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Klaus Petrus

Nikolaus, du strenger Mann

TEXT KLAUS PETRUS

Es gibt dieses Foto aus unserem Familienalbum, aufgenommen am Abend des 6. Dezember 1973, kurz bevor es geschah. Ich sitze, ein Bub von sechs Jahren, mit weissem Rollkragenpulli auf dem roten Sofa in unserem Wohnzimmer, einen Bischofsstab in der Hand, und neben mir dieser Nikolaus, mit dem grossen Hut und dem grossen Bart und dem langen Kleid, er redet auf mich ein, derweil ich vor mich hinstarre und vermutlich denke: Was will der bloss von mir! Warum dann passierte, was passieren musste, weiss ich nicht. Meine Mutter jedenfalls fand das gar nicht lustig.

Dabei ist der Nikolaus doch ein ganz lieber, jedenfalls der Legende nach. Geboren um 280 in Patara, der heutigen Türkei, galt der Erzbischof von Myra–der später eben Nikolaus genannt wurde–Zeit seines Lebens als Freund der Kinder, als Patron der Gefangenen und Gefallenen und später gar als Schutzheiliger der Seefahrer und Märtyrer. Es heisst, der Mann sei aus gutem Hause gewesen. Eines Nachts kam er am Haus einer bettelarmen Familie vorbei. Was er sah, machte ihn zu tiefst betroffen. Aus Mitgefühl soll er heimlich Geldmünzen durch den Kamin geworfen haben, die – gewiss ein Wunder – in die darin zum Trocknen aufgehängten Socken fielen. Das machte er fortan immer wieder, bis sein gesamtes Vermögen aufgebracht war. So entstand die Tradition mit den Geschenken in Socken und Stiefeln.

Wann dem Nikolaus eine dunkle Gestalt an die Seite gestellt wurde, ist umstritten. Ab dem 16. Jahrhundert taucht dieser Grimmige jedenfalls immer öfter auf, eine Art Kinderschreckfigur, die unartige Buben und Mädchen bestrafen sollte. Später wurde er zunehmend zu Nikolaus’ Gehilfen, der den Sack mit den Geschenken trug (noch später kam der Esel hinzu). In Deutschland heisst er «Knecht Ruprecht», in den Niederlanden «Schwarzer Peter», bei uns ist er der «Schmutzli». (Apropos, kennen Sie den: Begegnen sich zwei im tiefen, stockdunklen Walde, es fragt der eine den anderen: «Wer bist du?» Sagt der andere: «Ich heisse Lee, Bruce Lee. Und du?» Worauf dieser: «Ich heisse Li, Schmutzli.»)

Nach und nach wurde Schmutzli an der Seite des Nikolaus zum Sympathieträger, der die Kinder nicht länger in den Sack steckte, sondern ihnen Mandarinen und Nüsse reichte. So war es auch damals bei uns. Der Schmutzli sah zwar eigenartig aus– russschwarzes Gesicht, volle rote Lippen (was heute gar nicht mehr geht) –, doch er machte insgesamt einen freundlichen Eindruck. Ganz anders Nikolaus. Mit erhobenem Zeigefinger mahnte er mich, den Eltern aufs Wort zu gehorchen, meine Schwester nicht zu ärgern und den Hamster zu füttern.

Ich mochte das schon damals nicht: wenn mich jemand zwingen will, brav zu tun. Das muss der Grund gewesen sein, wieso an diesem Abend passierte, was eben passieren musste. Kaum wandte dieser Nikolaus den Blick von mir ab, rannte ich mit seinem Bischofsstab los, durch die Wohnung und aus dem Haus hinaus in die Nacht. Dass meine Mutter darüber nicht erfreut war und mit mir schimpfte, lässt darauf schliessen, dass sie mich am Ende doch noch erwischt haben. Leider.