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Verkäufer*innenkolumne

Verkäufer*innenkolumne

Sehnsucht nach Sehn

Will sehen lernen. Wie Mondrian vor dem Quadrat stehn. Und erkennen: Blau muss da rein. Nicht Rot. Nicht Gelb.

Ich möchte die Augen schliessen und einen violetten Kreis sehn. Und drumherum einen zweiten Kreis.

Und ich will warten.

Geduld bringt Rosen, warten auf die Farbe, die den Ring ausfüllt.

Ich möchte ein Auto sehen. Von der Sonne beschienen.

Drum der Glanz, der dem Auto die Farbe stiehlt und Weiss hinzaubert. Ich möchte Glanzpunkte sehn: Sterne, deren Arme mal kurz, mal lang sind, blitzschnell geht das.

Und der Stern wird grün. Und orange. Und ich will die Partikel sehn, die unzählbaren, die in diesem Stern fliessen.

Ich will in den Mikrokosmos. Ich will ganz klein werden.

Und erkennen, dass das Winzige riesig ist.

Ja, ich war blind all die Jahre. Und jetzt werde ich alt. Und weil ich alt werde, beginne ich zu sehen. Ich beginne zu sehen, weil ich nicht mehr gehen kann. Ich muss im Um-mich-herum reisen. Sitzend im Rollstuhl. Da, der Spatz hat mich begrüsst. Der Spatz, mein Gegenüber. Die andere Seele. Ich schau ihn genau an. Ich will ihn zeichnen. Der Pfleger bringt mir Blatt und Stift. Ich werde ihm meine Zeichnung schenken. Und verstehen, dass mir die Beine genommen wurden, um meine Augen zu öffnen.

NICOLAS GABRIEL, 56, verkauft Surprise in Zürich auf der Achse Rudolf-Brun-Brücke/Uraniabrücke in Zürich, war lange im Pflegeheim tätig, deshalb hier das Rollenschlüpfen in einen alten Menschen.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.