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Obdachlosigkeit

Dominik Bloh, in Ihrem Buch steht der Satz: «Die Strasse bleibt in meinem Kopf.» Seit seinem Erscheinen sind nun fünf Jahre vergangen. Ist die Strasse immer noch da?

Dominik Bloh: Es gibt einen bekannten Spruch aus dem Hip Hop, der heisst: «Du kannst den Jungen von der Strasse holen, aber die Strasse nicht aus dem Jungen.» Das war zehn Jahre lang mein Leben und ich war so konditioniert darauf, dass bis heute Anzeichen davon da sind. Bis heute habe ich keinen Kühlschrank, sondern lagere mein Essen immer noch auf dem Balkon. Da sind so viele Konditionierungen, die sich nur langsam ändern lassen. Und darum ist es mir ein Anliegen zu sagen, dass es nie einfach das Happy End ist, wenn man einen Schlüssel in die Hand gedrückt bekommt. Das Ankommen ist mit sehr viel Zeit und Geduld verbunden.

Sie haben als Kind psychische wie physische Gewalt erlebt. Die depressive Mutter, die den Kühlschrank abschloss und Sie mit sechszehn auf die Strasse stellte. Der Stiefvater, der Sie schlug und einsperrte. Man hätte davon ausgehen können, dass Sie die Gewalt zu reproduzieren beginnen. Sie tun es nicht. Was ist Ihre Erklärung dafür?

Es gab Zeiten, in denen ich sehr frustriert und wütend war. Es war der Bezug zu meinen Grosseltern, die mir noch etwas anderes mit auf den Weg gegeben haben und für das Gute im Menschen standen, der für mich immer viel stärker war als die Gewaltanwendung. Es gibt aber auch Dinge, die mir nicht so gut gelungen sind. Mein Stiefvater ist ein toxischer Mann. Er hat mich auch manchmal zu anderen Frauen mitgenommen und mir gesagt, Fremdgehen sei das Normalste der Welt. In meinen ersten Beziehungen habe ich dann tatsächlich ab und zu auch mal jemand anders geküsst, als sei nichts dabei. Heute weiss ich, dass manches auch mit patriarchalen Strukturen zusammenhing, und gebe meiner Mutter weniger Schuld.

Sie schreiben über die Beleidigungen, die Sie sich als Obdachloser anhören mussten: «Worte sind Gewalt.» Die Art und Weise, wie wir über Menschen reden, bestimmt, wie wir sie behandeln. Bis hin dazu, dass Obdachlose getötet werden, weil man sie für wertlos hält. Was machen Beleidigungen und Blicke mit einem?

Beleidigungen und Spott sind Alltag. Eine sehr gängige Formulierung ist «Such dir einen Job». Da spielt auch das Narrativ des neoliberalen Denkens mit hinein, das stark in den Köpfen verankert ist. Es ist mit dem Gedanken verknüpft, dass du selbst verantwortlich bist und nur genügend kämpfen musst. Es gibt das Verbale, aber es sind auch die Blicke, die mir sehr weh getan haben. Gerade dann, wenn ich mich eh schon für mich geschämt habe. Weil ich zum Beispiel drei, vier, fünf Tage nicht geduscht hatte und mich auch nicht richtig waschen konnte. Wenn ich so dastand, und die Menschen mich anguckten, dann fühlte ich mich nicht nur dreckig, sondern hatte irgendwann auch innerlich das Gefühl, ich sei Dreck. Oft dachte ich, ich sei unsichtbar. Aber immer dann, wenn ich sichtbar wurde, war es mit Verachtung oder Ekel verbunden. Das hat weh getan. Daran geht man ein. Das ist eine Form der Einsamkeit und der Scham, die dich irgendwann überzieht.

Auszug aus dem Buch

«Meine Gedanken rasen, doch ich kann nichts sagen»

Ich komme ein paar Minuten zu spät in die Schule. Der Unterricht hat bereits angefangen. Mein Lehrer verlangt eine Erklärung für die Verspätung und fordert eine Entschuldigung. Ich denke nur: «Für was in den letzten Stunden soll ich mich entschuldigen?» Ich bringe kein Wort heraus. Zur Strafe fliege ich aus der Klasse und muss bis zur Pause auf dem Gang warten.

Ein paar Stunden vorher ging es für mich raus auf die Strasse. Meine Mutter setzte mich vor die Tür. Endgültig, mit meiner gesamten Habe, es passte alles in zwei Koffer. Es war finster, als ich nach draussen trat. An der Hauptstrasse drehte ich mich noch einmal um und guckte zurück auf die Wohnung. In der hohen Schneedecke waren nur die Spuren der Räder der Rollkoffer und meine Fussabdrücke zu sehen. Aber hier war ich auf mich alleine gestellt.

Die ersten Schritte ging ich noch mit einem Ziel durch die dunklen Strassen. Ich hatte einen Plan. Nicht weit weg wohnte ein Freund. Er hatte eine eigene Wohnung. Es brannte Licht, als ich bei ihm vor der Tür stand und klingelte. Ich sah in sein Zimmer, und er schaute hinunter. Ich winkte hoch und klingelte erneut. Das Licht ging aus. Die Tür blieb zu. Da wusste ich nicht mehr, wohin.

Die Nacht war eiskalt, und Schnee fiel. Ich floh nur noch zum immer nächstwärmeren Platz. Es trieb mich zum Bahnhof in Barmbek. Mit zwei Koffern sass ich auf einer Bank an der Busstation. Dort begegnete ich später meiner Mutter wieder. Sie holte sich Frühstück beim Bäcker. Ich fragte, ob sie mir auch etwas holen könne. Sie verneinte.

Der Tag brach an. Bald würde die Schule beginnen. Direkt nebenan wohnte Björn, ein Mitschüler und Kollege vom Basketball. Dort durfte ich meine Koffer stehen lassen.

Der Lehrer schaut mich erwartungsvoll an. Ich stehe nur da mit meinen durchnässten Klamotten, in der Hand meinen Schreibblock und meinen Stift. Das, was ich aus dem Koffer mitgenommen habe. Meine Gedanken rasen, doch ich kann nichts sagen.

ZVG

FOTO:

Dominik Bloh liest «Unter Palmen aus

Stahl», Mi, 2. Nov., 20 Uhr, Parterre One, Klybeckstrasse 1b, Basel; parterre.net. Im Anschluss an die Lesung tauschen sich Surprise-Stadtführende mit dem Autor über ihre Erfahrungen mit Obdachlosigkeit und dem Leben auf der Strasse aus.

«Es waren auch die Blicke, die mir sehr weh taten. Gerade dann, wenn ich mich eh schon für mich geschämt habe.»

DOMINIK BLOH, 34, lebte über zehn Jahre auf den Strassen Hamburgs. Sein Buch «Unter Palmen aus Stahl» wurde zum Bestseller und ist seit letztem Jahr Schulbuch in Deutschland. Bloh hat den Duschbus «GoBanyo» initiiert und arbeitet heute als Autor und Aktivist. Er ist Vater eines 8 Monate alten Sohnes.

Sie haben einen Duschbus für obdachlose Menschen initiiert. Was sind Ihrer Meinung nach andere Projekte, die Menschen auf der Strasse unterstützen können?

Gar keine mehr. Es ist nun Zeit, aufzuhören, auch mit dem Duschbus. Wir müssen uns alle hinterfragen, auch die Strassenmagazine. Wir sind systemerhaltend, aber es bräuchte Transformation, und die müsste meiner Meinung nach sehr radikal aussehen. Da braucht es nicht die nächste Suppenausgabe, es braucht nicht die nächste Kleiderkammer. Jetzt braucht es Wohnraum, wir müssen Housing First implementieren – Obdachlosen erst mal bedingungslos ein Dach über dem Kopf geben. Wir brauchen eine Gesetzgebung, die Würde in Form von Lebensraum schafft. Alles andere wird nur dazu führen, dass wir weiter Symptome bekämpfen, uns aber nicht mit den Ursachen der Ungleichheit beschäftigen und diese aus dem Weg räumen. Deswegen: Ich freue mich über alles, und vieles dient als akute Hilfe. Aber auch der Duschbus ist nur ein Tropfen auf den Asphalt. Es gilt jetzt, die volle Aufmerksamkeit auf eine beständige Lösung zu richten, und ich bin der Meinung, dass Housing First die Obdachlosigkeit in Europa beenden wird.

In Ihrem Buch werden ein paar Anlaufstellen genannt, ein Winternotprogramm etwa, aber meistens waren Sie auf sich allein gestellt. Auch als Jugendlicher. War da gar nichts, wo Sie hätten Hilfe holen können?

Da war ganz viel. Der Kinder- und Jugend-Notdienst, das Jugendamt, die Familienbehörde, die alle ihre Verantwortung nicht wahrnahmen, sondern sagten: Da sind andere zuständig. Das Problem der Zuständigkeiten ist Alltag bei den deutschen Behörden. Das sagen auch die Sozialarbeiter*innen im Hilfesystem. Die Frage ist, warum es keine bessere Finanzierung fürs Hilfesystem gibt. Warum gibt es nicht mehr Personal, warum schafft man nicht mehr Schnittstellen? Sozialarbeiter*innen müssen vor einem Stapel Akten von 50 Fällen entscheiden: Wo gehe ich denn als Erstes hin? Ist es das Kind mit häuslicher Gewalt, ist es das Kind mit sexuellem Missbrauch? Und dann ist da noch ein Kind, das ist hinausgeschmissen worden von seiner Mutter und ist irgendwie draussen unterwegs. Naja – wie priorisieren wir das denn jetzt? In all den Fällen fehlt es an der Struktur, weil die Ressourcen fehlen. Gerade die übergreifende Zusammenarbeit wäre wichtig – dass man nicht nur an die nächste Anlaufstelle verweist, sondern beispielsweise sagt: «Auch wenn du mit 16 nicht hierher gehörst, dann bleib trotzdem erst mal beim Kinder- und Jugendnotdienst im Heim, bis wir geklärt haben, ob du vielleicht beim Jugendamt in eine betreute Wohngruppe kannst.» Ich habe ganz oft nur Notizzettel mit der nächsten Anlaufstelle aufgeschrieben bekommen. Aber Konflikte entstehen zwischen Zeit und Raum. Das ist der Moment, in dem Menschen fallen und irgendwann ganz unten landen. Und daher ist es mir so ein grosses Anliegen, dass wir dieses soziale Netz, das ja grundsätzlich vorhanden ist, engmaschiger machen. So, glaube ich, würden wir viel weniger Menschen verlieren.