Person von Oma und Opa? Warum sagt sie nicht: Deine Grosseltern? Dann sagte sie: Die Kriminalpolizei ist da, sie würden Sie mitnehmen. Ich habe gesagt: Ich fahre selbst. Ich wollte mein Auto nicht da stehen lassen. Aber sie wollten verhindern, dass ich im Radio höre,


anna papst_freigänger

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was passiert war. Die dreiviertelstündige Fahrt war schrecklich. Die Polizisten waren unglaublich unfreundlich. Es war spürbar, dass sie etwas wissen, aber sie wollten nichts sagen. Als wir zur Polizeistation kamen, sagten sie: Frau Koch ist da. Die ganze Station machte solche Augen. Alle wussten Bescheid, nur ich nicht. Ich stand da wie der grosse Depp. Sie hatten keinen Raum für mich, ich sass auf dem Flur, ich sollte nicht aufs Klo gehen. Nach 45 Minuten hatten sie ein Zimmer für mich. Dort habe ich weiter gewartet. Irgendwann geht die Tür auf. Bis heute sehe ich das vor mir. Meine Mutter kommt rein, hinter ihr mein Vater. Sie sahen furchtbar aus. Meine Mutter hat gesagt: Irmela, Irmela, Oma und Opa sind tot und Robert war›s. Robert ist mein Bruder. In solchen Situationen gibt es kein gutes Überbringen mehr. Es gibt auch keine „richtige“ Situation. Es gibt sie einfach nicht mehr. Die Polizisten standen da und haben uns angestarrt, wie wir weinen und trauern und es nicht fassen können. Da habe ich gesagt: Raus. Geht raus. Da haben sie uns alleine gelassen. Ich weiss nicht mehr, wie lange das ging. Das war eine totale Zeitverzerrung. Meine Eltern haben mir immer wieder dasselbe erzählt, dass die Polizei da war, dass mein Bruder es gewesen ist. Mein Bruder hat sich unmittelbar nach der Tat ein Messer in den Bauch gerammt und ist zur Polizeiwache gelaufen. Die Polizisten haben ihn immer wieder gefragt, was passiert ist. Irgendwann hat er gesagt, dass er unsere Grosseltern umgebracht hat. Da war es aber längst zu spät. Sie wären … Selbst wenn er sofort angerufen hätte, hätten sie es nicht überlebt. Bei meiner Grossmutter waren es 20 Messerstiche und bei meinem Grossvater 26. Wenn ich dieses Gefäss bin, Nimmt ein Glas hat es einfach mal so gemacht: lässt es fallen. Es hat alles getroffen. Wenn man anfängt, in der Familie zu morden, dann bleibt nicht mehr viel. Alle Weltbilder, alle Werte, die man hat, sind einfach … Ich glaube, jeder hat einmal bodenlose Gefühle erlebt, ich habe auch danach noch bodenlose Gefühle er-

lebt, aber nie in diesem Ausmass. Ich habe nichts von alledem verstanden. Wir wussten keine Umstände. Wie war es genau? Wie ist es dazu gekommen? Es gibt ja auch dumme Umstände, die eins zum anderen führen. Ob er sich betrunken hat, oder … Ich bin kein emotionaler Typ oder ein wahnsinnig sensibel lebender Typ. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Emotionen für mich gleich Instabilität. In dem Moment habe ich die Entscheidung getroffen: Ich gebe mich da rein, und zwar voll und ganz. Es war exzessiv. Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Nichts und niemand konnte machen, dass ich aufhören konnte. Und ich wollte es aber. Ich dachte: Wenn es diese Gefühle gibt und sie sind real, dann will ich sie auch spüren und leben. Mein Bruder wurde direkt ins Krankenhaus gefahren und notoperiert. Uns war nicht klar, ob er überleben würde. Wir wussten nichts über seine Verletzungen. Die Polizei wollte nichts sagen, alles war Bestandteil der Untersuchungen. Irgendwann haben wir von der Intensivstation erfahren, dass er am Leben ist. Für uns war das ambivalent: Soll man sich jetzt darüber freuen? Will ich ihn wiedersehen? Niemand wusste, wie wir den nächsten Tag überstehen sollten. Es war nicht möglich, an ein Morgen zu denken. Die Geburt meines Bruders war sehr schwer. Heute geht man davon aus, dass er durch einen Sauerstoffmangel mit einem Hirnschaden zur Welt kam. Es stotterte stark und auch mit jahrelanger Logopädie ging das Stottern nicht weg. Er war immer zurückhaltend, immer sehr ruhig, und man hat das auf das Stottern geschoben. Aber im Nachhinein würde ich sagen: Das ist nicht normal. Diese Art Introvertiertheit. Auch wenn man stottert. Das ist nicht normal. Zu seiner Sprechstörung kam eine Legasthenie, sodass er, obwohl er viel im Kopf hatte, sich weder durch Schrift noch durch Sprache mitteilen konnte. Es war immer an der Grenze,

ob er die Schule schafft. In der Schule zählen die Noten und seine waren denkbar schlecht. Das war für mich als kleine Schwester schwierig. Ich war die faulste Socke auf dem Erdball und hatte immer gute Noten. Die Tat war an einem Donnerstag. Ich bin schnell wieder arbeiten gegangen. Am Montag stand ich wieder im Operationssaal. Schlafende Patienten, Mundschutz, Haube: Ich war abgeschirmt. Ich musste nicht reden. Was schwer war, war, dieses Blut im Operationssaal zu sehen und zu riechen. Denn ich habe den Tatort gesehen. Ich wollte das. Du musst dir vorstellen: Jemand erzählt dir etwas extrem Bizarres, was du kaum aus dem Hollywoodfilm kennst, und das soll dann deine Realität sein und du hast nichts von dem in der Hand. Die Grosseltern weg, aber die könnten auch in Urlaub sein. Der Bruder weg, aber du hast nichts gesehen. Alles nur Gerede. Und ich so: Ich will es sehen. Ich will sehen, dass es Realität ist. Aber es hat mich natürlich schon der Schlag getroffen. Es war nichts gereinigt worden. Mein Onkel und ich haben dann das Blut meiner Grosseltern weggeputzt, damit die Wohnung geräumt werden konnte. Drei Wochen nach der Beerdigung meiner Grosseltern bin ich meinen Bruder im Gefängnis besuchen gegangen. Allein. Das wollte ich. Allein. Ich war aufgeregt wie verrückt. Ich sass meinem Bruder gegenüber und habe ihn mit Vorwürfen überschüttet. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn die Presse jeden Tag anruft und in jeder Zeitung von dir berichtet wird? Wenn Bilder dort abgedruckt werden, von deinem Bruder, so gross, die du noch nie gesehen hast? Kannst du dir diese Beerdigung vorstellen? Ich habe keine Antwort erwartet. Was soll er auch sagen. Er ist schuldig. Er hat sich an uns schuldig gemacht. Was soll er auch sagen? Es gibt keine Rechtfertigung dafür. Das war mir klar, aber worüber hätte ich mit ihm sonst reden sollen? Übers Wetter oder was? Über seine Befindlichkeiten? Die er …

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stück

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Die hat er sich selber angetan. Er ist der Täter, der uns zu Opfern gemacht hat. Mein Bruder sagt bis heute, er kann nicht genau sagen, warum er unsere Grosseltern getötet hat. Sein Plan war, im Altersheim, in dem er gearbeitet hat, einen Amoklauf zu verüben und sich anschliessend selbst zu töten. Er hatte dort eine Abmahnung erhalten, weil er die Bewohner etwas grob angefasst hatte. Er wollte sich kein Versagen anlasten lassen. Er hat ein Messer eingepackt und ist mit dem Fahrrad Richtung Altersheim gefahren. Am Ortsausgang hat er das Fahrrad bei unserem Zahnarzt abgestellt und ist zu unseren Grosseltern zurückgelaufen. Er hatte eine gute Beziehung zu ihnen. Vielleicht hat eine Ecke in ihm gedacht: Die können meine Not lindern. Die Beiden haben geschlafen. Mein Grossvater ist erwacht. Es gab einen Kampf. Dann ist meine Grossmutter erwacht. Mein Bruder hat 14 Jahre mit Auflage der Therapie bekommen. Im September desselben Jahres war ich fertig mit meinem Staatsexamen. Ich habe eine Stelle gefunden, in einer fremden Stadt, 600 Kilometer weit weg. Dann fing meine eigentliche Trauerzeit an. Ich musste nicht mehr funktionieren für meinen Bruder oder für meine Eltern oder für dieses Staatsexamen. Ich bin so viel gelaufen. Ich hasse spazieren gehen. Bis heute. Ich bin zu jeder Tages- und Nachtzeit gelaufen. Bei strömendem Regen. Bei schönem Wetter. Durch die dunklen Wälder. Querfeldein. Ich hatte so einen brutalen Drang.

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Das hat erst nach zwei Jahren aufgehört. Es waren zwei Jahre im Ausnahmezustand. Ich habe nicht mehr so viel geweint. Aber ich hatte kaum Kraft für irgendeine Beziehung. Ich habe die ganze Schwere zugelassen und bin gelaufen. Meinem Mann habe ich, noch bevor wir zusammengekommen sind, davon erzählt. Weil es für mich ein Davor und ein Danach gibt. Ich bin eine andere Person als früher. Für mich ist die Tat ein Ausdruck von nicht reden. Und deshalb war einer der grössten Schlüsse, die ich daraus gezogen habe: Ich schweige nicht. Und: Es kommt in den besten Familien vor. Wir sind aus dem gleichen Elternhaus. Mein Bruder und ich. Wir sind mit den gleichen Vorzeichen aufgewachsen. Vor ein paar Wochen waren wir alle zusammen in Ferien. Mein Mann, meine Kinder, mein Bruder und ich. Er ist jetzt im offenen Vollzug. Ich habe meinem Bruder vergeben. Aber es war ein langer Weg dorthin. Ich habe mir ihn über die Jahre noch oft zur Brust genommen und gesagt: Wie konntest du nur? Warum denn? Trotzdem habe ich ihn wieder lieben können. Mich aufrichtig freuen können, wenn ich ihn gesehen habe. Für eine echte Versöhnung fehlt eine Ecke. Er nimmt die Schuld komplett an. Aber er hat nie gesagt: Es tut mir leid. Und ich glaube, die Ecke fehlt nicht mir, sondern ihm. Man merkt ihm das an, dass die Schultern sehr weit unten sind und dass das sehr drückt. Er weiss, dass er immer damit leben wird,

zwei Menschen das Leben genommen zu haben. Er nimmt es fast zu sehr an. Ich glaube, da gäbe es einen anderen Weg. Die Schuld anzunehmen und die Schultern dennoch nicht so weit unten zu haben.

WAS SEITDEM GESCHEHEN IST … STAND NOVEMBER 2018 Walter Künzler, verurteilt wegen Veruntreuung und Betrug, ist aus dem offenen Strafvollzug entwichen und untergetaucht. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt. Joel Weber, verurteilt wegen Diebstahl und Drogendelikten, lebt in Freiheit und arbeitet weiterhin auf verschiedenen Alpbetrieben. Adrian Berger, verurteilt wegen Fahrerflucht, lebt in Freiheit und arbeitet wieder als Gärtner. Felix Lehmann, verurteilt wegen Mordes, lebt weiterhin auf der Station 60+ in der JVA Lenzburg Ruedi Szabo, verurteilt wegen Raubes und Geiselnahme, lebt seit 17 Jahren straffrei, arbeitet als systemischer Arbeitsagoge und engagiert sich frei­ willig in Täter-Opfer-Gesprächen, in denen die Folgen einer Straftat für Opfer und Täter aufge­ arbeitet werden. Robert Koch, der Bruder von Irmela Koch, wird v­oraussichtlich 2019 nach 14 Jahren in Haft ent­ lassen.

Der Text entstand 2017/18 im Auftrag des Konzert Theater Bern im Rahmen von Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik. © Anna Papst

55 Shades of Gay

Balkan spring of sexual revolution | von Jeton Neziraj Do 28.3.2019 | Fr 29.3.2019 | Sa 30.3.2019


marina skalova_der sturz der kometen und der kosmonauten

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Der Kalte Krieg in meinem Körper Marina Skalova über ihr Stück „Der Sturz der Kometen und der Kosmonauten“ im Gespräch mit Elisabeth Maier Marina Skalova, in Ihrem Stück „Der Sturz der

tische Eroberung des Weltraums – entspricht

Kometen und der Kosmonauten“, das jüngst am

Marina Skalova, 1988 in Moskau geboren,

der Utopie eines anderen Planeten, auf dem

Theater POCHE/GVE in Genf uraufgeführt wurde,

lebt nach langer Zeit des Pendelns zwi-

man einen Platz finden könnte … Auch für

beschreiben Sie in starken poetischen Bildern

schen Paris und Berlin zurzeit in Genf. Sie

mich war beim Schreiben der Kosmos ein poe-

und mit verstörender Klanglichkeit die russische

ist Autorin und Übersetzerin aus dem

tischer Horizont, der für die Figuren einen

Gesellschaft. Russland habe sich nach dem Zer-

Deutschen und Russischen. Sie schreibt

Raum des möglichen Entkommens eröffnet.

fall der Sowjetunion in eine „Konfettitüte“ ver-

Lyrik, lyrische Prosa und Theaterstücke auf

wandelt, heißt es, später nennen Sie das Land

Französisch und Deutsch. Buchpublikatio­

Wie hat sich Ihre Tätigkeit als Hausautorin am

ein „Spaghettisieb“. Zerfallsprozesse sind ein

nen (unter anderem): „Atemnot (Souffle

Theater POCHE/GVE auf die Arbeit am Stück aus-

Grundmotiv in diesem Stück. Wie lässt sich die-

court)“ (Cheyne éditeur, 2016), „Exploration

gewirkt?

se Thematik im Theater vermitteln?

du flux“ (Seuil, 2018). Deutschsprachige

Die Besonderheit meiner Hausautorinnen-

Das Theater eröffnet die Möglichkeit, in die

Veröffentlichungen in Zeitschriften, An-

schaft war, dass ich auch als Dramaturgin tä-

Stimmen und Körper von Menschen einzutau-

thologien und auf SWR2. Ihre französi-

tig war. Ich habe intensiv mit anderen Autoren

chen, um ihren eigenen Widersprüchen einen

sche Übersetzung von Katja Brunners

an ihren Texten gearbeitet, sie betreut und

Raum zu geben. Mich hat es interessiert, die

Stück „Ändere den Aggregatzustand dei-

begleitet. Dieser Austausch war für mich sehr

inneren Konflikte zwischen zwei antagonisti-

ner Trauer“ wurde am Theater POCHE/

bereichernd. Vieles, was ich im Dialog mit

schen Wertesystemen, die innerhalb der Figu-

GVE aufgeführt, wo Marina Skalova

den anderen Texten entwickelt habe, ist dann

ren von Vater und Tochter weiterleben, aufzu-

2017/18 als Hausautorin und Dramatur-

auch in die Arbeit an meinem Stück einge-

zeigen. Wie findet man in der liberalen

gin arbeitete. 2018 Stipendiatin am Lite-

flossen. Die Herausforderung war, das eigene

Gesellschaft einen Platz, wenn man mit gänz-

rarischen Colloquium Berlin und Artist in

Schreiben in Einklang zu bringen mit der täg-

lich anderen Werten erzogen wurde, wenn

Residence in Moskau mit Pro Helvetia.

lichen, sehr zeitintensiven Arbeit am Theater.

man zwischen den Konzepten von Individuum

Es war spannend, so nah an den Produktions-

und Kollektiv, Ost und West hin- und hergeris-

prozessen dran zu sein. Durch die Zusam-

sen ist? Kann ein Körper das alles zusammen-

längst verkauft und gebe sich mit trügerischen

menarbeit mit Regisseuren habe ich eine

halten? Der Begriff der Atomisierung war da-

Netzidentitäten zufrieden. Gibt es Hoffnung?

neue Perspektive kennengelernt. So habe ich

bei für mich zentral. Rein wissenschaftlich

Zunächst steht da die Erkenntnis, dass der

ein besseres Gespür dafür bekommen, was

betrachtet, bedeutet das, etwas Großes in

sozialistische Glaube an die grenzenlose Frei-

auf der Bühne umsetzbar ist und was nicht.

seine kleinsten Bestandteile zu zerlegen. Die-

heit des Westens zerbricht. Das Bild, das die

ses Bild kann auf die Tschernobyl-Katastrophe

Menschen von den demokratischen Gesell-

verweisen, auf die Zersplitterung des sowje­

schaften dort hatten, ist zerstört worden. Die

gand aus dem Französischen ins Deutsche über-

tischen Systems, aber auch auf die Orientie-

junge Generation, die in den Westen kommt,

setzt. War das eine besondere Herausforderung?

rungslosigkeit von Menschen, die an wider-

sieht sich konfrontiert mit einer zunehmen-

Wenn ich meine Texte schreibe, denke ich sie

sprüchlichen

Vorstellungen

den Prekarisierung der Lebens- und der Ar-

manchmal in französischer, manchmal in

zerbrechen – und im Kosmos des modernen

beitsverhältnisse. Aber auch der Liebe, der

deutscher Sprache. Mein erster Lyrikband

Europas wie verlorene Kosmonauten herumir-

Freundschaft, der Familie – der zwischen-

„Atemnot (Souffle court)“ war zweisprachig.

ren.

menschlichen Strukturen, die in der sowjeti-

Da geht es um die Verwandlung eines Textes

schen Gesellschaft stabiler zu sein schienen.

in die andere Sprache, um Möglichkeiten und

Zielen

und

Sie haben Ihr Stück gemeinsam mit Frank Wei-

Sie schicken einen Vater und seine Tochter auf

Die Hoffnungen, Illusionen und Versprechen,

Grenzen der Übersetzung. Bei der Überset-

einen Roadtrip von Berlin nach Moskau. Er

die der westliche Freiheitsbegriff mit sich

zung ging es zunächst darum, andere Sprach-

stammt ursprünglich aus Russland, und auch

trägt, wollte ich hinterfragen. Desillusioniert

bilder zu finden, die sowohl auf semantischer

seine Tochter, die nun in Paris lebt, ist dort ge-

kommen die Figuren am Ende der Geschichte

als auch auf klanglicher Ebene stimmig wa-

boren. Ein zentraler Streitpunkt zwischen den

an, im belarussischen Wald, wo Millionen

ren. Man müsste Frank Weigand fragen, ob er

beiden ist der Freiheitsbegriff. Er erzählt stolz,

Menschen vernichtet wurden. Ausgehend da-

sich beim Übersetzen von mir zensiert gefühlt

wie er Mitte der achtziger Jahre in Russland auf

von konfrontiere ich zwei fiktive Räume mitei-

hat. Spannend ist für mich, dass sich beim

die Straße gegangen ist, um für Demokratie und

nander: Das Internet wird zum dystopischen

Übersetzen Fragen auftun, die ich an den Ori-

Freiheit zu demonstrieren. Die Tochter winkt ab:

Reflexionsraum unerfüllter Sehnsüchte. Der

ginaltext stelle. Das ist ein unendlicher Aus-

Die junge Generation habe diese Freiheit schon

Kosmos – auch eine Anspielung auf die sowje-

tauschprozess. //

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Marina Skalova

Der Sturz der Kometen und der Kosmonauten aus dem Französischen von Marina Skalova und Frank Weigand

„Ich glaube, Liebe ist Exil und von Zeit zu Zeit eine Postkarte aus der Heimat, das ist mein Gefühl heute Abend.“ (Samuel Beckett)

„Liebe ist das oberflächlichste und ungenaueste Wort, das ich kenne.“ (Bernard-Marie Koltès)

Personen Vater/Er Tochter/Sie Zeit Herbst. 3 Tage, 4 Nächte & ein paar Milliarden Lichtjahre.

Die typografischen Veränderungen (freie Verse, Textblöcke …) entsprechen Variationen von Rhythmus und Skandierung. Die kursiv geschriebenen Passagen zeigen entweder Zitate aus anderen Sprachen (Russisch, Englisch, Französisch …) oder Songtexte an. Wenn es sich um Songtexte handelt, wird empfohlen, sie zu singen, zu rappen oder zu brüllen. Aus Gründen der phonetischen Lesbarkeit wurden russische Wörter anstatt in kyrillischer Schrift in lateinischer Schrift transkribiert. Ob man den musikalischen Vorschlägen nachgeht oder nicht, sie bilden vermutlich das Unterbewusstsein des Textes.

EINE TÜTE KONFETTI Moskau, Kitai-Gorod. Bett, Computer, schmutzige Wäsche, Tassen, Aschenbecher September. 02:33 Nirvana: Frances Farmer Will Have Her Revenge on Seattle Tochter: Posteingang name.vorname@gmail.com Eingegangene Nachrichten 32 Gesendet 64 Entwürfe 128 ich glaube das nennt man eine ausgeglichene Beziehung heute Abend war ich in einem Restaurant in Moskau wo die Tapete komplett aus Seiten der Pravda bestand und auf einer Mauerfläche ein großes Wandgemälde mit Kosmonauten wie sie es früher auf Schulhöfen und in Kinderbüchern aus Steinpapier gab in denen ich blätterte blätterte bis ich sie zerfledderte und dann auf einer Kommode ein alter Holzfernseher mit Drehknöpfen und ich sehe uns wieder in unserer ersten Wohnung am Stadtrand von Paris das war auch ein Backsteingebäude ein rotes Backsteingebäude wie in den Arbeitersiedlungen aber weniger hoch das Gebäude kompakter koketter das Gebäude fünf Stockwerke und nicht dreizehn das macht einen Unterschied ich sehe uns wieder in unserer Wohnung vor diesem großen Holzkasten wir schauten Dias an der Wohnzimmerwand es gab junge Pioniere und Tiere in Pastellfarben und dann machten meine Eltern den Fernseher an auf dem Bildschirm schrien und rannten die Leute kreuz und quer ich fragte was passiert sei sie sagten sei still das ist wichtig also traute ich mich nicht mehr zu fragen ich verschwand in meinem Sessel auf dem Bildschirm erklärte ein weißhaariger Mann dass es keine Sowjetunion mehr gab und dass es von nun an Republiken und eine Föderation geben würde

in dieser Schule der Republik habe ich meine Kindheit verbracht während das Land aus dem meine Eltern kamen zu einer Tüte Konfetti geworden war mit dreizehn quer über die Landkarten verstreuten neuen Republiken ich kauere mich in meinem Hotelzimmer zusammen schreibe eine Mail nach der anderen an jemanden der sie nicht liest der mich nicht liebt die Welt ist mir gleichgültig die Kulisse ist mir gleich ich entschuldige mich und schreibe dann noch eine Mail um mich dafür zu entschuldigen dass ich mich entschuldigt habe und um zu erklären dass ich nur Schrott schreibe und man mich nicht lesen soll und dann noch eine um zu versprechen dass ich von nun an viel rationaler sein werde und dass mir jetzt klar wird dass ich nur Schrott geschrieben habe aber dass mein Gehirn in Zukunft viel besser funktionieren wird und dann noch eine diesmal ganz kühl und rational und dann zum Abschluss wünsche ich mir einen Kopfschuss I MISS THE COMFORT IN BEING SAD hab mich verknallt vom Blitz getroffen hätt mir lieber ein Bein gebrochen

REISEN BILDET DIE JUGEND TOCHTER / Berlin-Neukölln. November. 19: 10. VATER / Moskau-Baumanskaya. November. 21: 10. Tochter: Hallo. Vater: Privet. Tochter: Hi. Vater: Ich bins. Ich … Ich komme nächsten Mittwoch nach Berlin. Tochter: Super. Vater: Können wir uns sehen? Tochter: Dienstag kann ich nicht. Da muss ich arbeiten. Vater: Kann ich bei dir schlafen? Auf deinem Sofa? Tochter: Schlafe im Moment selbst bei einer Freundin auf dem Sofa. Also nicht wirklich. (Schweigen)

in der Schule hatte man mir auch von der Republik erzählt es gibt die Flagge der Republik es gibt Marianne und den Hahn der Republik es gibt die Werte der Republik es gibt Plakate für die Wahl des Präsidenten der Republik

Vater: Ich treffe einen Verkäufer. Kaufe einen Wagen. Bringe ihn danach nach Moskau. Tochter: Den Verkäufer? Vater: Das Auto.


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marina skalova_der sturz der kometen und der kosmonauten

Tochter: Schon wieder? Wolltest du nicht aufhören? Vater: Diesmal ist es was anderes. Tochter: Warum? Vater: Verstehst du eh nicht. Tochter: Ah ja. Okay. (Stille) Vater: Diesmal geht es um viel Geld. Tochter: Fährst du nachher mit dem Auto nach Moskau zurück? Vater: Ja. Habe ich doch eben gesagt. Tochter: Welche Strecke fährst du? Vater: Polen. Weißrussland. Russland. Tochter: Darf ich mitkommen? Vater: Hast du nicht gesagt, du musst arbeiten? Tochter: Ja, aber … ich kriege das irgendwie hin. Kann mich krankschreiben lassen. Hatte mir mein Arzt eh vorgeschlagen. Vater: Aus welchem Grund? Tochter: Äh … Burn-out. Ausgebrannt. Haut verbrannt. Vater: Ah ja. Okay. (Knistern in der Leitung) Tochter: Wann fährst du los? Vater: Donnerstag. Punkt neun. Ich muss Sonntag abend in Moskau sein. Tochter: Gut. (Pause) Vater: Warum willst du auf einmal nach Moskau? Tochter: Verstehst du eh nicht. Vater: Ah ja. Okay. (Schweigen) Vater: Na dann, vergiss deine Papiere nicht! Tochter: Französischer Pass und russischer Pass. Hab ich alles vor einem Jahr neu machen lassen. Als ich sie zum letzten Mal verloren hatte. Hab ich dir doch erzählt, oder? Vater: Ah ja. Okay. (Der Vater nießt.) Vater: Und, kann ich dann bei dir zu Hause schlafen? Tochter: Verdammt, ich hab dir doch gerade schon gesagt, dass ich kein Zuhause mehr habe!

1.TAG RUHIGE NACHT Berlin-Marzahn. Doppelbett, Fernseher, IKEA-Möbel 00:05. Vater: Hotel Ibis. Ein vierstöckiger Klotz. Bed and Breakfast. Der Klotz ist weiß-grau. Weiter weg, Wohnblöcke. Auch grau. Ich bekomme eine SMS. Gebe den ersten Code ein. 43b65. Eine Metalltreppe, entlang der Fassade. Ich steige hoch.

Oben angekommen gebe ich den zweiten Code ein. 27A46. Ein Ticket kommt aus der Maschine. Strichcode für eine Nacht. Die Wände sind weiß. Die Türen sind blau. Herzlich Willkommen. Die Tür fällt krachend zu. Das Schloss schnappt zu. Alles automatisch. Fantastika takaja. Doppelbett. Bettwäsche. Auf jeder Seite eine Leselampe. Ein Fernseher ist an die Wand gepresst. Auf dem Tablett ein Foto des Frühstücks. Eine Preisliste. 5,90€ für einen Kaffee mit Gebäck und Orangensaft. Ich schließe meinen Computer an. Gehe auf Gmail. Booking schlägt mir Hotels vor. Ikea schlägt mir Möbel vor. Facebook hat seine Datenrichtlinie geändert. Ich gehe auf Yandex.ru. Odnoklassniki.ru Vkontakte.ru. Mascha, 28 Biochemikerin 3 Kinder, lebt in Moskau. Julia, 30 Buchhalterin Verheiratet, geschieden, neu verheiratet 2 Kinder, lebt in Moskau. Evgenja Ingenieurin Geschieden Lebt in Moskau. In Moskau habe ich mich mit Svetlana, mit Natascha, mit Evgenja verabredet. Wir sind in einem dieser neuen Komplexe für Neureiche Abendessen gegangen. Ein Einkaufszentrum in der Innenstadt. Sie fanden das unglaublich. Ich habe ihnen erzählt, ich sei Unternehmer. Import-Export. Selfmademan. Die Hälfte der Zeit in Europa. Sie fanden das unglaublich. Wir haben Sushi gegessen, Kaviar. Schlechten Wein getrunken. Ich zwang mich, über ihre Witze zu lachen. Hörte ihnen dabei zu, wie sie mir von ihrem Leben erzählten Ehemänner weg, Kinder auf der schiefen Bahn, Privatschule zu teuer, Medizin zu teuer. Ich erzählte ihnen von Paris, Berlin, Warschau, Prag, Helsinki. Ich sollte ihnen Parfums mitbringen. Bakschisch, um die Ärzte zu schmieren. Am Ende zahlte ich. Manchmal ging ich mit ihnen nach Hause. Schließlich schliefen wir miteinander. Halbherzig. Aber was sollten wir sonst tun. Olga, 31 Managerin 3 Kinder, lebt in Moskau.

Irina, 33 Immobilienmaklerin Ein Kind, lebt in Moskau. Tatjana, 29 Informatikerin Verheiratet, geschieden Lebt in Moskau. Draußen pfeift der Wind. Ich schaue auf die Preisliste. 20€ für ein zusätzliches Bett. 15€ Haustier-Zuschlag. Die Bilder von Tatjana, Irina, Olga, Julia, Mascha drehen sich in Endlosschleife. Mein Schädel brummt. Das Licht des Computers schlägt gegen meine Schläfen. Verbrennt mir die Augenlider. JUST A MATTER OF CHEMICALS Berlin, Neukölln. Sofa, Computer, schmutzige Wäsche, Tassen, Aschenbecher 03:33. Placebo: Commercial for Levi Tochter: craving crave Krätze im Magen Ritzen in den Röhren von Säure verätzt craving crave die Zeit kein Kriterium einzig zählt die Intensität die Zeit gräbt Krater in dich seziert zerreißt zerfetzt du klammerst dich fest craving crave der Magen voller Zacken der Kopf zerhackt craving crave krepier doch zerfall doch seine Zunge zerteilt dich zärtlich seine Zunge zerfurcht zerfranst gräbt sich in dich hinein grabe weiter grabe Valium and cherry wine coke and ecstasy you gonna blow your mind ich stelle mich vor den Spiegel und zupfe an den Härchen rund um meinen Bauchnabel begutachte sie zerre an ihnen reiße sie ab es tut weh dann öffne ich den Kühlschrank und hole eine Whiskyflasche raus leg sie zurück das ist so ein Klischee Valium and cherry wine coke and ecstasy you gonna blow your mind dieses Lied hörte ich als ich 15 war und MDMA nahm wenn ich MDMA nahm wollte ich mit der ganzen Welt knutschen lernte Typen kennen knutschte mit ihnen die Halluzinationen lösten ihre Gesichter auf die Farben verliefen ineinander am nächsten Morgen erkannte ich sie nicht mehr wieder ich konnte einfach die Umrisse ihrer Gesichter nicht mehr unterscheiden wenn die Wirkung des Moleküls schwand blieb alles leer und glanzlos als ich mit dem MDMA aufhörte blieb alles monatelang leer und glanzlos ohne diesen Schuss Euphorie dasselbe Molekül genau dasselbe ich weiß nicht ob es schlimmer ist sich in einen Menschen zu verlieben oder in ein Molekül der Mensch zwingt einen zum Aufhören bei dem Molekül ist das eine Frage des Willens I understand the fascination I’ve even been there once or twice or more ich lege mich auf das Bett umarme den Computer schmiege meinen Kopf an den Bildschirm drücke ihn an mich

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tippe Liebe auf den ersten Blick und Blitzschlag in die Suchmaschine chemisch betrachtet braucht das Gehirn nur eine Fünftelsekunde um sich zu verlieben das Gehirn eines verliebten Menschen ähnelt dem von jemanden der gerade Kokain genommen hat dieselben Symptome: chemischer Schuss, Adrenalinstoß, Dopaminsalven, Steigerung der Herzfrequenz, Wärmewellen, Prickeln im Bauch, durchblutete Papillen, geweitete Pupillen dann der Entzug: Gürtelschläge peitschen die Brust, zerschlagene Rippen, der Oberkörper von innen bis zum Zerreißen gespannt, wie gefesselt, gevierteilt, Hautfetzen lösen sich auf dem Bildschirm erscheint ein Werbefenster: „Everything that makes your blood pulse is worth doing it.“ wieso dann nicht einfach Heroin nehmen? NUR HINFAHRT Berlin-Marzahn, Allee der Kosmonauten. Hochhäuser, Schrebergärten, LIDL-Filiale 09:38 Vater: Vsjo, poehali. Los geht‘s. Tochter: Du hättest mich abholen können, echt. Das ist der Arsch der Welt hier. Vater: Das ist näher an der Autobahnausfahrt. Hätte mich zwei Stunden gekostet, wenn ich in die Stadt reingefahren wäre. Tochter: Eines Tages wird dir dein Pragmatismus zum Verhängnis. Vater: Fang nicht an. Tochter: Willst du ein Croissant? Vater: Ja. Danke. (Kauen, Schmatzgeräusche)

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Tochter: Ok … na dann, keine Ahnung, erzähl mir was. Vater: Ich habe keine Ahnung, was ich dir erzählen soll. (Kieferknirschen) Vater: Wie geht’s deiner Doktorarbeit? Tochter: Es geht. Ich muss für die Arbeit jemanden in Moskau treffen. Die wollen mich für einen Vortrag auf einem Astrophysiker-Kongress einladen. Vater: Ich bin stolz auf dich. Tochter: Danke. Vater: Die erste Generation geht in der Immigra­ tion immer verloren. Ich freue mich sehr, dass du es schaffst. Tochter: Danke. (Der Vater zündet sich eine Kippe an.) Tochter: Du weißt doch, dass ich mit dem Rauchen aufgehört habe! Vater: Ja. Weiß ich. Tochter: Danke, dass du auf meine Bedürfnisse Rücksicht nimmst. Vater: Ich dachte, du hättest wieder angefangen. (Der Vater drückt seine Kippe aus. Sie fahren.) ARCHÄOLOGIE I Kleine polnische Landstraße. Alte Leute auf Fahrrädern, Omas mit Kopftüchern, austauschbare Folklore 12:20 Max Richter: Autumn1

Sachen und meinen Sachen machen musst. Sag doch gleich, dass ich nicht zu euch gehörte. Vater: Wie, du gehörtest nicht zu uns? Technisch gesehen bist du sogar aus uns rausgekommen. Tochter: Ja, ich suche übrigens immer noch nach dem Ausgang. Vater: Wenn du aussteigen willst, kann ich anhalten. (Summen des Motors) Vater: Nicht aus dem Nichts gekommen. Aus uns rausgekommen! Die Familie als Ausgangspunkt. Tochter: Nein, ich meinte, raus aus diesem Familien-Institutions-Irrenhaus-Dingsbums. (Er holt eine Zigarette aus der Schachtel. Steckt sie zurück in die Schachtel.) Vater: Weißt du, früher dachten wir, die Welt wäre einfach. Als ich damals aufgewachsen bin, standen wir unter dem Einfluss von zwei Arten von Propaganda: der sowjetischen – da wussten wir, dass das Blödsinn war – und der aus dem Westen. Und da die erste falsch war, dachten wir, die zweite wäre zwangsläufig wahr. Tochter: Swimmingpool! Cocktails! Champagner! Nackte Frauen! Vater: Kannst du bitte aufhören, dich über mich lustig zu machen? Tochter: Ja. Vater: Letztendlich erwies sich das Paradies als nicht besonders paradiesisch, und die Hölle ist immer noch die Hölle. (Sie schweigen. Sie fahren.) Tochter: Kann ich eine Kippe haben?

Vater: Was gibt‘s Neues bei dir? Tochter: Nichts. Alles in Ordnung. Und bei dir? Vater: Nichts. Ich habe Schlafprobleme. Tochter: Kannst du nicht einschlafen? Vater: Doch, doch. Ich schlafe ein. Und dann wache ich mitten in der Nacht wieder auf. Um drei, vier Uhr morgens. Und dann ist jeder Einschlafversuch zwecklos. Tochter: Was machst du dann, wenn du nicht schlafen kannst? Vater: Ich nehme Beruhigungsmittel. Tochter: Beruhigen die dich? Vater: Sie retten mir das Leben. Tochter: Verstehe. (Stille) Tochter: Kann ich Musik anmachen? Vater: Was willst du anmachen? Tochter: Velvet Underground. Vater: Kenn ich nicht. Tochter: Ich weiß echt nicht, was du in den 70ern gemacht hast … Vater: Da war ich in der UdSSR. Tochter: Ah ja. Hatte ich vergessen. (Schweigen) Tochter: Also kann ich jetzt Musik anmachen? Vater: Lieber nicht. Ich mag das nicht, wenn ich den Text nicht verstehe.

Tochter: Erzählst du mir jetzt die Geschichte? Vater: Hab sie vergessen. Tochter: Wie, du hast deine eigene Geschichte vergessen? Vater: Wenn du so mit mir redest, können wir es gleich lassen. Da hab ich nicht mal Lust, mit dir zu reden. Tochter: Dann reden wir eben nicht. Vater: Okay. Tochter: Dann schweigen wir eben. Vater: Okay. (Sie schweigen. Sie fahren.) Vater: Also. Wir hatten diese riesigen Stofftaschen. Tochter: Ja. Das weiß ich noch. Vater: Wenn du mich schon so selten siehst, könntest du mich vielleicht ausreden lassen. Tochter: Hättest du halt im gleichen Land wie ich gewohnt. Vater: Also. Wir hatten unser ganzes Leben reingepackt: unsere Bücher, unser Geschirr, dein Spielzeug, deine Bücher … Tochter: Wirfst du mir jetzt vor, dass ihr meine Sachen tragen musstest? Vater: Nein, ich werfe dir überhaupt nichts vor! Tochter: Doch, schon allein auf grammatikalischer Ebene. Vater: Wie, schon allein auf grammatikalischer Ebene? Tochter: Ja, wie du schon allein auf grammatikalischer Ebene einen Unterschied zwischen euren

KATA-STROPHEN I & II (Man kann sich vorstellen, dass sie nebeneinander im Auto sitzen, aber ohne einander zu hören. Als befänden sie sich in voneinander getrennten Raumkapseln. Sie können auch gleichzeitig aufeinander einreden. Gerne ein Konzert katastrophaler Echos.) Tochter: ein Blitz ist elektrischer Strom von 50.000 bis 200.000 Ampere in Ampere misst man die Stärke des Stroms der Strom entsteht aus linearen Spannungsquellen zwei Personen ein Meter leerer Raum dazwischen bei normaler Intensität kann man noch miteinander sprechen wenn der Blitz einschlägt ist alles tausend Mal stärker wenn der Blitz einschlägt verbrennt die Temperatur zwischen 8000 und 30.000 Grad Celsius die Hände die Lippen die Zungen lodern auf und flitzen das liegt an der statischen Elektrizität in den Wolken der Strom rührt sich nicht bevor er uns niederschmettert der Blitz schlägt vor allem zwischen Mai und September ein glühender Körper unter freiem Himmel im notärztlichen Rettungsdienst von Seine-St. Denis zählt man um die hundert Stromschläge größtenteils nicht tödlich zu Herbstbeginn kann man auch daran verenden wenn der Blitz die Sterne trifft einmal ist es geschehen Jupiter brachte das Herz eines ganz kleinen Planeten zum Schlagen er funkelt im Rhythmus seines Klopfens bei uns ist das nicht viel anders


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marina skalova_der sturz der kometen und der kosmonauten

Vater: vsjo padala die Institute stürzten die Fabriken stürzten die Ministerien stürzten die einen sagten die Fabrik in der sie arbeiteten hätte den Betrieb eingestellt andere stempelten weiterhin jeden Morgen solange ihr so tut als würdet ihr uns bezahlen tun wir so als würden wir arbeiten sagte man SOWOK IZTSCHERPAL SEBJA die UdSSR hatte sich bis aufs Mark abgenutzt ihr Fleisch mit einem gigantischen durch das jahrelange Verschlingen von Propaganda angestauten Appetit abgenagt nicht einmal ihre Knochen hielten stand man konnte sie auf den Boden krachen lassen die Gebeine bekamen Sprünge und zerfielen in winzige Stückchen die Knochenhaut zerbröselte der Rahmen des Apparats zerbröckelte von den Wänden lösten sich Gemälde voller Staub SOWOK IZTSCHERPAL SEBJA und auf einmal ertönten Schüsse w belim dome die Kosmonauten trugen Helme und Schlagstöcke die Panzer rollten nach Moskau und in die Köpfe hinein die Dächer fuhren ab das Licht ging in den obersten Stockwerken aus das sagt man wenn man nicht mehr alle Tassen im Schrank hat

Eisriese schlimmer als Sibirien Neptun ist der letzte Planet des Sonnensystems vor Pluto der nicht mal mehr ein Planet ist er ist sehr weit weg er lebt hinter dem Mond auch wir haben hinter dem Mond gelebt weit entfernt von allen erstklassigen und zweitklassigen Anziehungspunkten des Planeten wir zogen keine Investoren an nur Probleme fanden uns anziehend unser Look war super sexy für Nuklearkatastrophen und Krisen jeglicher Art jeglicher sexueller geographischer welträumlicher Orientierung atomare Desorientierung bevor alles verpuffte natürlich gab es in der UdSSR keine Puffs in der UdSSR gab es keinen Sex und dann ganz plötzlich gingen die Grenzen einen Spalt breit auf tschutschut’ ein ganz kleines Bisschen tschutschut’ die Grenzen wurden schartig schürften sich die Ränder auf plötzlich stürmte sie der Markt entblößte seine Spitzenhöschen auf Landstraßen voller Schrammen die Autos sammelten sich scharenweise auf dem Weg zum Flughafen Scheremetjewo schlan­ gen­artige Abflüge ohne Rückflug ins Eldorado

Tochter: denn das ist ist nicht sind Stöße sind Spasmen ist seismisch auf der Haut im Bauch weiter unten die Knie alles ist geschmolzen wir werden eingesogen das da ist das da ist nicht das da heißt leben das da ist zu viel für mich mein Körper kann nicht kann es nicht ertragen meine Haut ist eine zerfließende Metallplatte ihre Ränder zerlaufen verbrennen mich die Hitze kommt von der Fusion der Reaktoren wir sind bloß Kraftwerke produzieren Energie teilen sie verzehren uns wer kann die Vibrationen löschen die Strahlung stoppen die Liquidatoren seit langem ausgebrannt zersplittern im Kosmos in tausend Stücke er ist in einer Rakete verschwunden ich habe die Raumstation angerufen ich habe sie um eine Haut für meinen Körper gebeten ich habe sie gebeten die Herzen kalt zu stellen die Häute abzukühlen es gibt kein weißes Fleisch es gibt bloß rotes Fleisch es gibt keine natürlichen Kernspaltungen es gibt bloß katastrophale Verschmelzungen

ARCHÄOLOGIE II Warschau, Ulica Jana Paula. Immobilienwerbung, Stomatologiepraxen, riesige zahnförmige Leuchtreklamen 18:00 DDT: Schto takoje ossjen’?1

Vater: polnaja neponjatka Erzittern der Pole neptunisches tektonisches Durcheinander der Erdplatten sie bebten vibrierten bibberten kollabierten die Baracken brachen zusammen sie barachlo barachlierten ein neptunisches Durcheinander Neptun ist der achte Planet des Sonnensystems drittmächtigster des Universums ein

Tochter: Habt ihr in Moskau auch in solchen Wohnblocks gewohnt? Vater: Nein, hier in Warschau haben sie die nachgemacht. In Moskau waren sie größer. Tochter: Erzählst du mir die Geschichte weiter? Vater: Wir sind also ins Flugzeug gestiegen. Sprachen kein Wort. Brachen auf in die andere Welt. Tochter: Reisen, Exotik, Wunder für alle fünf Sinne! Traumhafte Aussicht! Einzigartige Erlebnisse! Künstliche Paradiese! Morphium für alle! Vater: Und dann kamen wir an. Flughafen Charles de Gaulle. Ich weiß noch, wie es roch. Man hatte uns gesagt, ihr werdet Augen machen, wenn ihr erst da seid. All die Geschäfte, das wird ein Schock, ihr werdet in Ohnmacht fallen. Es war kein Schock, wir sind nicht in Ohnmacht gefallen. Aber es roch anders. Die Böden wurden mit einem anderen Putzmittel gewischt.

1 „Was ist Herbst?“

Alice Creischer »Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit«

GW_AZ_Theater der Zeit_AliceCreischer-ohneEröffnung.indd 1

(Schweigen) Tochter: Ist das alles? Vater: Ich weiß noch, dass du pausenlos gebrüllt hast, als wir ankamen. Tochter: Sag ruhig nochmal, dass alles meine Schuld ist. Vater: Wir haben das alles für dich getan. Tochter: Von wegen! Als hätte ich euch um irgendetwas gebeten! Vater: Du hast gebrüllt wie am Spieß! Die Leute haben uns angeschaut wie Wilde! Tochter: Vielleicht wollte ich nicht aus der UdSSR raus! Vater: Unsere Taschen blieben hängen. Haben das Gepäcklaufband blockiert. Und du hast gebrüllt, als würde dich jemand abstechen, kak rezennija! Tochter: Vielleicht war mir diese Familie damals schon peinlich! (Sie kratzt mit ihren Fingernägeln am Handschuhfach und holt eine Streichholzschachtel heraus.) Tochter: Können wir anhalten und was essen? Vater: Nein, nicht hier. Bis wir in dieser Stadt einen Parkplatz finden, fahren wir tausend Jahre lang im Kreis rum. Tochter: Verdammt, ich hab aber Hunger, ich würd gerne anhalten und was essen! (Sie kratzt sorgfältig den Schwefelkopf von jedem einzelnen Streichholz, bevor sie es als Zahnstocher benutzt.) Tochter: Schön, diese Anti-Abtreibungs-Werbungen. Blutige Föten, einfach so am Straßenrand … Vater: Abtreibung ist wie Prostitution. Hat’s immer gegeben, wirds immer geben. Tochter: Was hat das denn bitte miteinander zu tun? Vater: Wenn du mich nach meiner Meinung fragst, dann bin ich für Abtreibung. So sieht nämlich der Karriereplan der meisten Russinnen aus: einem Mann ein Kind anzuhängen, um ihn zu zwingen, sie nachher zu heiraten. Tochter: War das bei dir auch so? Vater: Bei uns war das noch schlimmer. Wir mussten ein Kind bekommen, damit wir eine eigene Wohnung beantragen konnten. Sonst konnten wir nicht weg von unseren Eltern. Tochter: Habt ihr mich deswegen bekommen? Vater: Nein. Das war ein Unfall. Tochter: Ah ja. Dann geht’s ja.

22.02. bis 06.04.2019 kuratiert von Nataša Ilić im Rahmen von SoS (Soft Solidarity)

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(Sie zerrt an dem Holzstück, das zwischen ihren Zähnen steckengeblieben ist.) Tochter: Können wir anhalten? Vater: Ich habe gesagt, wir halten an, aber weiter weg. Tochter: Ich würd aber gerne ein bisschen was von der Stadt sehen! Vater: Du warst schon mal hier. Ich war vor fünf Jahren mit dir hier. Tochter: Stimmt, wir haben uns die ganze Zeit gestritten. Du hast mich auf die Straße gesetzt und gesagt, ich soll in die Jugendherberge. Ich habe in einem Schlafsaal mit zwölf Fußballspielern übernachtet und wäre beinahe vergewaltigt worden. Wollen wir das jetzt nochmal so machen? Vater: Du bist von selbst ausgestiegen! Weil du mir deine UNABHÄNGIGKEIT beweisen wolltest! Tochter: Hör auf, mich anzuschreien, verdammt! Vater: Ich schreie nicht, ICH REDE. Ich kann nicht immer nur flüstern wie ihr Franzosen. Tochter: Wir Franzosen. Aber natürlich. Vater: Bevor wir ankamen, da dachten wir – OH FRANKREICH! – dieses großartige Land, FRANKREICH! Aber das stimmte überhaupt nicht, FRANKREICH war ein Land wie jedes andere auch, ein kleines Land, so klein wie jedes andere, auch mit kleinen Häusern, kleinen Autos, kleinen Ampeln und kleinlichen Leuten. Am Anfang, als wir ankamen, umarmten uns die Franzosen noch, sie gaben uns Küsschen, Küsschen, Guten Tag, Küsschen, Danke, Küsschen, auf Wiedersehen, Küsschen und dann bei der erstbesten Gelegenheit, sobald sie ein Problem kommen sahen, legten sie sich auf den Boden und krabbelten weg wie Kakerlaken, verpissten sich mit breitem Lächeln und sagten, tut uns leid, vraiment désolés, monsieur. Hinter der Höflichkeit der Franzosen, da war nichts, gar nichts, nur KLEINLICHKEIT. Tochter: Und was kann ich jetzt dafür? Ich sage es nochmal: Ich bin nicht Frankreich. Vater: Du sagst, ich schreie und DU LÄSST MICH NICHT AUSREDEN! DAS IST ZENSUR! ICH WILL NICHT SO LEBEN WIE IHR IN FRANKREICH! MICH MEIN LEBEN LANG VERBIEGEN UM EIN PAAR PEANUTS ZU KRIEGEN! Tochter: Ok, ich sehe schon, ich lande auch diesmal wieder in einem Schlafsaal voller Fußballspieler … Vater: NOCH EINEN SPRUCH UND DU KANNST NACH MOSKAU LAUFEN! Tochter: Das erinnert mich an früher, da hast du immer zu mir gesagt: Wenn dich jemand umbringt, brauchst du gar nicht mehr nach Hause zu kommen. Vater: Na siehst du, hat doch funktioniert, bist ja immer noch am Leben. (Er zündet sich eine Kippe an.)

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ARCHÄOLOGIE III Warschau. Doppelbett, Tisch, offene Minibar, Bierflaschen, Whisky 00:36 Vater: Warschawa … Keine Ahnung, warum sie jedes Mal in dieser Stadt durchdreht. Beim ersten Mal habe ich sie mit auf den Markt genommen. Stadion-Markt. Da gab es alles zu kaufen. Nägel, Gaskartuschen, Hubschrauber. Ein Typ ist gekommen, um uns zu erklären, wie man die Geldscheine zählt. Er hat nur die Tausender gezählt. Der Rest war fignja. Das war noch Sowjetunion. Auch wenn sie schon zusammengebrochen war. Die äußere Fassade hatte sich verändert. Aber innendrin war‘s immer noch genau dasselbe. (Er schenkt sich ein Glas Whisky ein.) Slawa bogu, sawok konchilsja … Gott sei Dank hat die UdSSR ein Ende gefunden. Wir waren es müde, da drin zu leben. Erschöpft. Alles musste in Scherben fallen. Aber wir sind immer noch nicht damit fertig, die Scherben einzusammeln. So wie wenn man Tassen mit Haushaltskleber repariert. Kaum ist man fertig. Fällt wieder alles auseinander. (Er leert sein Glas auf Ex.) Als wir gegangen sind, hatte ich gerade meine Doktorarbeit abgeschlossen. Ich hatte die Doktorarbeit an der Uni eingereicht. Sie war fertig. Ich musste sie bloß noch verteidigen. Es war kein Geld mehr für die Forschung da. Wir machten Tierversuche mit Kaninchen. Wir hatten nicht mal mehr Futter für die Kaninchen. (Er schenkt sich noch ein Glas ein.) Der Antisemitismus kam wieder. Es hieß, die Juden mutjat wodu. Vergiften das Wasser. Wir dachten, es würde wieder losgehen. Sejchas nas budut gromit’. Die Pogrome würden wieder losgehen. Alle sagten, man müsste fliehen. Wohin fliehen. Wie fliehen. Das wusste niemand. (Er leert sein Glas auf Ex.) Dann ist dieser Mr. Himmel mit dem Flugzeug aufgekreuzt. Er hat uns angeboten, nach Paris zu kommen. Das war ein Geschäft. Die kauften die besten Studenten aus den barbarischen Ländern ein.

Russen, Chinesen, Inder, die bekamen Kredite, Stipendien. Er sagte, uns würden alle Türen offenstehen. Wir könnten forschen. Oder auf dem freien Markt arbeiten. Wir haben fast alles verkauft, was wir hatten. Poleteli. Wir sind gelandet. Presemliliss’. Nach zwei Monaten sagten sie, tut uns leid. Keine Finanzierung mehr. Kein Anrecht auf gar nichts. Der Westen hatte bereits seine Bedingungen geändert. Seit dem Sturz der UdSSR galten wir nicht mal mehr als politische Flüchtlinge. (Er schenkt sich ein letztes Glas ein.) Ich lese immer noch die Stellenangebote. Kurierfahrer Zerspanungsmechaniker Servicetechniker Nachtwächter Verkaufstechniker im Innendienst Controller. Seit 20 Jahren verkaufe ich Autos. (Er trinkt sein Glas leer. Nimmt eine Tablette zum Einschlafen.)

DAS INTERNET IST KEIN FREUND VON DIR Warschau. Ein-Personen-Bett, Computer, schmutzige Wäsche, Tasse, Aschenbecher 04:17 Indochine: J’ai demandé à la lune Tochter: und ich mache nichts mehr aus meinem Leben als seinen Namen in Google einzutippen und meinen Namen in Google einzutippen und ich verstehe nicht warum die bloße Folge unserer beiden Namen dank der Magie der Algorithmen rausgeschleudert in den unendlichen Raum der Suchmaschine für eine perfekte Gleichung nicht ausreicht ich verstehe nicht warum die endlose Addition unserer beiden Namen und ein Klick auf Enter die Möglichkeiten nicht vervielfachen dass unsere Körper sich mit derselben Leichtigkeit finden wie die versprochenen 528.000 Treffer bei der Nennung seines Namens ich verstehe nicht warum die Links weiterhin zu anderen Links führen obwohl alle Verbindungen in Wirklichkeit vor Monaten gekappt wurden ich verstehe nicht warum man das eine Suchmaschine nennt die Maschine hat sich selbst verzehrt sie hat unsere Energien nicht vermehrt vielleicht haben sich unsere Körper nicht genug berührt Mangel an Friktion die Maschine nährt sich von Fiktion vielleicht wurde nicht genug Benzin eingerührt vielleicht sind wieder Putin und die steigenden Ölpreise schuld vielleicht liegt es am Krieg in der Ukraine und den EU-Sanktionen die Wärme die wir erzeugten wir waren unfähig sie zu teilen bis zum kompletten Verbrauch ließ sie jeder für sich verweilen so geht auch Russland mit seinen natürlichen Ressourcen um ich habe nicht die mentalen Ressourcen um ihm den Hahn zuzudrehen vielleicht kündigt sich ein neuer Kalter Krieg


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marina skalova_der sturz der kometen und der kosmonauten

an Funkstille keine Interaktion mehr zwischen unseren Sendesälen jeder betreibt Propaganda auf den eigenen Kanälen das vermindert die Gefahr schädlicher Propagierung und Kontaminierung vielleicht sollte man diese Logik bis ans Ende denken vielleicht müsste man radikale Entscheidungen treffen das Tauwetter ist gescheitert es gibt keine friedliche Koexistenz vielleicht sollte ich die Suchmaschine wechseln auf Yandex dem russischen Google existiert er nicht auf Kyrillisch ich kann noch so oft auf ENTER klicken ich finde ihn nicht hinter diesen Seiten und diesen Bildern die seinen Namen tragen ich kann ihn nicht anfassen ich weiß nicht welche Kombination von Vokalen und Konsonanten mir seine körperliche Präsenz zurückbringen könnte vielleicht existiert sie gar nicht mehr ich weiß nicht ob er auf der anderen Seite des Bildschirms gelandet ist in die Leere des Spacebalkens gefallen er könnte tot sein in Trümmer zerborsten in der Stratosphäre außer einem Datum würde sich nichts an den angezeigten Treffern ändern ich klicke wieder und wieder auf ENTER ENTER ENDSTATION hier ist es also Spiegellabyrinth wohin ich auch versuche zu fliehen der Suchbalken verfolgt mich liebe weiterhin einen Schatten aus Pixeln eine Schattierung aus Pünktchen eine chromatische Illusion ein Versprechen genauso virtuos und virtuell wie Facebook Kapitale der strahlenden Nation selbst verstorben lebt man hier weiter ohne Sorgen die Bilder vervielfachen sich in Tausend und eine Variationen hier blinken Fotos Nachrichten die blaue Außenlinie des Bildschirms sonst NICHTS allein im Weltraum mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung alle Gleichungen sind zum Scheitern verurteilt vielleicht liegt das am Exil der Mathematiker und der Flucht der Gehirne nach dem Sturz der UdSSR vielleicht funktionieren die Google-Algorithmen nicht vielleicht sind sie von den Yandex-Russen gehackt worden vielleicht auf Befehl von Putin der ist sowieso an allem schuld

Vater: Wir fahren echt spät los. Tochter: Tut mir leid. Ich konnte gestern nicht einschlafen. Vater: Du kannst das hier zum Schlafen nehmen. Das ist harmlos. Tochter: Ich muss zuerst meinen Arzt fragen. Vater: Ich kann seit 20 Jahren nicht schlafen. Ich kenne das Problem besser als jeder Arzt. Tochter: Ich muss zuerst meinen Arzt fragen. Vater: Du solltest auf meine Ratschläge hören. Ich kenne deinen Körper besser als jeder Arzt. Tochter: Hast du dich nie gefragt, warum du nicht schlafen kannst? Vater: Ich war sogar einmal beim Psychiater. Tochter: Willst du einen Orden? Vater: Das Gehirn ist eine komplizierte Maschine. Keiner weiß, wie das funktioniert. Tochter: Im Leben gibt es nicht nur Maschinen. Vater: Sagen wir, das menschliche Gehirn ist wie ein Motor. Da gibt es Verbindungen, Anschlüsse. Sobald du an einem Hebel ziehst, löst du etwas aus. Es ist besser, die Finger davon zu lassen, um Katastrophen zu vermeiden. Tochter: Sind zwanzig Jahre ohne Schlaf nicht schon eine Katastrophe? Vater: Psychiater sind wie Automechaniker, die keine Ahnung haben, wie der Motor funktioniert. Sie basteln. Sie fummeln an Kabeln rum. Keiner weiß, was sie machen. Oft ist das, was rauskommt, noch schlimmer. Tochter: Meinst du damit, du hast etwas Unheilbares? Vater: Ich meine damit, die Menschheit ist etwas Furchtbares. Tochter: Rohypnol? Vater: Lexomil. Tochter: Zopiclon? Vater: Alprazolam.

2. TAG

Tochter: diese ganze Geschichte hat sich schon als teuer genug erwiesen die Kosten auflisten die Schulden aufzählen vorgestreckte Zärtlichkeit unerwiderte Innigkeit der Ertrag ist unzureichend die Auslagen sprengen die Einnahmen die Produktion muss beziffert werden wieviel Zeichen auf Word pro Anschlag gegen die Selbstachtung wieviel Schläge auf die Tastatur pro Angriff gegen die Eigenliebe die Disproportion zur gemeinsam verbrachten Zeit ist kolossal NOTIZ FÜR DAS

GEISTIGE GESUNDHEIT Warschau, Nowy Swiat. Charles de Gaulle-Denkmal, Immobilienwerbung, raumschiffartige Büros 10:24 Wladimir Wissotski: Ballada o detstwe2 2 „Ballade über die Kindheit“.

DIE TONIGHT, LIVE FOREVER ODER DAS PRINZIP NOSFERATU VON SIVAN BEN YISHAI

KONTAKTLOS ZAHLEN Eine Tankstelle Lucrate Milk: I LOVE YOU FUCK OFF

NÄCHSTE MAL übermäßige Investitionen vermeiden Vermögenswerte einfrieren Eigen­ kapital abschirmen Schluss mit Krediten nichts mehr geben sich beschränken aufs Nehmen keine Sentimentalität jeden Cent zehn Mal umdrehen WIRTSCHAFTSLEKTION NR.1 Gesetz von Angebot und Nachfrage je unerreichbarer eine Ware ist desto mehr nimmt ihr Wert zu WIRTSCHAFTSLEKTION NR.2 eine Ware muss sich unerreichbar machen damit ihr Wert zunimmt WIRTSCHAFTSLEKTION NR.3 Risiken und Profit einschätzen WIRTSCHAFTSLEKTION NR.4 sich an den Meistbietenden verkaufen die Währung leidet unter Inflation der Wert meines Körpers sinkt Tag für Tag Regression ist angesagt Reagan hat’s geträumt der Rigorismus ist zurück Gürtel enger schnallen Engagements meiden sich rückversichern in nichts reinstürzen Tests machen sich schützen Gefühle eingittern in Safes sperren die Codes mit Codes verriegeln sie per SMS auf dem Smartphone versiegeln Geheimfragen beantworten was war dein erstes Konzert die Backstreet Boys I’ll never break your heart I’ll never make you cry hier endet das alles also zusammengekrümmt auf einem Tankstellenklo Innereien verkohlt Säure in der Kehle ich kotze Benzin I LOVE YOU FUCK OFF I LOVE YOU FUCK OFF I LOVE YOU FUCK OFF

AUF DIESER LANDSTRASSE Polnische Autobahn. Grün-braune Brücke, petrolfarbene Absperrungen, Farbe aus dem Sonderangebot 14:00 DDT: Roshdennyj v SSSR3 Vater: und dann war ich da hier ich fuhr hier auf dieser Landstraße siehst du da genau auf dieser Landstraße hier diese Landstraße war dieselbe doch nicht dieselbe nicht wie heute inzwischen haben sie Autobahnen gebaut zu dieser Zeit mit Kohle beheizte Häuschen am Straßenrand in Russland takih nebilo solche Uraltdinger solche Schrotthaufen hatten wir nicht mal dort takih pamojek nebilo und DA plötzlich DA entlang dieser Landstraße Elektrogeräte Tomaten aus dem Garten Gurken Unterwäsche Wodka Kinderspielzeug und ein solches Gefühl von Freiheit entlang dieser Straße ein freier Markt entlang dieser 3 „Geboren in der UdSSR“

THTR RMPE

REGIE, CHOREOGRAFIE: MARIE BUES UND NICKI LISZTA

Die Koproduktion von backstein­ haus produktion, Theater Lübeck und Theater Rampe ist gefördert im Fonds Doppelpass der Kultur­ stiftung des Bundes.

STUTTGART-PREMIERE: 26.03.19

THEATERRAMPE.DE

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Straße ein Markt befreit von den Enklaven des Regimes den Fesseln des Systems den Spänen des Apparats entlang dieser Straße der Atem dieser Jahre er hauchte durch die Frontscheiben pochte unter den Motorhauben der Ladas und Shigulis die rasten und brausten auf dem Weg aus Russland der Ukraine aus Weißrussland und dann und jetzt die glänzenden Motorhauben der Fords der pulsierenden Mercedesse der stolz flitzenden BMWs und ich sa rulom in voller Fahrt am Steuer nach all diesen Monaten in Frankreich ohne Auto in Frankreich in Schlangen vor Ausländerämtern in Gängen und Korridoren amtliche Formulare beglaubigte Übersetzungen handgeschriebene Bewerbungen sie hätten einen Schimpansen bitten können sie zu schreiben das Ergebnis wäre dasselbe gewesen Aufenthalts­ genehmigung für drei Monate verlängerbar um drei Monate und danach schauen wir mal und schließlich dieser Ford ich habe diesen Ford gekauft pamojka nicht in besonders gutem Zustand ich habe den Motor ausgewechselt den gluschitel’ neu festgeschraubt meine ganze Kindheit lang hatte ich von einem amerikanischen Auto geträumt von einem Ford geträumt und jetzt war ich da DA siehst du DA sa rulom in voller Fahrt am Steuer im Höhenflug am Steuer ich raste nach Moskau dachte an meine Freunde in Moskau sie würden mich am Steuer dieses Fords sehen am Steuer dieses Fords ankommen sehen und schließlich und schließlich bin ich aufgetaucht sie haben sich etwas gewundert sie hatten sich schon von mir verabschiedet mich beerdigt in einer Schublade in ihrem Gedächtnis einem Sarg in ihrem Gehirn und auf einmal war ich DA ich hatte mich selber ausgegraben und sie sagten ich sei elegant wie ein Franzose arrogant wie ein Franzose geworden

Tochter: Liebe kann man nicht bestellen. Vater: Vielleicht empfindet der alte, einsame Witwer, der eine Frau aus Sibirien bestellt, eine aufrichtige Liebe für sie. Tochter: Liebe ist keine Pizza! Vater: Vielleicht ist seine Liebe viel aufrichtiger als bei diesen Pärchen, die sich unterm Eiffelturm „ich liebe dich“ zuflüstern. Tochter: Man muss auch ziemlich blöd sein, wenn man sich unter den Eiffelturm stellt, um sich „ich liebe dich“ zuzuflüstern. (Sie tippt auf ihrem Smartphone herum. Er wischt die Flamme mit einer Handbewegung aus.) Vater: Willst du nicht vielleicht mal mit deinem Telefon aufhören? Tochter: Red ruhig weiter, ich hör schon zu. Vater: Wem schreibst du da überhaupt? Tochter: Niemand. Vater: Das heißt? Tochter: Einem Gespenst. Vater: Wieviele Nachrichten hast du ihm denn geschickt? Tochter: Geht dich nichts an. Vater: Was hast du gemacht, damit er zu einem Gespenst wurde? Tochter: Keine Ahnung. Stromüberschuss. Dann gab es einen Kurzschluss.

GEISTIGE GESUNDHEIT II Mittelgroße polnische Landstraße. Leichtbekleidete Frauen, Werbetafeln für Elektrogeräte, austauschbare Folklore 17:00 Christian Scott: Litany against fear

BORDERLINES Grenzübergang Brest-Litovsk. Rote Ampeln, Sicherheitsabsperrungen, Neonlichter, Kameras 19:30 Wladimir Wissotski: Ohota na wolkow4

Tochter: Und danach? Wie ging es weiter? Vater: Danach habe ich den Ford in Moskau verkauft. Tochter: Teuer? Vater: Sehr teuer. Ich bekam eine Tüte voller Geldscheine. Bloß waren die am nächsten Tag nichts mehr wert. Man konnte damit Monopoly spielen. Tochter: Was hast du dann gemacht? Vater: Gewartet. Tochter: Und dann? Vater: Eine Woche später hatten sie ihren Wert wieder. Tochter: Wie, sie hatten ihren Wert wieder? Vater: An einem Tag war da eine Null mehr, am nächsten Tag eine Null weniger. Das schwankte.

Tochter: Verdammte Scheiße, wir stehen schon seit zwei Stunden in dieser Schlange. Vater: Das ist gar nichts. Früher waren die Schlangen hier schrecklich! Ich musste hier schon mal 48 Stunden lang tolpatsja. Tochter: Egal was ich sage, meine Erfahrung ist nie etwas wert. Vater: Klar, du hast ja auch nicht so viel erlebt.

(Er reibt ein Streichholz an der Reibefläche.) Tochter: Hast du diese ganzen Frauen am Straßenrand gesehen? Vater: Ja. Habe ich. Mit der Zeit stehen immer mehr da. In Europa kannst du die Liebe einer Russin oder Polin für einen Appel und ein Ei kaufen. Tochter: Das ist keine Liebe. Vater: Woher weißt du, was Liebe ist?

(Pause) Vater: Hier. Nimm das. Das wird dir guttun. Tochter: Was ist das? Wie nimmt man das? Vater: In den Mund legen. Mit Wasser runterschlucken. Tochter: Rohypnol? Vater: Lexomil. Tochter: Zopyclon? Vater: Alprazolam.

(Er nimmt einen Kaugummi.) Vater: Siehst du, jetzt stehen hier Schlagbäume. Früher waren da Nagelteppiche aus Eisen. Wenn ich hier ankam wusste ich, dass ab jetzt alles möglich war. Russland fing an. Tochter: Jetzt komm, der Wilde Westen war das auch nicht! Vater: Das hier war schlimmer als euer Wilder Westen. Hier konnte alles passieren. Wirklich alles. Es gab alle möglichen Banditen. Die quatschten dich in der Schlange an. Im besten Fall hast du bezahlt und sie verschwanden mit deinem Geld. 4 „Jagd auf die Wölfe“

Im schlimmsten Fall haben sie dein Auto leergeräumt und dich dann den Bullen übergeben. Tochter: Aber irgendwann, ich meine, warum hast du dir das angetan? Vater: Wir verstanden überhaupt nichts. Wo wir waren, wie das alles funktionierte … Alles, was wir von Frankreich wussten, waren die Abenteuer des Grafen von Monte-Cristo und Jules Verne, 20.000 Meilen unter dem Meer. Wir dachten, wir müssten es bloß in den Westen rüber schaffen, und wenn wir einmal aus dem Flugzeug steigen würden, würde man uns mit offenen Armen empfangen, uns für unsere Abschlüsse loben, uns sofort eine Stelle anbieten, bezahlt, unbefristet! Tochter: Naja, aber heute hat doch niemand mehr den Job, der auf seinem Diplom steht. Egal ob immigriert oder nicht, ich meine, für meine Generation ist das total normal. Vater: In der Welt, in der ich aufgewachsen bin, gab es Kosmonauten, die im Himmel Rekorde brachen und heldenhafte Hunde, die sich aufmachten, um neue Planeten zu beschnüffeln. Es gab Ballerinas und Eiskunstläufer. Es hieß, wir seien das mächtigste Land der Welt, aber manchmal konnten wir monatelang nicht mal Klopapier auftreiben. Tochter: Was ist da jetzt der Zusammenhang? Vater: Der Zusammenhang ist, dass wir in einem Land ohne Klopapier eingesperrt waren, ohne Verbindung nach draußen und ohne irgendeine Möglichkeit, uns zu informieren, weil es kein Internet gab! Tochter: Weißt du was, das Internet hat auch nicht auf alle Fragen eine Antwort. Vater: Doch, natürlich hat es das. Tochter: Nein, hat es garantiert nicht. Vor drei Jahren habe ich jeden Abend von Mitternacht bis drei Uhr morgens die Master- und Doktorats­ programme auf den Seiten der Unis verglichen. Master in Neurowissenschaft in Paris. Doktor der Astrophysik in Montreal. Festkörper- und Strahlungsphysik in Grenoble. Physik oder Werkstoffwissenschaft in Leipzig. Und so weiter. Ich kannte die Namen der ehemaligen Studenten in- und auswendig. Ich las ihre Blogs, schaute mir ihre LinkedIn-Seiten an, verglich ihre Berufsaussichten, was für Praktika sie absolviert hatten, wie viele Freunde sie hatten, wer Hautkrankheiten hatte, wer so aussah, als würde er Drogen nehmen … Ich machte das jeden Abend, bis ich vor Müdigkeit umkippte. Vater: Ja, so ist das nun mal. Früher bist du in ein Geschäft gegangen, es gab Wurst und sonst gar nix. Heute gibt es zehn verschiedene Sorten Wurst, Geflügel und Rindfleisch im Angebot. Hoteli svabodu, polutschili svabodu. Wir wollten Freiheit, da haben wir Freiheit. Tochter: Das habe ich ein ganzes Jahr lang gemacht. Am Ende habe ich die Zulassungsbedingungen der psychiatrischen Kliniken gegoogelt. Oft gibt es ein Online-Aufnahme-Formular zum Ausfüllen. Die Platzanzahl ist begrenzt. Besser, man hat eine Empfehlung. Auf den Webseiten gibt es Fotos von Wiesen, hübschen Parks, Fotos vom Personal, die Liste ihrer Diplome. Genau wie auf der Homepage der Freien Universität Berlin. Aber es gab weniger Plätze. Ich habe es versucht. Ich habe die Formulare ausgefüllt. Es ist schwieriger, in eine gute Klinik reinzukommen als in ein Masterprogramm an der Uni. Wahrscheinlich gibt es an der Uni deswegen so viele


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nutzlose Studiengänge. Vielleicht entlastet das ein bisschen die psychiatrischen Kliniken. (Schweigen. Ziemlich lange Pause.) Tochter: Ein Soldat nähert sich. Mit einem Schlagstock. Welchen Pass soll ich jetzt zeigen? Vater: Auf der polnischen Seite zeigst du den französischen Pass. Auf der weißrussischen Seite den russischen. Tochter: Schau! Eine schwarze Katze überquert die Grenze. Vater: Die fragt keiner nach ihren Papieren.

KATA-STROPHEN III (Man kann sich vorstellen, dass sie aus dem Auto steigen und durch den weißrussischen Wald irren. Zwischenspiel in einem anderen Raum-Zeit-Gefüge.) Tochter: ja rodilas’ jeschjo v SSSR a potom on raspalsja ich kam zur Welt in der UdSSR vor der großen Zersplitterung raspad raspast’ zu Asche zerborsten zu Staub zerbröselt zur Sandpyramide zu Kuchenstreuseln zu Revolver-Pulver das Land in dem ich zur Welt kam zersprang zu Revolver-Pulver

Kaserne

Vater: meine ganze Jugend lang hatte ich von Jeans geträumt meine Mutter fuhr zum Arbeiten nach Ungarn und ich flehte sie an eine Jeans für mich aufzutreiben sie brachte sie mir heimlich mit nahm Risiken auf sich auf dem Pausenhof prahlte ich das war Anfang der 80er eine Zeit des Verfalls am Rande des Verfalls am Rande und dann ging nach und nach po stepenno postepenko irgendetwas einen Spalt weit auf tschutschut‘ wir zerknüllten die Parteimanifeste lachten über die BreschnewBiografien kauften uns Hollywoodkassetten am helllichten Tag und dann auf einmal die ersten Kundgebungen die ersten Demos die kleinen Deals in allen Ecken und Jelzins Rede von Mund zu Mund/ die Mehrheit der Partei hat eingesehen dass ihre früheren Wertvorstellungen überholt waren die Wertvorstellungen wurden von der Gegenwart überholt / SOWOK IZTSCHERPAL SEBJA und auf einmal wurden wir am Flughafen Charles de Gaulle wie Bomben abgeworfen Sackgasse des Eldorados mit unseren barbarischen Körpern in alten Jeans unsere Körper als Tauschmünze Wertgegenstand und unsere wertlosen Jeans über unseren vertickbaren Körpern

Fr 1.3., Sa 2.3. Alexandra Bachzetsis (CH) Escape Act

Tochter: ja rodilas’ jeschjo v SSSR a potom on raspalsja / my otschen’ ljuubiliss’ a potom my rastaliss’ ich kam zur Welt in der UdSSR und danach zersplitterte sie / zerbersten zerplatzen zermalmen Anleitung um jemanden zu zermantschen Ratschlag Nr.1 Liebe aber nicht zuviel Liebe die sich verflüchtigt sobald man sie einfangen will wie Pollen ausgestreute Liebe ungreifbare Liebe Liebe die dir wie ein Gummiband durch die Finger rutscht und dir Handgelenke voller Abdrücke hinterlässt Anleitung um jemanden zu zertrümmern Ratschlag Nr.2 zu viel Liebe viel zu viel Liebe Liebe bis zum Ersticken Liebe bis zum Verbrühen Liebe wie ein Kriegsveteranenorden Liebe wie eine Leninstatue auf dem Roten Platz Liebe in einem Sarg Liebe in einem Mausoleum Liebe umklammert von Stahl Vorsicht an Stalins Todestag wurden 1500 Menschen von der Menge zertrampelt Vater: die ersten Kundgebungen die ersten Demos auf dem Maneshnaya-Platz wir tranken Wodka aus der Flasche Witja küsste Mascha vor allen Leuten wir tanzten in der Tverskaja und nach der Tverskaja in der Puschkinskaja wir hielten uns untergehakt und sangen PEREMEN5 my shdem peremen – Peremen trebujut naschy serdza – Peremen trebujut naschy glaza – V naschem smehe i v naschix sljesah – I v pulsaziji ven’ – PEREMEN! – VERÄNDERUNG unsere Herzen schreien nach Veränderung unsere Augen schreien nach Veränderung in unserem Gelächter und in unseren Tränen und im Pulsieren unserer Venen – VERÄNDERUNG – wir wollten Veränderung keine Revolution und dann plötzlich die ersten Revolverschüsse / auf dem Maneshnaya-Platz waren wir zum allerersten Mal frei Freiheit ist wenn du machen kannst was du willst und mit wem du willst Freiheit ist wenn du machen kannst was du willst und mit wem du willst / auf dem Maneshnaya-Platz wussten wir im Grunde nicht genau was wir wollten bloß Gerechtigkeit Freiheit Demokratie jeder stellte sich darunter etwas Eigenes vor gut versteckt in seinem Kopf und in seinem intimen Verlangen und natürlich hatte das nichts gar nichts mit dem zu tun was wir bekamen als sie mit Schlagstöcken in der Hand kundgaben HOTELI SVABODU POLUTSCHILI SVABODU ihr wolltet Freiheit da habt ihr eure Freiheit Tochter: Freiheit ist wenn du machen kannst was du willst und mit wem du willst frei gefickt zu 5 Peremen von Viktor Tsoy/Kino – „Veränderung“

So 10.3. Nocturna Visión Morgestraich Party: Dengue Dengue Dengue (PE)

werden frei gekickt zu werden frei dein Leben in 20 Quadratmeter-Studios damit zu verbringen mit den Härchen um deinen Bauchnabel zu ringen das Biep-Biep von Tinder das Kling-Kling von Whatsapp das Klingelingeling von Facebook und du zuckst zusammen Vater: vorsichtig mit der Liebe vorsichtig mit der Vaterlandsliebe vorsichtig ein Land das seine Kinder zu sehr liebt hat Angst sie rauszulassen um die restliche Welt zu fotografieren ein Land das seine Kinder zu sehr liebt umarmt sie viel zu fest ein Land das seine Kinder zu sehr liebt lässt sie nicht aussuchen wie sie sich anziehen ein Land das seine Kinder zu sehr liebt wacht über ihre Physiokultur ein Land das seine Kinder zu sehr liebt besticht durch seine produktive Landwirtschaft ein Land das seine Kinder zu sehr liebt vergisst sie zu ernähren um sie an der Flucht zu hindern die größte Nation der Welt versprach eine strahlende Zukunft Traktoren Raketen und Tarnuniformen um sich in Afghanistan abschlachten zu lassen Rodina Mat’ Stalin Otez’ Babuchka Woina Mütterchen Vaterland Väterchen Stalin Großmütterchen Krieg ein Land das seine Kinder liebt bestreut sie mit Wunderpulver ein Land das seine Kinder liebt kauft ihnen einen Revolver zum Geburtstag Vater / Tochter (zuerst abwechselnd, dann gemeinsam): Hey, Mütterchen Vaterland, was gibst du mir für meine Liebe? Glaubst du, meine Liebe wartet am Straßenrand auf dich? Glaubst du, meine Liebe ist eine Tankstelle? Glaubst du, sie ist ein Ort, wo man sich aufwärmt? Wo man neue Kraft schöpft, um weiterzukämpfen? Glaubst du, meine Liebe ist eine Benzinpumpe? Glaubst du, meine Liebe ist ein Ölverteiler?

DIE LIEBE STIRBT HEUT NACHT Kleine weißrussische Landstraße. Kiefern, Birken, Kiefern, Birken 22:00 Max Richter: Autumn 3 Tochter: Und wie war das bei euch mit der Liebe? War das anders? Vater: Was soll das heißen, bei uns?

Do 21.3., Fr 22.3., Sa 23.3., So 24.3. Tabea Martin (CH) Forever

Sa 16.3., So 17.3., Mo 18.3., Di 19.3., Mi 20.3. Fr 29.3., Sa 30.3. Miriam Coretta Schulte (DE/CH) CapriConnection (CH) Mimesia Hotel der Immigranten

www.kaserne-basel.ch

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stück

Tochter: Ich meine bei euch, damals halt. Vater: Wir konnten nirgendwo hin. Ihr habt wenigstens eure eigenen Buden. Wir hatten nicht mal ein eigenes Zimmer. Vse v odnoj kutsche mit Opas Socken und Omas Schlüpfern … Tochter: Ja, ist gut, habe ich schon tausend Mal gehört. Vater: Wir haben uns auf Parkbänken verabredet. In den Eingangshallen der Wohnblocks. Wir haben uns in den Eingangshallen der Wohnblocks geküsst. Tochter: Habt ihr sonst noch was gemacht, außer küssen? Vater: Nicht vor der Hochzeit. Tochter: Aber sicher. Vater: Das gehörte sich nicht. Wenn ein Kind vor der Hochzeit auf die Welt kam, war das eine Katastrophe. In der Uni, auf Arbeit – man wurde von der Partei vorgeladen … Man musste erklären, warum und mit wem und unter welchen Umständen … Das war ein Grund, von der Partei ausgeschlossen zu werden. Tochter: Was sagten sie zu euch? Vater: Dass wir das Vertrauen der Genossen Arbeiter missbraucht hätten. Die Arbeiterehre, die Arbeiterpflicht, die Familienzelle, die Gesellschaftszelle, die Moralzelle. Die gesamte Gesellschaft, ein Bienenstock aus Zellen voller summender, Moral predigender Bienen. Tochter: Weswegen wurdest du denn vorgeladen? Vater: Nein, nein, ich nicht, nie. Mir wurde das erzählt. Tochter: Wer hat dir das erzählt? Vater: Ein Freund. Tochter: Ach ja, ein Freund. Und du, nie? Vater: Nein, nein, ich nicht, nie. (Er fährt. Sie sieht der Landschaft beim Vorüberziehen zu.) Tochter: Wenigstens gab es zwischen euch echte Bindungen. Vater: Von diesen Bindungen hab ich noch einen Haufen Abdrücke an den Handgelenken. Tochter: Ihr musstet füreinander da sein. Ob ihr wolltet oder nicht. Vater: Wir wollten Freiheit … Tochter: Vielleicht ist das, was man Freiheit nennt, bloß eine Art Einzelhaft. Eine Foltermethode für Ratten. Das Zerstreuen von Atomen, die eigentlich zusammengehören. (Stille) Tochter: Also, weswegen wurdest du damals vorgeladen? Vater: Sag ich dir nicht. Tochter: Aha! Sie haben dich also vorgeladen! Vater: Ich hatte deine Mutter betrogen. Die Frau hat abgetrieben. Der Arzt hat sie denunziert. Tochter: Aha. Und danach? Was ist dann passiert? Vater: Ich wäre beinahe von der Universität geflogen. Sie haben einen Aufstand gemacht, gestikuliert wie Schimpansen. Schlussendlich geschah gar nichts. (Sie zündet sich eine Kippe an.) Tochter: Ich musste auch abtreiben. Zwei Wochen lang habe ich weitergeblutet. Vater: Warum hast du das gemacht? Tochter: Hast du mal die Welt gesehen, in der wir leben?

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Vater: Ja. Und? Tochter: Ja, und, ich war noch nicht bereit, eure Fehler zu wiederholen. Vater: Mit Leuten wie dir rennt die Menschheit ihrem Ende entgegen. Tochter: Weiß nicht, vielleicht bekommt ihr das besser, als dem Fortschritt entgegenzurennen. Vater: Wer war denn der Vater? Tochter: Niemand.

DER STURZ DER KOMETEN UND DER KOSMONAUTEN Minsk, weißrussische Herberge. Bett, Computer, schmutzige Wäsche, Tasse, Aschenbecher 04:18 Alain Bashung: La nuit, je mens (Auf dem Computerbildschirm laufen seit Stunden mehrere Videos in Endlosschleife, die das Sonnensystem darstellen.) Tochter: ein Asteroid ist ein kleiner fester Körper ein Planet zweiter Klasse zusammengesetzt aus Fels Eis und Metall ein Körper zu klein um ein Planet zu sein Asteroiden gehören zur Klasse der kleinen Körper sie müssen sich für das Klassenfoto in die erste Reihe setzen Asteroiden fliegen durch den Kosmos beseelt von Utopie eine Ansammlung von Fels Eis und Metall schlendert wie selbstverständlich durch den Kosmos stets voneinander angezogen nähern sie sich Planeten manche Asteroiden sind Kometen Kometen sind Sterne Sterne sind Magnete der ganze Kosmos ist lediglich eine große magnetische Angelegenheit wenn Asteroiden in die Atmosphäre eines anderen Körpers eindringen erzeugen sie Meteore wenn ein Asteroid die Oberfläche eines anderen Körpers berührt kann dabei ein Krater entstehen er kann sich ablösen zu einem Meteoriten werden kurz gesagt das Eindringen in einen Körper kann Auswirkungen haben das Eindringen in einen Körper kann Krater auf seine Oberfläche drücken eine Haut aus Fels Eis und Metall voller Löcher und Risse aufgrund ständiger Anziehung dies betrifft nur den sichtbaren Teil keiner weiß was ein Asteroid in seinem tiefsten Inneren fühlt keiner weiß wie Fels Eis und Metall reagieren wenn man gegen sie prallt wie andere Körper auf sie wirken wenn Asteroiden auf den Erdorbit treffen besteht Kollisionsgefahr Asteroiden können einen Planeten aus der Bahn werfen seinen Kurs umwerfen die Erde ist gerade groß genug um ihrem eigenen Kurs zu folgen in der Klasse hört sie nur auf sich selbst sie hört auf niemanden anderen ein eigenständiger unabhängiger autonomer Planet zu sein ist kompliziert die Kollision mit einem einzigen Asteroiden genügt um alles durcheinanderzubringen Autonomie ist eine unsichere Sache eine Angelegenheit aus Fels Eis und Metall ein eigenständiger Planet zu sein erfordert viel Konzentration man muss mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben auf seinen Orbit und seine Gravitation achten sich nicht ziellos im Universum zerstreuen währenddessen stürzen die Asteroiden mühelos fliegen sie durch den Kosmos beseelt von Utopie eine Ansammlung von Fels Eis und Metall spaziert durch den Kosmos stets voneinander angezogen prallen sie gegen andere Körper und fallen in meinem Gehirn fällt der Serotoninspiegel

nach der Kollision mit dem Blitz hat er astronomische Höhen erreicht jetzt schaukelt er sich hoch und stürzt er löst Kurzschlüsse zwischen den Gehirnzellen aus reißt auf seiner Fahrt Dopamin Endorphine Melatonin mit die elektrischen Signale spinnen ihre Blinker spielen verrückt der Serotoninspiegel fällt und mit ihm fallen die Asteroiden fallen die Kometen fallen die Sterne wenn man geliebt hat hat man geliebt wenn man geliebt hat verfolgt uns das verflucht uns das verbleibt uns das ein Asteroid ist ein kleiner fester Körper ein Planet zweiter Klasse eine Ansammlung aus Fels Eis und Metall ein Körper zu klein um ein eigenständiger Planet zu sein wenn man liebt ist man dann ein Planet in den Augen des anderen was passiert wenn man aufhört sich zu drehen existiert ein Planet immer noch wenn niemand mehr ihm zusieht zieht er sich zusammen wird er zum Asteroid zum Meteorit zum Komet zerfällt der Planet in seine Bestandteile zerteilt er sich spaltet sich der Fels vom Metall und vom Eis ab wenn da kein Blick mehr ist der sie verschmilzt welche magnetische Kraft hält die Elemente zusammen existiere ich wenn niemand mich ansieht wenn Felsen Metalle und Eis ihre Anziehungskraft verlieren lösen sie sich voneinander einsam im Kosmos überleben sie nicht lange Vater (steigt über die Trennwand zwischen ihren beiden Zimmern oder spricht weiter, das Ohr gegen die Wand gepresst): ein Monolith fällt in Trümmer wenn einer seiner Bestandteile seine Ablösung einfordert der Granit zerstückelt der Fels zerbröselt wird zu Kieselstaub genauso war es auch mit der Sowjetunion als Litauen Estland Lettland die Abspaltung forderten begann die Zergliederung Tochter: sowas nennt man Unabhängigkeit Autonomie ich weiß nicht genau was das ist ich weiß bloß dass es fetzt und reisst in diesem in Glieder und Teile zersetzten Körper ein Mitglied kann nicht gleichzeitig Richter und Teil sein ein Mitglied stellt keine eigenständige Republik dar jeder Teil übt seinen eigenen Druck aus um den Puls eines Organismus zu spüren drückt man ihn zunächst an sich umarmt ihn erst verschrammt ihn dann Vater: so verfügen in Russland die Mächtigen über ihre Untertanen zunächst stapelt man die Körper aufeinander in immer engeren immer stärker geheizten Räumen erstickt sie in banias verbrüht sie in Saunas anschließend friert man sie ein lässt die Atome verdampfen versprüht sie verteilt sie über das gesamte Territorium verurteilt sie zur Arbeit in der Kälte so erhält man gefügige Körper gehorsame Körper das sind die Auswirkungen der Temperatur auf die Temperamente Im Chor (durcheinander, zunehmend asynchron) in unseren Beziehungen verhält es sich ähnlich ständiges Hin und Her vom Tauwetter zur Atomwaffe hyperthermische Anfälle fieberartige Zustände schuld daran ist die Klimaerwärmung die Gefühlsthermometer sind zerrüttet auf allen Müllkippen in allen Kleinstädten und Großstädten des Kontinents häufen sich Chemieabfälle das Kontinentalklima geht in Rauch auf in allen Lungen wird gehustet alles ist verkohlt die Dörfer sind verwaist die Rohre platzen die Dächer brechen die Häuser krachen entlang der Fahrbahn zusammen das Land kotzt seine Bewohner aus sobald sich die Maschen lockerten sind alle abgehauen sobald ein bisschen Luft reinkam warfen sich alle auf den Boden und krabbelten durch all die feinen Risse durch all die Löcher hindurch das größte Land der Welt hat sich


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marina skalova_der sturz der kometen und der kosmonauten

in ein stalagtitengroßes NEIN stalagmitengroßes NEIN in ein interstellares NEIN in ein intergalaktisches SPAGHETTISIEB verwandelt 3. TAG EIN ANDERER PLANET Minsk, weißrussische Herberge. Beige Wände, blumenbestickte Vorhänge, Anti-AIDS-Werbeplakate an den Wänden 05:00 (Sie spielen Karten.) Tochter: 6-0. Ich habe gewonnen. Vater: Wollen wir Schach spielen? Tochter: Bringt nichts, ich setze dich sowieso matt. Vater: Ja, du hast Recht. Ich stehe am Ende der Wand. Tochter: Heißt das nicht „mit dem Rücken zur Wand“? Vater: Dann eben am Ende der Geschichte … (er summt) Da stehen wir also, am Ende der Geschichte … Tochter: Der Kommunismus ist gescheitert, der Kapitalismus ist gescheitert … Vater: Die Liebe ist gescheitert. Tochter: Die Familie ist gescheitert. Vater: Im Endeffekt ist das wie in diesem jüdischen Witz. Tochter: Ein Typ gibt einem Juden einen Globus und sagt zu ihm: Vater: Stell dir vor, du kannst dir aussuchen, wo du leben willst. Tochter: Der Jude sieht den Globus ernst an. Vater: Er sieht ihn ernst und aufmerksam an. Er denkt nach. Er dreht ihn hin und her. Tochter: Klar ist der Jude ein Typ. Jüdische Frauen haben nicht mal in Witzen was zu sagen. Vater: Wenn lieber du den Witz erzählen willst, dann bitteschön. Tochter: Nein, nein, schon gut, ich hör dir zu. Vater: Also, nachdem der Jude den Globus genau angeschaut hat, blickt er auf und fragt den Typen: Hätten Sie vielleicht noch einen anderen Planeten? Tochter: Einen anderen Planeten! Vater: Das frage ich mich jeden Tag! Tochter: Einen Planeten ohne schwachsinnige Mitteilungen auf schwachsinnigen Dating-Seiten … Vater: Einen Planeten ohne izubljudki-Bullen in Russland, die Bakschisch von dir wollen, ohne pridurki-Bullen in Frankreich, die deine Papiere sehen wollen … Tochter: Einen Planeten ohne Papiere und ohne Identität.

Vater: Oder gleich einen Planeten ohne Arbeit, nie­ mand muss mehr arbeiten, Schluss mit dem Zirkus. Tochter: Als ob das für dich einen Unterschied machen würde. Du sitzt ja eh nur rum! Vater: Ja, genau deswegen arbeite ich nicht für andere, weil ich diese ganzen Idioten nicht ertragen kann. Tochter: Also, wenn ich das jetzt zusammenfasse, hätten wir gerne einen Planeten ohne festen Wohnsitz, ohne Papiere und ohne Job, ist das richtig? Vater: Ohne festen Wohnsitz haben wir nicht gesagt. Tochter: Dass der Planet widerspiegeln soll, was wir später mal werden, haben wir auch nicht gesagt. (Pause) Vater: Langsam ist es wirklich Zeit, ins Bett zu gehen. Tochter: Meinst du das ernst? Jetzt ist es viel zu spät dafür. Vater: In dem Zustand kann ich nicht weiterfahren. Tochter: Wenn du willst, kann ich fahren. Vater: Du kannst kein Auto fahren. Tochter: Ich habe meinen Führerschein in Frankreich gemacht. Vater: Du bist viermal durchgefallen, bis ein Prüfer Mitleid mit dir hatte. Tochter: Ich habe eine Führerscheinprüfung gemacht und meinen Führerschein bekommen. ICH lebe nämlich nicht in einem Land, wo man alles kaufen kann! Vater: Von wegen, der Prüfer hat dir den Lappen doch nur gegeben, weil er dein Rumgeheule im Auto nicht mehr ertragen konnte. Tochter: In Frankreich gelten Papiere noch was! Die kann man nicht kaufen! Vater: Autofahren ist wie Liebe. Manche wissen, wie es geht und manche nicht. Tochter: Naja, du musst zugeben, wenn du weiterhin morgens, mittags und abends Schlafmittel schluckst, schränkt das wohl ein bisschen deine Fähigkeiten ein. Vater: Also. Der Kunde hat mir gerade eine Nachricht geschickt. Tochter: Was sagt er? Vater: Wir müssen in 24 Stunden in Moskau sein. Wir haben noch 1000 km vor uns. Das kriegen wir hin. Tochter: Wie machen wir das? Vater: Ich fahre. Tochter: Willst du mich wirklich nicht fahren lassen? Vater: Nein.

DIE KÄNGURUS AUS DEINEM WOHNBLOCK Landstraße Minsk-Mogilev. Benzinwerbung, Militäreinrichtungen, eingezäunte Anlagen 12:00 Wladimir Wissotski: Pro nachu lioubov’6 Tochter: Pass auf, der Asphalt ist voller Risse. Vater: Ich weiß schon, wie man fährt. Tochter: Pass auf, da ist ein Auto links neben dir. Vater: Ich sehe es, sag ich dir. Tochter: Das hat dir gerade im Vorbeifahren einen Kratzer reingemacht! Vater: Ich hab das unter Kontrolle, sag ich dir. Tochter: Du machst mir Angst, wenn du so Schlangenlinien fährst! Vater: So fährt man eben auf russischen Straßen. Tochter: Kann ich Musik anmachen? Vater: Nein, verdammt nochmal! Du kritisierst mich bloß die ganze Zeit! Hier funktioniert das eben so! Das sind die Regeln! Gesetze gibt es hier keine! Ich habe einen Termin! Ich bin spät dran! Wenn dir das nicht passt, wärst du besser zu Hause geblieben! Und sag jetzt bloß nicht, du hast kein Zuhause, das ist nämlich nicht meine Schuld! Ich habe nämlich alles getan, damit es dir an nichts fehlt! Tochter: Verdammt, hör auf mit dem Scheiß, du bringst uns echt in Gefahr! Vater: Warum bist du überhaupt mitgekommen? Warum eigentlich? Bloß um mein Leben und meinen Fahrstil zu kritisieren? Tochter: Willst du das wirklich wissen? Vater: Ja, das will ich wirklich wissen. Tochter: Hörst du dann auf, mich anzuschreien? Vater: Dann höre ich auf, dich anzuschreien. (Schweigen) Tochter: Als ich letztes Mal in Moskau war, habe ich Opa besucht, in seiner neuen Siedlung. Wohnblocks soweit das Auge reichte … Und mitten auf jedem Vorplatz, zwischen zwei gewaltigen fünfzehn-, zwanzigstöckigen Wohnblocks, erhob sich ein Tier als Wahrzeichen. Eine Giraffe oder ein Elefant oder ein Känguru trohnten über jeder Baueinheit. Ein optischer Anhaltspunkt für die Kinder und die Alten, um ihnen zu helfen, ihren Wohnblock wiederzufinden. Ich dachte an die Dealer in den französischen Vorstädten, an die Monotonie der grauen Siedlungen in Frankreich, und merkte, trotz der Minusgrade war mir weniger kalt auf diesem 6 „Unsere Liebe“

Kante & Khoi Khonnexion

Das Haus der 15. + 16.3. herabfallenden Knochen

fft-duesseldorf.de

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stück

Vorplatz in Moskau. Wahrscheinlich lag das an diesen Tieren, ausschließlich an ihnen. Weil sie den Wind aufhalten. Danach durchquerte ich das Eingangsportal, das grüne, leuchtend grüne Portal, so grün wie die Birkenblätter in meinen Kinderbüchern. Ich landete in Opas Küche. Auf der Plastiktischdecke lagen Tomaten, Salatgurken, Gewürzgurken, Zwiebeln, Lachs, Störeier, Salat Kohl, Kartoffeln Fleischbuletten, Hühnchen, Salami und kleine Pfannkuchen. Die Fenster waren nicht isoliert, der Wind peitschte gegen die Scheiben und Opa versuchte, das Essen der letzten 25 Jahre, in denen er mich nicht heranwachsen gesehen hatte, in mich reinzustopfen. Er zeigte mir Fotos von sich als er Ingenieur auf Baustellen in Vietnam war, Fotos vor H’ Chí Minhs Grab, H’ Chí Minhs Mausoleum, genauso monumental wie Lenins Mausoleum. Und er sah mein Gesicht an, er wusste nicht, was er zu mir sagen sollte, er versuchte, meine Haare anzufassen und ich wollte nicht, dass er meine Haare anfasste. Er erzählte mir von der Zeit als ich in einem Kinderwagen lebte und ich fragte ihn, ob es ihm lieber gewesen wäre, wenn ich mein ganzes Leben in diesem Kinderwagen verbracht hätte und er sagte nein, aber wusste immer noch nicht, was er zu mir sagen sollte und dann fragte er mich zum achtundvierzigsten Mal, ob ich auch essen würde und ob ich in der Lage wäre, mir mein eigenes Essen zu machen und ich antwortete ihm, dass es nicht das unüberwindbarste Problem in meinem Erwachsenenleben sei, mir mein eigenes Essen zu machen. Und dann erzählte mein sowjetischer Großvater der Ingenieur auf sowjetischen Baustellen war mir von der Zeit als der Staat angeboten hatte Gemeinschaftswohnungen gegen Familienwohnungen zu tauschen und als sich Ingenieure und Architekten von den fünfstöckigen Wohnblocks der französischen Siedlungen inspirieren ließen und in diesem Moment begriff ich dass sein Wohnblock deswegen so aussah wie der Wohnblock am Pariser Stadtrand in dem ich aufgewachsen war und dass man sich im Gegenzug in den französischen Siedlungen wo es fünfzehn- zwanzigstöckige Hochhäuser gibt von den sowjetischen Wohnblocks inspirieren lassen hatte und in diesem Moment begriff ich auch dass der Kalte Krieg voller Eramus-Austausche zwischen kommunistischen Architekten und Ingenieuren aus aller Welt war und ich dachte dass sie wahrscheinlich einen Haufen Pflastersteine angehäuft und Backstein auf Backstein gestapelt und haufenweise Zement importiert hatten bis schließlich alle Bauprojekte sinnlos wurden und alles wie ein Kartenhaus ein Karteikartenschloss in sich zusammenbrach. Weiß nicht, auf einmal hat mich das traurig gemacht. Und dann, keine Ahnung, wahrscheinlich lag das an den Tieren auf den Vorplätzen, hatte ich das Gefühl, ich müsste nach Moskau zurück, um etwas in Ordnung zu bringen. Naja, keine Ahnung. Auf jeden Fall wollte ich nochmal die Tiere auf den Vorplätzen sehen. Vater: Um was in Ordnung zu bringen?

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Tochter: Weiß nicht. Um zu verstehen, warum meine Ideale und Träume aus einem pastellfarbenen 70er-Jahre-Zeichentrickfilm stammen, zum Beispiel. Warum ich mich viel zu anders fühle, um in der heutigen Gesellschaft zu leben. Vater: Du würdest dich noch viel mehr anders fühlen, wenn du in Russland leben wolltest. Tochter: Ich weiß. Vater: Vielleicht sollten wir uns wirklich einen anderen Planeten suchen. (Stille) Tochter: Kann ich jetzt Musik anmachen? Vater: Warte, ich glaube, das Navi hat keinen Empfang mehr. Ich weiß nicht, wo wir sind … Tochter: Ich glaube, Opa hat irgendwie sein halbes Leben lang darauf gewartet, dass ich wiederkomme. Und dann ist das Bild, das er von mir hatte, in meinem Kinderwagen, einfach eingefroren, so wie das Bild bei einer verkratzten Videokassette einfriert. Er schaute sich das immer wieder an, in Endlosschleife, immer und immer wieder, während der Rest der Welt schon längst bei Netflix war. Vater: Ich verstehe nicht, was das für eine Baustelle ist! Wir müssen umdrehen. Tochter: Oh verdammt, pass auf, pass auf, Scheiße, pass auf, schau auf die Straße! Vater: Schto, schto takoje? Tochter: Was war das? Vater: Keine Ahnung. Tochter: Hast du irgendwas überfahren? Vater: Einen Hirsch? Tochter: Nein … Ich glaube … Vater: Scheiße! O blad’! Vater: Ein LKW mit einer Ladung von achtzig Tonnen also genau achtzig mal mehr als unser Ford fassen kann kommt mit einer Geschwindigkeit von 90 km/h geradewegs auf unser Fahrzeugheck zu bei dieser Geschwindigkeit habe ich nicht mal mehr Zeit meinen Satz / Tochter (gleichzeitig): noch einen Augenblick und wir werden zermatscht zermalmt zu Asche zermahlt zu Staub zerstampft zu einer Sandpyramide zu Kuchenstreuseln zu Schieß-

Asteroid um zwei Zentimeter nach links von seinem Kurs abgekommen ist Trümmer sind aufeinandergeprallt haben sich zusammengeballt wir sind lediglich das Ergebnis von Schocks Aufprallen und Unfällen die Sterne kondensieren wie tropfender Dunst an Gas oder Staub die überhöhte Temperatur die verschmelzenden Atomkerne bilden den Kohlenstoff unserer Muskeln das Kalzium unserer Knochen das Keratin unserer Haare Sie: ich glaube ich habe noch nie so geliebt ich glaube ich habe noch nie so sehr geliebt ich glaube ich habe nichts so sehr geliebt wie ein Bild Er: ich habe von der Freiheit nur ein Bild geliebt ich habe das Bild gemeinsam mit den Häusern fallen sehen den Abglanz der Bilder auf den Fassaden die zerquetschte Karosserie am Boden mit den Hochglanzbildern und Dateien auf dem Smartphone Eugenia Valentina Svetlana Tatiana die Bilder vom Broadway und ihre kalten Versprechen von der Freiheit hab ich nur ein Bild gekannt ich habe es in einem amerikanischen Actionfilm gesehen als ich sechzehn war Sie & Er: der Blitz hat alle Verbindungen gekappt er hat die Kabel die Anschlüsse getrennt die Batterie gesprengt mein Körper ein Autowrack die kaputten Organe ersetzen und das Ganze in Osteuropa verkaufen währenddessen fliegen die Trümmer fliegen die Kabel flackert der Motor flimmern die Bruchstücke quer durch den Weltraum und auch ich wirbele zwischen den Felsbrocken Metallbrocken Eisbrocken ich fliege wie noch nie ich fliege besser als Koks MDMA Opium Heroin Valium Rohypnol Lexomil Zopyclon Alprazolam ich fliege es ist mir egal dass diese Geschichte nie wirklich stattgefunden hat sie hätte ohnehin niemals so schön sein können wie die Dias in meinem Kopf

ORION – ERIDANUS Er (allein, schwerelos im Kosmos): als Jelzin die Macht abgab war ein für alle Mal Schluss mit der Freiheit an diesem Abend auf unseren Bildschirmen war mit der Freiheit ein für alle Mal Schluss das war war wie in diesem Lied für die Franzosen er sagte zu uns

(Dunkel. Ein gewaltig krachender metallischer Blechschaden sprengt die Familienkonstellationen. Dann Stille. Die Stille dauert ziemlich lange, danach heulen Sirenen auf und Lichter blinken, als sei eine Glühbirne dabei, durchzubrennen.)

Je suis venu vous dire que je m’en vais.

ANDROMEDA – KASSIOPEIA Gustav Holst – Die Planeten

Ich habe eine Entscheidung gefällt. Ja prinjal reschenije

Sie & Er: und dann wälzt sich die Karosserie das Skelett tanzt Walzer ein Arm durchwandert die Stratosphäre und schwebt gar nichts mehr schlimm gar nichts mehr schwer keine Schwerkraft mehr Finger Beine Füße wirbeln durch den Weltraum und fliegen mein Körper ein Wrack die Röhren zerrüttet das Gerüst in Stücken ich habe so lange auf eine Email oder einen Anruf gewartet mein Körper war auf Entzug er konnte nur noch kotzen ohne zu essen und wachen ohne zu schlafen ich habe überhaupt nichts verstanden Jelzin sagte nur durch Schocktherapie kann man etwas lernen es gab zwar einen Schock aber es gab keine Therapie wir existieren nur weil ein

Ich gehe ja uhoshu ich gehe ja uhoshu ich gehe früher uhosju ranjsche ich gehe früher uhosju ranjsche als vorgesehen poloshennowo sroka ich gehe vor dem Ende meiner Zeit ja uhoshu ranjsche poloshennowo sroka ich gehe. ja uhoshu.

(er singt im Rhythmus von Gainsbourgs Chanson):


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marina skalova_der sturz der kometen und der kosmonauten

Je suis venu vous dire que je m’en vais.

GALAXIE CENTAURUS A

Ich bitte um Verzeihung Ja hochu poprosit’ u was proschennija für alle unsere Träume Za to schto mnogie naschi s vami metschti die nicht Wirklichkeit wurden ne zbyliss’. Und für alles, was so einfach erschien I to, schto nam kazalos‘ prosto und sich als furchtbar schwierig okasalos‘ mutschitelno erwies tjashelo.

(Stimmfetzen von ihr und ihm, die zusammenstoßen, aufeinanderprallen, im Widerhall erklingen):

Zum Teil ist das meine Schuld V tschem to ja okasalsja ich war zu naiv slischkom naivnym und zum Teil gde to erwiesen sich okasaliss’ die Probleme problemy als zu schwierig. slischkom sloshnymi.

Wir wollten nur das Beste und das Ergebnis ist wie immer

Vater: Warte, ich hab‘s fast. Tochter: Ernsthaft? Vater: Warte … Ja, ich glaube, es geht! Tochter: Dann ist ja alles bestens. Vater: Ja. Alles bestens. (Pause)

Die Tassen fielen aus dem Schrank die Dächer fuhren ab

Tochter: Wie machen wir das mit dem Auto? Vater: Der Kunde müsste gleich da sein. Tochter: Also warten wir auf ihn? Ich glaube jeder weiß was es heißt Vater: Wir warten auf ihn. Tochter: Hier? ein Individuum zu sein nur ich nicht Vater: Hier. Die Welt lässt sich in Desaster und Katastrophen aufteilen Freiheit ist wenn du machen kannst was du willst und mit wem du willst Hoteli svabodu – polutschili svabodu Ihr wolltet Freiheit – da habt ihr eure Freiheit Je unerreichbarer eine Ware ist desto mehr nimmt ihr Wert zu

Ich gehe. Ja uhoshu. Ich habe getan, was ich konnte. Ja sdelal vsjo, schto mog.

Ich glaube ich habe nichts so sehr geliebt wie ein Bild

Je suis venu vous dire que je m’en vais. Et vos larmes ne pourront rien changer. Comme dirait Verlaine: au vent mauvais. Je suis venu vous dire que je m’en vais.

Eine Ansammlung aus Fels Metall und Eis

Ich habe von der Freiheit nur ein Bild geliebt

Es gibt bloß katastrophale Verschmelzungen Ich habe so lange gewartet dass ich nicht mehr wartete

KASSIOPEIA – LACERTA (EIDECHSE) Gustav Holst – Die Planeten Sie (allein, immer noch fliegend): als der Asteroid am Gefängnis meiner Haut zerschellte wurden die Risse breiter Lava floss das Beben an der Krateröffnung gab andere Krater frei andere Wunden zerfetztes Land zerstückeltes Volk vergessene Sprache in meiner Kehle meine Stimmbänder eine Tüte Konfetti überall Löcher keine Wörter keine Augen keine Münder wenn man einen Körper von einem anderen Körper wegreißt seziert wird ein Meteor kreiert ich habe die Intensität des Schmerzes mit der Intensität der Liebe verwechselt ich habe nur Leere als Verband um Leere gewickelt ich glaube ich habe diese Reise nur unternommen um mich an einer Bindung festzuklammern ein Mensch ist kein Bolzen mit der Zeit lösen sich irgendwann alle Schrauben die Liebe ist kein Auto es gibt keine Ersatzräder eine Liebe ist ein System eine Liebe bricht zusammen und eine Galaxie fällt in Trümmer verpasst du eine Abzweigung gibt es nicht mal einen Notausgang wir werden allein geboren wir sterben allein die restliche Zeit basteln wir Pflaster

Der Weltraum besteht lediglich aus Schocks Aufprallen und Unfällen Ich kann nicht mal alleine schlafen Es gibt nichts Egoistischeres als einen Planeten: Er biegt in eine Kurve des Sonnensystems ein auf der Jagd nach seinem eigenen Spiegelbild

(Auf einem Planeten in einer anderen Galaxie, man weiß nicht, wie er heißt) Vater: Mir ist kalt. Tochter: Mir auch. Vater: Bist du auch hier? Tochter: Alles klar bei dir? Vater: Alles klar. Und bei dir? Tochter: Alles klar. Bist du schon lange hier? Vater: Keine Ahnung. Ich hab ein bisschen den Faden verloren. Ich hab fast alle Autoteile wieder eingesammelt. Tochter: Echt? Vater: Ja. Wir brauchen nur noch irgendwas, um eine neue Batterie zu basteln. Tochter (klappert mit den Zähnen): Kann man hier Wärme erzeugen? Vater: Sehr gute Frage. Erstmal versuche ich, das W-LAN wieder hinzukriegen … Tochter: Empfängst du hier W-LAN?

Der Text entstand 2017/18 im Auftrag von POCHE / GVE – Théâtre en vieille-ville, Genf, im Rahmen von Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik. © französische Originalfassung: L’Arche Editeurs, Paris © Deutsche Übersetzung von Marina Skalova und Frank Weigand: S.Fischer Verlag GmbH, Theater- und Medien.

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Magazin Wunderdinge 2.0

Das Laborfestival „Challenge my fantasy – more“ am Theater an der Parkaue Berlin

erkundet virtuelle Theaterformen

Gebärden einer Sprache der Liebe

Das inklusive Theaterprojekt

Possible World in Berlin arbeitet seit zehn Jahren mit gehörlosen und hörenden Darstellern und entwickelt daraus eine eigenwillig unmittelbare Bühnensprache

Die raue Diva

Geschichten vom Herrn H.

Alle Räder stehen still

Zum Tod der Schauspielerin und Regisseurin Ursula Karusseit

Heinrich Breloer, Bertolt Brecht und Corinne Orlowski

Film / Bücher


magazin

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Wunderdinge 2.0 Das Laborfestival „Challenge my fantasy – more“ am Theater an der Parkaue Berlin erkundet virtuelle Theaterformen Unter dem Label „Parkaue [‚be:ta]“ widmet

Mathieu vom Théâtre Nouvelle Génération

als Skelett visualisierten Wiedergängerin

sich das Theater an der Parkaue Berlin der

Lyon. Auf drei Stationen verteilt, betrachtet

schlüpfen und dank Tablet und AR bestau-

Exploration von neuen Medientechnologien

das mit Kopfhörern ausgestattete Publikum

nen, wie an die Stelle eines Tisches ein

wie Virtual Reality (VR), Augmented Reality

die Vision eines kommenden Theaters der

„Geisterschiff“ in Erscheinung tritt. Das

(AR) sowie Motion Tracking für Erzähl- und

Maschinen: Ein 3D-Drucker ist im Begriff,

­Märchen vom magischen Zaubertopf, dessen

Darstellungstechniken im zeitge-

süßer Brei einem armen

nössischen Kinder- und Jugend-

Kind erst Segen, der Mutter

theater. Im Frühjahr 2018 ent-

dann zum Fluch wird, ver-

stand bereits in Kooperation mit

folgt das Publikum als Hör­

den ­ CyberRäubern (Marcel Kar-

stück. Es wird nur hörbar,

napke und Björn Lengers) das in-

wenn der anthropomorphi-

teraktive Digitaltheaterstück „Die

sierte Industrieroboter das

Biene im Kopf“. Das erste von

Mikrofon an das iPhone hält,

Dramaturgin Almut Pape und ih-

das die Datei abspielt. Bei

rem Team entwickelte Laborfesti-

diesen Beispielen fällt auf,

val „Challenge my fantasy – more“

dass gerade das, was im Mär-

setzte diese Schwerpunktsetzung

chen das Wunderbare, das

nun fort.

Magisch-Fantastische

Der

Festivalbegriff

führt

dar-

stellt, mittels neuer Techno-

allerdings in die Irre, handelt es

logien

sich doch um ein Workshop-

macht, aber leider auch stark

Format, dem Ende 2018 eine of-

entzaubert werden kann.

zwar

sichtbar

ge-

fene Ausschreibung vorausging.

„Eselshaut“ erzählt von

Von den etwa sechzig Bewerberin-

einer Prinzessin, die mit Hilfe einer Fee und einer m ­ agi­schen

nen und Bewerbern wurden 25 feste und freie Theater- und Medienkunstschaffende sowie Studierende aus den Bereichen Gamedesgin, Schauspiel, Informatik,

Visionen eines kommenden Theaters – Wilhelm Hauffs „Gespensterschiff“, inszeniert mit VR- und AR-Technik. Links: „Artefact“ von Joris Mathieu vom Théâtre Nouvelle Génération – Centre Dramatique in Lyon.

Eselshaut der Zwangsverhei-

Fotos Marc Lippuner / Nicolas Bouder

verkörpert eine junge Perfor-

ratung mit dem eigenen Vater entgeht. Im dritten Labor

kreatives Schreiben oder Szeno-

merin auf der sich beständig

grafie nach Berlin eingeladen und

kreisenden Drehbühne, auf

auf drei verschiedene Workshop-Labore ver-

einen Baum zu erschaffen, ein Industrie­

der auch das Publikum sitzt, Prinzessin und

teilt: Eine Gruppe experimentierte unter der

roboter bestellt Gräber auf einem Miniatur-

Fee zugleich. Sie trägt Zepter und Helm, wel-

Leitung der CyberRäuber mit VR- und AR-

friedhof, und ein zweiter 3D-Drucker präsen-

che märchenanalog zu magischen Dingen

Technik zum „Gespensterschiff“ von Wilhelm

tiert einen Automaten, in dem ein aus

werden. Je nachdem, an welcher Stelle (und

Hauff, die zweite Gruppe kombinierte Robo-

Algorithmen synthetisiertes Mash-up-Thea-

wie lange) sie sich mit den Dingen auf der

tertechnik

dem

terstück von Hologrammfiguren gespielt wird.

Drehbühne bewegt, ertönen vorproduzierte

Grimm’schen Märchen „Der süße Brei“ und

Die Stimme einer künstlichen Intelligenz

Stimmen, leuchten Scheinwerfer auf oder

eine dritte Gruppe suchte gemeinsam mit

kommentiert das Geschehen. Sie räsoniert

verteilt sich Theaternebel im Raum. Die ei­ge­ne

Mentoren der Hochschule für Technik und

mit Zitaten aus Becketts „Endspiel“ über

Fantasie hat bei dieser Vorstellung genügend

Wirtschaft sowie der Hochschule der popu­

Rechte und Autonomie der Artefakte in einer

Freiraum, mitzuwirken. Denn hier bebildert

lären Künste Berlin nach Strategien, „Die

Welt nach dem Anthropozän.

die Technik nicht den Inhalt, sondern ihre An-

der

KleRo

GmbH

mit

Eselshaut“ von Charles Perrault mit Motion

Die abschließende Workshop-Präsen­

wendungsweise selbst formt die inhaltliche

tation der drei Labore nimmt Techniken und

Analogie zum Märchenstoff. In diese Rich-

Als thematischen Auftakt für das Work-

Themen von „Artefact“ auf, bietet aber auch

tung des Einbezugs neuer Technolo­gien in die

shop-Wochenende zeigte das Theater an der

Bühnen zum Selbstausprobieren: So kann ich

Theaterpraxis lohnt sich das Laborieren. //

Parkaue die Installation „Artefact“ von Joris

mittels Headset in die Rolle einer in der VR

Tracking zu erzählen.

Theresa Schütz

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Gebärden einer Sprache der Liebe Das inklusive Theaterprojekt Possible World in Berlin arbeitet seit zehn Jahren mit gehörlosen und hörenden Darstellern und entwickelt daraus eine eigenwillig unmittelbare Bühnensprache Der eine sagt, ich liebe dich. Die andere

(Codas). Zusammen mit Regisseurin Michaela

Lediglich mit ein paar Fetzen Stoff umwickelt

peitscht ihm ihren Blumenstrauß ins Gesicht.

Caspar haben sie am Ballhaus Ost in Berlin-

(Kostüme Gabriele Wischmann), sind die Per-

Die Liebe lässt sich nicht fangen und schon

Prenzlauer

„Sommernachts-

former auf Peter E.R. Sonntags kahler Bühne

gar nicht erklären. Versuche, sie in Sprache

traum“ entwickelt, der sich eigenwillig einer

einander und den Blicken des Publikums

zu kleiden, bleiben Fragment oder eben: Ver-

einfachen Lesart entzieht.

ausgeliefert. Beige als Farbe des menschli-

Berg

einen

suche. „Was ich über die Liebe denke?“,

Es wird kaum laut gesprochen an diesem

chen Fleisches dominiert. Es herrscht nackte

schreibt Roland Barthes in „Fragmente einer

Abend. Stattdessen arbeitet sich die Inszenie-

Unmittelbarkeit. Nur hin und wieder werden

Sprache der Liebe“: „Kurzgesagt nichts. Ich

rung mittels Gebärdensprache, zeitgenössi-

baumhohe Blitzlichtschirme auf die Bühne

möchte zwar wissen, was das ist, aber wenn

schem Tanz, Bharatanatyam, einem indischen

geschoben, als stehe man kurz vor einem

ich darin befangen bin, nehme ich sie nur in

Tanzstil, sowie dem Visual Vernacular, einer

Shooting. Die Intimität des Begehrens kippt

ihrer Existenz, nicht in ihrer Essenz wahr …

pantomimeartigen Kunstform, die aus der

ins Exhibitionistische.

Deshalb mag ich jahrelang gut reden über die

amerikanischen Gebärdensprache entwickelt ­

Seit zehn Jahren arbeitet die Schau-

Liebe haben – ich darf doch nicht hoffen,

wurde, durch die Verstrickungen des Stücks.

spielerin und Regisseurin Michaela Caspar an

ihren Begriff anders zu erfassen als ,beim

Wer ist hier wer? Und wer liebt wen? Wer keine

dieser sehr besonderen Art von Theater.

Schwanz‘: anhand kurzer Blitzlichtaufnah-

Gebärdensprache versteht, bleibt ratlos wie die

Nachdem sie selbst bei einer Musiktheater-

men, Formeln, Ausdrucksüberraschungen.“

Figuren selbst. Ein heilloses Chaos, das sich in

probe einen Hörsturz erlitt, gründete sie

Den Protagonisten in Michaela Caspars

den Choreografien von Gal Naor, Matan Zamir

2008 mit gehörlosen und hörenden Spielern

„Sommernachtstraum“ ist die herkömmliche

und Rajyashree Ramesh vorrangig in Handlun-

den Verein Possible World. Ihr erstes Stück,

Lautsprache eh nicht gegeben, sie können

gen Bahn bricht: Körper, die zärtlich abge-

„Frühling Erwache!“ nach Frank Wedekind

die Liebe nicht totquatschen wie Schauspie-

schleppt oder brutal über den Boden geschleift

ler in Film und Fernsehen. Sie bleibt bei

werden, Haut, die sich unter dem Ziehen, Zer-

ihnen, was sie ist: reine Existenz. Das Ensemble

ren und Schlagen der Liebenden und Ent-

von Possible World besteht an diesem Abend

täuschten rötet. Maximales Begehren, maxima-

aus sechs gehörlosen und zwei hörenden Dar-

ler Hass. Küsse, die zu Bissen werden. Eine

Maximales Begehren, maximaler Hass – „Ein Sommernachtstraum“ von Possible World in der Regie von Michaela Caspar.

stellern sowie zwei Children of Deaf Adults

penthesileahafte Hitze durchzieht den Raum.

Foto Anton von Heiseler


magazin

/ TdZ  März 2019  /

und Nuran David Calis, kam 2009 im Ballhaus Ost zur Premiere. Was damals als ­Schülerprojekt in Kooperation mit der Ernst-

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Alle Räder stehen still

Adolf-Eschke-Schule für Gehörlose in Berlin begann, hat sich heute zu einer Bühnen­ ästhetik entwickelt, die die Hegemonie einer einzigen, eben gesprochenen (oder geschrie-

Massenhafte

wilde

Das erste Dokument eines Frauenstreiks

benen) Sprache unterwandert. Sprachen gibt

Demonstrationen, politische Diskussionen –

stammt aus dem Theater. Die 411 v. Chr.

es so viele wie es Menschen gibt. Wobei die

das könnte den 8. März dieses Jahres prä-

aufgeführte Komödie „Lysistrata“ des Dich-

deutsche Gebärdensprache erst 2002 durch

gen. Dann ist bekanntlich der Weltfrauen-

ters Aristophanes zeigt die von der Titel­

Inkrafttreten des Behindertengleichstellungs-

tag, früher auch Frauenkampftag genannt.

heldin angeführten Athener Frauen, die den

gesetzes anerkannt wurde.

Diese Bedeutung kehrt nun zurück. In den

jahrelang andauernden Krieg mit Sparta

Was euphemistisch klingt, kommt bei

letzten Jahren haben Millionen Frauen vor

gehörig überdrüssig sind und sich nun wei-

Caspar mit einer lebensnahen Härte und Un-

allem in Nord- und Südamerika, Asien und

gern, die vom Schlachtfeld zurückgekehrten

mittelbarkeit daher. Es herrscht die Rauheit

Teilen von Europa gestreikt und demons­

Männer durch Zärtlichkeiten wieder kriegs-

und erotische Spannung wie auf einem

triert. Die Forderungen sind ein-

tauglich und -lustig zu machen.

Schulhof in Neukölln. Die Mittel, die sie

fach und vernünftig: Pflege und

Make love, not war – so ließe

für ihr Theater erfindet, sind dabei keine

Erziehung müssen kollektiv or-

sich das Programm des ers-

­Krücken. Ihre Ästhetik entwickelt sie aus Not-

ganisiert werden. Es braucht

ten Frauenstreiks der Lite­ ra­

wendigkeiten heraus und kreiert dabei eine

mehr und bessere Kindergär-

tur­geschichte zusammenfas-

ganz eigene Form: Werden Szenen doch

ten, Schulen, Krankenhäuser,

sen. Heute muss man den

­einmal übersetzt, beispielsweise gleichzeitig

Altenheime und in jedem Be-

Frauenstreik als Reaktion auf

in Gebärden- und Lautsprache wiedergege-

reich deutlich mehr Mittel und

die neoliberale Agenda ver­

ben, erscheinen Figuren gedoppelt auf der

Personal. Es muss Schluss sein

stehen. „40-Stunden-Woche,

Bühne, was die Verwirrung verstärkt. Spre-

mit ungerechter und schlechter

3 Kinder, ein Pflegefall? Mach

chen nichthörende Performer ein paar Zeilen,

Bezahlung. Und es braucht ein

doch Yoga!“, so ein treffen-

entsteht ein ungewöhnlich intonierter Sing-

Vorgehen gegen Gewalt im öf-

sang. Die Gebärden wiederum sind durch ihre

fentlichen Raum wie auch im häuslichen

Räumlichkeit absolut direkt und verfremdend

Umfeld. Die Anzahl der „Ehrenmorde“ und

Menschen, das eigene Überleben zu be-

zugleich. Weswegen es spannend wäre, so

der verharmlosend „Familientragödie“ und

streiten, sind politisch. Denn die kapitalisti-

Caspar, Brechts episches Theater mit Gebär-

„Eifersuchtsdrama“ genannten Tötungen ist

sche Reichtumsproduktion basiert darauf,

densprache zu kombinieren. Zunächst aber

erschreckend. Eine weitere Forderung ist

ihnen die Mittel zum Leben zu nehmen.

stehen im April im Ballhaus Ost weitere Auf-

körperliche Selbstbestimmung bei Schwan-

führungen des „Sommernachtstraums“ auf

gerschaften.

dem Programm – auch eine Art Lehrstück in Sachen Kommunikation.

Arbeitsverweigerung,

des Plakat der Naturfreunde­ jugend. Die Schwierigkeiten der meisten

Eine der beliebtesten Parolen bei den Frauenstreiks lautet: „Gleicher Lohn

Gerade die Forderungen nach einem

für gleiche Arbeit“. Das ist eine ausgespro-

Ausbau der öffentlichen Versorgung gehen

chen kluge Parole. So klug, dass man sie

In dem Film „US“ (2013) von Michaela

auf Konfrontation mit der von der deut-

keinesfalls nur auf das Verhältnis zwischen

Caspar ziehen gehörlose und hörende Ju-

schen Regierung (egal welcher) verfolgten

den Geschlechtern beziehen sollte. Natür-

gendliche verschiedenster Herkunft über den

Strategie in der Wirtschaftskrise, die öffent-

lich gibt es qualitative Unterschiede der

Alexanderplatz in Berlin und interviewen Pas-

lichen Ausgaben zu schmälern, die Löhne

Arbeiten, eine Informatikerin macht nicht

santen, indem sie Fragen und Antworten auf

zu senken oder niedrig zu halten und mit

das Gleiche wie eine Müllfrau. Aber warum

Pappschilder notieren. „Hast du Angst vor

einem immensen Exportüberschuss gna-

sollte man für acht Stunden Müllweg-

mir?“, fragt ein Mädchen. – „Ein bisschen“,

denlos andere Länder unter Druck zu set-

schaffen denn nicht das gleiche Geld er-

schreibt die Passantin. – „Warum?“ – „Weil

zen. Darunter leiden die Menschen, die sich

halten wie für acht Stunden Programmie-

du mich nicht verstehst!“, ruft die Frau fast

weder Aktienpakete, Eigentumswohnung,

ren? Und warum sollte im Gegenteil ein

aggressiv, dabei völlig ignorierend, dass das

Kindermädchen, Haushaltshilfen, Putzkräf-

DAX-Vorstand innerhalb von fünf Tagen so

Mädchen sie akustisch tatsächlich nicht ver-

te, Privatschulen, Nachhilfelehrer und pri-

viel verdienen wie im Durchschnitt der An-

steht. Mit der Kommunikation verhält es sich

vate Zusatzversicherungen leisten können.

gestellte der gleichen Firma im ganzen

eben wie mit der Liebe: Den anderen be-

Und darunter sind zahlreiche Frauen, die

Jahr? Oder der Intendant im Theater …

kommt man in der Regel eben nur „beim

nun ihre Interessen auf die Straße tragen

Sie wissen, was ich meine. Gehen wir es

Schwanz“ zu packen. Der Rest sind Blitz-

wollen. Große Frauenstreiks gab es schon

an. Die Frauen gehen ja schon voran. //

lichtaufnahmen, Formeln, Ausdrucksüberra-

1975 in Island und 1991 in der Schweiz.

schungen, Missverständnisse. Das zeigt der

In Deutschland würde ein solcher Streik

„Sommernachtstraum“ von Possible World

­außerdem das noch immer herrschende Ver-

ganz unmittelbar. //

bot politischer Streiks herausfordern. Dorte Lena Eilers

Jakob Hayner

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Die raue Diva Zum Tod der Schauspielerin und Regisseurin Ursula Karusseit Volksschauspielerin mit bedeutender Geschichte – Ursula Karusseit (1939 – 2019) als Violet Weston in „Eine Familie. August: Osage County“ 2015 im Berliner Theater am Kurfürstendamm. Foto dpa

Zur Schauspielerei war Ursula Karusseit

So blieb sie in der von Besson geprägten Spur

durch ein Betriebskabarett im thüringischen

eines von Brecht her gedachten Theaters,

Gera gekommen, wohin es sie nach der Ver-

entwickelte dabei aber das ganz eigene Profil

treibung aus ihrer Geburtsstadt Elbing in

einer selbständigen, etwas herben, dabei ge-

Westpreußen nach Kriegsende verschlagen

witzten und auch frech widerständigen jun-

hatte. Nun saß sie nach einer Ausbildung als

gen Frau. Eine Ikone im Theater jener DDR-

Bürokraft im Einkauf in der DDR-Provinz der

Jahre, was sie schließlich auch für den Film

1950er Jahre fest, die sie selbst jedoch gern

attraktiv werden ließ. 1968 spielte sie die

Millington Synges „Der Held der westlichen

als bodenständigen Ausgangspunkt bezeich-

Gertrud Habersaat in dem Fernsehmehrteiler

Welt“ (1985), wurde sie zudem eine viel be-

nete. Bei der ersten Aufnahmeprüfung an ei-

„Wege übers Land“ von Martin Eckermann,

achtete Regisseurin. Als Gast wirkte sie ab

ner Schauspielschule, 1959 in Leipzig, fiel

später in zahlreichen DEFA-Filmen, etwa in

1986 in Köln, später in Bremen, sodass sie

sie durch, der zweite Versuch in Berlin glück-

Konrad Wolfs „Der nackte Mann auf dem

mit der Wende keinen Bruch erleben musste

te. Noch vor dem Abschluss spielte sie die

Sportplatz“ sowie in der Verfilmung von

und als angesehene Schauspielerin, die im-

Anna in Max Frischs „Biedermann und die

­Johannes Bobrowskis Roman „Levins Mühle“

mer wieder betonte, dass ihr die Theater­

Brandstifter“ an der Volksbühne in Berlin, er-

durch Horst Seemann. Karusseit war prak-

arbeit in der DDR eine hohe Konzentration

hielt dort sogleich ein Engagement, wie bald

tisch ein eigener Typ, die in ihren realitäts­

auf den Beruf ermöglicht habe, problemlos

darauf am Deutschen Theater. Ein furioser

nahen Darstellungsweisen weiblicher Charak-

auch anderswo ankam. Auf der Bühne hat

Start, dem schnell legendäre Rollen folgten

tere mit ungekünstelter Sprechhaltung das

man sie in den vergangenen zwanzig Jahren

wie die Rote Rosa in der Uraufführung von

sozial Widersprüchliche und damit auch Ele-

leider eher selten erleben dürfen, dafür aber

Peter Hacks’ „Moritz Tassow“ (1965) oder

mentare einbrachte, wie es ihr auf der Bühne

ab 1998 in dem ARD-Dauerbrenner „In aller

die Elsa in „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz,

mit der Shen Te in „Der gute Mensch von

Freundschaft“ als Kantinenwirtin Charlotte

eine der kanonischen, auch international ge-

Sezuan“ in der Inszenierung von Besson be-

Gauss, in der, wenn man genau hinschaute,

feierten Inszenierungen des DDR-Theaters

sonders eindringlich gelang.

die Erfahrungen vieler großartiger Bühnen­

In den ab 1979 schwierigen Jahren der

rollen steckten. Ursula Karusseit starb am

Volksbühne nach dem Weggang Bessons (und

1. Februar 2019 in einem Berliner Kranken-

Besson wurde ihr Lebenspartner, ihm

der Trennung von ihm) blieb sie eine zentrale

haus. Sie wird als Volksschauspielerin mit

folgte sie, als er 1969 an die Volksbühne ging

Kraft des Ensembles. Gleich mit ihrer ersten

bedeutender Geschichte in Erinnerung blei-

und schließlich dort auch Intendant wurde.

Inszenierung, einer deftigen Version von John

ben. //

und wie alle hier genannten in der Regie von Benno Besson.

Thomas Irmer


/ TdZ  März 2019  /

An der Hochschule für Bildende Künste Dresden ist zum 1. Oktober 2019 im Studiengang Theaterausstattung die

W2-Professur für Maskenbild zu besetzen. Gesucht wird eine durch herausragende künstlerische Leistungen anerkannte Persönlichkeit, die die Fachrichtung Maskenbild in Lehre, künstlerischer Praxis und Forschung vertritt. Zu den Aufgaben der Professur gehören insbesondere Leitung der Fachrichtung Maskenbild einschließlich der Organisation des Lehr- und Studienbetriebs - Durchführung von Lehrveranstaltungen in der Studienrichtung Maskenbild zur Vermittlung theoretischer, gestalterischer und technologischer Kenntnisse und Fähigkeiten - Betreuung und Prüfung von Fach- und Diplomarbeiten der Studienrichtung Maskenbild - Betreuung von interdisziplinären Studienprojekten, Praxisarbeiten und Kooperationen - Vermittlung fachbezogener sowie -übergreifender theoretischer und praktischer Kenntnisse des Maskenbildes - Weiterentwicklung des Berufsbildes innerhalb der künstlerischen Lehre und Forschung - Betreuung von Nachwuchskünstlern/Nachwuchskünstlerinnen und des akademischen Nachwuchses - Einwerbung von Drittmitteln -

Vorausgesetzt werden ein Abschluss eines (Fach-)Hochschulstudiums im entsprechenden oder in einem verwandten Fachgebiet - besondere Befähigungen zur künstlerischen Arbeit, die durch besondere künstlerische Leistungen als Chefmaskenbildner/-in oder einer vergleichbaren beruflichen Tätigkeit nachgewiesen werden - pädagogische Eignung und hochschuldidaktische Kenntnisse -

Erwartet werden zudem die Mitarbeit in den Gremien der akademischen Selbstverwaltung sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Lehrgebieten der Hochschule für Bildende Künste Dresden, anderen Hochschulen sowie Institutionen im In- und Ausland. Die Berufungsvoraussetzungen ergeben sich aus § 58 Sächsisches Hochschulfreiheitsgesetz (SächsHSFG), die Dienstaufgaben sowie die dienstrechtliche Stellung der Professur aus § 67 und § 69 des SächsHSFG. Der Umfang der Lehrverpflichtung richtet sich nach der Dienstaufgabenverordnung an Hochschulen (DAVOHS) und beträgt derzeit 20 Semesterwochenstunden. Die Vergütung erfolgt nach dem Sächsischen Besoldungsgesetz in der Besoldungsgruppe W 2 der Sächsischen Besoldungsordnung. Die Hochschule für Bildende Künste Dresden strebt einen hohen Anteil von Frauen in der Lehre an. Qualifizierte Bewerberinnen sind deshalb ausdrücklich aufgefordert, sich zu bewerben. Bewerbungen Schwerbehinderter werden bei gleicher Eignung bevorzugt behandelt. Die Einstellung erfolgt bei Erfüllung der persönlichen Voraussetzungen in einem Beamtenverhältnis auf Lebenszeit oder in einem unbefristeten Arbeitnehmerverhältnis, bei Erstberufungen jedoch zunächst auf Probe in einem befristeten Arbeitsverhältnis für den Zeitraum von zwei Jahren. Über die Weiterbeschäftigung als Beamter auf Lebenszeit oder in einem unbefristeten Arbeitnehmerverhältnis entscheidet der Rektor spätestens 4 Monate vor Ablauf der Probezeit auf Vorschlag des Dekans, dem eine Stellungnahme des Fakultätsrates beizufügen ist. Bewerbungen mit tabellarischem Lebenslauf, Darstellung des künstlerischen Entwicklungsweges, Überblick über die bisherigen künstlerischen Leistungen, Nachweis der Lehrbefähigung und -erfahrung, beglaubigte Kopie der Urkunde über den höchsten akademischen Grad sowie eine beglaubigte Kopie des Abiturzeugnisses sind unter Angabe der Kennzahl II/59 bis zum 30.04.2019 (Eingang in der Hochschule) zu richten an: Hochschule für Bildende Künste Dresden, Referat Personal, Güntzstraße 34, 01307 Dresden

magazin

An der Hochschule für Bildende Künste Dresden ist ab 1. Oktober 2019 eine

W1-Juniorprofessur für Bühnen- und Kostümbild befristet auf vier Jahre zu besetzen. Eine anschließende Verlängerung auf insgesamt 6 Jahre Befristungsdauer soll bei Erfüllung der Voraussetzungen nach § 70 Satz 3 Sächsisches Hochschulfreiheitsgesetz (SächsHSFG) erfolgen. Der Studiengang Bühnen- und Kostümbild praktiziert eine zeitgenössische und zukunftsorientierte Lehre, die durch einen interdisziplinären Austausch zwischen den freien, den angewandten und den theoretischen Fachgebieten gekennzeichnet ist. Der Aufgabenbereich umfasst die Lehre und Betreuung von Studierenden auf dem gesamten Gebiet des Bühnen- und Kostümbilds in den Bereichen Schauspiel, Oper, Tanz sowie des Szenischen Raums im Hinblick auf performative Praktiken im Sinne eines erweiterten Theaterbegriffs. Die Juniorprofessur soll die experimentelle künstlerische Auseinandersetzung fördern. Zu den Aufgaben der Juniorprofessur gehören zudem die künstlerische Forschung und Praxis im Berufungsgebiet, die Betreuung von Studienprojekten, die Abnahme von Prüfungen, die Mitwirkung in der akademischen Selbstverwaltung und die Einwerbung von Drittmitteln. Die Auseinandersetzung mit den kulturell-ästhetischen Dimensionen des Lehrgebiets sowie mit einschlägigen Diskursen zu Theater/ Performance als Teil des Lehrkonzepts ist ausdrücklich erwünscht. Die Bildung von Schnittstellen zu anderen künstlerisch-gestalterischen sowie theoretisch-wissenschaftlichen Fächern am Hause wird als selbstverständlich erwartet. Vorausgesetzt werden ein abgeschlossenes Hochschulstudium des Bühnen- und Kostümbildes oder eines vergleichbaren Faches, hervorragende künstlerische Leistungen und mehrjährige Praxis in den oben genannten Feldern sowie pädagogische Eignung. Die Vergütung richtet sich nach dem Sächsischen Besoldungsgesetz in der Besoldungsgruppe W 1 der Sächsischen Besoldungsordnung. Die Dienstaufgaben sowie die dienstrechtliche Stellung des Juniorprofessors/der Juniorprofessorin ergeben sich aus § 67 und § 70 SächsHSFG. Der Umfang der Lehrverpflichtung richtet sich nach der Dienstaufgabenverordnung an Hochschulen (DAVOHS) und beträgt bis zu einer positiven Evaluierung 7 Lehrveranstaltungsstunden (LVS), danach 9 LVS. Die Hochschule für Bildende Künste strebt einen hohen Anteil von Frauen in der Lehre an. Qualifizierte Bewerberinnen sind deshalb ausdrücklich aufgefordert, sich zu bewerben. Bewerbungen Schwerbehinderter werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt. Die Einstellung erfolgt bei Erfüllung der persönlichen Voraussetzungen in einem Beamtenverhältnis auf Zeit oder in einem befristeten Arbeitnehmerverhältnis. Bewerbungen mit tabellarischem Lebenslauf, Überblick über die bisherigen Leistungen, Nachweis der Lehrerfahrungen, beglaubigte Kopie der Urkunde über den höchsten akademischen Grad sowie eine Kopie des Abiturzeugnisses sind unter Angabe der Kennzahl II/70 bis zum 30.04.2019 (Posteingang Hochschule) zu richten an: Hochschule für Bildende Künste Dresden, Referat Personalangelegenheiten, Güntzstraße 34, 01307 Dresden

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/ TdZ März 2019  /

Brecht bis in den Dialekt hinein, doch keine schnöde Kopie – Burghart Klaußner als Brecht in dem Zweiteiler von Heinrich Breloer, der jüngst auf der Berlinale Premiere feierte. Foto Nik Konietzny / WDR

Die Zeit des skandinavischen Exils fehlt ganz und wird zu Anfang des zweiten Teils nur in einer kurzen Rückblende erwähnt. Dieser zweite Teil ist allerdings ein ganz anderer Film, und das liegt vor allem an Burghart Klaußner und Adele Neuhauser als Brecht und Helene Weigel. Die beiden haben ihre Rollenvorbilder bis in Dialekt und Körpersprache gründlich studiert und unternehmen dennoch nicht den Versuch der Einfühlung, sondern zeigen ihre Figuren im Brecht’schen Sinne. Ihre Haltungen ma-

Dokument der Zerrissenheit

ling ist Bertolt Brecht.“ Mal abgesehen da-

chen nachvollziehbar, wie das Private politisch

von, dass diese Behauptung Brechts Ver-

und Politik zum privaten Schicksal wird.

Das Produktive zuerst, schließlich handelt es

ständnis von Theater direkt entgegensteht:

Das Problem des zweiten Teils, der vom

sich um Brecht: Heinrich Breloer und sein

Tom Schilling wirkt als junger Brecht farblos

amerikanischen Exil bis zu Brechts Tod 1956

Filmteam haben acht Jahre lang an diesem

und bemüht, und dessen provokante Lieder

reicht, besteht allerdings darin, dass man ein

Zweiteiler gearbeitet, Zeitzeugeninterviews

und Sprüche klingen bei ihm wie aufgesagt.

Brecht-Kenner sein muss, um sich in all den

geführt und Dokumentarmaterial aus Archi-

Weder als rebellischer Poet noch als hem-

Probenproblemen und politischen Intrigen in

ven zusammengestellt, Originalschauplätze

mungsloser Liebhaber seiner vielen Freundin-

und um das Berliner Ensemble zurechtzufin-

besucht und nachgebaut und weder Sorgfalt

nen kann er – im Gegensatz zu Friederike

den. Gelingt das, dann werden die Zerrissen-

noch Kosten gescheut, um dem deutschen

Becht als Marianne Zoff und Lou Strenger als

heit und Widersprüchlichkeit von Brechts

Fernsehpublikum das Leben und Sterben

junge Helene Weigel – überzeugen. Warum

Verhalten in der DDR verständlicher. In den

Bertolt Brechts näherzubringen. Christoph

sich Frauen und Männer in diesen blassen

Szenen zwischen dem alternden Stücke-

Kanter hat großartige Szenenbilder entwor-

Jüngling verlieben, bleibt rätselhaft.

schreiber und seinem Freund und Bühnen-

fen, Ute Paffendorf die Kostüme der Protago-

bildner Caspar Neher (großartig: Ernst Stötz-

nisten originalgetreu nachschneidern lassen, die Kamera von Gernot Roll faszinierende Bilder aus Brechts Leben zwischen Augsburg, Berlin und New York festgehalten, die Claudia Wolscht dramaturgisch schlüssig mit den Dokumentarbildern verschnitten hat. Als der Film auf der finanziellen Kippe stand, soll die federführende WDR-Redakteurin Barbara Buhl das

ner) werden die Zweifel und die Einsamkeit Heinrich Breloer: „Brecht“. Gemeinschafts­ produktion der Bavaria Fernsehproduktion mit WDR, BR, SWR, NDR und ARTE für die ARD, Ausstrahlungstermine: 22. März 2019 auf ARTE, 27. März 2019 in der ARD. Das Buch zum Film erscheint bei Kiepen­heuer & Witsch Köln.

Brechts in den letzten Jahren seines Lebens deutlich. Daran haben die Zeitzeugen dieses Teils, vor allem Regine Lutz, Erwin Geschonneck und Egon Monk wesentlichen Anteil. So sehr dieses „Doku-Drama“ auch in zwei schauspielerisch unterschiedliche Teile zerfällt, so sehenswert ist es dennoch für alle, die mit dem Bild vom Staatsdichter und Kom­mu­nis­

Projekt zur „nationalen Aufgabe“ erklärt und

mus-Klassiker aufgewachsen sind. Wenn die-

zusätzliches Geld besorgt haben. Das war wohl auch der Grund, warum sich zur Premiere auf

Und hier liegt auch die zweite Krux des

ser Film dazu führt, dass auch Fernseh­

der Berlinale Bundespräsident Frank-Walter

Films. Regie und Redaktionen setzen dar-

zuschauer wieder einmal ein Buch von Brecht

Steinmeier und Kulturstaatsministerin Monika

auf, dass das Thema „Brecht und die Frau-

in die Hand nehmen oder in eins seiner

Grütters die Ehre gaben. Ein so aufwendiger

en“ Publikum und Presse immer noch am

­Stücke gehen, dann war diese nationale Auf-

und umfangreicher Film über einen deutschen

meisten interessiert. Jedenfalls malt der

gabe ihr Geld und die drei Stunden aus dem

Dichter wird so bald nicht wieder in den öffent-

Film die lebenslang verwickelten Liebesbe-

Leben des Augsburger Stückeschreibers wert. //

lich-rechtlichen Anstalten produziert werden.

ziehungen von Paula Banholzer bis zu Isot

Holger Teschke

Aber das Fernsehen ist auch die Krux

Kilian in epischer Breite aus. Brechts Litera-

des Films, denn offenbar glaubten Breloer

tur und Theaterarbeit kommen im ersten Teil

und seine Redakteurin, dass man dem Publi-

nur am Rande vor, wichtige Mitarbeiter und

kum vor allem Schauspieler bieten müsse,

Freunde wie Hanns Eisler, Erwin Piscator

die es schon aus dem Fernsehen kennt. Die

oder Karl Korsch gar nicht. Der Kollektiv-

„And the waterwheel just goes on turning /

Trailer und Vorankündigungen werben im

dichter Brecht erscheint vor allem mit sich

Fortunes come and go – you know the deal. /

Broadway-Sound mit dem Satz: „Tom Schil-

und seinen Damen beschäftigt.

While the water down below must keep on

Onwards and no forgetting


bücher

/ TdZ  März 2019  /

churning / Its only business is to drive the

aber auch das Renommee der Übersetzer.

getragen werden, die anderweitig kaum fest-

wheel“, heißt es in „The Collected Poems of

Zwar sind in dem über tausend Seiten starken

gehalten wurden und noch nicht in eine zu-

Bertolt Brecht“, und unmittelbar bei der Lek-

Band auch weniger gelungene Passagen zu

sammenfassende Untersuchung eingegangen

türe entsteht das Bild einer Schauspielerin,

finden, Gedichte, die man für unübersetzbar

sind, denn die gibt es im Fall Schleefs noch

die, auf der Bühne stehend, diese Verse singt.

halten mag, verloren gegangene Vieldeutig-

nicht. Man erfährt bei Christine Groß und

(Wann wohl wurden zuletzt „Die Rundköpfe

keiten. Und doch muss das ambitionierte

Martin Wuttke einiges über die Probenarbeit.

und die Spitzköpfe“ auf einer großen Bühne

Großprojekt gelobt werden, in dem Verse ver-

Carl Hegemann, der ebenso wie Schleefs Ent-

im englischsprachigen Ausland gegeben?)

sammelt sind, die Brecht gerecht werden.

decker aus dem Westen, Intendant Günther

Der englische Germanist und Brechtforscher

Zurzeit findet man in den Spielplänen

Rühle, ausführlich über die Frankfurter Jahre

Tom Kuhn hat gemeinsam mit dem überaus

deutschsprachiger

Brecht-

spricht, wird zudem zu dem übergreifenden

talentierten Übersetzer und Schriftsteller

Inszenierungen, wenn auch nicht die ganze

Vergleich befragt, was Schleef mit Castorf,

David Constantine das gesamte lyrische ­

Vielfalt seiner Stücke repräsentierend. Es

Schlingensief und Heiner Müller verbinde.

Schaffen Brechts, immerhin mehr als 1200

bleibt die Hoffnung, dass Brechts große

Die Perspektive der Gesprächspartner und

Gedichte, ins Englische übertragen. Etwa

Sprachkunst, die in den Übersetzungen

­Orlowskis Fragen lenken den Blick dabei ver-

fünfhundert davon – erstaunlich, bedenkt

glücklicherweise immer wieder aufscheint,

man den Weltruhm des Autors – sind erstmals

international auch Lust am Theaterautor

in englischer Sprache zu lesen. Mehr als fünf

Brecht weckt. //

Theater

viele

Erik Zielke

Jahre hat die mit Sicherheit schwierige, bestimmt vergnügliche Arbeit in Anspruch ­ genommen, die auch für den deutschen Leser verblüffend ist. Überraschend genau sind Rhythmus, Reim, Tonfälle, stilistische Eigen-

23 Mal Schleef

Vor dem Palast. Gespräche über Einar Schleef. Herausgegeben von Corinne Orlowski, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 370 Seiten, 24 EUR.

heiten beibehalten. Vertraut wirken die Verse,

Als Einar Schleef am 21. Juli 2001 in Berlin

und doch sind es neue Lektüreeindrücke. Im

starb, begann die eigentliche Phase der

vergleichenden Lesen, zu dem das sehr über-

­Erschließung seines Werks aus Theaterinsze-

sichtliche und mit Registern versehene Buch

nierungen, erzählender und essayistischer

einlädt, scheint immer wieder eine Vor­

Prosa, Tagebüchern sowie Malerei, Zeichnun-

stellung von Brechts Arbeit an und mit der

gen und Fotografie. Die Herausgeberin des

stärkt auf die Zeit zwischen 1985 und 1995,

Sprache auf: ein Einblick in die Dichterwerk-

Gesprächsbands „Vor dem Palast“, Corinne

als Schleefs spezifische Dramaturgie, speziell

statt.

Orlowski, Jahrgang 1990, ging zu diesem

die Form des chorischen Theaters kenntlich

Zeitpunkt noch zur Schule und dürfte wohl

wurde. Die erste Phase seiner Theaterarbeit

den Nachruf von Elfriede Jelinek mit dem

am Berliner Ensemble 1972 bis 1975 bleibt

bald berühmt gewordenen Diktum vom

dagegen unterbelichtet – seine erste (und

­„Genie Schleef“ damals noch nicht gelesen,

auch späte) Protagonistin Jutta Hoffmann

geschweige denn eine seiner stets heftig um-

fehlt in dem Buch ebenso wie der Co-Regis-

strittenen Inszenierungen gesehen haben.

seur der Frühzeit B. K. Tragelehn.

Jetzt zitiert sie im Vorwort als Erstes aus die-

Dafür wird der Kreis der Befragten auf Berei-

sem Nachruf. Insgesamt 23 Künstler, Regis-

che ausgeweitet, die bislang wenig erkundet

seure, Schauspieler, Dramaturgen, Mitarbei-

wurden, wie etwa Schleefs Einfluss auf jünge-

ter, Theaterwissenschaftler und mit der Pflege

re Regisseure und Autoren (Ulrich Rasche,

von Schleefs künstlerischem Nachlass Be-

Thomas Köck) oder die Spezifik seiner Male-

traute hat sie befragt – ein wahrhaft breites

rei in dem höchst aufschlussreichen Ge-

Spektrum, aber ohne das geht es bei Schleef

spräch mit Michael Freitag, der den künstle-

Das Früh- und das Spätwerk, der politische –

auch nicht. Für die Gespräche mit so unter-

rischen Nachlass wissenschaftlich bearbeitete

„Onwards and no forgetting“ – und der eroti-

schiedlichen Persönlichkeiten wie Jürgen

und in einer großen Ausstellung 2008 in Hal-

sche Brecht – „When I left you, afterwards /

Holtz, Claus Peymann, Bibiana Beglau und

le präsentierte. Freitag bezeichnet die Vielsei-

On that great today“ – sind versammelt. Die

Martin Wuttke mag ihr die langjährige Arbeit

tigkeit des Ausdrucks als eine Suche nach

Lieder und Balladen, vor allem aber die Son-

in einer Schauspielagentur und bei den Ber­

dem „zutreffenden Medium“ zwischen Thea-

ette sind hervorragend übersetzt: „You know,

linale Talents eine gute Schule gewesen sein,

ter, Malerei und Tagebuch. Solche Querver-

whoever’s needed is not free. / But come

während ihr Studium der Literatur und Ethno-

bindungen werden tatsächlich erst aus der

whatever may, I do need you. / I saying I could

logie sie Methoden lehrte, wie man das Feld

Vielheit der einzelnen Stimmen um und nach

just as well say we.“ Es ist bekannt, dass

eines Künstlers über dessen unmittelbare

Schleef verstehbar, sodass allmählich das

Brecht mehr als streng mit den Übersetzern

Produktion hinaus erforscht.

Bild eines gattungsübergreifend arbeitenden

The Collected Poems of Bertolt Brecht. Übers. und hrsg. von Tom Kuhn und David Constantine. W.W. Norton & Company, London und New York 2018, 1312 Seiten.

seiner Werke ins Gericht gegangen ist. Eine

Das Buch ist ein mustergültiges Bei-

Eigenart, die auch von seinen Erben beibe-

spiel für Theatergeschichte als oral history, in

halten wurde. Genauigkeit spielte eine Rolle,

der Erfahrungen und Ansichten zusammen­

Künstlers entsteht. // Thomas Irmer

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aktuell

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/ TdZ März 2019  /

Klaus Dörr. Foto Julian Röder

Meldungen

■ Das Theaterhaus Gessnerallee Zürich be-

mann, derzeitiger Intendant am Schauspiel

kommt eine neue Leitung. Ab der Spielzeit

Köln, äußerte parallel im Kölner Stadtanzei-

2020/21 werden Michelle Akanji, Rabea

ger, nach seinem Vertragsende 2021 mögli-

Grand und Juliane Hahn das Programm ver-

cherweise doch noch für zwei weitere Jahre

antworten. Sie lösen damit Roger Merguin

zur Verfügung zu stehen.

ab, der dem Theater seit 2012 vorstand. Nachdem bereits am Theater Neumarkt ab

■ Wie Berlins Kultursenator Klaus Lederer

der kommenden Spielzeit mit Julia Reichert,

bekannt gab, werden Susanne Moser und Philip

Tine Milz und Hayat Erdoğan drei Frauen an

Bröking ab 2022 die Intendanz der Komischen

der Spitze stehen werden, erhält nun auch

Oper Berlin übernehmen. Damit lösen sie Bar-

das erste Haus der freien Schweizer Theater-

rie Kosky ab, der der Komischen Oper seit

und Tanzszene ein rein weibliches Leitungs­

2012/13 vorsteht. Moser und Bröking, die als

team. Unter ihrer Leitung soll die Gessner­

Geschäftsführende Direktorin beziehungswei-

allee zukünftig verstärkt als Partner lokaler

se Operndirektor dem Haus seit Jahren ver-

Künstler auftreten und noch fester in der

bunden sind, sollen die Komische Oper wäh-

Stadt Zürich verankert sein.

rend

■ Klaus Dörr wird die Volksbühne in Berlin für

der

Generalsanierung

des

Hauses

begleiten, die voraussichtlich fünf Jahre dau-

eine weitere Spielzeit leiten. Dies gab die

■ Die Verträge von Generalintendant Wilfried

ern wird. Die Produktionen werden auf andere

Berliner Kulturverwaltung bekannt. Ursprüng-

Schulz und der Kaufmännischen Geschäfts-

Spielstätten

lich als Geschäftsführer vorgesehen, war Dörr

führerin Claudia Schmitz am Düsseldorfer

selbst wird der Oper als Hausregisseur erhal-

2018 nach dem Ende der Intendanz von

Schauspielhaus werden bis 2026 verlängert.

ten bleiben.

Chris Dercon als Interimsintendant einge-

Dies hat der Aufsichtsrat des Theaters be-

sprungen. Berlins Kultursenator Klaus Lede-

schlossen, die Entscheidung wurde vom Rat

■ Ende Januar gab die Jury des diesjährigen

rer hatte mehrfach betont, Dörrs Intendanz

der Stadt Düsseldorf bestätigt. Die beiden

56. Theatertreffens der Berliner Festspiele ihre

bis Ende 2020/21 zu verlängern, sollte sich

bekleiden ihre jeweiligen Posten seit der

Auswahl bekannt. Die zehn bemerkens­

zum gegebenen Zeitpunkt kein geeigneter

Spielzeit 2016/2017.

wertesten Inszenierungen sind: „Das große

ausweichen

müssen.

Kosky

Heft“ nach Ágota Kristóf in einer Fassung

Nachfolger finden lassen.

■ Carl Philip von Maldeghem übernimmt nun

von Ulrich Rasche und Alexander Weise

■ Der Dramaturg und Co-Intendant des

doch nicht die Intendanz des Schauspiels

(Regie und Bühne Ulrich Rasche  ­ /  Staats-

­Maxim Gorki Theaters in Berlin, Jens Hillje,

Köln. Seine Berufung durch Kölns Oberbür-

schauspiel Dresden), „Das Internat“ von Er-

wird mit dem Goldenen Löwen der Theater­

germeisterin Henriette Reker und Kulturde-

san Mondtag mit Texten von Alexander Ker-

biennale in Venedig für sein Lebenswerk ge-

zernentin Susanne Laugwitz-Aulbach hatte

lin und Matthias Seier (Regie, Bühne und

ehrt. Die Theatersparte der Biennale erklärte

scharfe Kritik in der Kulturszene hervorgeru-

Kostüme Ersan Mondtag / Schauspiel Dort-

in ihrer Begründung, sein Wirken habe dazu

fen. Der Schriftsteller Navid Kermani etwa

mund), „Dionysos Stadt“ von Christopher

beigetragen, „dass ein neues Theaterpublikum

bezeichnete die Entscheidung in einem Arti-

Rüping (Regie Christopher Rüping / Münch-

entstehen konnte, welches aus verschiedenen

kel im Kölner Stadtanzeiger als eine „Demü-

ner Kammerspiele), „Erniedrigte und Belei-

sozialen Schichten und geografischen Regio-

tigung für Köln“. Maldeghem zog daraufhin

digte“ nach Fjodor M. Dostojewski unter Ver-

nen kommt“. Die Auszeichnung wird im Rah-

seine Bewerbung zurück und bleibt damit

wendung der Hamburger Poetikvorlesung

men der 47. Theaterbiennale vergeben, die

dem Landestheater Salzburg als Intendant

von Wolfram Lotz (Regie und Bühne Sebastian

vom 22. Juli bis 5. August in Venedig stattfin-

erhalten. Gegenüber der Bild-Zeitung be-

Hartmann / Staatsschauspiel Dresden), „Girl

det. Mit dem Silbernen Löwen wird dieses

zeichnete er die „Schmutzkampagne in Köln“

From The Fog Machine Factory“ von Thom

Jahr der niederländische Autor und Regisseur

als verstörend. Die Stadt plant nun, eine Fin-

Luz (Regie, Bühne und Lichtdesign Thom

Jetse Batelaan geehrt.

dungskommission einzurichten. Stefan Bach-

Luz / u. a. Gessnerallee Zürich), „Hotel Strind-

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aktuell

berg“ von Simon Stone nach August Strindberg (Regie Simon Stone / Burgtheater, Wien in Koproduktion mit dem Theater Basel), „Oratorium“ von She She Pop (u. a. HAU Hebbel am Ufer, Berlin), „Persona“ von Ing-

Demo im Mai 2018 in Berlin. Foto Die Vielen e. V.

/ TdZ  März 2019  /

Beitrags der Stadt auf 67,5 Prozent. Bei grundlegenden Entscheidungen soll Plauen jedoch zukünftig ein Veto-Recht zukommen. Außerdem treten die beiden Städte als Träger des Theaters dem Kulturpakt des Freistaats

mar Bergman (Regie Anna Bergmann  /

Sachsen bei, wodurch Fördermittel vom Land

Deutsches Theater, Berlin in Koproduktion

abgerufen werden können. Die Mitarbeiter­

mit dem Malmö Stadsteater), „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ von PeterLicht nach Molière (Regie Claudia Bauer / Theater Basel) sowie „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace in einer Textfassung von Thorsten Lensing unter Mitarbeit von Thierry

innen und Mitarbeiter der Häuser können dadurch erstmals seit 2005 wieder nach Tarif bezahlt werden, zuvor bestand ein Haustarifvertrag. Die Finanzierung von Orchester und Theater ist bis 2022 gesichert. Dreißig Pro-

■ Zum 1. Februar haben etwa zweitausend

zent der notwendigen Mittel bringen die

Mousset und Dirk Pilz (Regie Thorsten Len-

Kunst- und Kulturinstitutionen sowie Interes-

­Städte selbst auf. Die am Theater vertretenen

sing / u. a. Sophiensaele, Berlin). Das Thea-

sensverbände die „Erklärung der Vielen“ un-

Gewerkschaften DOV, ver.di, GDBA und VdO

tertreffen findet vom 3. bis 19. Mai 2019

terzeichnet. Entsprechende Erklärungen ver-

begrüßen die Lösung.

statt. Mitglieder der Jury waren Margarete

fassten die Städte und Regionen Bremen,

Affenzeller, Eva Behrendt, Wolfgang Höbel,

Frankfurt am Main, Bayern, Rostock, Halle,

■ Das HAU Hebbel am Ufer in Berlin schreibt

Andreas Klaeui, Dorothea Marcus, Christian

Schleswig-Holstein, Mannheim, Mecklenburg-

im Rahmen des Houseclubs, eines Begleit-

Rakow und Shirin Sojitrawalla.

Vorpommern, Celle, Nordwest/Oldenburg, Thü-

programms für Jugendliche, eine sechs- bis

ringen, Brandenburg sowie Baden-Württem-

achtwöchige Künstlerresidenz von September

■ Die Nominierungen für den Mülheimer

berg. Zuvor hatten sich bereits Berlin,

bis Dezember 2019 aus. Enthalten sind darin

­Dramatikerpreis „Stücke 2019“ stehen fest.

Dresden, Hamburg, NRW und bundesweite

die Möglichkeit der freien Nutzung des House-

Aussicht auf die mit 15 000 Euro dotierte

Kulturinstitutionen an der Aktion beteiligt,

club-Raumes sowie eine finanzielle Unter-

Auszeichnung haben Sybille Berg mit „Won-

die sich für eine offene Gesellschaft und eine

stützung der künstlerischen Arbeit in Höhe

derland Ave.“ in der Regie von Ersan Mond-

integrative Kulturszene im deutschsprachi-

von 4000 Euro. Außerdem werden 2000 Euro

tag, Elfriede Jelinek mit „Schnee Weiss“ in

gen Raum engagiert. Das Bündnis will damit

Material- und Technikkosten für bis zu zwei

der Regie von Stefan Bachmann (beides am

ein Zeichen setzen gegen Intoleranz und

Präsentationen übernommen. Bewerben kön-

Schauspiel Köln), „Disko“ von Wolfram Höll,

rechtspopulistische Ausgrenzung sowie Ein-

nen sich Einzelkünstler und Gruppen im Be-

inszeniert von Ivan Panteleev sowie Thomas

schränkungen der Kunstfreiheit. Die unter-

reich Performance, Theater, Tanz und Musik

Köcks „atlas“ in der Regie von Philipp Preuss

zeichnenden Institutionen verpflichten sich

mit

(beides am Schauspiel Leipzig), Konstantin

unter anderem zur Solidarität mit diffamier-

Deutschland, die Interesse daran haben, mit

Küspert mit „Der Westen“ am ETA Hoffmann

ten Kultureinrichtungen und Künstlern sowie

Schülern Fragestellungen der sich wandelnden

Theater Bamberg mit Sibylle Broll-Pape als

zur Teilnahme an der Kampagne mit Aktions-

Stadtgesellschaft nachzugehen. Bewerbungen

Regisseurin, Enis Macis „Mitwisser“ am

tagen und Dialogforen. Am 19. Mai sollen in

werden bis zum 30. März 2019 erbeten an

Schauspielhaus Wien in der Regie von Pedro

mehreren Städten „glänzende Demonstratio-

Volkan Türeli v.tuereli@hebbel-am-ufer.de.

Martins Beja, Clemens J. Setz mit „Die Ab-

nen“ für ein Europa der Vielen stattfinden.

Lebens-

und

Arbeitsmittelpunkt

in

weichungen“, inszeniert von Elmar Goerden am Schauspiel Stuttgart und „Eine griechi-

■ Der Plauener Stadtrat hat einer Kompro-

sche Trilogie“ von Simon Stone am Berliner

misslösung im Theaterstreit in Plauen-Zwickau

Ensemble. Die 44. Mülheimer Theatertage

zugestimmt. Demnach steigt die Beteiligung

NRW „Stücke 2019“ finden vom 11. bis zum

Zwickaus an der Theater GmbH zwar wie ge-

30. Mai 2019 statt.

plant entsprechend des höheren finanziellen

Theater der Jungen Welt Leipzig

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/ TdZ März 2019  /

Premieren Aachen Theater J. Osborne: Der Entertainer (E. Finkel, 08.03.); D. Macmillan: All das Schöne (L. Hoepner, 14.03.); F. Hebbel: Die Nibelungen (C. Rast, 16.03.) Augsburg Staatstheater P. Dempf: Tatort Augsburg. Folge 5: Escape-Codename Clown (D. Ortmann, 22.03.) Baden-Baden Theater P. C. d. Marivaux: Das Spiel von Liebe und Zufall (F. Prader, 22.03.) Bamberg E.T.A.-Hoffmann-Theater B. Bjerg: Auerhaus (H. Weiler, 15.03.); W. Shakespeare: Hamlet (S. Schug, 22.03.) Braunschweig Staatstheater NYX: Autoland (N. Gühlstorff, 15.03., UA); B. Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (D. Schlingmann, 16.03.); I. Wyrypajew: Iran-Konferenz (30.03.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater J. Gardell: Die Eisbären (A. Wilke, 01.03.) Berlin Ballhaus Ost Das Helmi: Unend­ licher Geschichtenspaß (Das Helmi, 22.03.) Berliner Ensemble Á. Schilling/ É. Zabezsinszkij: Der letzte Gast (Á. Schilling, 15.03., UA) Deutsches Theater F. Schmalz: der tempelherr. ein erbauungsstück (P. Arnold, 03.03., UA); R. Lehniger/n. Gebrüder Grimm / CyberRäuber: Verirrten sich im Wald (R. Lehniger, 30.03.) Grips Theater K. Fuchs: Das Nacktschnecken-Game (M. L. Umbach, 28.03., UA) Maxim Gorki Theater Yael Ronen & Ensemble: Third Genera­ tion – Next Generation (Y. Ronen, 08.03.); Rimini Protokoll: Granma. Posaunen aus Havanna / Metales de Cuba (S. Kaegi, 21.03.); Ron Rosenberg & Ensemble: So nicht aber so schon (R. Rosenberg, 28.03.) Theater an der Park­ aue F. Melquiot: Die Zertrennlichen (L.-C. Rabih, 27.03.) Volksbühne S. Waltz: rauschen (S. Waltz, 07.03., UA) Bielefeld Theater A. Jarry: König Ubu (C. Weyde, 15.03.); W. Shakespeare: Wie es Euch gefällt (C. Schlüter, 16.03.); J. W. v. Goethe: Faust 2 (D. Yazdkhasti/K. Kästner, 29.03.) Bonn Kleines Theater Bad Godesberg J. Merchant: Rapunzelgrab (A. Lachnit, 07.03.) Theater S. Zenner: Die Ratte (B. Cathomas, 27.03., UA); S. Solberg: Oh wie schön ist Malta (S. Solberg, 28.03., UA); L. Hübner / S. Nemitz: Frau Müller muss weg (J. Groß, 29.03.) Bregenz Vorarlberger Landestheater S. Beckett/S. Costa: Spiel / Wry Smile Dry Sob (S. Costa, 01.03., UA); G. Meister/T. Arzt: Der 27. Kanton (P. Benecke, 08.03., UA); M. Frisch/I. Bachmann/P. Celan: Die collagierte Zeit (S. Meienreis, 22.03.) Bremen Theater F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (M. Lehmann, 05.03.); A. Petras/n. L. Tolstoi: Auferstehung (A. Zandwijk, 08.03.) Bremerhaven Stadttheater J. Tannahill: Concord Floral (K. Dürr/M. Roenneberg,

März 2019

08.03.); J. Popig/R. Westhoff: Wir sind die Neuen (A. Spaeter, 30.03.) Bruchsal Badische Landesbühne Starter: Was wäre, wenn … (J. Gundersdorff, 09.03.); T. Williams: Die Glasmenagerie (K. Schmidt, 16.03.) Celle Schlosstheater A. Döring: Celler Loch (A. Döring, 22.03., UA); E. Kästner: Fabian oder der Gang vor die Hunde (P. Schwesig, 30.03.) Chemnitz Theater F. M. Dostojewski: Weiße Nächte (K. Brune, 15.03.); n. F. Fellini: La Strada. Das Lied der Straße (R. Czechowksi, 16.03.) Cottbus Staatstheater J. Fabian: Nirvana (J. Fabian, 09.03., UA); F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (R. Jakubaschk, 24.03.) Dessau Anhaltisches Theater L. Vekemans: Judas (J. Fedler, 28.03.) Detmold Landestheater J. Neumann: Fundament (J. Steinbach, 14.03.); M. Frisch: Andorra (A. Schilling, 15.03.) Dinslaken Burghofbühne B. Lauterbacher: Der Chinese (M. Spaan, 09.03.) Dortmund Theater C. Maier/T. Müller: Klatschen (I. Stahl/L. Sombetzki, 09.03., UA); G. Corbeil: Man sieht sich #SiehstDu-

THEATERFESTIVAL FÜR JUNGES PUBLIKUM

Mich (S. Jasinszczak, 16.03., UA); L. N. Junghanns: Echte Liebe (L. N. Junghanns, 29.03., UA); R. Grebe: Unsere Herzkammer – eine musikalische Erinnerung an 150 Jahre Dortmunder SPD (R. Grebe, 30.03., UA) Düsseldorf Schauspielhaus A. Miller: Ein Blick von der Brücke (A. Petras, 09.03.); Thilo Reffert: Auf Klassenfahrt oder Der große Sprung (F. Panhans, 31.03., DEA) Eggenfelden Theater an der Rott P. Abraham: Ball im Savoy (R. Holzapfel, 10.03.); J. Raschke: Wer nicht träumt (M. Steinwender, 14.03., UA) Essen Schauspiel M. Cooney: Cash – Und ewig rauschen die Gelder (T. Materna, 02.03.); n. M. Maeterlinck/J. M. Barrie u. a.: Schließ deine Augen – Rien ne va plus! (S. Krohn/ M. Malitius, 27.03., UA) Esslingen Württembergische Landes­ bühne O. Storz: Die barmherzigen Leut‘ von Martinsried (M. Grube, 14.03.) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm Rimini Protokoll: Do’s & Don’ts Frankfurt/Main – Eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt (H. Haug/A. Begrich/ J. Karrenbauer, 20.03., UA); Woman With Stones (C. Creutzburg, 22.03., UA)

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THEATERFESTIVAL FÜR JUNGES PUBLIKUM 7. 12. MAI 2019 IN BERLIN

ZEHN INSZENIERUNGEN gefördert von: AUS DEUTSCHLAND UND GASTSPIELE AUS POLEN, UNGARN UND RUSSLAND DER VORVERKAUF LÄUFT! präsentiert von: Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland

gefördert von:

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Schauspiel Alles was zählt (M. Lohmann, 01.03.); E. d. Vroedt: The Nation II (F. Bösch, 30.03.) Freiberg Mittelsächsisches Theater Die Welt ist rund, denn dafür ist sie da (R. Schulze, 03.03.); P. Shaffer: Amadeus (A. Wöhlert, 16.03.) Freiburg Theater Glupsch (G. Smith/C. Meyer / V. Valk, 02.03., UA); The Tiger Lillies /J. Crouch / P. McDermott: Shockheaded Peter (G. Joplin, 09.03.); A. Tschechow: Onkel Wanja (P. Carp, 23.03.) Gera Theater & Philharmonie Thüringen Clowns (Vlasova/Pawlica, 17.03., UA); A. Lindgren: Meisterdetektiv Kalle Blomquist (M. Röhr, 30.03.) Göttingen Deutsches Theater E. Kästner: Fabian (R. Messing, 16.03.); C. Durang: Gebrüllt vor Lachen (L. Rebentisch, 17.03.); Junges Theater D. Glattauer: Die Wunderübung (F. Ritter, 01.03.) Graz Schauspielhaus L.I.S.A. (13.03.); N. Haidle: Götterspeise (J.  S. Schmieding, 15.03.); F. Schmalz: Schlammland Gewalt (C. Tscharyiski, 28.03., ÖEA) Greifswald Theater Vorpommern L. Werner: Weißer Raum (R. Göber, 15.03.) Halle Neues Theater M. St. Germain: Die Tanzstunde (D. Rahnefeld, 22.03.) Thalia Theater K. Fuchs: Alle außer das Einhorn (K. Brankatschk, 06.03.) Hamburg Schauspielhaus K. Mitchell/S. Meier/n. M. Nelson: Bluets (K. Mitchell, DAS FESTIVAL DES THEATERS 15.03., UA); J. Saramago: Die Stadt der FÜR JUNGES PUBLIKUM Blinden (K. Voges, 16.03., DEA); K. Köh2019 ler: Deine Helden – meine Träume (I. Osthues, 22.03.) Thalia Theater J. v. Düffel/n. W. Shakespeare: Rom (S. Bachmann, 23.03.) Hannover Schauspiel T. Rodrigues: Traurig und fröhlich ist das Giraffenleben (L. Iversen, 15.03.); n. F. Schiller/n. G. Hauptmann/n. H. Müller: RäuberRatten-Schlacht (A. Eisenach, 21.03.); A. Seierstad: Einer von uns. Spuren­ suche nach dem 22. Juli 2011 (E. Ulfsby, 22.03., UA) Heilbronn Theater E. Labiche: Die Affäre Rue de Lourcine (M. Becker, 09.03.); F. Kruckemeyer: Der Junge mit dem längsten Schatten (N. Buhr, 10.03.); B. Brecht/K. Weill: Die Dreigroschenoper (T. Winter, 16.03.) Hildesheim Theater für Niedersachsen J. Offenbach: Die Prinzessin von Trapezunt (M. Hopp, 03.03.) Innsbruck Tiroler Landestheater R. Seethaler: Der Trafikant (B. Eckenweber, 09.03.) Jena Theaterhaus Wunderbaum: Ich bereue (W. Bart, 15.03.); L. Timmers: Nackt (L. Timmers, 28.03.) Kaiserslautern Pfalztheater N. Stuhler: Fische (C. Haninger, 08.03., UA) Karlsruhe Badisches Staatstheater B. Park/n. F. Salten: Bambi & Die Themen von Bonn Park (C. Sprenger, 01.03., UA); Ladies First / Ein musikalischer Abend


aktuell

/ TdZ  März 2019  /

mit 56 Frauen (O.  A. Thoß, 03.03.); S. Gößner: Mongos (M. Pellert, 15.03.) Kassel Staatstheater C. Brandau: Sagt der Walfisch zum Thunfisch (P. Rosendahl, 03.03.); D. Kelly: Die Opferung von Gorge Mastromas (M. Schulze, 15.03.); N. Raine: Stories (M. Priebe, 16.03., DEA) Kiel Theater V. Hugo: Die Elenden (M. Kreutzfeldt, 01.03.); H. Pinter: Der Liebhaber (D. Karasek, 03.03.); Gebrüder Grimm: Rumpelstilzchen (A. Großgasteiger, 09.03.); J. Brittain: Rotterdam (J. Ender, 22.03.) Klagenfurt Stadttheater n. G. Haupt­ mann/E. Palmetshofer: Vor Sonnenaufgang (G. Schmiedleitner, 07.03.) Köln Comedia Theater Agentur für Diebstahl (A. V. Kelle, 09.03., UA) Krefeld Theater N. Haidle: Everything Beautiful – Für immer schön (C. Roos, 09.03.) Landshut kleines theater F. Roger-Lacan: Der Krawattenclub (M. Morlinghaus, 08.03.) Landestheater Niederbayern R. Lopez/J. Marx/J. Whitty: Avenue Q (S. Tilch, 08.03.) Leipzig Schauspiel D. Gieselmann: Container Paris (M. A. Ostrowski, 16.03.); If you were God (M. Harriague, 22.03.) Theater der Jungen Welt Teenage Widerstand (C. Mährlein, 02.03., UA); J. Raschke: Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute (J. Zielinski, 09.03.) Linz Landestheater B. Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (S. Suschke, 15.03.) Lübeck Theater Traumwelten (K. Ötting, 06.03.) Magdeburg Theater R.  A. Säidow/J. Ching: Die wahre Geschichte von King Kong (R. A. Säidow, 16.03., UA) Marburg Hessisches Landestheater A. Filou: Am Hafen mit Vogel (C. Unser, 17.03., UA) Mülheim an der Ruhr Theater an der Ruhr H. Ibsen: Gespenster (S. Thoma, 08.03.) München Metropol Theater J. M. Jakobsen: Das Abendland (J. Schölch, 20.03., DSE) Residenztheater P. Verhelst/n. Euripides: Die Bakchen – lasst uns tanzen (W. Vandekeybus, 15.03.); F. Bellini: Eine göttliche Komödie. Dante <> Pasolini (A. Latella, 22.03.); E. Jelinek: Wolken.Heim (M. Rippert, 29.03); E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann (R. Gerloff, 31.03.) Neuss Rheinisches Landestheater A. Jaramillo: La Línea (J. Huda Nahas, 01.03.); K. Küspert: Europa verteidigen (C. Quitschke, 02.03.); J. Conrad: Herz der Finsternis (R. Ortmann, 16.03.) Neuwied Landesbühne Rheinland-Pfalz F. Battermann: Oskar Schindlers Liste (L. Wenzel, 06.03.) Nürnberg Staatstheater P. Löhle: Am Rand (Ein Protokoll) (J. P. Gloger, 09.03., UA); P. Hůlová: Eine kurze Geschichte der Bewegung (A. Petras, 24.03., UA) Oldenburg Staatstheater H. Puka: All of me (K. Birch, 02.03.); W. Shakespeare: Romeo und Julia (K. Dahlem, 02.03.); A. Jansen/L. Schreiber: 1800 Sekunden (A. Jansen/L. Schreiber, 09.03.); F.

Die Theater der Stadt Wolfsburg GmbH – Scharoun Theater Wolfsburg sucht mit Beginn der Spielzeit 2020/21 (01.09.20) eine(n)

Intendantin/Intendanten Das Scharoun Theater Wolfsburg gehört zu den größten Bespieltheatern Deutschlands. Pro Jahr werden 1–2 Eigenproduktionen realisiert. Wir suchen eine verantwortungsbewusste, kreative Persönlichkeit mit breiter Theater-/Leitungserfahrung, die unser Theater engagiert in die Zukunft führt und das bisherige erfolgreiche Profil weiterentwickelt. Sie sind in Personalunion als Intendantin/Intendant und Geschäftsführerin/Geschäftsführer für den künstlerischen und wirtschaftlichen Erfolg des Theaters verantwortlich. Die Fähigkeit, Publikum genauso wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu begeistern, erfolgreiches Arbeiten im Team sowie wirtschaftliches Denken setzen wir voraus. Ihre Bewerbung mit den üblichen Unterlagen und ersten konzeptionellen Ansätzen richten Sie bitte bis zum 15.04.2019 an den Vorsitzenden des Aufsichtsrates: Dr. Thomas Steg, Generalbevollmächtigter Volkswagen AG, Leiter Außenbeziehungen Volkswagen Aktiengesellschaft Brieffach 111/1882, 38436 Wolfsburg Hinweis: Ausschreibung und Einstellung erfolgen unter gesetzl. Berücksichtigung von SGB IX und AGG. Reisekosten im Zusammenhang mit der Bewerbung können nicht übernommen werden.

Theater der Stadt Wolfsburg GmbH Klieverhagen 50 ∙ 38440 Wolfsburg ∙ Tel. 05361 2673-25 ∙ theater.wolfsburg.de

Knott: Bi Anroop – Moord (A. Marusch, 24.03.) Osnabrück Theater M. Brooks/T. Meehan: The Producers (D. Schnizer, 23.03.) Paderborn Theater D. Busch: Das Recht des Stärkeren (M. Dudzic, 16.03.); A. Ayckbourn: Ab jetzt (U. Maack, 22.03.) Parchim Mecklenburgisches Staatstheater M. Baltscheit: Die besseren Wälder (S. Martin, 22.03.) Pforzheim Theater J. W. v. Goethe: Faust I (T. Münstermann, 01.03.) Plauen Theater B. Brecht: Die heilige Johanna der Schlachthöfe (R. May, 23.03) Potsdam Hans Otto Theater T. Storm: Der Schimmelreiter (K. Plötner, 01.03.); K. Šagor: Patricks Trick (K. Šagor, 15.03., UA) Radebeul Landesbühnen Sachsen S. Berg: Mein ziemlich seltsamer Freund Walter (A. Wilke, 10.03.); G. Kahl/A. Steinhöfel: Die Mitte der Welt (M. Schöbel, 10.03.) Regensburg Theater E. Gedeon: Ewig Jung (K. Draeger-Ostermeier, 05.03.); P. Shipton: Die Wanze (L. Regahl, 17.03.) Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Lan­ des­ theater und Sinfonieorchester C. Nußbaumeder: Mutter Kramers Fahrt zur Gnade (M. Pfaff, 09.03.); T. Renberg: Indianer (K. Mayr, 14.03., DEA) Rostock Volkstheater B. Bartz: Das singende klingende Bäumchen (B. Bartz, 09.03., UA); Utopie der Wärme (C. Lange, 16.03.)

Saarbrücken Theater Überzwerg Sarah V. Dubois / Claude K. Dubois: Stromer (Sarah Mehlfeld, Thomas Jäkel/C. Hillinger, 16.03., UA) Schaan TAK – Theater Liechtenstein D. Kehlmann: Heilig Abend (T. Kramer, 16.03.) Schwerin Mecklenburgisches Staatstheater A. Miller: Hexenjagd (The Crucible) (M. Nimz, 01.03.); G. Büchner: Woyzeck (A. Buddeberg, 08.03.) Stuttgart Junges Ensemble N. Liszta: Vesper (N. Liszta, 09.03.) Schauspiel F. García Lorca: Bernarda Albas Haus (C. Bieito, 16.03.) Schauspielbühnen L. Vekemans: Judas (A. Preuß, 06.03.); E. Hosemann/n. F. v. Schirach: Tabu (E.

gift 4 x jährlich

Hosemann, 15.03.); P. LaZebnik/K. Day: Ehe währt für immer – Eine Tour der Farce (U. Schürmer, 16.03.) Theater tribühne e. V. V. Baumgartner: Verona oder Was geschah nach Romeo und Julia (V. Baumgartner, 13.03., UA) Tübingen Landestheater L. Strömquist: Ursprung der Liebe (I. Jebens, 08.03.) Ulm Theater A. Bousdoukos: Soul Kitchen (A. Flache, 07.03.); G. Brant: Am Boden (A. Nathusius, 15.03.) Wasserburg a. Inn Belacqua Theater G. Büchner: Leonce und Lena (U. Bertram, 15.03.) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Y. Reza: Der Gott des Gemetzels (S. L. Kleff, 30.03.) Wien Burgtheater E. Ionesco: Die Stühle (C. Peymann, 13.03.); W. Lotz: In Ewigkeit Ameisen (J. Bosse, 22.03., UA); G. Hauptmann: Die Ratten (A. Breth, 27.03.) Kosmos Theater A. Khouri: She He Me (P. Spittler, 01.03.) Wiesbaden Hessisches Staatstheater T. Würger: Der Club (P. M. Krenn, 08.03.); P. Wüllenweber/n. A. Gavalda: 35 Kilo Hoffnung (K. Herchenröther, 10.03.); H. v. Kleist: Michael Kohlhaas (T. Gerber, 22.03.) Wilhelmshaven Landesbühne Niedersachsen Nord B. Bjerg: Auerhaus (A. Hirche, 02.03.); A. Tschechow: Der Kirschgarten (S. Bunge, 23.03.) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater D. Ratthei: The Walking Z (S. Bestier, 23.03., UA) Zürich Schauspielhaus N. Haratischwili: Die zweite Frau (M. Enderle, 16.03., SEA) Theater Kanton Zürich H. Ibsen: Ein Volksfeind (K. Neumann, 14.03.) Theater Neumarkt J. Clement: Gun Love (T. Schneider, 16.03., UA); E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (H. M. Goetze, 30.03.) FESTIVAL Berlin Ballhaus Ost Fan Fic Festival (14.03.–17.03.)

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Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www.theaterderzeit.de

zeitschrift für freies theater

www.freietheater.at

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aktuell

/ TdZ März 2019  /

Die Erlanger Ensemblemitglieder Janina Zschernig und Hermann Große-Berg. Foto Arne Seebeck

Das Theater Erlangen. Foto Jochen Quast

Wie kommt der Elefant in den Schnürboden und die Hausmeistergattin gratis ins Theater? Was ist Publikum und Theaterschaffenden in Erinnerung geblieben? Und wie geht das Theater mit den Veränderungen einer sich wandelnden Stadtgesellschaft im 21. Jahrhundert um? Besonders letztere Frage stand im Mittelpunkt der Jubiläumsfeierlichkeiten des Theaters Erlangen Anfang dieses Jahres. 1719 erbaut, gehört das Haus zu den ältesten bespielten Barocktheatern Bayerns. Mit Anekdoten, Interviews und vielen Bildern versammelt der jüngst bei Theater der Zeit erschienene Jubiläumsband „300 Jahre Theater Erlangen“ unter Herausgeberschaft von Karoline Felsmann und Susanne Ziegler eine facetten­ reiche Zeitreise. Vorgestellt wurde der Band am 18. Januar in Erlangen.

TdZ on Tour n 20.03. Buchvorstellung Starke Stücke – Theater für junges Publikum in Hessen und Rhein-Main, Zoo Gesellschaftshaus, Frankfurt am Main n 23.03. Buchvorstellung Von Tieren und Menschen – Neue Theaterstücke aus Tschechien, Schauspiel Leipzig n 24.03. Buchvorstellung Heiner Müller – Anek­doten, Leipziger Buchmesse n 10.04. Buchpremiere Schauspielhaus Zürich 2009-2019, Schauspielhaus Zürich n 06.05. Buchpremiere Theater in der Provinz – Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm, Stadeum Kultur- und Tagungszentrum, Stade n 13.05. Buchvorstellung Starke Stücke – Theater für junges Publikum in Hessen und Rhein-Main, Hessisches Staatstheater Wiesbaden n 23.05. Buchpremiere Sorge um das Offene – Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater, Theaterbuchhandlung Einar & Bert, Berlin

Am Rednerpult: Intendantin Katja Ott. Foto Arne Seebeck

Weitere Termine und Details unter www.theaterderzeit.de


impressum/vorschau

Friederike Felbeck, Regisseurin und Autorin, Düsseldorf Elisabeth Feller, Kulturredakteurin, Wettingen Jens Fischer, Journalist, Bremen Ralph Hammerthaler, Schriftseller, Berlin Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Peter Kammerer, Übersetzer, Autor und Soziologe, Urbino / Italien Lisa Kerlin, freie Autorin und Theaterwissenschaftlerin, Dortmund Renate Klett, freie Autorin, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Antonio Latella, Regisseur, Berlin Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, Berlin Theresa Schütz, Freie Autorin, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Holger Teschke, Schriftsteller und Regisseur, Berlin Joachim F. Tornau, freier Journalist, Kassel Chris Weinhold, freier Film- und Theaterkritiker, Leipzig Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Erik Zielke, Lektor, Berlin TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2019/03

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer und Harald Müller Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

Vorschau „Das blaue Wunder“ von Volker Lösch, Thomas Freyer und Ulf Schmidt am Staatsschauspiel Dresden. Foto Sebastian Hoppe

AUTOREN März 2019

Thema Diskreditierungen, Forderungen nach Subventionskürzungen, Strafanzeigen: Im Kampf gegen eine vermeintliche „Versiffung“ wendet sich die AfD gegen die deutsche Theaterszene. Die Verunsicherung unter Theatermachern ist groß: den Dialog suchen oder den Bühnenverächtern keine Bühne bieten? Der Schwerpunkt im April analysiert Kulturkonzept und Theaterpolitik der AfD. Neben einem Beitrag des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie liefern wir eine Bestandsaufnahme von Konflikten zwischen Theatern und AfD im Allgemeinen und einen Blick auf die Situation der Häuser in Dresden im Besonderen. Thomas Köck, Kathrin Röggla und Elfriede Jelinek setzen sich literarisch mit der Neuen Rechten auseinander.

Redaktion Dorte Lena Eilers +49 (0) 30.44 35 28 5-17, Harald Müller (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-20, Anja Nioduschewski +49 (0) 30.44 35 28 5-18 redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker, Jakob Hayner Mitarbeit Annette Dörner, Eva Merkel (Korrektur), Erika Meibauer (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Dr. Friedrich Dieckmann, Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte, Prof. Heiner Goebbels, Dr. Johannes Odenthal, Kathrin Tiedemann Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Yann Bachmann, Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: Kollin Medien GmbH, Neudrossenfeld 74. Jahrgang. Heft Nr. 3, März 2019. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 04.02.2019

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„Lulu“ an der Landesbühne Niedersachsen Nord in Wilhelmshaven. Foto Martin Becker

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Aktuelle Inszenierung „Ich habe nie etwas anderes sein wollen, als man von mir verlangte“ – bei der Uraufführung 1937 ein Skandal, hat „Lulu“ von Alban Berg (nach einem Drama von Frank ­Wedekind) heute nicht weniger Provokationspotenzial. Wie inszeniert man die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Lulu, Herausforderin und Opfer von Männern gleichermaßen, in Zeiten von #Metoo? Gleich drei Produktionen nehmen wir unter die Lupe: Während Armin Petras sein Stuttgarter Lulu-Musical ­(Musik The Tiger Lillies) für die Schauspielsparte des Theaters Bremen aktualisiert, befragt Marco Štorman die Alban-Berg-Version für die Opernsparte. Uwe Cramer inszeniert den originalen Wedekind-Text in Wilhelmshaven. Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. April 2019.


Was macht das Theater, Sabine Westermaier und Dorothea Lautenschläger? Frau Lautenschläger, Frau Wes-

Westermaier: Ja – das hat mit

termaier, wie kam es zur Grün-

der

dung von rua. Kooperative für

tun, in der viele stecken, die

Text und Regie? Und für was

Premierendichte

steht der Name?

hoch, da bleibt wenig Zeit. In

Dorothea Lautenschläger: Es be-

unserer Kooperative nehmen

gann alles mit einem Kaffee in

wir uns wieder Zeit. Wir wollen

Berlin im Februar vergangenen

Theaterarbeit gemeinsam re-

Jahres. Sabine und ich kann-

flektieren,

ten uns von der Arbeit bei hen-

uns selbst herausfordern. Im

schel SCHAUSPIEL. Während

Theater stehen die Theater­

dieser Zeit haben wir uns oft

macher als Freie ja oft unter

über unseren Wunsch nach ei-

einem großen Druck, weil sie

ner anderen Arbeitsweise aus-

es sich mit niemanden ver-

getauscht. Dann erzählte sie

scherzen möchten.

mir von einem losen Treffen mit Theaterschaffenden … Sabine Westermaier: … diese erste Zusammenkunft mit zwei Autorinnen und zwei Regisseurinnen war ein lockerer Austausch über die Arbeit am Stadttheater und in der freien Szene. Eine Qualität dieses Gesprächs war: Es wurde nicht

Mit rua. Kooperative für Text und Regie haben Sabine Westermaier (l.) und Dorothea Lautenschläger einen neuen Thea­terverlag gegründet, der nicht einfach nur Texte vertritt, sondern den Austausch zwischen Autoren und Regisseuren, zwischen Verlag und Theaterhäusern befördern möchte. Teil der Kooperative sind Mirja Biel, Martin Bieri, Marie Bues, Alice Buddeberg, Elina Finkel, Natascha Gangl, Ariane von Graffenried, Philippe Heule, Jonas Knecht, Nina Mattenklotz, Hakan Savaş Mican, Leyla-Claire Rabih, Tucké Royale, Johannes Maria Schmit, Tine Rahel Völcker und Ivna Žic. Foto Michael Baumann

lamentiert, sondern diskutiert,

Hamsterradsituation

Neues

ist

zu

enorm

anstoßen,

Ihre Kooperative ist eine für Text und Regie. Wie begreifen Sie das Verhältnis zwischen beiden? Westermaier: Die Kommunikation zwischen Verlag und Autor einerseits und Theatern und Regisseuren andererseits ist in unseren Augen oft zu sehr getrennt. Warum sollten Autoren nicht wie Bühnenbildner oder

wie wir gemeinsam die Struk-

Sounddesigner an der Auffüh-

turen verändern können. Ich war durch dieses

schreibt man Tonnen von E-Mails, die keiner

rung des eigenen Textes beteiligt sein? Man

Treffen sehr inspiriert, und mir fiel Dorothea

liest. Wir wollen das wieder zusammenbrin-

muss doch mit Bühnenbildnern auch abspre-

ein. Sie sagte sofort zu. Drei Monate später,

gen: Text, Regie, Theater. Idealerweise wollen

chen, wenn man eine Wand einreißt – und

Ende Mai, konstituierte sich die Kooperative

„wir“ – damit sind alle an der Kooperative

ebenso doch mit Autoren, wenn man den

mit einem Dutzend Theaterschaffenden.

Beteiligten gemeint – schon im Austausch

fünften Akt streicht? Wir wollen der teils

Lautenschläger: Die Namensfindung war ein

mit der Dramaturgie sein, während oder sogar

feindseligen Beziehung zwischen Text und

bisschen kompliziert. Unser erster Vorschlag,

bevor die Spielpläne entstehen, um Projekt-

Regie, die meist durch strukturelle Gegeben-

der unsere zentrale Idee der vernetzten und

und Stückideen, Überschreibungen und Be-

heiten am Theater entsteht, mit unserer ko-

zugleich

arbeitungen zu entwickeln.

operativen Arbeit entgegentreten.

drücken sollte, ist prompt durchgefallen.

Lautenschläger: Wir wollen nicht, dass die Re-

Lautenschläger: Was wiederum heißt, dass

Dann haben wir rua erfunden, weil wir uns im

gie einfach einen Text zugewiesen bekommt

wir Text und Regie als absolut gleichwertig

Feb-rua-r erstmals getroffen haben. Das Wort

und dann ist es ein Glücksfall, ob sie damit

ansehen. Wir wollen explizit den Austausch

hat etwas Literarisches und ist zugleich auch

etwas anfangen kann oder nicht. Indem wir

zwischen Autoren und Regisseuren stärken.

eine Abkürzung für „Regisseur*innen und

Text und Regie enger verbinden, können wir

Das Schöne dabei ist, wir greifen ja inner-

Autor*innen“.

in einem zweiten Schritt beispielsweise

halb der Gruppe auf bereits erprobte Arbeits-

Arbeitskonstellationen mit einer konkreten ­

konstellationen zurück, beispielsweise zwi-

Können Sie kurz skizzieren, welches Unbe­

Idee anbieten. In der Praxis sieht das so aus,

schen Martin Bieri und Marie Bues, Ivna Žic

hagen Sie in den Strukturen hatten?

dass wir bei unseren Kooperativentreffen – zu

und Natascha Gangl, Alice Buddeberg und

Westermaier: In der klassischen Verlagsarbeit

denen auch Dramaturgen als Gäste eingela-

Tine Rahel Völcker. Und wenn sich aus unse-

wird man schnell zum Dienstleistenden der

den werden – uns Rückmeldung geben, dis-

ren Treffen weitere Arbeitskonstellationen

Theater. Ältere Kollegen haben immer Ge-

kutieren, einander kritisieren und gemeinsam

ergeben, dann ist das ein wunderbarer Effekt

schichten erzählt, wie sie sich früher stun-

Ideen bündeln.

dieses Dialogs. //

offenen

Zusammenarbeit

aus­

denlang mit den Dramaturgen über Inhalte austauschten – heute erreicht man selten je-

Ist Ihr Eindruck, dass im Theater zurzeit inhalt­

manden persönlich, und in der Verzweiflung

licher Austausch fehlt?

Die Fragen stellte Jakob Hayner.


Deutschlands einzige Theaterbuchhandlung

Fotos: o. links, u. rechts Viviane Wild, o. rechts, u. links Holger Herschel

Einar & Bert Theaterbuchhandlung & Café Winsstraße 72 / Heinrich-Roller-Str. 21 D-10405 Berlin Mo – Fr 11.00 – 18.00 Uhr Sa 12.00 – 18.00 Uhr Tram 02 – Metzer Straße (250 m) Tram 04 – Am Friedrichshain (250 m) S+U Alexanderplatz (1,3 km)

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