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Hausbesetzung

Das alternative Kulturzentrum OT301 steht in Amsterdam auch für einen langen Kampf für bezahlbaren Wohn- und Freiraum: 1999 wurde das mehrstöckige Haus besetzt und 2006 der Stadt abgekauft.

Die Zahl 301 prangt gross über einer sperrigen Metalltür. An antifaschistischen Stickern, leeren Bierkanistern und Aushängen mit veralteten Coronaregeln vorbei erreicht man einen Innenhof. Hier am Overtoom 301 befindet sich das alternative Kulturzentrum OT301. Neben Wohnraum im Vorderhaus gibt es hier zahlreiche Studios, ein alternatives Kino, eine Konzerthalle und eine Bar, wo das Bier kostendeckend verkauft wird.

Ivo Schmetz war dabei, als 1999 das vierstöckige Gebäude besetzt wurde. «Kurz vorher wurden wir aus einem besetzten Krankenhausflügel rausgeworfen. Fast 130 Menschen waren damals mit dabei. Die Kerngruppe wurde dann hier fündig.» Doch das Haus stand erst seit einigen Wochen leer. Hausbesetzungen waren damals aber nur erlaubt, wenn das entsprechende Gebäude mehr als ein Jahr leergestanden war. «Glücklicherweise wusste die Stadtverwaltung nicht, was sie mit dem Haus anfangen sollte, und tolerierte uns», erklärt Schmetz in der Bar des Kreativzentrums. «Und wir wollten wirklich was machen mit dem Haus. Natürlich ging es auch darum, irgendwo wohnen zu können. Aber im Grunde wollten wir einen Freiraum schaffen, in dem Leute ihre Kreativität ausleben können.» Als ehemalige Filmakademie bot das Gebäude dafür eine perfekte Grundlage.

Nach zwei Jahren tolerierter Bestzung bot die Stadt den Bewohner*innen einen fünfjährigen Mietvertrag an, zu günstigen Konditionen. Nach Ablauf des Vertrags im Jahr 2006 schloss sich die Gruppe zu einem Verein zusammen und kaufte der Stadt das Gebäude ab. Seitdem befindet sich das OT301 in kollektivem Eigentum. Eigentum bedeutet auch Verantwortung: Die Betreiber*innen der Kulturinstitutionen und der Studios zahlen genauso normal Miete wie die Menschen, die im Vorderhaus wohnen – allerdings nur so viel, dass die laufenden Kosten gedeckt werden.

«Eigentum ist nicht gleich Freiheit. Diese neoliberale Definition ist Quatsch», sagt Schmetz, der früher in einer Elektropunkband spielte. Er produziert momentan einen Dokumentarfilm über kollektives Eigentum. «Wenn sich Menschen zusammentun und gemeinsam Häuser kaufen, entziehen wir diese der Spekulation. Das ist schon fast eine Art legales Besetzen, vor allem weil das Besetzen heute komplett kriminalisiert ist.»

Der ausgebildete Grafikdesigner Schmetz kam in den 1990erJahren aus Maastricht nach Amsterdam und hatte Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden. Wie viele junge Menschen schloss er sich der Hausbesetzer*innengruppe an. Heute ist er immer noch Teil des OT301 und dessen Programmleiter, führt aber hauptberuflich ein Grafikstudio und ein Plattenlabel. Schmetz engagiert sich mit Herzblut für eine alternative Stadt. Er gründete auch das Netzwerk Amsterdam Alternative, eine Plattform für die Untergrundszene der niederländischen Hauptstadt, deren Vielfalt sich auch in einer eigenen Zeitung niederschlägt.

Findige Anwälte, hartnäckige Besetzer*innen

Dunkle Fenster oberhalb von Touristenläden, verbarrikadierte Zugänge: In der Amsterdamer Innenstadt fällt der Leerstand auf. Für Spekulanten sind leere Wohnungen oder die Vermietung über Airbnb günstiger als Langzeitvermietung. Vor allem der Bedarf an günstigem Wohnraum ist riesig, mehr als 300 000 Wohnungen fehlen im ganzen Land. In den Niederlanden ist das nicht

«Wir wollten einen Freiraum schaffen, in dem Leute ihre Kreativität ausleben können.»

IVO SCHMETZ Neues, schon vor dreissig Jahren fehlten Wohnungen. Doch damals gab es noch die Möglichkeit, neuen Wohnraum durch Hausbesetzungen zu schaffen. Und Orte, die wie das OT301 durch eine Hausbesetzung zu einem florierenden Kulturzentrum geworden sind, gibt es in Amsterdam einige.

Über viele Jahre galten die Niederlande in Bezug auf Hausbesetzungen als eines der liberalsten Länder in Europa. Die rechtliche Grundlage für die laxe Haltung gegenüber Hausbesetzungen war ein Urteil des Höchsten Gerichtshofes, welcher 1914 entschied, dass ein Bett, ein Stuhl und ein Tisch ausreichten, um Wohnnutzung zu markieren. 1971 erwirkten findige Anwälte ein weiteres grundlegendes Urteil, welches das Konzept des sogenannten Hausfriedens, niederländisch «Huisvrede», auch auf besetzte Häuser ausdehnte. Nun war auch für das Betreten eines besetzten Hauses erst die Erlaubnis der Bewohner*innen nötig. Hausbesitzer*innen mussten jetzt eine Zwangsräumung per Gerichtbeschluss erwirken und vor Gericht zudem beweisen, dass sie das Gebäude unmittelbar nach der Räumung wieder nutzen oder renovieren würden. Und selbst wenn die Eigentümer*innen vor Gericht Erfolg hatten: Den Besetzenden drohte keine Strafe, solange nichts zerstört wurde.

Ab 1994 wurde dieses Recht dann eingeschränkt: Hausbesetzungen waren nur noch erlaubt, wenn das Gebäude mehr als ein Jahr leergestanden war. Doch zwischen den Behörden und den Besetzer*innen etablierte sich eine Art Kooperation: Besetzende kontaktierten die Behörden im Vorfeld einer Aktion, um auszuloten, ob ein betreffendes Gebäude bereits ein Jahr leergestanden war. Diese Praxis missfiel den Abgeordneten verschiedener christlicher und konservativer Parteien. Jahrelang lobbyierten sie für ein komplettes Verbot, 2010 kamen sie schliesslich damit durch. Seither drohen strafrechtliche Konsequenzen mit einem Höchstmass von bis zu zwei Jahren und acht Monaten, wenn die Hausbesetzer*innen Gewalt anwenden oder damit drohen.

Auch der Soziologe Hans Pruijt besetzte als Student Häuser. Heute forscht er an der ErasmusUniversität Rotterdam zur globalen Hausbesetzerbewegung. Für ihn ist das Verbot das Paradebeispiel für einen neuen Kulturkampf: «Rechtskonservative wollen die Uhr zurückdrehen und linksliberale Freiheiten aus den 1960erJahren kriminalisieren. Die Debatte handelt längst nicht mehr von Kapital gegen Arbeit, sondern dreht sich um eine kulturelle Frage: Hausbesetzungen werden als Freiheit der sowieso verdammten 1960erJahre angesehen, und Freiheit muss per se begrenzt werden.» Über lange Zeit seien Hausbesetzungen im nationalen Diskurs schlicht nicht relevant gewesen, sagt Pruijt. Seit den 1980erJahren gab es kaum noch Gewalt, sogar die Sozialdienste hätten auf Hausbesetzungen zurückgegriffen, um Menschen unterzubringen. Und die Polizei habe diese toleriert, auch um Vandalismus an leerstehenden Gebäuden zu vermeiden. Die Polizei stand auch nicht hinter dem Verbotsvorhaben, da sie ihre Aufmerksamkeit lieber auf andere Probleme richten wollte. Insgesamt gingen die Zahlen so stark zurück, dass Pruijt schätzt, es habe in den Nullerjahren zehnmal weniger Besetzungen gegeben als noch in den späten 1980erJahren.

Als jedoch 2008 bei einer Zwangsräumung eine von den Besetzer:innen selbstgebastelte Sprengfalle mehr oder weniger versehentlich explodierte und die Polizei in dem Gebäude Waffen fand, wurde das Thema wieder virulent. Verletzt wurde niemand. «Man muss festhalten, dass das einer der ganz wenigen gewalttätigen Vorfällen war. Nichtsdestotrotz entfesselte er einen

Kulturkrieg, in dem die Konservativen die Oberhand behalten sollten», meint Pruijt. «Hausbesetzer entziehen sich dem Wohnungsmarkt. In den meisten Fällen werden Funktionsgebäude besetzt oder Gebäude, in denen sowieso eher wohlhabende Leute wohnen. Dadurch wird der legale Zugriff auf bezahlbaren Wohnraum tendenziell einfacher.»

Das ist Hausbesitzer*innen, die mit ihren Liegenschaften Profit machen wollen, ein Dorn im Auge. Besonders dann, wenn es um Teile der Bevölkerung geht, mit denen sich nichts verdienen lässt. «Obwohl es natürlich Unterschiede im sozialen und kulturellen Kapital in der Hausbesetzerbewegung gibt, so sind doch die meisten Aktionen, die ich erlebt habe, sehr solidarisch mit Obdachlosen. Viele Menschen handeln entsprechend, gerade weil sie sonst obdachlos wären», beschreibt der Soziologe Pruijt die Durchmischung der Szene.

So erlebte es auch Mathijs (Name geändert), der sich in den 1990erJahren mit Anfang zwanzig auf der Strasse wiederfand. Davor durchlebte er eine schwierige Kindheit, er wohnte in verschiedenen Jugendheimen, aus denen er immer wieder floh. Als er volljährig war, schloss er sich einer Hausbesetzer*innengruppe an. «Diese Gemeinschaft half mir, wieder auf die Beine zu kommen», meint er. Er nahm verschiedene Jobs an, arbeitete auf dem Bau, auf einem Schiff und als Koch. Die Gruppe zog von einem Haus zum nächsten – doch dann ging es bergab. Einige von Mathijs’ Freund*innen starben an Überdosis, er verlor immer wieder seine Arbeit, was er auf seine traumatische Kindheit zurückführte, die bei ihm Probleme mit Autorität hinterliess. Und dann kam das Hausbesetzungsverbot.

Noch 2010 wurde Mathijs mit seinen Freunden aus dem besetzten Haus geworfen. Sie landeten vor Gericht, er kam jedoch ohne Strafe davon. Nun aber war sein Zuhause weg. Und bis heute hat er keines mehr gefunden. Die finanzielle Unterstützung, die er vom Staat erhält, reicht nicht für eine Miete, sondern gerade mal fürs Essen. Verlässliche Zahlen, wie viele Menschen nach 2010 ein ähnliches Schicksal ereilt hat, gibt es nicht.

Erst die Kirche, dann ein ganzer Wohnblock

Stattdessen etablierte sich nach 2010 ein neuer Geschäftszweig. Sogenannte AntiKraakAgenturen – «kraken» ist das niederländische Wort für besetzen – vermieten übergangsweise leerstehenden Wohnraum, um Hausbesetzungen zu verhindern. Während diese Zimmer und Wohnungen sehr günstig sind, fehlt es oft an Grundausstattung wie Warmwasser, Heizungen oder intakte Fenster. Die Agenturen können den Mietvertrag jederzeit mit einer zweiwöchigen Frist kündigen. Für den Soziologen Pruijt ist das eine Folge des Verbots: «Es macht Sinn, dass Unternehmen hier eine Geschäftsidee sahen. Schade ist es natürlich trotzdem.» 2012 mischte sich ein neuer Akteur ins Spiel. Die Aktion «Wij Zijn Hier» (dt. Wir sind hier), gegründet von SansPapiers, organisierte die zersplitterten migrantischen Hausbesetzer*innenGruppen und besetzte in den letzten zehn Jahren über 35 Grundstücke. Johannes van der Spek, Spitzname JoJo, sitzt in seiner Wohnung im Amsterdamer Osten und hält seine Zwillingsdachshunde im Arm. «Ich sehe mich eindeutig als Aktivist und setze ich mich für Anarchie und die Störung des Systems ein.» Seit bei einem Brand in einem Ausschaffungsgefängnis nahe dem Flughafen Schiphol 2005 elf abgelehnte Asylbewerber*innen starben, setzt sich JoJo für eine menschliche Migrationspolitik ein. Er ist einer der Mitbegründer von Wij Zijn Hier.

«Ich sehe mich als Aktivist und setze mich für Anarchie und die Störung des Systems ein.»

JOHANNES VAN DER SPEK

«2012 besetzte eine Gruppe von Irakis eine Kirche. Ich half ihnen, Elektrizität und WLAN zu besorgen, unterstützte sie in Pressebelangen und beriet sie bei ihren politischen Zielen», erzählt der 55Jährige. Von den 158 Menschen, die damals an der Kirchenbesetzung beteiligt waren, fanden 100 später eine permanente Unterkunft. Aus der Kirche mussten sie wenig später wieder raus, weiter ging es in eine leerstehende Schule. Es sind grosse Aktionen, die Wij Zijn Hier organisiert, auch weil diese auf grosse Sympathie treffen. Studierende arbeiten als Freiwillige, helfen bei Sprachproblemen, der Versorgung mit Nahrungsmitteln und demonstrieren. Später besetzte Wij Zijn Hier noch einen ganzen Wohnblock, der abgerissen worden wäre. Die Menschen, für die sich Wij Zijn Hier einsetzt, sind nicht alle politisch motiviert. JoJo, der selbst einen jungen Mann aus dem Irak beherbergt, meint: «Viele wollen ein ganz normales Leben. Sie haben Familie, ihnen geht es nicht darum, ein politisches Signal zu senden. Da aber der Staat daran scheitert, sie adäquat zu versorgen, finden sie sich gezwungenermassen in Protestgruppen wieder.»