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«Ich lebe von der Hand in den Mund»

«Ich denke nicht gern an meine Kindheit zurück, denn sie war wirklich schrecklich. Ich wuchs zusammen mit meinem Bruder und meiner Schwester in Belgrad auf. Wir wurden von meiner Mutter ständig ausgenutzt, mussten auf der Strasse betteln gehen, manchmal auch stehlen. Der Vater war sehr gewalttätig, er hat meine Schwester missbraucht.

Nach der Grundschule lebte ich einige Jahre bei meiner Grossmutter in Pirot, einer kleinen Stadt im Südosten Serbiens. Das war gegen meinen Willen. Nachdem ich schon mit meinen Eltern durch die Hölle musste, hatte ich es auch bei meiner Grossmutter nicht gut; sie schlug mich und nutzte mich ebenfalls aus. Nach ihrem Tod kehrte ich nach Belgrad zu meinen Eltern zurück, was es nicht besser machte. So in etwa könnte man meine Kindheit zusammenfassen, die ich am liebsten vergessen würde.

Seit 2022 verkaufe ich in Belgrad die Strassenzeitung Liceulice. In der Nähe meines Standorts hat es ein Café, wo ich einkehre, wenn es kalt ist oder ich müde bin. Die Leute, die dort arbeiten, sind sehr nett, wir reden oft miteinander und ich betrachte sie als meine Freunde. Normalerweise bestelle ich dort einen Caffè Latte mit verschiedenen Geschmacksrichtungen.

Ich habe das Gymnasium in Pirot abgeschlossen und dann begonnen, alte Computer zu reparieren. Viel Geld kann ich dafür nicht verlangen, die meisten Leute kaufen heute einfach ein neues Gerät. Es bereitet mir aber viel Freude, anderen zu helfen. So war ich schon immer: Niemand muss mich um Hilfe bitten, auch brauche ich keine Gegenleistung –ich möchte einfach nur eine gute Tat vollbringen. Ich hoffe bloss, dass dies niemand ausnutzen wird.

Nach der Arbeit gehe ich nach Hause, sehe ein bisschen fern und lege mich dann hin. Leider bin ich oft allein und fühle mich einsam. Es ist nicht leicht, wenn niemand da ist, der einem zuhört. Habe ich Sorgen, so sage ich mir, dass es morgen vielleicht einfacher wird. Das Wichtigste im Leben ist, auf sich aufzupassen und seinen gesunden Menschenverstand nicht zu verlieren. Meine Zukunft kann ich nicht planen, ich lebe sozusagen von der Hand in den Mund. Und so mache ich einfach weiter und hoffe darauf, dass ich einmal Glück haben werde und mir noch etwas Schönes passieren wird.

Ich mag Hunde. Wenn man mit ihnen zusammen ist, verschwindet die ganze negative Energie, die man mit sich rumträgt. Eines Tages möchte ich selber einen Hund haben und mit ihm spazieren gehen, auch um meine Gefühle besser zu kontrollieren. Denn Gefühle sind wichtig, ich habe mich schon immer von ihnen leiten lassen. Wenn ich das info@surprise.ngo

Gefühl habe, dass ich etwas nicht tun sollte, dann tue ich es auch nicht. Und umgekehrt, wenn ich bei einer Sache ein gutes Gefühl habe, dann versuche ich, sie durchzuziehen. Momentan habe ich das Gefühl, ich sollte aus Serbien wegziehen. Nur, wohin?

Wenn ich die Strassenzeitung verkaufe, habe ich Probleme, meine Körperbewegungen zu kontrollieren, denn ich zittere oft sehr stark. Das kommt aus meiner Kindheit, als ich bei meinen Eltern und der Grossmutter war und so viel Angst ausstehen musste. Ich hoffe bloss, dass sich die Leute auf der Strasse nicht vor mir fürchten, wenn sie das sehen, oder mich für verrückt halten. Ich möchte, dass sie wissen, dass ich keiner Seele etwas zuleide tun könnte.

Wenn ich mein jetziges Leben mit dem von früher vergleiche, geht es mir heute viel besser. Es gibt keine bösen Menschen mehr um mich herum, ich habe meine Ruhe und meinen Frieden. Das gibt mir Hoffnung.

Der Verkauf des Strassenmagazins Surprise ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden.

Ein Strassenmagazin kostet 6 Franken. Die Hälfte davon geht an den*die Verkäufer*in, die andere Hälfte an den Verein Surprise.

Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ältere Ausgaben werden nicht verkauft.

Alle Verkäufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.