Snowactive Februar 2017 Deutsch

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Aktiv // Tourenwesen

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JULIER–PREDA Die Skitourenverhältnisse im Süden sind toll. Doch die Arbeit erlaubt keine mehrtägigen Auszeiten. Was tun? Wir beschliessen spontan, eine erste Etappe anzugehen. Das fehlende Stück werden wir später nachholen. Das entspricht zwar nicht dem Gedanken einer Haute Route: Eine Skidurchquerung lebt davon, dass man mehrere Tage am Stück unterwegs ist. Andererseits zeigt die Aufteilung gleich eine Stärke der Haute Route Graubünden: Man kann in Preda bei Bergün problemlos aus- und zu einem anderen Zeitpunkt in Madulain erneut einsteigen. Im Morgengrauen brechen wir am Julierpass auf. Nach wenigen Minuten ist die lärmige Strasse weit weg, und der Aufstieg ist sanft genug, um den Gedanken nachzuhängen. Der Aufstieg zur Fuorcla d’Agnel ist so sicher wie die Abfahrt zur Chamanna Jenatsch. Einkehr

bei Fridolin und Claudia, Schwatz bei Kaffee und Linzertorte. Die Hüttenwarte zeigen uns stolz die Dschember-Suita, ein nach der Zirbelkiefer – Pinus cembra – benanntes Doppelzimmer. Weiter, auf zur Querung der steilen Flanke der Crasta Jenatsch über dem Val Bever. Die Spur trägt gut, der Hang ist schon etwas aufgeweicht. Bald macht uns die Frühlingssonne zu schaffen: Es ist drückend heiss. Erst vor dem Skidepot kommt eine frische Brise auf. Allein steigen wir über den hübschen Grat zum Piz Laviner auf und fahren dann über die fantastischen Hänge des Val Mulix ab. Plötzlich stehen wir inmitten knorriger Zirbelkiefern. Ich denke an die «Suite» in der Chamanna Jenatsch: Der wunderbare Duft der alten Bäume begleitet uns bis Naz, von wo wir über ausapernde Wiesen zur Bahnstation Preda aufsteigen. Schuhe weg, überhitzte Füsse an die Luft und auf die Albulabahn warten!

MADULAIN–ZERNEZ Das zweite Stück unserer Haute Route Graubünden. Einmal mehr brechen wir frühmorgens auf, heute in Madulain. Es ist angenehm kühl, wir kommen rasch voran und stehen bald auf dem sonnenüberfluteten Platz der Chamanna d’Es-cha: Der Ausblick ins Berninamassiv ist einmalig. Auch hier Kaffee und Kuchen und ein Blick auf die einzigartige Stukkaturdecke in der Stube der romantischen kleinen Hütte. Der Aufstieg zur Lücke der Porta d’Es-cha, die sich wirklich wie ein Tor auf die grossen Hänge des Vadret da Porchabella und den steilen Gipfelaufbau des Piz Kesch öffnet, ist problemlos. Unten rechts erkennen wir die Keschhütte als Insel in der weissen Weite. Herrliche Spuren von Vorgängern lassen Vorfreude aufkommen . . . Doch zuerst geht es hinauf zum Piz Kesch. Steigeisen, Pickel, Seil aus dem Ruck-

sack: Die Spur auf den mächtigen Berg, den Höhepunkt dieser Haute Route, ist hervorragend. Und dann tauchen wir in die Abfahrt ein: Pulver pur! Wir halten an und betrachten den riesigen Felssturz, der vor ein paar Jahren auf den Gletscher abgegangen ist. In der Keschhütte reden wir mit Hüttenwart Reto über den erschreckenden Rückgang des Gletschers, aber auch über das Energiekonzept des modernen Gebäudes. Faszinierend der Unterschied zwischen den vier Hütten auf dieser Haute Route: Jede hat ihren eigenen Charakter, gleich wie ihre Hüttenwarte. Am nächsten Morgen werden die Beine unsanft wachgerüttelt: Im Bruchharst fahren wir zur Alp Funtauna ab. Wir sind froh, die Felle wieder aufzuziehen und durch das schöne Tälchen Vallorgia zum Piz Grialetsch aufzusteigen. Schnell gelangen wir über eine unangenehme Schutt- und Schneeflanke zum Gipfel

und dann in weiten Kurven hinab zur Grialetschhütte, die mit ihrem ursprünglichen Charme begeistert. Und einmal mehr Kaffee und Linzertorte . . . Auf dem Piz Sarsura, unserem letzten Berg heute, ziehen wir unser Fazit zur Haute Route Graubünden: grosszügige Landschaften, lohnende Gipfel, charaktervolle Hütten und viele Variationsmöglichkeiten! Wir beschliessen unsere Tour mit einer denkwürdigen Abfahrt durch das Val Sarsura. Sie beschert uns 1700 Höhenmeter Hochgenuss – prickelnder Prosecco-Pulver, dann schlammiger Surf-Schnee hinunter in die Krokusse. Der nächste Winter kommt bestimmt: Dann könnten wir eine weitere Variante der Haute Route Graubünden unternehmen. Da gäbe es doch noch den einen oder anderen Gipfel am Weg . . . C H RI S T I N E K O P P

INFOS Alle zur Planung der Haute Route Graubünden nötigen Angaben (Hütten, Karten, Varianten usw.) findet man auf der sehr informativen Homepage www.hauteroute-graubuenden.ch. Etappen 1. Tag Julierpass (2238 m) – Fuorcla d’Agnel (2986 m) – Chamanna Jenatsch (2621 m) 2. Tag Chamanna Jenatsch (2621 m) – Piz Laviner (3137 m) – Preda (1789 m) – Madulain (1684 m) – Chamanna d’Es-cha (2594 m) 3. Tag Chamanna d’Es-cha (2594 m) – Piz Kesch (3415 m) – Keschhütte (2630 m) 4. Tag Keschhütte (2630 m) – Alp Funtauna (2192 m) – Piz Grialetsch (3131 m) – Grialetschhütte (2542 m) 5. Tag Grialetschhütte (2542 m) – Piz Sarsura (3178 m) – Crastatscha-Suot (ca. 1500 m) – Zernez (1473 m)

SKITOUREN MIT SICHT AUFS MIT TELMEER

Unterwegs im Piemont «Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer!», skandierte die Jugendbewegung 1980, als sie die Stadt Zürich 1980 aus ihrer behäbigen Beschaulichkeit aufrüttelte. Lächelnd denke ich an das legendäre Motto, als wir den letzten Steilhang zur Cima Sud d’Ischiator (2926 m) anpacken: Das Mittelmeer ist hier ganz nah. Wir waren im Morgengrauen im Dörfchen Besmorello aufgebrochen. An diesem prachtvollen Aprilsamstag hätten wir daheim an einem solchen Skigipfel Dutzende Bergsteiger angetroffen. Doch wir befanden uns eben in den Seealpen, den Alpi Marittime, und waren mutterseelenallein. Ischiator, der «rutschige Ort»: Das bedeutet der geheimnisvolle Namen des Bergs, auf dessen Vorgipfel wir schliesslich standen. Und hier endlich das, wovon ich geträumt hatte: der Blick auf das grosse Blau! Zwar keine freie Sicht aufs Mittelmeer, sondern eher eine Ahnung davon – aber schon dieser verheissungsvolle Hauch war umwerfend, ein Gefühl von mediterraner Weite, das anhielt, als wir in weiten Kurven über die Firnhänge hinunterjauchzten. Beim Schwingen sah ich plötzlich ein paar Schwalben, die hoch über uns gen Norden zogen. Der Frühling war da. Firn und Pulver zugleich Die Cima Sud d’Ischiator ist nur einer der Höhepunkte, die ich im Valle Stura erlebt habe. Da war etwa jener allererste Tag mit Freeriden im «Champagne Powder» an den offenen Hängen der Cima delle Lose und im lichten Lärchenwald darunter. Einen schöneren Einstieg in das piemontesische Skitourenparadies hätte ich mir nicht erträumen können. Mit einer lieben Bergführer-Freundin war ich am Vortag im Dorf Sambuco im Albergo Osteria della Pace eingetrudelt. Ausser dieser Unterkunft, die mir ein Begriff war, hatten wir keine Ahnung vom Tal. Verlegen erkundigten wir uns also beim quirligen Gastgeber Raffaele, selbst begeisterter Skialpinist, was wir unternehmen könnten. Und schon kam seine berühm-

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te Frage: «Wie viel wollt ihr machen?» Denn Raffaele will zuerst einmal wissen, wie viel Aufstieg es sein darf: tausend, fünfzehnhundert Meter oder ein richtig langer Hatscher? Für uns suchte er aus: Diesen grandiosen Freeride-Tag an der Cima delle Lose, unterstützt durch die einzige Sesselbahn im Tal. Und für den Tag danach den kurzen Aufstieg zur Enclausetta mit Samtfirn und prachtvollem Ausblick. Pulver und Firn zugleich und unendlich viel Platz für unsere Spuren. Und danach die kulinarischen Genüsse in der Osteria della Pace. Kein Wunder, dass ich das Valle Stura sofort ins Herz schloss! Einsamkeit und Eigeninitiative Die Alpi Marittime, die südlichste Gebirgsgruppe der Alpen, sind schroffer, schneereicher und höher, als es ihre Nähe zum Meer vermuten liesse. Es wimmelt von wilden Gipfeln: Das Valle Stura bietet rund siebzig Skitouren. Nimmt man das Vallée de l’Ubaye auf der französischen Seite des Grenzpasses Colle Maddalena dazu, sind es über hundert. Die Osteria della Pace liegt als Ausgangspunkt ideal im Dorf Sambuco unweit der Hauptstrasse, die über den Colle Maddalena nach Frankreich führt. Abwanderung und Lastwagenverkehr machen dem Tal zu schaffen. Das Hotel in Sambuco setzt einen Kontrapunkt und hat sich dank der Schaffenskraft von Bartolo Bruna und seiner Familie zur Oase für Skitourengänger, Biker und Wanderer aus dem In- und Ausland entwickelt. Bartolo, der seine Gäste liebevoll verwöhnt mit Hausgemachtem, ist ein Macher, der sich weder von Wirtschaftskrisen noch durch bürokratische oder politische Hindernisse beeindrucken lässt. Vielmehr redet er von seiner Hoffnung, dass immer mehr Menschen das Tal mit nachhaltigen touristischen Angeboten aufwerten. Jammern bringe nichts, meint Bartolo, bevor er mir seine unschlagbaren Rezepte diktiert. Ein Jahr später, zurück im Valle di Stura. Wir brechen vom Colle Maddalena zu zwei kurzen, aber steilen Touren auf: Tête de Blave und Monte Pierassin. Auf

dessen Gipfel hören wir plötzlich ein Rauschen. Ich blicke hoch: ein Bartgeier! Wenige Meter über uns zieht er mit gigantischen Schwingen seine Runden. Wir sind sprachlos und geniessen das Schauspiel, bevor wir beglückt die letzte rassige Abfahrt für heute C H R IST IN E KO P P anpacken.

INFOS Jahreszeit Ende Dezember bis April; im März sind am meisten Skitourengänger unterwegs (Unterkunft rechtzeitig buchen). Viele Schweizer Bergsteigerschulen bieten hier Skitourenwochen an. Anreise Über Turin und Cuneo nach Borgo San Dalmazzo. Von hier ins Valle Stura nach Demonte und Sambuco. Literatur Auswahlführer (italienisch) von Jean-Charles Campana): «Alpi Ligure, Alpi Marittime, Alpes de Provence» (ISBN 978-88-7904-191-1) und «Dal Colle della Maddalena al Monviso», Italia-Francia (ISBN 978-88-7904-192-8), beide www.bluedizioni.it. Informativ ist weiter die 1:25 000er-Skitourenkarte mit 131 Routen und Zusatzinfos «Sci alpinismo in Valle Stura» (www.fraternalieditore.com). Die 1:25 000er-Skitourenkarten des Istituto Geografico Centrale «Valle Stura-Vinadio-Argentera» und «Valle Maira-Acceglio-Brec de Chambeyron» sind vor Ort oder über Internet erhältlich. Unterkunft Tourismusverband www.vallesturademonte.com/ger Albergo Osteria della Pace, I-12010 Sambuco (CN), Tel. +39 0171 96550, www.albergodellapace

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