Werkheft 02

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ÜBER DIE WERKHEFTE Die Werkhefte begleiten den Dialogprozess Arbeiten 4.0, bieten Einblick in die Diskurslage zu den Schwerpunktthemen der jeweiligen Ausgaben und bilden eine erweiterte Plattform für den fachlichen Austausch über die Zukunft der Arbeit. •

Dem Wissenstransfer dienen Beiträge von Forschungsinstitutionen, die Studien im Auftrag des BMAS durchgeführt haben, Mitteilungen von Expertinnen und Experten aus dem Dialogprozess, die eigene Erkenntnisse vorstellen, sowie Texte von Expertinnen und Experten aus dem BMAS selbst. → ANALYSEN

Die Hefte dokumentieren das Meinungsspektrum, das im Rahmen des Dialogprozesses aufscheint: etwa in Stellungnahmen von Verbänden und Institutionen zum Grünbuch Arbeiten 4.0, in Beiträgen aus dem öffentlichen Dialog (beispielsweise den sozialen Medien) oder auch Namensbeiträgen der Gestaltungspartner. → DEBATTE

Grau ist alle Theorie … Das Bild wäre unvollständig, kämen nicht auch Menschen zu Wort, die aus ihrer Alltags- und Arbeitswirklichkeit berichten. → PRAXIS

Politische Initiativen, Pläne und Prozesse, aber auch Vorschläge und Überlegungen ganz unterschiedlicher Akteure zu konkreten politischen Gestaltungsmöglichkeiten werden im Dialogprozess reflektiert und im Werkheft vorgestellt. → PERSPEKTIVEN

Weiterreichende Beiträge vermitteln Hintergrundwissen, das der Einordnung und dem besseren Verständnis der laufenden politisch-gesellschaftlichen Veränderungen dient und Bezüge zu gleichzeitigen oder verwandten Diskursen herstellt. → KONTEXT

Alle namentlich gezeichneten Beiträge der Werkhefte geben die Auffassung der jeweiligen ­Autorinnen und Autoren wieder und nicht eine Haltung des Ministeriums. Dies gilt auch dann, wenn die ­Beteiligten im BMAS tätig sind.

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DER ERSTE ARBEITSTAG

Erster Arbeitstag von Philipp Kerler (26) als Pilot bei Germanwings, Deutschland 2015

Ein fotografischer Essay von Frank Schinski Den ersten Arbeitstag vergisst man nie. Alles ist neu und ungewohnt. Die meisten Menschen mögen ihren Job. Gleichzeitig sagen aber mehr als die Hälfte, dass sie sich mehr Erfüllung, Zufriedenheit und einen erkennbaren Sinn an ihrem Arbeitsplatz wünschen. Der Fotograf Frank Schinski hat Menschen bei ihrem ersten Arbeitstag begleitet.

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Erster Arbeitstag als Vollmitglied von Bruno Delepelaire, Musiker bei den Berliner Philharmonikern, Deutschland 2015

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Erster Arbeitstag bei der Marine, Matrose Fritscher (19), Deutschland 2015

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Erster Arbeitstag in einer neuen Schicht von Helen Neiheiser (20), Porsche AG, Deutschland 2015

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Erster Arbeitstag von Christine Leila Sader (30), Lehrerin an der RĂźtlischule in Berlin-NeukĂślln, Deutschland 2015

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Erster Arbeitstag von Dr. Sven Kuchling, angehender Facharzt für Allgemeinmedizin in seiner Praxis in Greifswald, Deutschland 2015

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Erster Arbeitstag von Britta Sander Ohms (31), Richterin am Sozialgericht in Hannover, Deutschland 2015

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Erster Arbeitstag von Simone Rauch (43), Tierpflegerin im Farm-und-Ranch-Projekt der Klinik Bad Wildungen, Deutschland 2015

Über den Fotografen Frank Schinski gehört zum Berliner Fotografenkollektiv »OSTKREUZ«. Er ist regelmäßig in Ausstellungen zu sehen und arbeitet für internationale Magazine und Wirtschaftsunternehmen. Er lebt und arbeitet in Hannover.

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I nhalt

EINLEITUNG

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Der erste Arbeitstag  S. 4 Ein fotografischer Essay von Frank Schinski Zur Einführung: Die neue Arbeitswelt zwischen Wirklichkeit und Ansprüchen  S. 14 Benjamin Mikfeld S. 22  Wertewelten Arbeiten 4.0 Max Neufeind, Hannes Koppel und Frank Schomburg S. 30  Arbeitsmarktprognose 2030 Thorben Albrecht und Andreas Ammermüller S. 36  Kollege Roboter? Erkundungen zur Mensch-Maschine-Interaktion Ein Gespräch mit Ivo Boblan und Diego Compagna S. 40  Die Normalarbeit wird nicht weniger, aber die Nicht-Erwerbstätigkeit Michael Arnold, Anselm Mattes und Gert G. Wagner S. 46  Das neue flexible Normalarbeitsverhältnis Gerhard Bosch S. 52  (Solo-)Selbstständigkeit: Was wir darüber wissen Gabriele Weinhold S. 60  Schaffen neue Arbeitsformen neue Beziehungsformen? Josephine Hofmann S. 66  Gender Gaps. Warum wir über Zeit sprechen müssen Lena Hipp und Friederike Molitor S. 74  Flexibel, aber selbstbestimmt – Arbeitszeitwünsche heute Annette Schicke und Oliver Lauenstein S. 80  Arbeitszeitoptionen im Lebensverlauf Christina Klenner S. 86  Flexibel arbeiten in Zeit und Raum Marc Oliver Huber S. 92  Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt Projektteam »Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – wissenschaftliche Standortbestimmung« der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Beteiligung und Mitbestimmung  S. 98 Drei Standpunkte. Von Elke Eller (BPM), Monika Frech (Dark Horse ­Innovation) und Thomas Fischer (DGB)

DEBATTE

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Stellungnahmen zum Grünbuch Arbeiten 4.0  S. 104 Arbeitnehmerkammer Bremen, Bundesarbeitgeberverband Chemie, Bundesverband mittelständische Wirtschaft, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Daimler AG, dbb beamtenbund und tarifunion, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Deutscher Gewerkschaftsbund, Die Führungskräfte e. V., Handelsverband Deutschland, Hans-Böckler-Stifung, Kommissariat der deutschen Bischöfe, Robert Bosch GmbH, Sozialverband Deutschland, vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V., ver.di, Zentralverband des Deutschen Handwerks, Debatte im Netz

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ANALYSEN


I nhalt

PRAXIS

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Wie wir Arbeit verteilen  S. 128 Gespräche mit Aygül und Taylan Yildiz, Manuela und Sebastian Mai, Maria Brakel und Philipp Ballhausen, Christina Lehnerl, Petra und Volker Böhm, Daniel Hübenthal und Stephan Gellrich; protokolliert von Julia Sprügel und Nina Hoppmann Wie Betriebe flexibles Arbeiten organisieren  S. 142 Deutsche Telekom, Business Intelligence GmbH, K.lab educmedia GmbH, Westaflex GmbH S. 148  »Wir müssen den sozialen Aspekt der Arbeit neu denken« Ein Gespräch mit Richard Sennett S. 152  Wie kann eine innovative Arbeitszeitpolitik aussehen? Gesine Schwan S. 154  Was kann Diversity Management leisten? Jutta Rump und David Zapp S. 160  Eine gemeinsame Strategie für die psychische Gesundheit Andreas Horst und Jana May-Schmidt S. 166 Start-up-Kultur Fotostrecke mit Fotos von Andreas Lukoschek

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PERSPEKTIVEN

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ÜBERBLICK

S. 182  Wie entsteht das Neue? Andrea Augsten, Verena Bentele, Christoph Bornschein, Dieter Frey, Sandra Güth, Birgit Isenmann, Markus Köhler, Sandra Ohly, Arndt Pechstein, Frank Piller, Julia Primavera

KONTEXT

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»Arbeit wird zum Glückserlebnis, wenn Menschen gut sind in dem, was sie tun«  S. 198 Ein Gespräch mit Tim Jonischkat und Luzia Schmid Die Kraft des Sonntags wiederentdecken  S. 206 Karl Kardinal Lehmann Pause  S. 214 Ein fotografischer Essay von Frank Schinski Über die Autorinnen und Autoren  S. 222 Impressum  S. 225

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E inleitung

ZUR EINFÜHRUNG: DIE NEUE ARBEITSWELT ZWISCHEN WIRKLICHKEIT UND ANSPRÜCHEN Benjamin Mikfeld

Die »Zukunft der Arbeit« ist ein Evergreen der politischen und wissenschaftlichen Debatte. Dass sie immer aufs Neue geführt wird, zeigt, dass wir uns als Arbeitsgesellschaft verstehen. Zumindest scheint das immer mal wieder vorhergesagte »Ende der (Erwerbs-)Arbeit« (Rifkin 1995) ferner denn je. Im wiedervereinigten Deutschland haben wir mit rund 43 Mio. Erwerbstätigen Rekordniveau, und an der Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zeigt sich, dass Erwerbsarbeit einen hohen Stellenwert hat. Betrachtungen der Arbeit, meist in ihrem engen Verständnis als Erwerbsarbeit, spiegeln den ökonomischen Strukturwandel wider – wie in den Analysen über die »Dienstleistungs-« oder »Wissensgesellschaft«. Zuweilen richten sie den Fokus auch auf die soziale Binnenstruktur unserer Gesellschaft. In der Nachkriegszeit führte

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die soziale Aufwärtsmobilität zur These einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«. In den 1980er-Jahren folgten die »Zweidrittelgesellschaft« und die »Risikogesellschaft«, heute ist sogar die Rede von einer »Abstiegsgesellschaft« (Nachtwey 2016). Maßgeblich um »Arbeit« geht es auch in den Diagnosen zur Lage der »Mitte« im Lande oder wenn neue Generationen »erfunden« werden, wie aktuell die »Generation Y« (vgl. Hurrelmann/ Albrecht 2014). Die Bewertungen des Wandels der Arbeit spiegeln insofern die Arbeits- und Lebenssituation bestimmter Gruppen wider und enthalten Aussagen über den ökonomischen und sozialstaatlichen Entwicklungspfad sowie die politischen Diskurse im Lande. Zeitdiagnostik dieser Art hilft uns, neue Strömungen zu erkennen, zu benennen und damit diskursfähig zu machen. Sie


E inleitung befriedigt unser Bedürfnis nach gesellschaftlicher Selbstvergewisserung und -einordnung; sie kann aber auch die Komplexität und Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher und sozialer Entwicklungen auf vermeintlich eindeutige Trends und Zustände verkürzen.

WIRKLICHKEIT UND WANDEL DER ARBEITSWELT Die wesentlichen Trends, die den Wandel der Arbeitsgesellschaft vorantreiben, werden meist mit den Begriffen der Tertiarisierung (der Zunahme von Dienstleistungsarbeit), der Wissensarbeit, der Digitalisierung und der Feminisierung umschrieben. Allerdings vollziehen sich diese nicht im Selbstlauf und auch nicht reibungslos. Lag der Anteil der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bei etwa einem Drittel, so beträgt er heute drei Viertel. Entgegen der Annahme einer »Postindustrialisierung« bedeutet dies jedoch keinen Bedeutungsverlust der industriellen Produktion. Viele Dienstleistungen sind Teil komplexer Wertschöpfungsnetze, sodass eher von einer »industriellen Dienstleistungsgesellschaft« gesprochen werden muss. An Bedeutung gewonnen haben allerdings auch Service-Jobs, oft mit einem hohen Anteil an Niedriglohnbeschäftigung und geringer gesellschaftlicher Respektabilität. Die Digitalisierung der Arbeitswelt (BMAS 2016) wird den Strukturwandel weiter forcieren. Die aktuelle »Arbeitsmarktprognose 2030« des BMAS macht – wie einige andere Studien zuvor – deutlich, dass wir in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten nicht vor einer Entwicklung zur »Vollroboterisierung« mit menschenleeren Fabriken stehen. Sehr wohl werden wir es hingegen mit einer hohen Dynamik am Arbeitsmarkt zu tun haben, mit steigenden Qualifikationsanforderungen und Verschiebungen zwischen den Branchen (→ Ammermüller/Albrecht). Zudem wird es zu neuen Kooperationen zwischen Mensch und Maschine kommen (→ Interview Boblan/Compagna), möglicherweise auch zu mehr selbstständigen Arbeitsformen (→ Weinhold). Damit wird auch die »Wissensarbeit« an Bedeutung gewinnen, nicht nur in akademischen Professionen. Die »Kompetenzrevolution« ist

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bereits seit einiger Zeit im Gange und zeigt sich u. a. in höheren Bildungsabschlüssen und veränderten Berufsbildern. Beschäftigte können mehr und fordern mehr Beteiligung und Selbstbestimmung ein, auch wenn dies zuweilen mit den betrieblichen Wirklichkeiten in Konflikt steht (Vester u.a. 2007). Wissensarbeit erfordert in den Unternehmen gesteigerte Anforderungen an Kommunikation und demokratische Führung (→ Hofmann). Dabei wird Beteiligung immer wichtiger (→ Eller, Frech, Fischer). In den letzten Jahrzehnten ist auch der Anteil der erwerbstätigen Frauen gestiegen. Doch von einer echten Gleichstellung der Geschlechter sind wir noch weit entfernt, wie der Blick auf die einander teils wechselseitig bedingenden »Gender-Gaps« u. a. hinsichtlich Entlohnung, Arbeitszeit und Alterssicherung zeigt (→ Hipp/Molitor). Mit der Feminisierung und einer stärker partnerschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern, aber auch der Aufgabe, Erwerbstätige mit Migrationshintergrund, mit Behinderungen sowie ältere Menschen in Betriebe und Arbeitsmarkt zu integrieren, gewinnt der Umgang mit »Diversität« an Bedeutung (→ Rump/Zapp). Teils quer zu diesen Trends liegt die Diagnose einer zunehmenden Flexibilisierung der Arbeit (→ Beispiele S. 128 ff.), die nicht immer Freiheit, sondern oft auch mehr Druck bedeuten (→ Interview Sennett). Auf Phänomene wie Leistungsverdichtung und Entgrenzung wird auch die Zunahme psychischer Belastungen zurückgeführt (→ Horst/ May-Schmidt).

WUNSCH UND WIRKLICHKEIT Ein Blick auf die subjektiven Bewertungen zeigt, warum das aktuell hohe Beschäftigungsniveau nicht zwangsläufig mit hoher gesellschaftlicher Zufriedenheit einhergeht. Ergänzend zu den »objektiven« Daten müssen wir danach fragen, wie die Bürgerinnen und Bürger ihre individuelle Arbeitssituation und die Arbeitswelt erfahren und bewerten. Hierzu existiert eine Vielzahl an Befragungen, die teilweise zu abweichenden Ergebnissen kommen, doch einige Muster sind erkennbar: So steht die Sicherheit des Arbeitsplatzes in der Regel ganz oben in der Bewertung.

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E inleitung Die im Rahmen der »Initiative Neue Qualität der Arbeit« vom BMAS geförderte Befragung »Gewünschte und erlebte Arbeitsqualität« bestätigt dies. Die weiteren der Top 5: ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, Zusammenarbeit mit netten Leuten, guter Lohn und gute Führung. Stellt man die »erlebte« Arbeitsqualität der »gewünschten« gegenüber, ergeben sich die größten Differenzen bei den Themen Lohn/Gehalt, Führung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Privatleben (BMAS 2015). Eine im Auftrag der arbeitgeberfinanzierten »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« durchgeführte Befragung kommt zu dem Ergebnis, dass die Zufriedenheit mit der beruflichen Situation im Durchschnitt mit dem Wert 7 auf einer Skala von 1 bis 10 bewertet wird. Allerdings sind ungelernte Arbeiter deutlich unzufriedener (6,1) als leitende Angestellte und Beamte (7,5). Zugleich beklagen 56 Prozent einen steigenden Arbeitsdruck in den letzten Jahren und nur 33 Prozent blicken angesichts der Veränderungen mit Hoffnung auf die zukünftige Arbeitswelt. Mit Blick in die Zukunft befürchten 81 Prozent einen zunehmenden Leistungsdruck in der Arbeitswelt allgemein und 48 Prozent am eigenen Arbeitsplatz. Während 79 Prozent die Erwartung einer »Arbeit, die Spaß macht« als erfüllt ansehen und 65 Prozent die der »Sicherheit des Arbeitsplatzes«, betrachten nur 31 Prozent eine leistungsgerechte Bezahlung als verwirklicht (INSM/IfD Allensbach 2016). Eine nicht unerhebliche Differenz zwischen Wirklichkeit und Wunsch besteht hinsichtlich der Arbeitszeiten. Es gibt Spannungen zwischen betrieblichen Interessen, ungleichen Bedarfen der Beschäftigten und gesellschaftlichen Wertvorstellungen, etwa den Sonntag als weitgehend arbeitsfreien Tag zu schützen (→ Lehmann). Allen Willensbekundungen zum Trotz ist die gleiche Aufteilung von Erwerbs- und Hausarbeit in Paarbeziehungen in Deutschland noch nicht die Regel. Zwar kommen Rollenmuster in Bewegung, sie haben sich aber noch nicht angeglichen. Das Bedürfnis, die Arbeitszeit besser an die eigene Lebenssituation anzupassen – vor allem in der »Rushhour des Lebens«, der Phase von beruflichem Aufstieg und Familiengründung –, nimmt zu (→ Sprügel/ Hoppmann). Die individuell gewünschten Arbeits-

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zeiten entsprechen nicht immer den vertraglich vereinbarten und noch weniger den tatsächlichen Arbeitszeiten (→ Schicke/Lauenstein). Zwar bestehen in der Theorie durchaus viele Optionen. Ob diese jedoch auch tatsächlich genutzt werden, entscheidet sich ganz konkret im Betrieb. Wichtige Parameter sind die Art der Tätigkeit (gilt sie als »männlich« oder »weiblich«), die Führungskultur, die Personalausstattung, die Arbeitsorganisation und auch die Qualität der Mitbestimmung (→ Klenner). Um neue Lösungen in der Arbeitszeitgestaltung zu unterstützen, führt das BMAS gemeinsam mit der Humboldt-Viadrina Governance Plattform im Sommer 2016 einen Arbeitszeitdialog durch (→ Schwan). Bereits im Frühjahr wurden im Rahmen der »Plattform Digitale Arbeitswelt« mit Sozialpartnern und Wissenschaft abgestimmte Empfehlungen für »orts- und zeitflexibles Arbeiten« vorgelegt (→ Huber). Wünsche sind allerdings noch keine Ansprüche. Dazu werden sie erst, wenn sie einhergehen mit einer Vorstellung von gesellschaftlicher Normalität; es muss beispielsweise als normal gelten, eine leistungsgerechte Bezahlung einzufordern und zu erhalten. Außerdem muss die Arbeitswelt als so gestaltbar betrachten werden, dass angenommen werden kann, Ansprüche tatsächlich durchsetzen zu können. Viele Erwerbstätige in der Arbeitnehmermitte sehen diese »Normalität« zwar für sich persönlich gegeben, sind aber verunsichert, ob ihre eigene noch mit der gesellschaftlichen Normalität identisch ist (Hürtgen/Voswinkel 2014).

WERTEWANDEL UND NEUE SPANNUNGEN Zu einer ähnlichen Erkenntnis kommt die »Vermächtnis«-Studie des WZB und der ZEIT. Sie bestätigt einerseits den hohen gesellschaftlichen Stellenwert von Arbeit: 92 Prozent der Männer und 88 Prozent der Frauen geben an, dass es ihnen »sehr wichtig ist« und dass es allen Menschen wichtig sein sollte, erwerbstätig zu sein. Die Deutschen sind »megaabhängig von der Arbeit«, so die Autorin Jutta Allmendinger. Zugleich sei die Gesellschaft weniger von Pflichtgefühl geprägt. Unabhängigkeit und ein selbstbestimmtes Leben würden wichtiger. Die Studie beschreibt andererseits auch den Widerspruch zwischen diesen


E inleitung Normen und einer Unsicherheit über die Zukunft, die sich in der Befürchtung ausdrückt, dass in Zukunft weniger Menschen einen sicheren Arbeitsplatz haben werden. Während ein starkes Bekenntnis zum deutschen Sozialstaat Ausdruck findet, wird eine Erosion des Gemeinschaftsgefühls beklagt (Die ZEIT 2016 a,b). Auch die in diesem Werkheft zusammenfassend dokumentierte Studie »Wertewelten Arbeiten 4.0«, die vom BMAS gefördert wurde, arbeitet heraus, wie nah Wunsch und Wirklichkeit beieinander liegen (→ Neufeind/Koppel/Schomburg). Die Studie ist in dieser Form bislang einzigartig. Sie unterscheidet sich methodisch von klassischen Befragungen und identifiziert »kulturelle Kraftfelder«. Derzeit sieht nur eine Minderheit die eigene Arbeitssituation nah an der gewünschten Arbeitswelt. Doch wie das »Ideal« auszusehen hat, differenziert sich in sieben identifizierte Wertewelten, die sich hinsichtlich der Gewichtung der Werte Leistungsorientierung, Gemeinwohl, Stabilität und Selbstentfaltung unterscheiden. Eine wichtige Erklärung für aktuelle Spannungen in unserer Gesellschaft liefert die Studie mit der Einteilung in drei Grundströmungen. Die »Vergangenheitsorientierten« blicken sehr positiv auf die Nachkriegsjahrzehnte. Heute hingegen beklagen sie Druck und soziale Kälte bei der Arbeit, berufliche Unsicherheit und Arbeitsverdichtung bei gleichzeitig sinkenden Einkommen. Sie befürchten, dass sich dies in der Zukunft noch verschärft. Die »Gegenwartsorientierten« sehen die Arbeitswelt tendenziell positiv und hoffen auf kleinere Verbesserungen durch die Digitalisierung und soziale Kompromisse, die durch Interessenvertretungen ausgehandelt werden. Eine kritische Bewertung der als starr und bürokratisch empfundenen Gegenwart, aber auch früherer Jahrzehnte, nehmen die »Zukunftsorientierten« vor. Sie hegen Hoffnungen auf die Arbeitswelt 2030, die ihnen mehr individuelle Arbeitsgestaltung und kreative Arbeit ermöglichen wird. Die Studie bestätigt frühere Diagnosen, dass sich im Zuge einer sich verändernden Arbeitswelt eine neue Konfliktlinie herausbildet. Peter Glotz sprach schon 1999 von »Kulturkämpfen im digitalen Kapitalismus« und wachsenden Konflikten

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zwischen Milieus der Beschleunigung und der Entschleunigung (Glotz 1999). Offenbar sind nicht alle Gruppen in der Gesellschaft für eine Hyperindividualisierung bereit oder gerüstet. Robert Castel unterscheidet zwischen »Individuen im Übermaß, die sich in ihrer Subjektivität einkapseln und dabei vergessen können, dass sie in einer Gesellschaft leben«, und »bloßen Individuen«, denen die Voraussetzungen für gesellschaftliche Unabhängigkeit fehlen (Castel 2011, S. 21). Man mag diese Polarisierungsdiagnose für überzogen halten. Ebenso, dass die ganze Gesellschaft das Gefühl einer »kafkaesken Krisenpermanenz« durchzieht, wie der Marktforscher Stephan Grünewald feststellt. (Grünewald 2012, S. 16). Auch die bereits vor der Flüchtlingswelle 2015 und den jüngsten Terrorattentaten unter anderem von Heinz Bude formulierte Diagnose einer »Gesellschaft der Angst« mag undifferenziert erscheinen. Doch auch empirische Studien bestätigen, dass es Anzeichen für einen Verlust des »organischen Zusammenhangs von Autonomiestreben und Gemeinschaftsbindung« und ein Auseinanderdriften von Milieus der gesellschaftlichen Mitte gibt (Bude 2014, S. 73 f.). Eine Milieustudie des Delta-Instituts für Sozial- und Ökologieforschung beschreibt den Weg der gesellschaftlichen Mitte über eine Phase des Aufstiegs in den 70er- und 80er-Jahren, eine Phase der Statusorientierung in den 90er-Jahren und eine Phase der Distinktion und der Abgrenzung gegenüber dem unteren Teil der Gesellschaft in den 00er-Jahren. Die Mitte habe darauf mit einer stärkeren Orientierung an bürgerlichen Tugenden und einer Abgrenzung nach unten reagiert. Ab 2010 sei eine stärkere »Bifurkation« (Aufspaltung) der Mitte festzustellen: In Teilen der Mitte gebe es den Trend zu mehr »Konstanz, Verlässlichkeit und Orientierung«, in anderen Teilen eine »strategische Selbstmodellierung« im Sinne hoher Flexibilität, um Marktchancen zu erkennen und zu ergreifen (Wippermann 2011). Die »feinen Unterschiede« (Pierre Bourdieu) und auch die gröberen werden wichtiger. Auch wenn die Mitte in Deutschland keinen »Proll-Hass« in ihrer Abgrenzung nach unten artikuliert, wie dies Owen Jones für England

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E inleitung dokumentiert (Jones 2012), sind die Konflikte zwischen den optimistischen, mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital gut ausgestatteten Milieus bzw. Berufsgruppen und denen, die resignativ und skeptisch, zuweilen auch zornig auf Gegenwart und Zukunft blicken, unübersehbar. Es wäre für die Zukunft fatal, wenn die einen eine große Offenheit für »das Neue« (→ Wie entsteht das Neue? Beiträge S. 182–195) mitbringen und die anderen eher in den Rückspiegel schauen. »Es fehlt ein unausgesprochenes Leitbild, das im Blick auf ungewisse Zukünfte zwischen den verschiedenen sozialmoralischen Milieus vermittelnd, überbrückend oder ausgleichend wirken könnte« (Bude 2014, S. 74). Aber auch das ist nicht unmöglich: Bei allen Unterschieden und Distinktionen gibt es eine breite Akzeptanz für den Wert der Arbeit, das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit und den Sozialstaat.

mitte? Bestimmte Berufe? Oder eine soziologische Mitte, die nicht nur soziodemografisch definiert werden kann und die sich durch weitere Merkmale wie Status, Lebensstile und Lebensführung auszeichnet? Die soziologische Mitte schrumpft nicht, aber sie wird vielfältiger und differenziert sich in verschiedene Milieus, die wiederum auch die Pluralität der Arbeitswelt abbilden. Diese Differenziertheit fehlt jedoch in vielen »handelsüblichen« Analysen. Die »Angestellte im Dienstleistungssektor« ist als analytische Kategorie unbrauchbar. Auch der Selbstständige kann Staranwalt oder eine plattformvermittelte Putzkraft sein. Im Prinzip war die Wissenschaft mit Max Webers Definition der Erwerbsklassen in dieser Hinsicht schon vor einem knappen Jahrhundert weiter. Später folgten Pierre Bourdieu und andere mit differenzierten »Kartierungen« der (Arbeits-)Gesellschaft.

VERMESSUNGEN DER ARBEITSGESELLSCHAFT Wer die Arbeitswelt verstehen und gestalten will, braucht differenzierte Fakten. Arbeitsmarktstatistiken geben uns Auskunft über die Erwerbsbeteiligung und darüber, in welchen Branchen und Berufen gearbeitet wird. In Verbindung mit Informationen der Nachfrageseite erfahren wir, in welchen Berufen und Regionen etwa ein Mangel an Fachkräften besteht. Diese Statistiken sagen uns auch etwas über die Erwerbsformen. Eine wichtige Kategorie ist hier das »Normalarbeitsverhältnis«, das nicht zuletzt ein Bezugspunkt dafür ist, was als »normal« gilt. Doch hier fängt die Diskussion schon an – darüber, ob wir aus den Daten eher eine Stabilität (→ Arnold/Mattes/ Wagner) oder einen Bedeutungsverlust zumindest des herkömmlichen Normalarbeitsverhältnisses (→ Bosch) herauslesen. Und was sagt uns dies über die Qualität der Arbeitsverhältnisse? Ein Normalarbeitsverhältnis kann nur mit dem Mindestlohn vergütet und mit belastenden Arbeitszeiten verbunden sein. Umgekehrt kann eine vermeintlich »atypische« Teilzeitbeschäftigung hochqualifiziert und gut bezahlt sein. Noch komplizierter wird es, wenn wir die Perspektive soziologisch erweitern. So ist vielfach die Rede von einer schrumpfenden »Mitte«. Doch wer oder was ist gemeint? Die Einkommens-

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Es wäre nachzudenken über eine Vermessung der Arbeitsgesellschaft im Sinne eines »mehrdimensionalen Analysemodells« (Vester 2011), das die Dynamik der wissensbasierten industriellen Dienstleistungsgesellschaft in ihrem Zusammenwirken der Trends und damit auch die sozialen Auf- und Abstiege erfasst. Das Modell müsste daher differenzieren nach schlüssig definierten Berufsmilieus. Es liegt auf der Hand, dass sich das Berufsethos des Krankenpflegers von dem der Investmentbankerin unterscheidet. Eine solche Landkarte der Arbeitsgesellschaft könnte einerseits das Verständnis für die spezifischen Ansprüche und erfahrenen Probleme bestimmter Berufsgruppen schärfen, vom Einkommen bis zu beruflichen Belastungen. So könnten auch die Erkenntnisse der Arbeitsforschung über die Schutzbedürfnisse auf eine differenzierte »Tätigkeitstypologie« bezogen werden (→ Projektteam »Psychische Gesundheit der Arbeitswelt«). Andererseits könnte eine solche Landkarte auch dazu dienen, eine neue »plurale Normalität« zu formulieren bzw. eine Neubestimmung des Normalarbeitsverhältnisses anzutreiben, die Autonomie und Sicherheit verbindet, in den Betrieben akzeptiert und gelebt und durch einen verlässlichen Sozialstaat abgesichert wird.


E inleitung

LITERATUR Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst, Hamburg. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2015): Gewünschte und erlebte Arbeitsqualität, Forschungsbericht 456, Berlin. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2016): Werkheft 01 Digitalisierung der Arbeitswelt, Berlin. Castel, Robert (2011): Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums, Hamburg. Die ZEIT (2016a), Interview mit Jutta Allmendinger, Ausgabe 9/2016, S. 13 – 15. Die ZEIT (2016b): Es ist Liebe (Autor: Kolja Rudzio), Ausgabe 10/2016, S. 19–20. Glotz, Peter (1999): Die beschleunigte Gesellschaft. Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus, München. Grünewald, Stephan (2012): Die erschöpfte Gesellschaft. Warum Deutschland neu träumen muss, Frankfurt/M.

INSM/Institut für Allensbach (2016): Arbeit heute und morgen – Vorstellungen von der Zukunft der Arbeit, http://www.insm.de/insm/kampagne/grosse-aufgaben/studie-arbeit-heute-und-morgen-vorstellungen-vonder-zukunft-der-arbeit.html. Jones, Owen (2012): Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse, Mainz. Nachtwey, Oliver (2016). Die Abstiegsgesellschaft: Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin. Rifkin, Jeremy (1995): Das Ende der Arbeit, Frankfurt/M./New York. Vester, Michael/Teiwes-Kügler, Christel/Lange-Vester, Andrea (2007): Die neuen Arbeitnehmer. Zunehmende Kompetenzen – wachsende Unsicherheit, Hamburg. Vester, Michael (2011): Postindustrielle oder industrielle Dienstleistungsgesellschaft: Wohin treibt die Arbeitsteilung, in: WSI-Mitteilungen 12/2011, S. 629–639. Wippermann, Carsten (2011): Milieus in Bewegung – Werte, Sinn, Religion und Ästhetik in Deutschland, Würzburg.

Hürtgen, Stefanie/Voswinkel, Stephan (2014): Nichtnormale Normalität? Anspruchslogiken aus der Arbeitnehmermitte, Berlin. Hurrelmann, Klaus/Albrecht, Erik (2014): Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert, Weinheim.

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1 ANALYSEN

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A nalysen

WERTEWELTEN ARBEITEN 4.0 Max Neufeind, Hannes Koppel und Frank Schomburg

Dass Menschen sich hinsichtlich ihrer Lebensentwürfe und ihrer Ansprüche an Arbeit unterscheiden, ist keine neue Erkenntnis. Eine im Auftrag des BMAS durchgeführte repräsentative Studie auf Basis von Tiefeninterviews zeigt jedoch, dass sich in Deutschland mittlerweile sehr differenzierte Vorstellungen einer idealen Arbeitswelt herausgebildet haben, deren Heterogenität Unternehmen und Politik vor besondere Herausforderungen stellen. Die sieben aus der Studie abgeleiteten, idealtypisch beschriebenen »Wertewelten« unterstreichen vor allem eines: »One size fits all« funktioniert auch in der Arbeitswelt nicht mehr.

Der technologische Wandel verändert die Wirtschafts- und Arbeitswelt in Deutschland. Wie wir in Zukunft arbeiten werden, wird aber nicht nur von Technik bestimmt. Ebenso prägend ist die Veränderung unserer Gesellschaft. Steigendes Durchschnittsalter, wachsende ethnische und kulturelle Vielfalt sowie eine stetige Zunahme der Beschäftigung in wissensintensiven Berufen haben die Sozialstruktur merklich verändert. Auch Wertvorstellungen und Milieus befinden sich im Umbruch. Dieser Wandel kann mit Generationendiagnosen (etwa mit der vielbemühten »Generation Y«) kaum umfassend beschrieben werden.

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Vielmehr gilt es, die Ausdifferenzierung von Ansprüchen, Wahrnehmungen, Wünschen und Sorgen in den Blick zu nehmen. Was erleben die Menschen in Deutschland heute als ideale Arbeitswelt? Welche Anforderungen stellen sie an die Arbeitswelt der Zukunft? Die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderte Studie »Wertewelten Arbeiten 4.0« ist ein in dieser Form bisher einmaliger Versuch, die in Deutschland bestehende Vielfalt der Sichtweisen auf die Arbeitswelt aufzuzeigen. Dazu wurden 1.000 repräsentativ ausgewählte Erwerbs-


A nalysen personen in computergestützten Tiefeninterviews befragt. Ein von der nextpractice GmbH entwickeltes Befragungs- und Analyseverfahren erlaubte es, die qualitative Aussagekraft frei geführter Interviews mit der quantitativen Auswertbarkeit standardisierter Fragebögen zu verbinden. Die Studie zeigt, dass die Wahrnehmung der Arbeitswelt in Deutschland höchst vielfältig ist. Aus den Ergebnissen der Befragung lassen sich

sieben Wertewelten ableiten, die jeweils in sich konsistente und für sich beschreibbare Sichtweisen auf das Thema Arbeit darstellen. Diese stehen sich zum Teil in ihren handlungsleitenden Einstellungen diametral gegenüber. Soziodemografische Merkmale wie Alter, Einkommen oder Bildungsniveau können – anders als es manche Generationendiagnose nahelegt – die Zugehörigkeit zu bestimmten Wertewelten nur bedingt erklären.

METHODISCHER HINTERGRUND DER STUDIE In der Studie »Wertewelten Arbeiten 4.0« wurde für die Datenerhebung und -auswertung ein von der nextpractice GmbH entwickeltes Befragungs- und Analyseverfahren verwendet, um ein umfassendes Bild der aktuellen Werte- und Kulturmuster von Erwerbspersonen in Deutschland abzubilden. Das Verfahren verbindet die qualitative Aussagekraft frei geführter Interviews mit der quantitativen Auswertbarkeit standardisierter Fragebögen. Um die Repräsentativität für Erwerbspersonen in Deutschland zu gewährleisten, wurde der Studie eine Quotenstichprobe von 1.000 Erwerbspersonen auf Basis des Mikrozensus 2013 zugrunde gelegt. Quotierungsmerkmale waren Alter, Geschlecht, Wohnumfeld (Stadt/Land), Berufsbereich, beruflicher Bildungsabschluss und persönliches Nettoeinkommen. Ergänzt wurde die repräsentative Quotenstichprobe um je eine Kontrollgruppe aus Bildungsteilnehmern und Hausfrauen/Hausmännern von jeweils 100 Personen. Es zeigten sich jedoch keine systematischen Unterschiede zu den Erwerbspersonen, sodass die Quotenstichprobe als Ergebnisgrundlage dient. Zum Befragungsverfahren: Die Studie basiert auf Tiefeninterviews von anderthalb bis zwei Stunden Dauer. Die befragten Personen beschreiben dabei in eigenen Worten für sie relevante Dimensionen der Arbeitswelt. Die Dimensionen werden gebildet, indem die Befragten Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen Vergleichselementen wie zum Beispiel »Mein Idealbild von Arbeit« vs. »Arbeit in Deutschland heute« benennen. Mit den individuellen Dimensionen bewerten die Befragten dann schnell und ohne langes Nachdenken unterschiedliche Aspekte der Arbeitswelt, zum Beispiel Arbeitsformen, Akteure oder Zeitverläufe. Zum Analyseverfahren: Aus der Vielzahl dieser intuitiv getroffenen Einzelbewertungen entsteht eine Matrix, die darüber Auskunft gibt, wie der oder die Befragte die Relationen zwischen den unterschiedlichen Aspekten der Arbeitswelt wahrnimmt. Diese Matrix lässt sich in einen mehrdimensionalen Bedeutungsraum übersetzten. Anschließend werden die individuellen Bedeutungsräume aller Befragten zu einem Gesamtbild der Wahrnehmung der Arbeitswelt bei Erwerbspersonen in Deutschland verdichtet.

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A nalysen ARBEIT IN DEUTSCHLAND Auf Basis der Studie »Wertewelten Arbeiten 4.0« lässt sich die Wahrnehmung der heutigen Arbeitswelt in Deutschland in Form eines dreidimensionalen Raums darstellen, in dem alle Originalaussagen der Befragten und die aus ihnen zusammengefassten Themen verortet sind. Ähnlich einer Weltkarte kann dieser »Kulturraum« zur besseren Lesbarkeit in eine zweidimensionale Darstellung überführt werden (→ Abb. 1, rechts). In der Darstellung zeigt der grüne Bereich die Position der von den Befragten positiv konnotierten Aussagen, während der rote Bereich die negativ konnotierten Aussagen beinhaltet. Der gelbe Bereich kann als Demarkationslinie zwischen den positiv und negativ konnotierten Aussagen gesehen werden. Ein Blick auf die positiv konnotierten Aussagen im Kulturraum zeigt die grundlegenden Unterscheidungen, die die Befragten zur Beschreibung einer wünschenswerten Arbeitswelt heranziehen. In der Vertikalen findet sich die Unterscheidung zwischen »Selbstentfaltung« (oben) und »Stabilität« (unten). In der Horizontalen stehen sich Aussagen zu »Leistung« (rechts) und zum »Gemeinwohl« (links) gegenüber. In den Diagonalen stehen sich Aussagen zu »Sinnstiftung« und zum »Wohlstand« bzw. zu »Solidarität« und zu »Gestaltungschancen« gegenüber. Vergleicht man die persönlichen Idealbilder von Arbeit mit der erlebten realen Arbeitswelt, zeigt sich eine deutliche Diskrepanz. Knapp die Hälfte der Befragten (45 Prozent) sieht die heutige eigene Arbeitssituation weit vom persönlichen Idealbild entfernt, nur jede/r fünfte Befragte (18 Prozent) sieht sie nah am persönlichen Ideal. Der Blick auf die Arbeitswelt insgesamt fällt noch kritischer aus: Nur jede/r zehnte Befragte (11 Prozent) sieht die heutige Arbeitswelt in Deutschland insgesamt als nah am eigenen Idealbild einer Arbeitsgesellschaft. Insbesondere im Hinblick auf Wettbewerbs- und Arbeitsdruck fallen Ideal und Wirklichkeit im Erleben der Befragten stark auseinander. Viele erleben den Druck als Effekt einer Machtkonzentration und gesellschaftlichen Elitenbildung. In der Wahrnehmung der Befragten war dies nicht immer so. Vielmehr wird eine Entwicklung

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der Arbeitswelt in Richtung Druck und Risiko seit den 1990er-Jahren beschrieben (→ Abb. 2, rechts). Zunehmende Profitorientierung, Leistungsdruck, erhöhte Arbeitsbelastung, prekäre Arbeitsverhältnisse und sinkende Reallöhne sind Begrifflichkeiten, mit denen diese Entwicklung näher bestimmt wird. Der Blick in die Zukunft ist jedoch verhalten positiv: Fast die Hälfte der Befragten (48 Prozent) erwarten, dass die persönliche Arbeitssituation 2030 annähernd dem individuellen Idealbild entsprechen wird; wobei dies für jede/n Sechsten (17 Prozent) eine deutliche Verbesserung gegenüber seiner/ihrer heutigen Arbeitssituation darstellt. Mit Blick auf die Arbeitswelt insgesamt erwartet jedoch nur jede/r Vierte (27 Prozent), dass diese 2030 dem persönlichen Ideal nahe sein wird, und nur jede/r Fünfte (20 Prozent) hält eine Verbesserung in diese Richtung für wahrscheinlich. Eine positive Entwicklung erwarten die Befragten insbesondere in Bezug auf das Maß an genereller Eigenverantwortung, die persönliche Gestaltungsfreiheit hinsichtlich des eigenen Berufsbildes, Partizipation, die Verwirklichung eigener Ideale in der Arbeit sowie die Verwirklichung individueller Ansprüche. Ein Mehr an Gestaltungsmöglichkeiten und Selbstentfaltung bildet für viele Befragte den Chancenraum der Zukunft der Arbeit (→ Abb. 3, S. 28). Den Risikoraum der zukünftigen Entwicklung der Arbeitswelt beschreibt die Mehrzahl der Befragten mit steigendem Druck, einem weiteren Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts und einer zunehmenden Verlagerung des Risikos auf den Einzelnen. Es ist wichtig zu betonen, dass nicht von dem Idealbild gesprochen werden kann. Wenn die grafische Darstellung (→ Abb. 2, rechts) ein gemitteltes Idealbild aller befragten Personen zeigt, so heißt dies nicht, dass es ein allgemeingültiges Idealbild gibt. Vielmehr lassen sich unterschiedliche Wertewelten ausmachen, in denen ein bestimmtes Idealbild von einer wünschenswerten Arbeitswelt vorherrscht. Diese Wertewelten werden auf der folgenden Doppelseite vorgestellt.


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SELBSTENTFALTUNG Sinnstiftung

Misswirtschaft Inkompetenz

Gestaltungsraum

GEMEINWOHL

Stagnation

Solidarität

LEISTUNG EXISTENZKAMPF Wohlstand

STABILITÄT

Konvention

soziale Kälte

Wirtschaftsinteresse Materialismus

Angepasstheit

Abbildung 1: Mollweide-Projektion des Kulturraums Arbeit in Deutschland.

Arbeit in Deutschland 2030

IDEAL

2020

HEUTE 50er–80er 90er

2000er

Abbildung 2: Mollweide-Projektion mit der über alle Befragten gemittelten Position vom Idealbild von Arbeit und der empfundenen zeitlichen Entwicklung der Arbeit in Deutschland.

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A nalysen DIE 7 WERTEWELTEN

1 28%

WERTEWELT 1 Sorgenfrei von der Arbeit leben können

WERTEWELT 2 In einer starken Solidargemeinschaft arbeiten

Den Menschen, die dieser Wertewelt angehören, geht es vor allem darum, in einer sicheren Gemeinschaft ohne materielle Sorgen ein normales Leben führen zu können. Arbeit gehört für sie dazu, sie erleben diese jedoch teilweise als so raumgreifend, dass daneben kaum noch Platz für das Privatleben bleibt. Planbarkeit ist für sie ein zentraler positiver Wert, Beschleunigung und zunehmenden Leistungsdruck empfinden sie als negativ. Sie erwarten vom Staat, dass er alle Menschen absichert, die ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten.

SELBSTENT

2 9%

6

Für die Menschen in dieser Wertewelt ist die ideale Arbeitswelt durch gegenseitige Loyalität, Wertschätzung von Leistungen und Teilhabe in einer Solidargemeinschaft gekennzeichnet. Die Entwicklung der Gesellschaft empfinden sie teilweise als besorgniserregend. Sie haben das Gefühl, dass immer mehr Menschen durch das Raster fallen und keinen Platz in der Gesellschaft finden. Sie sehnen sich zurück nach einer Zeit, in der Unternehmen sich um das Wohl ihrer Mitarbeiter sorgten, es Arbeit für alle gab und man auch in schlechten Zeiten zusammenhielt.

Sinnstiftung

Misswirtschaft Inkompetenz

2

Solidarität

3 15%

STABIL

Konvention

Ein Leben lang hart zu arbeiten, ist für die Menschen in dieser Wertewelt selbstverständlich. Sie glauben, dass jeder, der sich bei seiner Arbeit wirklich anstrengt, es auch zu etwas bringen kann, auch wenn sie merken, dass dies nicht mehr so einfach ist wie früher. Wer es geschafft hat, darf sich ruhig ein wenig Luxus gönnen. Sie erwarten von den Sozialpartnern, dass sie dafür sorgen, dass Deutschland weiterhin wirtschaftlich stark bleibt und Leistungsträger hier eine Heimat behalten.

Angepas

4 11%

WERTEWELT 4 Engagiert Höchstleistung erzielen

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IDEA

GEMEINWOHL 1

Stagnation

WERTEWELT 3 Den Wohlstand hart erarbeiten

7

In dieser Wertewelt ist die Idealvorstellung von Arbeit durch Verantwortung, Effizienz und Leistungsstreben gekennzeichnet. Die rasante Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, unter anderem durch die Digitalisierung, empfindet man nicht als belastend, sondern als willkommene Herausforderung. Es ist an jeder und jedem Einzelnen, sich mit den neuen Herausforderungen zu arrangieren, beispielsweise durch lebenslanges Lernen. Man geht davon aus, dass die Rahmenbedingungen die oder den Einzelnen hinreichend unterstützen.


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5 10%

WERTEWELT 5 Sich in der Arbeit selbst verwirklichen

Eine ideale Arbeitssituation ist für die Menschen in dieser Wertewelt dadurch gekennzeichnet, sich selbst immer wieder neu zu erfinden und viele spannende Erfahrungen machen zu können. Sie erleben sich als Teil eines Netzwerks Gleichgesinnter, auch über Deutschland hinaus. Selbstverwirklichung ist für sie kein Gegensatz zu Leistung und Effizienz. Von Gesellschaft und Arbeitgebern erwarten sie, dass sie die Menschen auf ihrem individuellen Weg unterstützen, beispielsweise durch Flexibilität von Arbeitsort und -zeit sowie umfassende Kinderbetreuung.

TFALTUNG 5 Gestaltungsraum

AL

soziale Kälte

4

LEISTUNG EXISTENZKAMPF

3

Wohlstand

LITÄT

Wirtschaftsinteresse Materialismus

WERTEWELT 6 Balance zwischen Arbeit und Leben finden

6 14%

Arbeit ist für die Menschen dieser Wertewelt dann ideal, wenn sie sich mit Familie, individueller Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Mitgestaltung vereinbaren lässt. Gleichzeitig erwarten sie von jeder und jedem Einzelnen ein gewisses Maß an eigenem Gestaltungswillen. Das Ziel einer Gesellschaft ist für sie, gemeinsam gute Bedingungen für alle zu schaffen. Die Wirtschafts- und Arbeitswelt soll sich dem Menschen anpassen und nicht umgekehrt. Sie sind nicht bereit, für materielle Sicherheit ihre Prinzipien aufzugeben.

sstheit WERTEWELT 7 Sinn außerhalb seiner Arbeit suchen

7 13%

In dieser Wertewelt wird Erwerbsarbeit nicht als die einzig sinnstiftende Tätigkeit angesehen. Vielmehr bemisst sich hier der Wert einer Tätigkeit an ihrem Beitrag zum Wohlergehen der Gesellschaft. Gemeinnützige Tätigkeiten erscheinen oftmals sinnvoller als eine Arbeit, die vor allem aus monetären Gründen ausgeübt wird. Vom Staat wird erwartet, dass er allen ein lebenswertes Auskommen garantiert, unabhängig davon, welches Einkommen sie am Arbeitsmarkt erzielen.

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Mit dem Online-Tool zur Studie können Sie unter www.arbeitenviernull.de/ wertewelten herausfinden, welcher Wertewelt Sie angehören. Bisher haben schon über 15.000 Personen das Online-Tool genutzt.

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A nalysen UNTERSCHIEDE UND GEMEINSAMKEITEN Die sieben Wertewelten stehen sich bezüglich ihrer handlungsleitenden Einstellungen und Haltungen zum Teil diametral gegenüber – was für die einen wünschenswerte Zukunftsperspektive ist, stellt für die anderen ein bedrohliches Szenario dar. Dies zeigt sich zum Beispiel anhand von Fragen der Arbeitszeitgestaltung. Fast alle Befragten thematisieren die Flexibilität von Arbeitsort und Arbeitszeit, doch die Idealvorstellungen hinsichtlich einer zukünftigen Entwicklung gehen deutlich auseinander. Auf der einen Seite findet sich eine Gruppe (vor allem Wertewelten 4, 5 und 6), die nach individueller Arbeitszeitgestaltung strebt und bei der Ausgestaltung individueller Lösungen auf geeignete Rahmensetzungen und Unterstützung durch Arbeitgeber und Politik hofft. Mit Flexibilität in der Arbeitswelt meint diese Gruppe: mehr Ergebnisorientierung, weniger Präsenzzwang. Auf der anderen Seite steht eine Gruppe (vor allem

CHANCEN heute

Wertewelten 1 und 2 sowie teilweise Wertewelt 7), deren Arbeitszeitideal von Verlässlichkeit geprägt ist. Hier besteht ein starker Wunsch nach klar abgegrenzten Arbeitszeiten, die Zeit für eine ungestörte Beschäftigung mit anderen Dingen lassen, etwa mit Hobbys oder der Familie. Mit Flexibilität wird in dieser Gruppe zum Beispiel ein durchsetzbares Recht auf Teilzeit verbunden. Während sich diese beiden Haltungen zur Arbeitszeitgestaltung (Individualisierung vs. Verlässlichkeit) hinsichtlich der Flexibilisierung des täglichen Arbeitspensums deutlich unterscheiden, eint sie der Wunsch nach lebensphasenorientierten Arbeitszeiten, wobei insbesondere die Finanzierung von Auszeiten für viele Befragte noch ungeklärt ist. In ähnlicher Weise unterscheiden sich die Haltungen zum Thema Digitalisierung. Eine Gruppe (Wertewelten 4 und 5) sieht den digitalen Wandel vor allem als Treiber positiver Entwicklungen. Sie verbindet Digitalisierung mit gesteigerter individueller Leistungsfähigkeit und besseren Möglich-

sein eigenes Berufsbild kreativ gestalten 2030

alle individuellen Ansprüche realisieren weitreichende Eigenverantwortung leben Ideale in der Arbeitswelt verwirklichen Partizipation auf Basis mündiger Individuen

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Ausprägung in der deutschen Arbeitswelt

RISIKEN heute

dem Druck nicht gewachsen sein 2030

ständig dem Druck der Märkte ausgesetzt in einer Welt ohne sozialen Halt leben Risiko selber auf der Strecke zu bleiben den Interessen der Wirtschaft ausgeliefert

0 Abbildung 3: Zentrale positive und negative Themenbündel und ihre erwartete Entwicklung

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A nalysen keiten der Selbstverwirklichung. Für eine zweite Gruppe (Wertewelten 2, 3 und 6) ist Digitalisierung ein Mittel zum Zweck. Diese Gruppe ist verhalten positiv und knüpft die Zustimmung zur Einführung neuer Technologien eng an den persönlichen Zugewinn an Autonomie und motivierenden Arbeitsinhalten. Eine dritte Gruppe (Wertewelten 1 und 7) sieht Digitalisierung vornehmlich als Treiber negativer Entwicklungen. Sie steht dem digitalen Wandel höchst skeptisch gegenüber und befürchtet eine weitere Arbeitsverdichtung sowie eine Entgrenzung von Arbeit und Privatleben. Mögen auch die Vorstellungen von einer idealen Arbeitswelt sehr unterschiedlich sein, relativ einig sind sich die Befragten darin, wie Arbeit nicht aussehen sollte. Die große Mehrheit der Befragten lehnt eine Arbeitswelt ab, die von Existenzsorgen, Konkurrenzdruck, beruflicher Unsicherheit und sozialen Verwerfungen gekennzeichnet ist. Selbst diejenigen, die mit ihrer persönlichen Arbeitssituation zufrieden sind, beschreiben ein Klima zunehmenden Drucks in heutigen Arbeitszusammenhängen. Auch eint die meisten Befragten die Überzeugung, dass die Digitalisierung über Effizienzgewinne hinaus der Selbstbestimmung der Erwerbstätigen zuträglich sein sollte und nicht zu einer Zunahme von Konkurrenz- und Leistungsdruck führen dürfe. Insbesondere das Auseinanderdriften der Gesellschaft wird von den meisten Befragten als problematisch empfunden. In fast allen Wertewelten finden sich deutliche Appelle an Gemeinsinn und sozialen Zusammenhalt, deren nähere Bestimmungen sich aber teilweise deutlich unterscheiden. Der gemeinsame Nenner lässt sich am ehesten so beschreiben, dass niemand aus der Gesellschaft herausfallen soll. Keiner soll unter einem Druck arbeiten, der es unmöglich mache, beruflich oder privat die eigenen Interessen und Werte zu verfolgen. Welche Werte dies sind, spiegelt die Vielfalt einer pluralistischen Gesellschaft wider.

FAZIT

neue Herausforderungen für Unternehmen, die Sozialpartner und die Politik mit sich. Klar ist, es wird nicht ausreichen, die Arbeitsorganisation und -gestaltung in einem Betrieb auf vermeintlich neue, homogene Anspruchslagen einer »Generation Y« umzustellen. Mit Veränderungen in eine Richtung wird man der Verschiedenheit der Ansprüche und Bedürfnisse nicht gerecht werden. Vielmehr müssen sich Unternehmen der Frage stellen, wie sie plurale Anspruchslagen in ihrer Organisation abbilden können. Das bedeutet zum Beispiel, dass in Fragen der Arbeitszeitgestaltung, der Weiterqualifizierung (die dem Grundsatz nach von der Mehrheit der Erwerbspersonen positiv gesehen wird) und der Führungsmodelle mehr Wahlmöglichkeiten eröffnet werden. Auch für die Sozialpartner und die Politik gilt, dass das Prinzip des »One size fits all« in einer pluralen und dynamischen Arbeitswelt zunehmend weniger funktionieren wird. Anstelle statischer Patentlösungen sind flexible und individuelle Modelle gefragt. Neben einer grundlegenden Pluralität zeigt die vorliegende Studie jedoch auch, dass die Mehrheit der Erwerbspersonen in Deutschland das Gefühl hat, in den vergangenen Jahren den Arbeitgebern in Sachen Flexibilität entgegengekommen zu sein, und nun in stärkerem Maße Flexibilität für sich als Arbeitnehmer beansprucht. Viele Erwerbspersonen erwarten für die Zukunft mehr Flexibilität »in ihrem Sinne«. Ein reines Laissez-faire zugunsten betrieblicher Flexibilitätsansprüche wird klar abgelehnt. Zugleich befürworten die meisten Erwerbspersonen Konsenslösungen, konstruktives Verhandeln und das Prinzip der Mitbestimmung. Kompromisse auf betrieblicher Ebene in der Tradition der sozialen Marktwirtschaft, die neue Sicherheiten mit mehr Flexibilität für Betriebe und Beschäftigte vereinen, erscheinen somit zielführend. Über betriebliche Kompromisse hinaus bleibt aber die Frage zu beantworten, welche Form eines neuen gesamtgesellschaftlichen sozialen Kompromisses gefunden werden muss, um die sozialen Fliehkräfte einzufangen, die von der Mehrzahl der Erwerbspersonen wahrgenommen werden.

Die Studie »Wertewelten 4.0« zeigt, dass das, was Menschen von ihrer Arbeit wollen, höchst individuell geworden ist. Diese Entwicklung bringt

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A nalysen

ARBEITSMARKTPROGNOSE 2030 Thorben Albrecht und Andreas Ammermüller

Wird eine beschleunigte Digitalisierung ebenso viel Beschäftigung neu schaffen können, wie durch eine steigende Automatisierung verloren geht? Droht eine weitere Polarisierung des Arbeitsmarkts mit negativen gesellschaftlichen Auswirkungen? Die aktuelle Arbeitsmarktprognose 2030, die im Auftrag des BMAS erstellt wurde, liefert erstmals fundierte Ergebnisse zu einem Digitalisierungsszenario auf Basis eines gesamtwirtschaftlichen Prognosemodells. Anschließend an ihren Beitrag »Kein Ende der Arbeit« im Werkheft 01 (Albrecht/Ammermüller 2016) fassen die Autoren die wichtigsten Erkenntnisse der Studie zusammen und ziehen Schlussfolgerungen hinsichtlich der künftigen Herausforderungen des digitalen Wandels.

Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Beschäftigungsentwicklung und insbesondere auf den Qualifikationsbedarf stehen im Mittelpunkt der Diskussion über die Zukunft der Arbeit. Unter der Überschrift »Kein Ende der Arbeit« haben wir unsere Einschätzung dargelegt, dass durch die Digitalisierung zwar keine massiven Beschäftigungsverluste drohen, aber die Dynamik am Arbeitsmarkt zunimmt und die Bedeutung von Qualifizierung und Weiterbildung weiter wachsen wird. Dieser Interpretation folgend, wird der mittlere Qualifikationsbereich in Deutschland

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aufgrund des guten dualen Ausbildungssystems voraussichtlich weniger unter Druck geraten als in anderen Ländern, sodass keine deutliche Polarisierung droht. In diesem Beitrag wollen wir anhand der Ergebnisse der ersten umfassenden Arbeitsmarktprognose im Zeichen der Digitalisierung Schlussfolgerungen für die erfolgreiche Gestaltung des digitalen Wandels ziehen. Die Langfristprognose zur Entwicklung des Arbeitsmarkts bis zum Jahr 2030, die ein internationales Konsortium um


A nalysen den Auftragnehmer Economix im Auftrag des BMAS erstellt hat (Vogler-Ludwig/Düll/Kriechel 2016), berücksichtigt neben dem produzierenden Gewerbe auch den Dienstleistungssektor und bezieht darüber hinaus das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage in die Berechnung ein. Methodisch vergleicht die Studie ein »Basisszenario«, das eine langsame, aber stetige Digitalisierung ohne besondere Schwerpunktsetzung unterstellt, mit dem Alternativszenario einer »beschleunigten Digitalisierung«, bei der Politik und Wirtschaft auf technologische Führerschaft setzen und Bildungs- und Infrastrukturpolitik systematisch auf dieses Thema ausrichten. Bewusst berechnet und bewertet die Prognose Szenarien, um die Möglichkeiten der Gestaltung des digitalen Wandels herauszuarbeiten. Dies folgt dem Ansatz des Dialogprozesses Arbeiten 4.0, in dem nicht die Analyse, sondern die aktive Gestaltung einer zukünftigen Arbeitswelt im Fokus steht. Dementsprechend sind beide Szenarien an konkrete Voraussetzungen geknüpft, die von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft erfüllt werden müssen, um die vergleichsweise positiven Resultate zu erreichen. Neben den Investitionen in Bildung, Infrastruktur und neue Geschäftsmodelle spielt auch die Integration und Qualifikation von in Deutschland lebenden Geflüchteten eine entscheidende Rolle. Das zentrale Ergebnis der Arbeitsmarktprognose ist, dass im Basisszenario die Zahl der Erwerbstätigen im Jahr 2030 etwa auf dem Niveau des Jahres 2014 liegt, während im Szenario einer beschleunigten Digitalisierung dank der Produktivitätseffekte mit deutlich positiven Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung gerechnet werden kann. Eine aktive Gestaltung der Digitalisierung zahlt sich also aus. Nach den Schätzungen der Autoren zieht vor allem ab 2025 das Produktivitätswachstum an und führt zu einem Anstieg des BIP und des Pro-Kopf-Einkommens um 4 Prozent im Jahr 2030 im Vergleich zum Basisszenario. Über den gesamten Zeitraum der Prognose von 2014 bis 2030 entspricht dies einem jährlichen Beitrag zum Wirtschaftswachstum von 0,3 Prozentpunkten. Dies zeigt deutlich, dass die Digitalisierung zur Stärkung der deutschen qualitätsorientierten Wettbewerbsstrategie beitragen kann und die Industrie ein Kernbereich der Wertschöpfung bleibt. Es setzt jedoch eine weitere Beschleunigung des vorherr-

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schenden inkrementellen Innovationsansatzes mit verstärkten Investitionen in Forschung und Entwicklung voraus. Für den Arbeitsmarkt würde bei einer beschleunigten Digitalisierung ein Beschäftigungsverlust von insgesamt 750.000 Jobs in 27 Wirtschaftssektoren (zum Beispiel Einzelhandel, Papier- und Druckgewerbe, öffentliche Verwaltung) durch einen Beschäftigungsgewinn von insgesamt einer Million Jobs in 13 Sektoren (zum Beispiel Maschinenbau, IT-Dienste, Forschung und Entwicklung) mehr als ausgeglichen. Im Saldo könnte demnach die Erwerbstätigkeit bis zum Jahr 2030

»Einen Beschäftigungsgewinn werden wir dann realisieren, wenn wir die Verschiebungen durch Qualifizierung und aktive Arbeitsmarktpolitik erfolgreich begleiten.« um rund eine Viertelmillion Personen ansteigen und die Erwerbslosigkeit entsprechend sinken. Einen Beschäftigungsgewinn werden wir jedoch nur realisieren können, wenn wir die Verschiebungen zwischen den Branchen erfolgreich durch Qualifizierung und aktive Arbeitsmarktpolitik begleiten und die Beschäftigungsfähigkeit auch im Alter erhalten. Andernfalls fehlen uns die Fachkräfte in den Wachstumsbranchen, und der Strukturwandel führt zu steigender Arbeitslosigkeit. Der höchste Zuwachs nach Branchen wird bei den unternehmensnahen Dienstleistungen und im Sozialwesen erwartet. In der öffentlichen Verwal-

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A nalysen VERÄNDERUNG DER ERWERBSTÄTIGENZAHL 2014-30 IN 1000

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425 149 335 260 71 168 75 123 218 125 17 57 62 106 12 62 52 98 63 49 27 12 34 -1 0 -10 6 26 168

27 Unternehmens-, Rechtsberatung

-29 -16

38 Sozialwesen, Heime 32 Arbeitsvermittlung/-überlassung 24 IT-Dienst 10 Elektronik, optische Erzeugnisse

-38

37 Gesundheitswesen 36 Erziehung und Unterricht 29 Forschung und Entwicklung 39 Kunst und Kultur, Glücksspiel 19 Landverkehr, Schifffahrt, Lagerei

8 -5 -11 -7 0 -36 -9 -10 -3 -24 -45

12 Fahrzeugbau 28 Architektur-, Ingenieur-, Labordienste 30 Sonstige persönliche Dienste 26 Grundstücks- und Wohnungswesen 31 Vermietung von beweglichen Sachen 17 Großhandel 43 Sonstige persönliche Dienste 42 Reparatur von Gebrauchsgütern 05 Holz-, Flecht-, Korb-, Korkwaren 44 Häusliche Dienste 25 Finanzdienste -600 Basisszenario

263

-23

Insgesamt 34 Sonstige Unternehmensdienste

-400

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0

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400

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Szenario Beschleunigte Digitalisierung

Quelle: Economix 2016

tung, im Gastgewerbe, aber auch im Einzelhandel wird hingegen von einem Rückgang der Erwerbstätigkeit ausgegangen. In den meisten Branchen verstärkt eine beschleunigte Digitalisierung den Trend des Basisszenarios. Dies ist vor allem bei den IT- und unternehmensnahen Dienstleistungen der Fall. In den Ausrüstungsbranchen der Industrie 4.0, vornehmlich im Maschinenbau, führt die Digitalisierung zu einem positiven Beschäftigungseffekt, während die Gesamtentwicklung negativ ist. Abbildung 1 zeigt die Veränderung der Erwerbstätigkeit zwischen 2014 und 2030 nach Wirtschafts-

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abteilungen und unterscheidet dabei zwischen dem Basisszenario und dem Szenario einer beschleunigten Digitalisierung. Vergleichbare Ergebnisse zeigen sich auch für die jeweiligen Berufsgruppen. Die steigende Dynamik am Arbeitsmarkt zeigt sich nicht allein bei der unterschiedlichen Entwicklung der Erwerbstätigkeit nach Branchen, sondern auch durch eine veränderte Qualifikationsstruktur bei den Beschäftigten. Wie Abbildung 2 verdeutlicht, wird die Digitalisierung den bereits bestehenden Trend zur Höherqualifizierung weiter


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40 Sport, Unterhaltung, Erholung 14 Energieversorgung 22 Verlage, Film, Fernsehen und Rundfunk 33 Reisebüros, Reisedienste 02 Bergbau, Gew. von Steinen und Erde 23 Telekommunikation 15 Wasserversorgung, Entsorgung 16 Hochbau, Tiefbau, Ausbaugewerbe 20 Post-, Kurierdienste 04 Textilien, Bekleidung, Lederwaren 07 Chemische Erzeugnisse, Minerallöerz. 08 Gummi, Kunststoff, Glas, Keramik 06 Papier, Druckerzeugnisse 03 Nahrungs- und Genussmittel 13 Möbel; sonst. Waren; Rep. von Maschinen 11 Maschinenbau 41 Interessenvertretungen 18 Einzelhandel 01 Land- und Forstwirtschaft, Fischerei 09 Metallerzeugung, -erzeugnisse 21 Beherbergung, Gastgewerbe

-55

35 Öffentliche Verwaltung

-600

-1 -30 -47 -27 -7 -13 -43 -44 -32 -11 -53 -42 -42 -60 -88 -33 -155 -18 -285 -6 -160 -98 -70 -168 -16 -169 -47 -244 -15 -372

-400

-200

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-19 5 22 0 -21 -19 0 -13 -28 -29 -29 -31

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400

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Abbildung 1

verstärken. Die Anzahl der Hochqualifizierten würde im Basisszenario um rund zwei Millionen, im Szenario einer beschleunigten Digitalisierung sogar um 2,5 Millionen Erwerbstätige anwachsen. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Personen mit dualer Berufsausbildung im Falle der beschleunigten Digitalisierung leicht und die der Personen ohne einen qualifizierenden Berufsabschluss in beiden Szenarien deutlich stärker. Folglich setzen beide Szenarien eine Höherqualifizierung auf allen Ebenen voraus. Wenn diese gelingt und gleichzeitig Wirtschaft und Gesellschaft die digitale Transformation

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erfolgreich meistern, ist laut den Autoren der Studie keine Polarisierung mit einem starken Rückgang im mittleren Qualifikationsbereich zu erwarten. Hierfür muss sich auch die duale Berufsausbildung an die steigenden Anforderungen anpassen und Betriebe und Beschäftigte müssen kontinuierlich in Weiterbildung investieren. Angesichts der zuletzt hohen Zuwanderung von vielfach gering qualifizierten Personen ist die sinkende Nachfrage nach Arbeitskräften ohne Berufsabschluss eine enorme Herausforderung für die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik.

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A nalysen VERÄNDERUNG DER ERWERBSTÄTIGENZAHL 2014-30 IN 1000

3000

2524 2500 2000

1995

1500 1000 500

49

0

-93

-500

-252 -199

-1000 -1500 -2000

-1815

-1992

-2500 Hochschule

Duale Berufsausbildung

Basisszenario

Ohne qualifizierenden Abschluss

Szenario Beschleunigte Digitalisierung

Quelle: Economix 2016

Im Gegensatz zu bestehenden Studien betrachtet die Prognose nicht nur einen Sektor wie die Industrie (4.0) oder lediglich die Automatisierungspotenziale. Sie berücksichtigt erstmals die möglichen Auswirkungen einer beschleunigten Digitalisierung in der gesamten Wirtschaft und in der Gesellschaft. Sowohl die Entwicklungen in der Nachfrage und im Angebot von Gütern und Dienstleistungen, auch im globalen Kontext, als auch von Bildung und Arbeit wurden modelliert. Mit den gewählten Szenarien stellt sie eine mögliche Arbeitswelt des Jahres 2030 dar, die mit Anstrengung von allen Seiten erreicht werden kann. Gleichwohl steht Deutschland, was die nötigen Voraussetzungen für die Digitalisierung

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Fachschule

Abbildung 2

betrifft, noch am Anfang. Und eine Beschäftigungsentwicklung ohne steigende Arbeitslosigkeit, wachsende Fachkräfteengpässe und zunehmende Ungleichheit am Arbeitsmarkt ist angesichts der bevorstehenden strukturellen Veränderungen keinesfalls ein Selbstläufer. Das Szenario einer beschleunigten Digitalisierung, wie es hier abgebildet wurde, muss hart erarbeitet werden. Die Studie belegt eindrucksvoll die wachsende Bedeutung der Höher- und Weiterqualifizierung. Hier werden wir neue Wege gehen müssen, um den Herausforderungen gerecht zu werden. Neben der stärkeren Unterstützung der Betriebe, vor allem der Klein- und Mittelständischen Unternehmen (KMU) bei der Beratung und Teilfinanzierung der


A nalysen Weiterbildung, sollten wir hierzu mittelfristig die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Beratung und Förderung durch eine präventiv ausgerichtete Arbeitslosenversicherung stärken.

»Der höchste Zuwachs nach Branchen wird bei den unternehmensnahen Dienstleistungen und im Sozialwesen erwartet.« Angesichts des skizzierten Strukturwandels auf dem Arbeitsmarkt ist es zu kurz gedacht, nur bereits arbeitslose oder akut von Arbeitslosigkeit bedrohte Personen aktiv zu unterstützen. Hier gehen wir mit dem aktuellen Arbeitslosenversicherungsschutzund Weiterbildungsstärkungsgesetz bereits wichtige erste Schritte und verbessern den Zugang von gering qualifizierten Beschäftigten zu Förderleistungen. Ziel ist es, die Beschäftigungsfähigkeit über den gesamten Erwerbsverlauf zu erhalten und auszubauen, um Beschäftigungsstabilität zu gewährleisten und berufliche Flexibilität zu ermöglichen.

Über diesen zentralen Punkt hinaus benötigen wir: •

einen zügigen und flächendeckenden Ausbau der Breitbandnetze entsprechend der digitalen Strategie 2025,

verstärkte Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie Anwendung digitaler Technologien, vor allem in KMU,

verstärkte Vermittlung von IT-Kompetenzen in Schule, Berufsausbildung sowie Weiterbildung der Beschäftigten,

neue Flexibilitätskompromisse auf betrieblicher und tariflicher Ebene zu Fragen der Arbeitszeit, des Arbeitsorts und der Weiterbildung,

und nicht zuletzt effiziente öffentliche Dienstleistungen, die Bereitschaft zur Veränderung in der Gesellschaft und den Mut zu innovativen Geschäftsmodellen.

Die größte Herausforderung ist allerdings, eigene Leitbilder für eine digitalisierte Arbeitswelt zu entwickeln, die bewährten Aushandlungsprozesse, sozialen Sicherheiten und Schutzrechte weiterzuentwickeln und dabei die im digitalen Wandel benötigte Flexibilität zuzulassen und Innovation nicht zu beschneiden. Hierzu wird das BMAS im Weißbuch Arbeiten 4.0 Ende des Jahres Vorschläge unterbreiten.

LITERATUR Albrecht, Thorben/Ammermüller, Andreas (2016): Kein Ende der Arbeit in Sicht, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hrsg.): Werkheft 01 Digitalisierung der Arbeitswelt. Vogler-Ludwig, Kurt/Düll, Nicola/Kriechel, Ben (2016): Arbeitsmarkt 2030 – Wirtschaft und Arbeitsmarkt im digitalen Zeitalter, Bielefeld (im Erscheinen).

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KOLLEGE ROBOTER? ERKUNDUNGEN ZUR MENSCH-MASCHINEINTERAKTION Die Roboter stehen vor der Tür, suggerieren Medienberichte. Ausgestattet mit hyperbeweglichen Gelenken und künstlicher Intelligenz, seien sie bald in jedem Einsatzbereich denkbar. Und weil sie auf jeden Fall smarter und produktiver sind als der Mensch, verdrängen sie diesen aus der Arbeitswelt. Doch wie realitätsbasiert sind solche Szenarien? Wie nahe ist diese Zukunft an der Gegenwart? Und vor allem: Worauf kommt es an, damit wir auch in der Zukunft gut leben und arbeiten können – auch dort, wo Roboter zum Einsatz kommen? Diesen Fragen stellten sich Ivo Boblan und Diego Compagna, Experten des Robotiklabors der Technischen Universität Berlin.

Frage: In den Medien wird seit einiger Zeit ein Bild vermittelt, als stünden die Roboter kurz davor, den Menschen in vielen Bereichen der Arbeitswelt überflüssig zu machen. Wie realitätsbasiert sind solche Szenarien für Sie als Robotikentwickler, Herr Boblan? Ivo Boblan (IB): Fast überall dort, wo heute Roboter eingesetzt werden, sind aus Sicherheitsgründen noch Käfige um sie herum errichtet. Dass die Roboter die Maschinenhallen verlassen und Aufgaben im gesellschaftlichen Raum übernehmen, wird noch für einige Zeit Zukunftsmusik bleiben. Die Technik ist noch lang nicht da, wo sie angeblich ist. Denn zu einer risikofreien Interaktion mit dem Menschen in einer undefinierten Umgebung sind die Roboter noch nicht in der Lage. Wie ähnlich sind denn die Roboter bereits heute dem Menschen? Ließe sich das in Prozentzahlen ausdrücken?

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IB: Hier sollte man meines Erachtens unterscheiden zwischen der Motorik, also dem, was die Roboter physisch »draufhaben«, und ihrer Intelligenz. Bei den Bewegungen sind wir bei 40 bis 50 Prozent – Roboter können gehen, greifen, einen Fußball kicken, aber besonders gut laufen und springen können sie noch nicht. Bei der Intelligenz – also dem Erkennen, Bewerten, Entscheidungen treffen – sind wir meiner Einschätzung nach bei zehn Prozent. Zehn Prozent beim Intelligenzvergleich klingt überraschend niedrig. Wie begründen Sie diese Einschätzung? IB: Auch wenn die KI in Teilbereichen, etwa bei der Spracherkennung und -verarbeitung, schon sehr weit ist, ist es noch einmal eine völlig neue Herausforderung, wenn sich eine Maschine frei durch einen unstrukturierten Raum bewegen soll. Hier müssen nicht nur Software und Hardware


A nalysen fehlerfrei zusammenarbeiten, es müssen auch komplexe Entscheidungen getroffen werden, und zwar in Echtzeit auf Basis der aktuellen Situation. Der Mensch ist in der Lage, auch sehr komplexe Umgebungen und Situationen zu bewerten und Entscheidungen zu treffen. Das beruht auf unserem Erfahrungsschatz, den Roboter so noch nicht haben. Die Entscheidungen, die Roboter treffen können, beruhen immer nur auf der aktuellen Situation. Wir können zwar heute schon sehr große neuronale Netze nachbauen und diese mit Unmengen von Daten füttern. Aber wir wissen nicht, wie das Gehirn all diese Informationen miteinander zu Bewertungen verknüpft. Die Systeme können nur das, was einprogrammiert wird, auch wenn es sich aufgrund der Prozessor- und Speicherkapazitäten um eine hohe Zahl an möglichen Kombinationsvarianten handeln kann. Doch das hat mit Verstehen nichts zu tun. Eine völlig neue Lage kann ein Roboter nicht einschätzen. Das klingt danach, als würde zumindest der Beruf der Politikerin bzw. des Politikers auf längere Sicht nicht aussterben. IB: Davon ist auszugehen, allerdings nur, wenn die Aufgabe, Entscheidungen zu treffen, auch wahrgenommen wird … Im Ernst: Nach meiner Einschätzung werden in absehbarer Zeit durch Roboter nur diejenigen Berufe verdrängt, wo auch ihre spezifischen Stärken nutzbar sind. Was Roboter besser können als der Mensch, ist Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit. Schwere Sachen heben oder bewegen, über einen langen Zeitraum, da sind sie deutlich überlegen. Wenn die Aufgabe klar umrissen ist, können sie auch präziser arbeiten. Im Servicebereich und im zivilgesellschaftlichen Bereich birgt ein Einsatz von Robotern ganz andere Herausforderungen. Da müssen die Roboter mit Menschen interagieren und immer wieder neue Situationen so bewältigen, dass sie die Menschen nicht verletzen. Diego Compagna (DC): Eine hohe Akzeptanz ist ganz wesentlich für den wirtschaftlichen Einsatz von Technik. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die die maßgebliche Rolle potenzieller Nutzer

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und Anwender bei der Entwicklung innovativer Technik unterstreichen. Deswegen ist eine frühzeitige Beteiligung der Beschäftigten, aber auch aller anderen potenziellen Nutzer äußerst wichtig. Herr Compagna, Sie sind Techniksoziologe und haben sich mit partizipativen Verfahren im Zusammenhang mit der Entwicklung von Pflegerobotern befasst – wie hat man sich solche Verfahren in der Praxis vorzustellen? DC: Wir haben nach der Methode des szenariobasierten Designs gearbeitet und diese Methode für die Technikeinführung in Arbeitsumfeldern weiterentwickelt. Also, worauf kommt es an, wenn ich ein Robotiksystem entwickle, das Arbeitskräfte entlasten, aber auch eine Verbesserung für die Patienten darstellen soll? Dazu haben wir zunächst eine Zeit lang den Alltag in der Pflegestation beobachtet, also den Früh-, Spät- und Nachtdienst mitgemacht, immer wieder Ad-hoc-Gespräche geführt und Notizen gemacht. Die Methode des szenariobasierten Designs ist sehr beliebt; sie wurde in den 90er-Jahren für den Softwarebereich entwickelt: Man redet mit den Leuten, generiert Szenarien und setzt diese dann in ein grafisches Narrativ um; erzählt also quasi die Geschichte des möglichen Technikeinsatzes in Bildern wie in einem Comic. Das ist dann die Basis für die Abstimmung mit den Betroffenen darüber, in welche Entwicklungsrichtung es letztendlich gehen soll. Gibt es bestimmte Aspekte, auf die es bei einem solchen Prozess besonders ankommt? DC: Wichtig ist die Inklusion aller, die mit den Robotern in Berührung kommen könnten. Da muss man aufpassen – wir haben zum Beispiel anfangs den Fehler gemacht, dass wir uns auf die Patientinnen und Patienten und die Pflegekräfte konzentriert haben, aber die Gruppe der Angehörigen nicht im Blick hatten. Auch die müssen sich aber natürlich mit den Robotern wohlfühlen. Hilfreich ist es zudem, dass die Leute etwas zum »Anfassen« haben, dass es Prototypen gibt, anhand derer man so unterschiedliche Gruppen wie die Pflegekräfte und die Ingenieure ins Gespräch bringen kann, die dann ja letztlich das System entwickeln.

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A nalysen Andererseits können Prototypen wiederum auch ein Problem darstellen, weil bereits vorhandene Systeme – oder das, was die Menschen in Filmen oder Scifi-Magazinen gesehen und gelesen haben – die Vorstellungskraft zu sehr einschränken können. Die Systeme müssen aber auch entsprechend flexibel sein, damit Partizipation sich auch so anfühlt. Wenn die Maschine beispielsweise nur A oder B kann, man will oder braucht aber eigentlich D für eine echte Entlastung, dann läuft die Partizipation ins Leere. Worauf kommt es denn an, damit Roboter und Menschen gut zusammenarbeiten? Was sollten Arbeitgeber bei der Anschaffung von Robotern oder roboterähnlichen Systemen beachten? IB: Die Ziele desjenigen, der einen Roboter oder ein robotikähnliches System anschafft, und desjenigen, der sie im Arbeitsalltag anwendet, sollten übereinstimmen, sonst haben Sie schnell versunkene Kosten. Beispiel Hebehilfen im Pflegeheim: Die stehen oft herum … Angeschafft werden sie als ergonomische Unterstützung, doch im Alltag werden sie dann nicht genutzt, weil es nämlich umständlich und aufwendig ist, den Patienten daran zu befestigen und in die richtige Position zu bringen. Für die Beschäftigten ist das oft frustrierend, sie hätten gerne die ergonomische Hilfe, doch gleichzeitig fehlt ihnen die Zeit für deren umständliche Bedienung. Das wiederum liegt daran, dass die Systeme noch nicht so weit sind, das Gewicht und das Körpervolumen des Patienten so einzuschätzen, dass sie ihn oder sie beim Heben nicht zerquetschen, etwa durch einen zu festen Zugriff. Im Arbeitsalltag im Krankenhaus oder Pflegeheim geht es dann schneller, mit zwei Pflegern jemanden in die Wanne zu heben, als jemanden in der richtigen Position auf der Hilfe zu befestigen. DC: Das ist aber auch genau der Punkt, an dem bei den Beschäftigten Frust entstehen kann: Die Technik ist noch längst nicht da, wo sie den Medienberichten zufolge ist. Da werden teilweise falsche Hoffnungen geweckt, und das ist, wenn Sie versuchen, funktionierende Alltagshilfen zu entwickeln, alles andere als förderlich.

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Dr.-Ing. Ivo Boblan ist Gruppenleiter der Nachwuchsforschergruppe MTI-engAge (www.mti-engage.tu-berlin.de) und des MTI-FabLab (www.biorobotiklabor.de) an der Technischen Universität Berlin. Er beschäftigt sich mit der Erforschung nachgiebiger Aktoren für eine sichere und intuitivere Interaktion zwischen Mensch und Roboter. Im Forschungsfeld zwischen Bionik, Robotik und Regelungstechnik untersucht er, wie neue Ansätze nachgiebiger Strukturen in Robotersysteme eingesetzt und geregelt werden können.

IB: Könnte die Hebehilfe die Situation besser einschätzen, dann könnte sie sich selber bestmöglich zum Patienten positionieren, um zum Beispiel Quetschungen beim Heben zu vermeiden. Ich denke und hoffe, in fünf bis zehn Jahren sind die Systeme dahin gehend vielleicht ein bisschen cleverer. Dann haben wir aber immer noch keinen Roboter im Pflegebereich, sondern ein intelligentes Tool, ich vergleiche das immer mit einem Akkuschrauber. Erst wenn die Hebehilfe in der Lage ist, den Patienten selbst zu finden, in die richtige Position zu bringen und den Hebevorgang nach Abprüfen aller möglichen Risiken auszulösen,


A nalysen kann man meines Erachtens von einem Robotereinsatz sprechen. Ein anderes Beispiel ist eine Taktstraße in der Automobilfertigung, wo wir den Einsatz von Robotern beobachtet haben. Da gab es einen Arbeitsgang, bei dem Batterien angehoben und in den Motorraum eingesetzt werden mussten. Hierfür gab es einen Roboterarm, den die Werker aber nicht genutzt haben. Es hat sich herausgestellt, dass der Einsatz des Roboterarms mehr Zeit in Anspruch nahm, als wenn die Werker die Aufgabe selbst erledigt hätten. Die Beschäftigten wollten aber lieber schneller arbeiten und dann eine Pause machen, als die Hebeerleichterung in Anspruch zu nehmen. Möglicherweise war es ihnen auch zu langweilig, in der Zeit nicht beschäftigt zu sein. Wie können Deskilling und Bore-out im Umgang mit Robotern und Maschinen verhindert werden? DC: Man weiß inzwischen: Wenn die kognitive Entlastung bei der Arbeit zu stark ist, dann sinkt auch die Aufmerksamkeit. Deswegen sollte man Unterstützungssysteme im Prinzip so konstruieren, dass der Mensch immer wieder gefordert wird – also sozusagen künstliche Anforderungen einbauen, die man eigentlich gar nicht braucht. Überall dort, wo es Systeme gibt, wo der Mensch aus Sicherheits- und Haftungsgründen eingreifen muss, darf die Entlastung eigentlich nicht zu groß sein. Für das selbst fahrende Auto heißt das aber im Prinzip, dass es gar nicht möglich sein wird, während der Fahrt beispielsweise mit den Kindern zu spielen, zu arbeiten oder gar zu schlafen. Das wird in der aktuellen Debatte um das autonome Fahren unterschlagen. Neben dem Problem mit der mangelnden Konzentration droht aber auch in der Tat ein Deskilling, wenn bestimmte Kenntnisse oder Fähigkeiten nur noch sehr selten abgefragt werden. Je mehr man also autonome Systeme zum Einsatz bringt, die den Menschen die eigentliche Arbeit abnehmen, umso mehr müssten eigentlich die Trainingseinheiten zunehmen.

Diego Compagna beschäftigt sich kritisch mit den anthropologischen Grundlagen soziologischer Theorien und der Formulierung alternativer Akteurmodelle (Avatare, Cyborgs, Roboter). Empirisch untersucht er Roboter und ihre Ingenieurinnen und Ingenieure, digitale Spiele und politische Implikationen der integrierten Forschung insbesondere hinsichtlich der Partizipation von Seniorinnen und Senioren.

und geistiger Anspannung, die ist eigentlich noch nicht klar. Wir haben noch keine Kriterien dafür, wann eine Arbeit so ist, dass sie ausfüllend im Sinne eines ausgewogenen Verhältnisses verschiedener Anforderungen ist, sowohl körperlicher als auch geistiger Art. Je mehr wir auf den Einsatz von Robotern als Unterstützung hinsteuern, desto mehr werden diese Fragen akut.

Das Gespräch führte Sandra Reuse

IB: Die richtige Mischung von Anforderungen und Entlastung im Arbeitsalltag, auch von körperlicher

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A nalysen

DIE NORMALARBEIT WIRD NICHT WENIGER, ABER DIE NICHTERWERBSTÄTIGKEIT Michael Arnold, Anselm Mattes und Gert G. Wagner

Droht mit der digitalen Transformation eine unaufhaltsame Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse? Derartige Befürchtungen sind nicht neu. Schon in den 1980er-Jahren wurde ein solches Szenario unter dem von Ulrich Beck geprägten Begriff der »Risikogesellschaft« diskutiert. Die Autoren gehen der Frage nach, ob der technologiebedingte Strukturwandel und die arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen der Vergangenheit uns tatsächlich Arbeits- und Lebensbedingungen einer Risikogesellschaft beschert haben.1

Im Zuge des digitalen Wandels werden von verschiedenen Seiten Befürchtungen geäußert, das »Ende der Arbeit« sei gekommen (Rifkin, z. B. 2004). Das heißt, über kurz oder lang werde es keine Nachfrage nach menschlicher Arbeit mehr geben. Und wenn doch noch menschliche Arbeit gebraucht werden sollte, so wird spekuliert, könnte die Digitalisierung der Arbeitswelt zumindest negative Effekte auf die Beschäftigungsstruktur und -qualität haben (vgl. z. B. Hill 2015; Sundararajan 2016). Gestützt wird dies durch folgende Überlegungen: •

1

Erstens, Unternehmen können mit Hilfe digitaler Anwendungen Tätigkeiten einfacher außerhalb des Betriebsablaufs mit prekär beschäftigten Solo-Selbstständigen organi-

sieren, zum Beispiel über Plattformen und Crowdworking. •

Zweitens, der technologische Wandel begünstigt vor allem hoch qualifizierte Beschäftitge, da Routinetätigkeiten zunehmend automatisiert werden können. Da gleichzeitig im Dienstleistungsbereich die Nachfrage nach Geringqualifizierten steigen dürfte, werden nach der sogenannten Polarisierungshypothese vor allem Beschäftigte im mittleren Qualifikationsbereich die Verliererinnen und Verlierer sein. Dies hätte zur Folge, dass nicht zuletzt aufgrund der Deregulierung des Arbeitsmarkts große Beschäftigungsgruppen von »Prekarisierung« bedroht sind.

Überarbeitete und ergänzte Version von: Michael Arnold/Anselm Mattes/Gert G. Wagner: »Normale Arbeitsverhältnisse sind weiterhin die Regel«. DIW-Wochenbericht 19/2016 vom 11. Mai 2016. Die Autoren geben ihre persönliche Meinung wieder.

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A nalysen Im Grunde sind diese Befürchtungen nicht neu, gab es sie doch schon bei früheren Technologieschüben. So hat der Soziologe Ulrich Beck schon in den 1980er-Jahren in seinem Buch Risikogesellschaft ein ähnliches Szenario beschrieben und erwartet, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung werde unaufhaltsam sinken und riskante, nämlich – wie es heute üblich ist zu sagen – »prekäre« Beschäftigung an Bedeutung zunehmen. Im Folgenden gehen wir der Frage nach, ob der technologiebedingte Strukturwandel und die arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen der Vergangenheit in Deutschland tatsächlich zu einer Erosion »normaler« Arbeitsverhältnisse geführt und uns Arbeits- und Lebensbedingungen einer Risikogesellschaft beschert haben. Vorweg noch ein Wort zur Diskussion über das Schrumpfen oder gar Verschwinden der »Mittelschicht«. Problematisch daran ist die unzureichende Definition des Begriffs der Mittelschicht. Im ökonomischen Kontext wird oft das durchschnittliche Einkommen von Personen oder Haushalten betrachtet. Zur »Mittelschicht« gehören dann alle Haushalte, die ein »mittleres« Einkommen, gemessen am gesamtgesellschaftlichen Median, beziehen. Ein so abgegrenzter Mittelschichtbegriff beschreibt aber nicht notwendigerweise die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten, die formale Bildung und Qualifikation, die berufliche Position, soziale Lage, die familiäre Herkunft oder die Werte der Angehörigen dieser Mitte (näher zum Begriff der Mittelschicht Grabka u. a. 2016: 292 f.; Wagner 2012). In diesem Werkheft wird dagegen in erster Linie auf den Arbeitsmarkt Bezug genommen, und in unserem Beitrag stellen wir auf die Arbeitnehmermitte im Sinne regulär beschäftigter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Beamtinnen und Beamter (einschließlich Auszubildender) ab. Sowohl Teilzeitbeschäftigte mit mindestens 18 Stunden regelmäßiger Wochenarbeitszeit als auch Vollzeitbeschäftigte gehören dazu. Solo-Selbstständige werden als eigene Gruppe ausgewiesen. Nicht zur solchermaßen definierten Mitte gehören also Selbstständige mit Beschäftigten, geringfügig Beschäftigte und Nichterwerbstätige (größtenteils Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose und Schülerinnen und Schüler/Studierende).

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SCHEINBARE ENTWICKLUNG Ein detaillierter Blick auf die Entwicklung der Beschäftigungsverhältnisse zeigt: Prekäre Beschäftigungsverhältnisse haben zwar seit Mitte der 1980er-Jahre und insbesondere seit der Jahrtausendwende einige Jahre lang zugenommen, aber trotzdem ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nicht geschrumpft. In den letzten Jahren hat sie sogar noch deutlich zugenommen. Stimmen etwa die Statistiken nicht? Doch, sie stimmen. Denn die Entwicklung ist ganz einfach zu erklären: Im Vergleich zu den 1980er-Jahren (in Westdeutschland) ist heute ein größerer Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 18 und 67 Jahren tatsächlich erwerbstätig (→ Abbildung 1, S. 42). Und etliche derer, die das früher nicht gewesen wären, darunter insbesondere Ehefrauen, sind heute zwar, wie man sagt, prekär beschäftigt. Doch ging die Ausweitung der Jobs in diesem Bereich gesamtwirtschaftlich nicht zulasten der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Betrachtet man nur die tatsächlich Beschäftigten (→ Abbildung 2, S. 43), wie dies üblich ist, so geht der Anteil der Normalbeschäftigten leicht zurück. Die Sichtweise ist allerdings zu eng, um die Gesamtentwicklung zu verstehen.

WIE SIEHT ES HEUTZUTAGE AUS? Die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Voll- und Teilzeit sowie die Beamtinnen und Beamten – d. h. die hier diskutierte Arbeitnehmermitte – machen weiterhin ungefähr die Hälfte aller erwerbsfähigen Personen aus. Gemessen an den tatsächlich erwerbstätigen Personen liegt ihr Anteil sogar merklich höher. Es wird also deutlich, dass der Zuwachs der Personen in »atypischer« Beschäftigung vor allem durch Erwerbstätige zu erklären ist, die in der Vergangenheit keiner bezahlten Tätigkeit nachgingen.

WAS IST MIT DEN SOLO-SELBSTSTÄNDIGEN, DEN LEIHARBEITERINNEN UND LEIHARBEITERN UND DEN BEFRISTET BESCHÄFTIGTEN? Nach der Jahrtausendwende war ein Anstieg insbesondere bei Solo-Selbstständigkeit und geringfügiger beziehungsweise unregelmäßiger

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A nalysen VERTEILUNG DER ERWERBSFÄHIGEN (1) BEVÖLKERUNG (1984–2013) Der Anteil der Nichterwerbstätigen an allen Erwerbsfähigen ist seit 1984 deutlich gesunken. 100% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%

Vollzeiterwerbstätig

Teilzeiterwerbstätig

Aus-/Weiterbildung (2)

Solo-Selbstständige (2)

Sonstig erwerbstätig

Nicht erwerbstätig

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

1990

1989

1988

1987

1986

1985

1984

0%

(1) Erwerbsfähige umfassen die Bevölkerung im Alter von 18 bis 67 Jahren (2) Unschärfen bei Solo-Selbstständigen vor 1997 und Personen in Elternzeit/Mutterschutz vor 1990 (3) Bis 1990 nur Westdeutschland

Quelle: eigene Berechnungen auf Basis des SOEP

Abbildung 1

Nebenbeschäftigung zu beobachten. Mittlerweile kann man aber davon ausgehen, dass dieser Anteil seit einigen Jahren weitgehend konstant ist. Die Solo-Selbstständigkeit ist in den vergangenen Jahren sogar zurückgegangen. Ein wesentlicher Grund für den zeitweiligen Anstieg war, dass der Weg in die Selbstständigkeit gefördert wurde, als die Arbeitslosigkeit in Deutschland hoch war. Inzwischen hat sich die Lage am Arbeitsmarkt deutlich entspannt, sodass viele Solo-Selbstständige die Chance genutzt haben, wieder in eine reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zurückzukehren. Parallel wurde auch die Förderung von (Solo-)Selbstständigkeit für Arbeitslose weitgehend eingestellt. Crowdworking als spezifisch »digitale« Beschäftigungsform wird

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momentan statistisch nicht systematisch erfasst, dürfte aber – auf Basis nicht steigender Solo-Selbstständigkeit und anekdotischer Evidenz – zahlenmäßig zu vernachlässigen sein. Insgesamt wird deutlich, dass die Bedeutung der Solo-Selbstständigkeit über die Zeit zwar leicht zugenommen hat, aber ein tief greifender Strukturwandel (befördert durch die Digitalisierung der Arbeitswelt) derzeit nicht erkennbar ist. Im viel diskutierten Bereich der Leiharbeit gab es in der Vergangenheit zwar Zuwächse. Allerdings macht die Leiharbeit auch aktuell nur etwa zwei Prozent aller Erwerbstätigen aus, und dabei können auch reguläre und dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse zugrunde liegen. Auch befristete


A nalysen VERTEILUNG DER ERWERBSTÄTIGEN PERSONEN (1984 – 2013) Der Anteil der Normalbeschäftigten an allen Erwerbstätigen ist in den vergangenen Jahrzehnten etwas zurückgegangen. 100%

80%

60%

40%

20%

Vollzeiterwerbstätig

Teilzeiterwerbstätig

Solo-Selbstständig

Sonstig erwerbstätig

2012

2010

2008

2006

2004

2002

2000

1998

1996

1994

1992

1990

1988

1986

1984

0%

(1) Unterschätzung der Solo-Selbstständigen vor 1997 (2) Bis 1990 nur Westdeutschland

Quelle: eigene Berechnungen auf Basis des SOEP

Abbildung 2

Beschäftigung gab es schon in den 1980er-Jahren: Seit 2000 liegt der Anteil – gemessen an allen Beschäftigten – konstant bei etwa 12 bis 13 Prozent. Besonders bemerkenswert ist, dass der Anteil der Haushalte, in denen mindestens eine Person im erwerbsfähigen Alter und mindestens eine Person sozialversicherungspflichtig oder verbeamtet tätig ist – und damit zur Arbeitnehmermitte zählt – , etwa zwei Drittel beträgt. Und die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Entwicklung sind gegenwärtig gering (vgl. Priem u. a. 2015). Gleichwohl muss bei der Beurteilung der Arbeitswelt berücksichtigt werden, dass es inzwischen deutlich mehr Beschäftigte gibt, die ihren Wohnsitz im Ausland haben und nach Deutsch-

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land pendeln. Vertragsarbeitnehmerinnen und Vertragsarbeitnehmer, Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter und im informellen Sektor tätige Pflegekräfte verändern das Bild der Arbeitswelt, ohne jedoch die Statistik der Erwerbstätigkeit der Inländerinnen und Inländer direkt zu beeinflussen.

WAS IST MIT DER »MITTELSCHICHT«? Dieser Befund einer soziologisch stabilen (Arbeitnehmer-)Mitte der Gesellschaft steht in keinem Widerspruch zu den immer wieder zu lesenden Schlagzeilen, dass die sogenannte Mittelschicht schrumpfe (vgl. dazu Fratzscher 2016). Denn die Analysen, die ein Schrumpfen der Mittel-

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A nalysen schicht zeigen, beziehen sich nicht auf die Anzahl beziehungsweise die Anteile der Menschen in der Mitte der Gesellschaft. Sondern auf ihren Anteil am Einkommen, das insgesamt in Deutschland zur Verfügung steht. Dabei zeigt sich, dass der Anteil der mittleren Einkommen seit 2000 etwas kleiner geworden ist. Der Anteil der Bezieherinnen und Bezieher mittlerer Einkommen ist in Deutschland von 1991 bis 2013 um etwa fünf Prozentpunkte auf 61 Prozent zurückgegangen (Grabka u. a. 2016). Trotzdem stellen die Bezieherinnen und Bezieher mittlerer Einkünfte in Deutschland nach wie vor die größte Bevölkerungsgruppe (vgl. Feld/Schmidt 2016).2 Wichtig ist es dabei zu beachten, dass die gute Arbeitsmarktlage sich auch positiv auf die Einkommensverteilung auswirkt: Dies gilt auch unter Berücksichtigung der oben diskutierten Tendenzen bei Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern, Solo-Selbstständigen und befristet Beschäftigten. Wichtig ist ferner, dass der für ganz Deutschland leicht geschrumpfte mittlere Einkommensanteil keineswegs nur auf unerwünschte Marktkräfte, möglicherweise in Kombination mit technologischem Fortschritt, zurückzuführen ist (vgl. Grabka u. a. 2016): In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass die deutsche Gesellschaft sich zu wenig um Zugewanderte und ihre Kinder kümmert. Bei der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund ist der Anteil derjenigen, die zur Einkommensmitte zählen, besonders stark zurückgegangen, seit 1991 um mehr als 15 Prozentpunkte. Für die in Deutschland Geborenen zeigt sich ein geringerer Bedeutungsverlust der mittleren Einkommensgruppe (minus 4 Prozentpunkte). Unter den Migrantinnen und Migranten ist insbesondere der Anteil der Einkommensschwachen gestiegen, während die autochthone Bevölkerung vermehrt zur Gruppe der Einkommensstarken gewechselt ist.

WAS KANN MAN ÄNDERN? Es bleibt festzuhalten, dass der Anstieg des Anteils »nicht normaler« Beschäftigung vor allem

2

auf den Anstieg der Erwerbstätigkeit zurückzuführen ist, d. h. auf den Rückgang der Nichterwerbstätigkeit. Somit ist der Anteil der »normalen« Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer – die Arbeitnehmermitte – an der erwerbsfähigen Bevölkerung stabil geblieben. Ein Ausgangspunkt für die Bewertung des Status quo könnte demnach die Überlegung sein, dass die Situation keineswegs so schlecht ist, wie der zeitkritische Mainstream gerne behauptet. Das heißt nicht, dass es keine Probleme gibt. Aber man muss auch fragen, ob diese Probleme größer sind als in der Zeit, in der die soziale Marktwirtschaft in Deutschland – in der Nachschau – als vorbildlich galt. So ist zu bedenken, dass Ehefrauen, die früher als nicht erwerbstätig galten, sondern haushaltsführend waren, eine durchaus riskante, oder wenn man so will: prekäre Beschäftigungsform lebten. Auch Nebentätigkeiten in der »Schattenwirtschaft«, wie putzen oder bei Familienfeiern kochen, waren nach heutigen Begriffen prekär – sie wurden freilich statistisch nicht erfasst. Und spätestens mit den steigenden Scheidungsraten wurde Nichterwerbstätigkeit zum ökonomischen Risiko für Frauen. Mit anderen Worten: Die Zeiten, als der Ehemann und Vater der »Alleinernährer« einer Familie war, werden heute von denjenigen, die die Prekarisierung der Gesellschaft beklagen, allzu sehr romantisiert. Vergessen wird – neben allen anderen Nachteilen –, dass die Beschäftigungsform »Haushaltsführende bzw. Haushaltsführender « durchaus auch prekär sein konnte und es immer noch sein kann. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte spricht nach unserer Interpretation dafür, dass das normale Angestelltenverhältnis auch künftig ganz überwiegend die Normalität bleiben wird. Denn jüngere Frauen sind zunehmend besser in den Arbeitsmarkt integriert, als dies für ihre Mütter galt, die – nicht zuletzt wegen mangelnder Kinderbetreuung, fehlender Ganztagsschulen und

Darüber hinaus ist zu beachten, dass die materiellen und finanziellen Vermögen in Deutschland sehr ungleich verteilt sind. Allerdings: unter Berücksichtigung der Rentenanwartschaften, die ohne Zweifel eine robuste Form von Vermögen darstellen (sie sind nicht wie Immobilien z. B. von einem regionalen Bevölkerungsrückgang extrem bedroht) und über das Alter hinaus Gefahren wie Verwitwung und Erwerbsunfähigkeit absichern, ist die Vermögensungleichheit in Deutschland im internationalen Vergleich keineswegs extrem ausgeprägt (vgl. Bönke u. a. 2016). Entsprechend ungleich verteilte Vermögen kann man auch für andere Länder mit einem gut ausgebauten gesetzlichen Rentensystem beobachten, etwa für die skandinavischen Länder und die Schweiz (Feld/Schmidt 2016: S. 198 f.). Die Schwächen der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland, wie das Fehlen einer zielgerichteten Mindestsicherung oberhalb der allgemeinen Armutsgrenze, werden seit mittlerweile drei Jahrzehnten überbetont. Die Stärke der gesetzlichen Rente für die meisten normalbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist darüber fast in Vergessenheit geraten.

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A nalysen fehlender Elternzeit – auf prekäre Beschäftigung, insbesondere Minijobs, angewiesen waren. Trotz aller Fortschritte gibt es weiterhin nach wie vor kein voll ausreichendes Angebot der Kinder- und Schülerbetreuung. Daher können oftmals nicht beide Elternteile einer ganz normalen Beschäftigung nachgehen, vor allem aber Alleinerziehenden ist dies oft verwehrt. Hier sollte die öffentliche Hand weiterhin investieren. Das meiste, was jetzt über »Crowdworker« oder die »Gig Economy« geschrieben wird, gehört eher ins Feuilleton (z. B. Hill 2016). Was nicht bedeutet, dass man die soziale Vorsorge für (Solo-) Selbstständige nicht verbessern könnte und sollte: Selbstständige, die nicht ohnehin schon abgesichert sind, wie viele Freiberuflerinnen und Freiberufler und Handwerkerinnen bzw. Handwerker, könnten in die Unfall- und Rentenversicherung einbezogen werden. Und: die Förderung von Minijobs könnte schlicht abgeschafft werden. Für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stellen sie eine Falle dar: Ist man erst einmal in einem Minijob, so fällt es erfahrungsgemäß nicht leicht, wieder herauszukommen. Zudem wird ein großer Teil dieser Jobs von Studierenden übernommen. Das mag aus ihrer Sicht unter den gegebenen Rah-

menbedingungen vernünftig und notwendig sein. Sinnvoller wäre es aber, die Ausbildungsförderung zu erhöhen, damit Studierende nicht nebenbei arbeiten müssen, sondern schnell ihr Studienziel erreichen können. Beschäftigte, die keinen Wohnsitz in Deutschland haben, aber trotzdem hier tätig sind, werden allerdings in der gesamten Debatte häufig vergessen. Sie arbeiten oft unter eindeutig prekären Bedingungen, während im Inland viele den Nutzen davon haben, nicht nur Arbeitgeber, sondern auch Konsumentinnen und Konsumenten und damit normale (Arbeitnehmer-)Haushalte. Dies gilt in besonderer Weise bei Vertragsarbeitnehmerinnen und Vertragsarbeitnehmern, die zum Teil unter skandalös unwürdigen Umständen arbeiten und leben, wie zum Beispiel Saisonarbeitskräfte für die Spargel- und Obsternte, und schließlich bei Tausenden Frauen, die aus dem Ausland nach Deutschland pendeln und Pflegetätigkeiten »freiberuflich« ausüben. Bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für diese Menschen, die weder permanent hier leben noch wahlberechtigt sind, genießen – vorsichtig ausgedrückt – offenkundig in keinem politischen Lager die höchste Priorität.

LITERATUR Bönke, Timm/Grabka, Markus/Schröder, Carsten/ Wolff, Edvard N./Zyska, Lennard (2016): The joint distribution of net worth and pension wealth in Germany, SOEPpaper Nr. 853, Berlin. Feld, Lars P./Schmidt, Christoph M. (2016): Jenseits der schrillen Töne – Elemente für eine rationale Diskussion über die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in Deutschland, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Bd. 17, Heft 2, 2016, S. 188 – 205. Fratzscher, Marcel (2016): Verteilungskampf: Warum Deutschland immer ungleicher wird, München. Grabka, Markus M./Goebel, Jan/Schröder, Carsten/ Schupp, Jürgen (2016): Schrumpfender Anteil an BezieherInnen mittlerer Einkommen in den USA und Deutschland. DIW Wochenbericht 18, S. 391 – 402. Hill, Steven (2015): How the »Uber Economy« and Runaway Capitalism Are Screwing American Workers, New York.

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Ders. (2016): Vorwärts, Genossen. DIE ZEIT, Nr. 23/2016, 25. Mai 2016; online unter: http://www.zeit.de/2016/23/ sozialdemokratie-digitalisierung-arbeitswelt-reform/ komplettansicht Priem, Maximilian/Schupp, Jürgen/Wagner, Gert G. (2015): Lebenszufriedenheit in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland. ifo-Schnelldienst, 68. Jahrgang, H. 22, S. 8 – 13. Rifkin, Jeremy (2004): Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft: Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York. Sundararajan, Arun (2016): The Sharing Economy: The End of Employment and the Rise of Crowd-Based Capitalism, Cambridge, Mass. Wagner, Gert G. (2012): Die Inflation der MittelschichtBegriffe führt in die Irre. DIW-Wochenbericht Nr. 51 u. 52.

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DAS NEUE FLEXIBLE NORMALARBEITSVERHÄLTNIS Gerhard Bosch

Auf dem deutschen Arbeitsmarkt war lange das Modell einer stabilen, sozial abgesicherten, abhängigen, unbefristeten Vollzeitbeschäftigung die Norm. Heute hat dieses alte Normalarbeitsverhältnis seine normative Kraft verloren. In einem kurzen Rückblick auf die entscheidenden Ursachen dieser Entwicklung zeigt der Autor, dass ein Zurück weder möglich noch wünschenswert ist, und plädiert für ein neues Leitbild der Erwerbsarbeit: das neue, flexible Normalarbeitsverhältnis mit Optionen für selbstbestimmte Arbeitszeiten im Erwerbsverlauf.

1 EIN ZURÜCK ZUM ALTEN NORMALARBEITSVERHÄLTNIS IST NICHT MÖGLICH Bis in die 1980er-Jahre hatte man sehr klare Vorstellungen davon, was unter einem Normalarbeitsverhältnis (NAV) zu verstehen sei. Gemeint war eine Vollzeitbeschäftigung mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag sowie einem anständigen Lohn, von dem man nicht nur selbst leben, sondern auch eine Familie ernähren konnte und mit dem nicht zuletzt auch der Lebensstandard im Alter gesichert war. In dieser Tradition habe ich 1986 wie viele andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (z. B. Mückenberger 1985) das NAV als eine »stabile, sozial abgesicherte, abhängige Vollzeitbeschäftigung« definiert, »deren Rahmenbedingungen (Arbeitszeit, Löhne, Transferleistungen) kollektivvertraglich oder arbeits- bzw. sozialrechtlich auf einem Mindestniveau geregelt sind« (Bosch 1986, S. 165).

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Die Verbreitung unbefristeter Vollzeitarbeit war leicht messbar. Unbefristete Vollzeit galt als die Norm. Teilzeit und befristete Beschäftigung sowie Schein- oder Solo-Selbstständige wurden als atypisch bezeichnet. Heute ist es jedoch nicht mehr so einfach, die Verbreitung normaler Arbeitsverhältnisse quantitativ präzise zu bestimmen. Längst nicht jede unbefristete Vollzeitarbeit bietet noch lebenslange Sicherheit oder eine anständige Bezahlung. Wer zum Beispiel einen unbefristeten Vollzeit-Arbeitsvertrag in einem nicht tarifgebundenen Betrieb hat, nur den Mindestlohn erhält und ohne den Schutz von Betriebsräten leicht kündbar ist, wird sich kaum zu den gut gesicherten »Normalbeschäftigten« zählen. Zwar ist in den sogenannten atypischen Arbeitsverhältnissen das Risiko, schlecht bezahlt


A nalysen oder arbeitslos zu werden oder von Weiterbildung und Karrieren ausgeschlossen zu bleiben, weiterhin deutlich höher als in unbefristeter Vollzeitarbeit. Das trifft aber bei Weitem nicht auf alle diese Arbeitsverhältnisse zu. Teilzeitarbeit ist oft selbst gewählt, wird vielfach auch gut bezahlt und stellt sich zum Teil schon als Übergangsepisode in einem flexiblen Erwerbsverlauf mit Rückkehrrechten in eine Vollzeitbeschäftigung dar. Eine befristete Tätigkeit in einem guten Traineeprogramm kann zum Sprungbrett in eine Erfolg versprechende Karriere werden. Schließlich können auch Leiharbeitsunternehmen für nachgefragte Fachkräfte gute und abwechslungsreiche Arbeitsbedingungen mit hoher Stabilität bieten. Wir haben es also mit einer schwierigen Gemengelage auf dem Arbeitsmarkt zu tun. Auf der einen Seite nimmt der Schutzbedarf der prekär Beschäftigten zu, zu denen zunehmend auch unbefristete Vollzeitbeschäftigte gehören. Auf der anderen Seite haben sich die Lebensentwürfe verändert. Längst nicht alle Beschäftigten wollen immer Vollzeit arbeiten und sehen sich in ihrer Lebensplanung durch die starren Regeln des alten NAV behindert. Doch die Antwort kann nicht ein Zurück zum alten NAV sein, das auf den männlichen Alleinverdiener ausgerichtet war. Starre Arbeitszeiten, die Halbtagsschule und fehlende Kinderbetreuung ließen bis vor Kurzem allenfalls kurze Teilzeittätigkeiten für Frauen zu. Die abgabenfreien Minijobs, in den 70er-Jahren als Zuverdienst für Frauen konzipiert, und die abgeleiteten Sozialversicherungen in Kombination mit dem Ehegattensplitting hielten Frauen vom Arbeitsmarkt fern. Die notwendige wirtschaftliche Flexibilität wurde zumeist von den Männern über zum Teil extensive Überstunden gesichert, was traditionelle Rollenmodelle verfestigte. Ein weiteres Problem waren die Arbeitsbedingungen in der Massenproduktion der 1960erund 1970er-Jahre, von denen die zeitgenössischen industriesoziologischen Studien ein sehr kritisches Bild zeichneten (z. B. Böhle/Altmann 1972). Die einfachen, repetitiven Tätigkeiten waren nicht nur mit hohen körperlichen und psychischen Belastungen verbunden, sondern entwerteten systema-

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tisch vorhandene Qualifikationen. Zudem ließen die kleinteiligen Arbeitsvorgaben und starren Hierarchien nur wenig Eigeninitiative zu. Von ihren Studienreisen nach Schweden und Norwegen brachten Reformer aus Gewerkschaften und der SPD die Idee einer Humanisierung der Arbeit mit. Durch die ab 1972 vom Bildungs- und Forschungsministerium finanzierten großen Projekte der Arbeitsgestaltung wurde eine Welle von Reformen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in vielen Branchen eingeleitet. Wahrscheinlich ist damals den meist männlichen Reisenden der in Nordeuropa schon Ende der 1960er-Jahre erkennbare Umbau des Familienmodells hin zu einer gleichberechtigten Rolle der Frauen im Erwerbsleben gar nicht aufgefallen, so selbstverständlich wurde damals in allen deutschen Führungsetagen das Alleinverdienermodell gelebt. Zudem erstickte die Systemkonkurrenz in der alten Bundesrepublik jede Reform des traditionellen Familienmodells, da die Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen in der DDR und der Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung als autoritäre Bevormundung der Familien diskreditiert werden konnten. In der internationalen Forschung galt daher das westdeutsche Erwerbsmodell vor der Wiedervereinigung als Referenzmodell des konservativen Wohlfahrtsstaats (Esping-Andersen 1990), das die neuen Bedürfnisse seiner Erwerbsbevölkerung, aber auch der Wirtschaft verschlafen hatte. Notwendig ist also ein neues Leitbild, das veränderte Lebensentwürfe berücksichtigt und sie aktiv unterstützt, ohne jedoch den sozialen Schutz, den das alte NAV geboten hat, aufzugeben. Um ein solches Leitbild entwickeln und die für seine Umsetzung notwendigen Rahmenbedingungen genauer definieren zu können, müssen zunächst verschiedene Ursachen der Krise des alten NAV betrachtet werden.

2

EROSION DER ARBEITSMARKTORDNUNG. URSACHEN DER KRISE DES ALTEN NAV

Seit Mitte der 1990er-Jahre hat sich die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt grundlegend geändert. Die alte Verknüpfung von wirtschaftlicher Effizienz und gesellschaftlicher Solidarität hat

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A nalysen sich aufgelöst. Unsichere und schlecht bezahlte Tätigkeiten haben zugenommen. Seit Mitte der 1990er-Jahre stieg die Niedriglohnbeschäftigung auch unter Beschäftigten mit einem Normalarbeitsverhältnis in Deutschland rasch an. Die stärkste Volkswirtschaft in Europa hatte 2012 einen der höchsten Niedriglohnanteile. Da es damals keinen Mindestlohn gab, konnten die Löhne zudem weiter nach unten ausfransen als in den Nachbarländern (Eurofound 2014). Die Erosion der Arbeitsmarktordnung hatte mehrere Ursachen, die man genau verstehen muss, wenn man die Qualität der Arbeit für alle Beschäftigtengruppen verbessern will: Ostdeutsche Produktivitätsschwäche: Die rasche Übertragung der westdeutschen Arbeitsbedingungen auf Ostdeutschland scheiterte an der zu geringen Produktivität der zumeist erst nach der Wiedervereinigung neu gegründeten Betriebe. Dies provozierte den Austritt aus Arbeitgeberverbänden (bzw. bei Neugründung den Nichteintritt). Produktmarktderegulierungen: Vor allem durch Direktiven der EU wurden vormals öffentliche Dienstleistungen für private Anbieter geöffnet. Neue Anbieter, die nicht an die Tarifverträge gebunden waren, konnten die alten öffentlichen Anbieter mit niedrigen Löhnen und Preisen unterbieten. Dadurch sank nicht nur die Tarifbindung, die zuvor bei Bahn, Post, Telekommunikation, öffentlichem Nahverkehr, Müllabfuhr und anderen Bereichen bei 100 Prozent gelegen hatte, sondern die Gewerkschaften mussten, um das Überleben der alten Anbieter zu sichern, Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen zustimmen. In vielen Nachbarländern, wie Frankreich, Belgien oder den Niederlanden, waren die Branchentarifverträge für allgemein verbindlich erklärt worden, was die Beschäftigten dort vor einer ähnlichen Erosion der Tarifverträge wie in Deutschland schützte. Fragmentierung der Unternehmen: Die wachsenden Lohnunterschiede in der Wirtschaft veranlassten die Unternehmen und den Staat zur Auslagerung vieler Tätigkeiten, um Lohnkosten einzusparen. Die heute zu beobachtende Fragmentierung von juristischen Unternehmenseinheiten bei gleichzeitiger Integration und Verlängerung

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der Wertschöpfungsketten ist ohne die Hilfe von neuen Digitalisierungstechnologien kaum möglich und kann sich durch »Industrie 4.0« weiter verstärken. Die in einer Betriebsstätte Beschäftigten haben immer seltener einen gemeinsamen Arbeitgeber und immer häufiger Arbeitsverträge mit ganz unterschiedlichen Unternehmen. Schlecht bezahlte Beschäftigte von Subunternehmen arbeiten an der Seite gut bezahlter Stammkräfte. Durch die Zersplitterung der Unternehmen wurde es für die Gewerkschaften erheblich schwieriger, die Solidarität zwischen den Beschäftigten zu organisieren. Auch diese Entwicklung ist durch den Mangel an allgemein verbindlichen Tarifverträgen in Deutschland stärker ausgeprägt als in vielen anderen Ländern. Deregulierung des Arbeitsmarktes: Durch die Hartz-Gesetze wurde zum einen der Druck auf die Arbeitslosen, eine gering bezahlte Tätigkeit anzunehmen, erhöht. Damit wurde auch der kontinuierliche Nachschub für schlecht bezahlte Tätigkeiten, unter anderem in der gleichzeitig deregulierten Leiharbeit, sichergestellt. Kanalisierung der Frauen in prekäre Beschäftigung: Durch den Mangel an Kinderbetreuung und durch die Kombination von Abgabenfreiheit für Minijobs mit abgeleiteter Krankenversicherung über den Ehepartner und Ehegattensplitting mündete ein großer Teil des zunehmenden Arbeitsangebotes für Frauen in Minijobs. Da die meisten Unternehmen Minijobberinnen und Minijobber nur bei Anwesenheit entlohnen, also weder Urlaub noch Feier- oder Krankheitstage bezahlen (Bosch/ Weinkopf 2016), sind Minijobs gegenüber sozialversicherungspflichtiger Teilzeitarbeit erheblich billiger. Daher werden für viele Dienstleistungstätigkeiten nur noch Minijobs angeboten mit der Folge, dass die Chancen auf einen Übergang in reguläre Arbeit abgenommen haben. Die wachsende Frauenbeschäftigung wirkt im traditionellen deutschen Familienmodell somit wie ein automatischer »Deregulator« auf Beschäftigungsstandards. Die Folge dieser Entwicklungen war eine Abnahme der Tarifbindung von rund 85 Prozent vor der Wiedervereinigung auf nur noch 59 Prozent in West- und 49 Prozent in Ostdeutschland im Jahre 2014. Es sind große weiße Zonen im Arbeitsmarkt


A nalysen entstanden, in denen Unternehmer die Löhne einseitig festlegen. Besonders besorgniserregend ist, dass die Erosion der Tarifverträge bislang nicht gestoppt wurde, sondern durch das Wachsen kaum tarifgebundener Dienstleistungsbereiche und die Fragmentierung der Unternehmen in komplexe Subunternehmerketten weiter fortschreitet. Vor allem zeigt sich, dass sich schlechte Arbeitsbedingungen nicht mehr eingrenzen lassen, sondern sich über den wachsenden Konkurrenzdruck und die zunehmende Vernetzung der Wirtschaft auch in die früher gut geschützten Zonen unbefristeter Vollzeitbeschäftigung ausbreiten und die Mittelschicht schrumpfen lassen (Bosch/Kalina 2015).

3 NEUE BEDÜRFNISSE DER BESCHÄFTIGTEN Alle Befragungen zeigen, dass Arbeitsplatzsicherheit in der Bedürfnisskala der Beschäftigten unverändert an der Spitze steht. Das kann kaum verwundern, da sie Voraussetzung jeder stabilen Lebensplanung ist. Sprechen wir aber über neue Bedürfnisse der Beschäftigten, sind vor allem Flexibilität in der Gestaltung der Arbeitszeit und mehr Mitsprache und Entscheidungsspielräume in der Arbeit gemeint. Die Dimensionen der neuen Arbeitszeitbedürfnisse kann man durch punktuelle Befragungen kaum abschätzen, da sie sich im Erwerbsverlauf verändern. Wenn sich zusätzlich die Rahmenbedingungen für selbst gewählte Arbeitszeiten verändern, wie das durch den Ausbau der Kinderbetreuung oder das Elterngeld der Fall ist, geben Befragungen nur Momentaufnahmen eines beweglichen Objekts wieder. Der wohl wichtigste Treiber neuer Arbeitszeitbedürfnisse ist die wachsende Frauenerwerbstätigkeit. Die Erwerbstätigenquote bei Frauen zwischen 20 und 64 Jahren ist in Deutschland allein zwischen 2005 und 2014 um 10 Prozentpunkte auf 73,1 Prozent gestiegen und liegt inzwischen deutlich über dem Durchschnitt der EU-28 von 63,5 Prozent (EC 2015). Für die meisten der gut qualifizierten jungen Frauen sind Erwerbsarbeit und ökonomische Unabhängigkeit inzwischen eine Selbstverständlichkeit, was aber im konservativen deutschen Erwerbsmodell weder vorgesehen noch unterstützt wurde. In Vollzeitäquivalenten gemessen lag die Frauenerwerbstätigenquote

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2014 in Deutschland aufgrund des hohen Anteils geringfügiger Teilzeitarbeit bei nur 56,7 Prozent, also um 16,4 Prozentpunkte unter der Quote in Köpfen. Teilzeitarbeit ist ein wichtiges Instrument der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Im deutschen Arbeitsmarkt ist Teilzeitarbeit aber mit langfristigen Nachteilen verbunden, wie dauerhaft niedriger Bezahlung, geringen Chancen auf Vollzeit und Karriere und niedrigen Renten. In der Forschung bezeichnet man dies als »Narbeneffekte«, die in Deutschland besonders ausgeprägt sind. Hinzu kommt, dass die traditionellen Teilzeitnormen in Deutschland, d. h. zum einen die geringfügige Beschäftigung und zum anderen die hälftige 20-Stunden-Teilzeit, mittlerweile restriktiv wirken. Befragungen zu den Arbeitszeitwünschen zeigen, dass Frauen in Teilzeitarbeit und vor allem in Minijobs gerne länger arbeiten würden. Gleichzeitig steigt auch die Unzufriedenheit mit der bisherigen Vollzeitarbeit. Männer, die – wenn auch mit Zeitverzögerung – zunehmend Familienverpflichtungen übernehmen, wollen weniger Überstunden leisten und Frauen in Vollzeit einige Stunden kürzer arbeiten (→ Tabelle 1, S. 51). Hinter diesen neuen Arbeitszeitwünschen verbergen sich noch weitere Gründe als die Suche nach einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Zu nennen sind vor allem Wünsche nach vorübergehender Verkürzung der Arbeitszeit oder der Erwerbstätigkeit durch Weiterbildung oder nach Verringerung der Arbeitsbelastung etwa durch Sabbaticals oder zusätzliche regelmäßige freie Tage.

4

EIN NEUES FLEXIBLES NORMALARBEITSVERHÄLTNIS MIT ERWEITERTEN SCHUTZFUNKTIONEN

Gesicherte Vollzeitarbeit ist auch weiterhin überwiegend gewünscht, aber nicht in der gleichen starren Form wie in der Vergangenheit und auch nicht mit der selbstverständlichen Verpflichtung zu Mehrarbeit. Gleichzeitig wird jedoch mehr Flexibilität im Sinne von mehr Souveränität hinsichtlich des Erwerbsverlaufs gewünscht. Ebenso wie die Unternehmen zunehmend eine lebenslaufbezogene Personalpolitik entwickeln müssen,

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A nalysen muss die staatliche Politik flexible Erwerbsverläufe ermöglichen. Notwendig ist daher ein neues, flexibles Normalarbeitsverhältnis mit der traditionellen Schutzfunktion, die ein unbefristeter Arbeitsvertrag bietet, aber erweitert um Optionen für eine selbstbestimmte Arbeitszeitgestaltung im Erwerbsverlauf (Bosch 2001). Aufgabe der Politik und der Tarifpartner ist es, die Barrieren für flexible Arbeitszeiten abzubauen, zugleich aber Einkommensverluste durch die Wahrnehmung gesellschaftlich wichtiger Aufgaben, wie Kindererziehung, Pflege, Weiterbildung, auszugleichen. Teilzeitarbeit wird damit zu einem Teil normaler Erwerbsbiografien, und ihre negativen Auswirkungen auf den weiteren Erwerbsverlauf können dann, ähnlich wie heute schon in Schweden, vermieden werden (Bardasi/Gornick 2008). Dieses Ziel ist realisierbar, da es bereits an in der Bevölkerung akzeptierten Reformen der letzten Jahre, wie den Ausbau der Kinderbetreuung, anknüpft und diese weiterentwickelt. Wichtige konkrete Bausteine eines neuen Normalarbeitsverhältnisses sind: •

Flexible Nutzung des Elterngeldes bis zum achten Lebensjahr eines jeden Kindes und ein zusätzlicher Bonus, wenn beide Eltern zwischen 25 und 30 Stunden arbeiten, wie im ElterngeldPlus. Weiterer bedarfsgerechter Ausbau der Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen mit zuverlässigen ganztägigen Öffnungszeiten, sodass Eltern auch tatsächliche Arbeitszeitoptionen haben. Wahlarbeitszeiten für Beschäftigte, was nicht nur das Recht auf Teilzeitarbeit, sondern auch das Rückkehrrecht zur alten Arbeitszeit einschließt. Mit der Verabredung im Koalitionsvertrag, das Rückkehrrecht zur alten Arbeitszeit bei Kindererziehung und Pflege gesetzlich zu verankern, wurde ein großer Schritt in diese Richtung gemacht. Abbau finanzieller Barrieren bei der Variation der Arbeitszeit. Die größte Barriere ist heute der hohe Grenzsteuersatz beim Übergang von Minijobs auf reguläre Teilzeitarbeit. Förderung neuer Arbeitszeitnormen, die die

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Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Gleichstellung fördern. Die Arbeitszeitwünsche zeigen vor allem bei Frauen in Teilzeitarbeit Wünsche nach längerer Teilzeit und bei Männern Wünsche nach weniger Überstunden. Unternehmen sollten verstärkt lange Teilzeit (zwischen 20 und 28 Stunden) und kurze Vollzeit (zwischen 28 und 35 Stunden) anbieten. Ausbau der bezahlten und unbezahlten Freistellungen für Pflege.

Viele Betriebe praktizieren solche Arbeitszeitmodelle bereits, sodass ein solches neues Normalarbeitsverhältnis mit starken Arbeitnehmerrechten für sie den Schrecken verloren hat. Die Vorteile für die Betriebe liegen in der wachsenden Bindung der Beschäftigten an den Betrieb, die mit wachsendem Fachkräftebedarf immer wichtiger wird. Flexible Arbeitszeiten werden zudem immer mehr zum wesentlichen Instrument des Personalmarketings in der Konkurrenz um den knapper werdenden Nachwuchs. Schließlich bieten sich auch neue Chancen der Krisenbewältigung, denn wie die Wirtschaftskrise 2009 gezeigt hat, sind Beschäftigte als Gegenleistung für einen sicheren Arbeitsplatz auch bereit, Arbeitszeitguthaben abzubauen oder die Regelarbeitszeit vorübergehend zu senken, was im Übrigen die meisten Tarifverträge bereits vorsehen. Die hohe Attraktivität dieses Modells für die Beschäftigten liegt in der Kombination von Arbeitsplatzsicherheit, Wahlfreiheit und teilweiser finanzieller Absicherung. Lebensentwürfe werden nicht vorgeschrieben, sondern können selbst gestaltet werden. Da die Arbeitszeitwünsche von individuellen Präferenzen und Lebensumständen (Kinder, Pflege, Haushaltseinkommen) abhängen, werden die Optionen des neuen Normalarbeitsverhältnisses in ganz unterschiedlicher Weise wahrgenommen werden. Sie werden sich auch mit dem Ausbau der Infrastruktur, vor allem der für Kinderbetreuung und Pflege, verändern. Beschäftigte müssen sich die neuen Arbeitszeitoptionen aber auch finanziell leisten können. Diese dürfen nicht das Privileg der Besserverdienenden bleiben. Der Mindestlohn kann nur als Etappensieg auf dem Weg zu einer weniger unglei-


A nalysen TATSÄCHLICHE, VEREINBARTE UND GEWÜNSCHTE WOCHENARBEITSZEIT VON MÄNNERN UND FRAUEN NACH ERWERBSFORMEN 2012* Vollzeit

Reguläre Teilzeit

Alle

Geringfügige Beschäftigung

Männer

Frauen

Männer

Frauen

Männer

Frauen

Männer

Frauen

Tatsächliche Wochenarbeitszeit (1)

44,2

42,1

26,2

24,9

13,7

11,6

32,0

Vereinbarte Wochenarbeitszeit (2)

39,6

38,4

24,5

22,9

14,8

11,1

42,0 38,3

Gewünschte Wochenarbeitszeit (3)

39,2

36,3

29,4

25,6

21,3

17,5

37,9

30,0

Differenz (3-2)

-0,4

-2,2

+4,9

+2,7

+6,5

+6,5

-0,3

+0,0

*  (15 bis 74 Jahre, ohne Auszubildende und Praktikanten) Angaben in Stunden, jeweils Durchschnittswerte, Quelle: IAB (2014)

chen Gesellschaft gesehen werden. Der nächste Schritt muss in einer Erhöhung der Tarifbindung mit höheren Löhnen für Fachkräfte bestehen, sodass qualifizierte Arbeit auch gut bezahlt wird. Schließlich lassen sich die Flexibilitätsbedürfnisse der Wirtschaft nicht ignorieren. Wenn man das NAV durch eine Erhöhung der Tarifbindung und eine Einschränkung prekärer Beschäftigungsformen stärkt, benötigen die Unternehmen neue

29,9

Tabelle 1

Quellen der Flexibilität. Als Gegenleistung für eine feste Beschäftigung müssen Erwerbstätige bereit sein, unterschiedliche Tätigkeiten im Unternehmen auszuüben und die Arbeitszeit betrieblichen Bedürfnissen anzupassen. Eine der großen Zukunftsaufgaben ist die Entwicklung sozial verträglicher Arbeitszeitmodelle, die einen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Beschäftigten und betrieblichen Anforderungen ermöglichen.

LITERATUR Bardasi, Elena/Gornick, Janet C. (2008): Working for less? Women’s part-time wage penalties across countries. Feminist Economics, 14 (1), S. 37 – 72. Böhle, Fritz/Altmann, Norbert (1972): Industrielle Arbeit und soziale Sicherheit, Frankfurt/M. Bosch, Gerhard. (1986): Hat das Normalarbeitsverhältnis eine Zukunft? WSI-Mitteilungen 3, S. 163 – 176. Bosch, Gerhard (2001): Konturen eines neuen Normalarbeitsverhältnisses. WSI-Mitteilungen 54 (4), S. 219 – 230. Bosch, Gerhard/Kalina, Thorsten (2015): Das Ende der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«. Die deutsche Mittelschicht unter Druck. Internetdokument, Duisburg: Inst. Arbeit und Qualifikation, IAQ-Forschung, 2015 – 01.

Esping-Andersen, Gøsta (1990): Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton, NJ. Eurofound (2014): Pay in Europe in the 21st century, Dublin. European Commission (EC) (2015): Employment and social developments in Europe 2015, Luxemburg. IAB (2014): Arbeitszeitwünsche von Frauen und Männern 2012. Online unter: http://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/ Arbeitszeitwuensche.pdf. Mückenberger, Ulrich (1985): Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft? Zeitschrift für Sozialreform 31, S. 415 – 475.

Bosch, Gerhard/Weinkopf, Claudia (2016): Minijobs. Expertise für die Sachverständigenkommission. Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, IAQ-Duisburg.

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(SOLO-)SELBSTSTÄNDIGKEIT: WAS WIR DARÜBER WISSEN Gabriele Weinhold

Die Diskussionen um die Auswirkungen verschiedener Trends, die die Zukunft der Arbeitswelt bestimmen werden, haben einen gemeinsamen Kristallisationspunkt in der »Solo-Selbstständigkeit«. Individualisierung, Digitalisierung, Spezialisierung, Globalisierung: Diese Entwicklungen begünstigen in vielfältiger Weise Erwerbsformen von selbstständigen Einzelkämpferinnen und -kämpfern, die auf der Basis von Werk- und Dienstverträgen oder als »Crowdworker« unabhängig arbeiten. Einerseits gilt ihre Lebensform als beneidenswert frei und selbstbestimmt, andererseits als prekär, unterbezahlt, von Altersarmut bedroht. Welche Entwicklung lässt sich beobachten? Welche Chancen und Risiken ergeben sich für den Einzelnen und die Gesellschaft? Und: gibt es Handlungsbedarf für den Staat?

Das Bild der herkömmlichen Selbstständigkeit ist geprägt durch die »freien Berufe«: Ärztinnen und Ärzte, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte oder Steuerberaterinnen bzw. Steuerberater, Handwerkerinnen bzw. Handwerker und Mittelständlerinnen und Mittelständler sind meist hoch qualifizierte Fachleute, ausgestattet mit einem – oft durch öffentliche Gebührenordnungen – gesicherten Einkommen und mit Betriebsvermögen. Sie schaffen Arbeitsplätze, genießen persönliche Unabhängigkeit und gestalten, so eine verbreitete Vorstellung, ihren Arbeitsplatz in eigener Verantwortung. Wie überall auf der Welt ist auch in Deutschland die Zahl selbstständig arbeitender Personen im Zuge der Digitalisierung in den letzten Jahren (zumindest bis 2012) stetig gestiegen. Getragen wurde der Trend jedoch hauptsächlich durch eine Zunahme

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der Solo-Selbstständigen (Brenke/Beznoska 2016: S. 19). Ermöglicht hat dies auch der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnik, die eine Verlagerung von Arbeiten, die traditionell von angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erledigt wurden, an »Externe« gestattet. Unternehmen können eine große Anzahl von Externen kostengünstig und flexibel in den Betriebsablauf einbinden. Daraus ergeben sich neue Unternehmensstrategien, die den Bedarf an Externen erhöhen und zu neuen Erwerbsformen wie beispielsweise Crowdworking führen (Apt u. a. 2016: S. 8). Vertragliche Grundlage dieser Auslagerungen sind nicht mehr Arbeits-, sondern Dienst- und Werkverträge. Nahezu abgeschlossen ist diese Entwicklung in der Medien- und Kulturbranche; die Folgen dort lassen sich anschaulich nachvollziehen (ebd., S. 7).


A nalysen

Zugenommen hat in den letzten Jahren überwiegend nicht der zuerst beschriebene emanzipatorische Typus der Selbstständigkeit, sondern eher eine »neue«, oft vergleichsweise »ertragsarme« Selbstständigkeit (Brenke 2013: S. 12-15). Gründungen erfolgen fast ohne Betriebsvermögen, und die unternehmerische Tätigkeit, die sich von Auftrag zu Auftrag hangelt, ist eher arbeitnehmerähnlich und bietet kein verlässliches und auskömmliches Einkommen. Über die Hälfte aller Selbstständigen in Deutschland ist soloselbstständig, d. h. selbstständig ohne abhängig beschäftigte Arbeitnehmer (Brenke/Beznoska 2016: S. 18). Solo-Selbstständigkeit ersetzt oft abhängige Beschäftigung, doch ohne deren arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Schutz. Solo-Selbstständigkeit ist dabei aber nicht per se mit der eben beschriebenen »neuen« Selbstständigkeit gleichzusetzen. Wenn jedoch, wie weiter prognostiziert, zunehmend Tätigkeiten, die bisher in abhängiger Beschäftigung erbracht wurden, gleichwertig in Form selbstständiger Tätigkeit erbracht werden können, wird sich der Trend hin zu ausgelagerter Arbeit weiter fortsetzen. So waren in den USA, wo die Digitalisierung als weiter fortgeschritten gilt, im Jahr 2015 bereits 15,8 Prozent der Erwerbstätigen gegenüber 10 Prozent im Jahr 2005 in atypischen Beschäftigungsformen tätig (Katz/Krueger 2016: S. 2). Für den Gesetzgeber stellt sich daher die Frage, ob die bestehenden Anknüpfungspunkte des arbeits- und sozialrechtlichen Schutzes für diese Erwerbsformen, die oft in der Solo-Selbstständigkeit zu verorten sein werden, mit der fortschreitenden Digitalisierung noch ausreichen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) mit zwei Untersuchungen zur Situation der (Solo-)Selbstständigkeit in Deutschland beauftragt. Dabei stehen vor allem die Solo-Selbstständigen im Fokus, da sie oft in arbeitnehmerähnlichen Konstellationen beschäftigt und daher wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besonders schutzbedürftig sind. In der ersten Studie1 wurden die Entwicklung und die aktuelle Struktur der (solo-)selbstständigen Beschäftigung auf Datenbasis des Mikrozensus und des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) untersucht. In einer zweiten, 1 2

qualitativen Studie2 ging es darum, die subjektive Einschätzung der Betroffenen zu ermitteln.

I AKTUELLE ENTWICKLUNGEN DER SELBSTSTÄNDIGEN ERWERBSTÄTIGKEIT 1

ENTWICKLUNG DER ZAHLEN

Von 1995 bis 2012 hat die Zahl der Selbstständigen insgesamt kontinuierlich zugenommen, was vor allem auf die wachsende Zahl der Solo-Selbstständigen zurückzuführen war. 2014 waren 5 Prozent aller Erwerbstätigen zwischen 15 und 64 Jahren Selbstständige ohne weitere Mitarbeiter. Seit ihrem Höchststand im Jahr 2012 mit ca. 4,3 Mio. Selbstständigen – davon 2,5 Mio. Solo-Selbstständigen – ist die Zahl der Selbstständigen rückläufig und betrug im Jahr 2014 noch 4,2 Mio. bzw. 2,3 Mio. (Solo-Selbstständige). Die Zahl der Solo-Selbstständigen nahm von 2012 bis 2014 um etwa 8 Prozent ab (Brenke/Beznoska 2016: S. 19). Angesichts des oben beschriebenen Szenarios in Bezug auf die zunehmende Digitalisierung ist dies ein überraschender Befund. Bis dato ging der Zuwachs vor allem soloselbstständiger Erwerbsformen auf folgende Faktoren zurück: sektoraler Wandel (etwa Wachsen des Kreativsektors), funktionaler Wandel mit Auslagerung von Funktionen an Freiberuflerinnen und Freiberufler (etwa bei Pflegediensten und im Transportgewerbe), Sondereinflüsse (wie die Liberalisierung des Handwerks) sowie die zeitweise schwächelnde Konjunktur, die Existenzgründungen als staatlich geförderten Ausweg aus der Arbeitslosigkeit nahelegte (Brenke/ Beznoska 2016: S. 19). Während die Selbstständigkeit mit Beschäftigten während der letzten Jahre weitgehend stabil blieb, waren zwei Schübe in der Zahl der Solo-Selbstständigen zu beobachten: 1995 im Zuge der Ausweitung der Existenzförderung vorher Arbeitsloser und 2003 bis Mitte 2006 im Rahmen der starken Förderung von Ich-AGs auch durch Existenzgründungszuschüsse. Dass die Gründungswelle später abebbte, ist vermutlich vor allem mit einer verbesserten Konjunktur zu erklären. In den folgenden Jahren gab es weniger Gründungen und weniger Wechsel aus abhängiger Beschäfti-

Brenke, Karl/Beznoska, Martin (2016): Solo-Selbständige in Deutschland – Strukturen und Erwerbsverläufe, BMAS-Forschungsbericht 465. ahmy, Melanie/Matthes, Anselm/Scholz, Christiane (2016): Diskussion in Fokusgruppen: Alterssicherung (Solo-)Selbständiger«, Kurzexpertise Nr. 17 F im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, unveröffentlicht.

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A nalysen

3000

30

2456

2500

1861

1848

25

20

1666 1500

15

1376 11,0

10,5

9,4

1000

10

Solo-Selbstständige

Selbstständige mit Beschäftigten

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1995

1994

0 1993

0 1992

5

1991

500

1996

Anzahl in 1000

2000

2344

Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen

Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen (Selbstständigenquote) in Prozent

ENTWICKLUNG DER ZAHL DER SOLO-SELBSTSTÄNDIGEN, DER SELBSTSTÄNDIGEN MIT BESCHÄFTIGTEN UND ANTEIL DER SELBSTSTÄNDIGEN AN ALLEN ERWERBSTÄTIGEN (1991 – 2014)

Darstellung nach Brenke/Beznoska 2016: S. 18.

gung oder Arbeitslosigkeit in Solo-Selbstständigkeit (Brenke/Beznoska 2016: S. 16, 18). Ob es sich bei dieser beschriebenen Entwicklung der Solo-Selbstständigkeit bereits um eine nachhaltige Trendumkehr handelt, ist derzeit kaum einschätzbar. Die zunehmende Digitalisierung im Dienstleistungsbereich lässt jedoch nach wie vor eher eine Bedeutungszunahme der Solo-Selbstständigkeit erwarten (Schulze Buschoff 2016: S. 2).

2 CROWDWORKING Beim Crowdworking handelt es sich verkürzt um Modelle der Organisation von Arbeit, bei denen ein Unternehmen als Auftraggeber konkrete Arbeitsaufgaben über eine IT-Plattform zur Erledigung (für Externe) ausschreibt. Da die Crowdworkerin oder der Crowdworker frei darüber entscheidet, ob sie oder er eine Leistung erbringen möchte, wird es sich im Regelfall um eine selbstständige Tätigkeit handeln. Speziell in

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Bezug auf Crowdworking geben klassische Indikatoren wie Nebentätigkeiten und Solo-Selbstständigkeit aus repräsentativen Umfragen bisher keine Hinweise auf eine Zunahme selbstständiger Tätigkeiten in der sogenannten Gig-Ökonomie in Deutschland. Bezogen auf amtliche Statistiken ist Crowdworking daher momentan eher ein Phantom. Erkenntnisse ergeben sich allenfalls aus Sekundärdaten. Die IG-Metall, die das Internetportal faircrowdwork.org betreibt, schätzt die Zahl der Crowdworkerinnen und Crowdworker in Deutschland mittlerweile auf gut eine Million (Jansen 2016). Im internationalen Kontext bieten allein auf der Onlineplattform Upwork in den USA – laut Selbstauskunft auf der Homepage am 27. Juli 2016 – über 12 Millionen Menschen ihre Arbeitskraft an. Offen bleibt, ob die mangelnde Erfassung von Crowdworking auf Messprobleme zurückzuführen ist: Crowdworking wird entweder als Nebenjob ausgeübt, der von den Befragten nicht als solcher deklariert wird und damit in klassischen Befragungen nicht erfasst ist. Andererseits werden Crowdworkingplattformen gegebenenfalls


A nalysen von bereits Vollzeit-Selbstständigen zusätzlich zu klassischen Wegen der Auftragssuche genutzt. Wegen der unzureichenden Datenlage ist eine Abschätzung des Status quo und der zukünftigen Entwicklung dieser neuen Erwerbsform daher bisher nicht möglich.

häufiger als deutsche Kleinstunternehmen (Mai/ Marder-Puch 2013: S. 493). Insbesondere zwischen 2003 und 2005 nahm die Zahl der ausländischen Solo-Selbstständigen zu. Brenke und Beznoska (2016: S. 23) führen dies auf die EU-Osterweiterung zurück.

3

Berufsausbildung: Selbstständige verfügen im Vergleich zu Beschäftigten im Schnitt über eine höhere berufliche Qualifikation. 2014 gehörten zur Gruppe mit dem höchsten Bildungsniveau 44,7 Prozent der Solo-Selbstständigen sowie 52,5 Prozent der Selbstständigen mit Arbeitnehmern. Die meisten Solo-Selbstständigen besitzen einen mittleren Bildungsabschluss. Auch im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Selbstständigen hierzulande gut qualifiziert sind. Im EU-Durchschnitt haben nur 31 Prozent der Selbstständigen einen höheren Bildungsabschluss.

SOZIODEMOGRAFISCHE STRUKTUR

Alter: Seit 2012 geht in nahezu allen Altersgruppen und Wirtschaftsbereichen die Zahl der Solo-Selbstständigen wieder zurück. Bemerkenswert ist, dass dies für die Gruppe der 25- bis 39-Jährigen schon seit fast zwei Jahrzehnten zutrifft (Brenke/Beznoska 2016: S. 21). Eine weiterhin wachsende Gruppe unter den Solo-Selbstständigen sind dagegen Menschen nahe am Ruhestand oder über dem gesetzlichen Renteneintrittsalter. Auch dieser Befund aus der Statistik überrascht, gewinnt man doch aus dem Feuilleton eher den Eindruck einer wachsenden jungen Gründer- und Kreativszene, die sich in Coworkingformaten als Ausdruck einer neuen Arbeits- und Lebensform tummelt. Stattdessen geht der Trend bei den Solo-Selbstständigen eher in die andere Richtung: hin zu einem Aufschieben des Ruhestands besonders durch Hochqualifizierte mit überdurchschnittlicher Vergütung, vor allem um im Rahmen einer selbstständigen Tätigkeit weiter am Berufsleben teilnehmen zu können oder auch aus der Notwendigkeit heraus, die jeweiligen Alterseinkünfte zu erhöhen (Mai/Marder-Puch 2013: S. 493). Geschlecht: Seit 1995 steigt – parallel zur Frauenerwerbstätigkeit insgesamt – die Zahl der Frauen, die selbstständig erwerbstätig sind. Der Frauenanteil bei den Selbstständigen lag 2014 bei ca. 25 Prozent, bei den Solo-Selbstständigen bei 38 Prozent. Das Gros der Selbstständigen ist demnach nach wie vor männlich (Brenke/Beznoska 2016: S. 20). Staatsangehörigkeit: Der Ausländeranteil bei Selbstständigen (10 Prozent) ist etwas höher als bei Beschäftigten (9 Prozent). 63 Prozent der Selbstständigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind soloselbstständig. Bei den Deutschen beträgt diese Quote 55 Prozent (Brenke/Beznoska 2016: S. 22). Ausländische Selbstständige betreiben daher

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WIRTSCHAFTSBEREICHE UND BERUFE

Auch in Deutschland sind Solo-Selbstständige überwiegend im expandierenden Dienstleistungssektor tätig. Die Zahl der Freiberuflerinnen und Freiberufler unter allen Selbstständigen beträgt ca. 30 Prozent (vgl. Jahresbericht BFB 2015: S. 16). Zahlenmäßig sind die meisten in der Unternehmensberatung, im Handel und im künstlerischen Bereich tätig, traditionell auch in der Landwirtschaft. Bei den Berufen der Solo-Selbstständigen gibt es eine große Bandbreite. Eine Zunahme gibt es u. a. bei Psychologinnen bzw. Psychologen, Künstlerinnen und Künstlern, Personen mit hauswirtschaftlichen Berufen, Lehrerinnen und Lehrern, Rechtspflegerinnen und Rechtspflegern, Publizistinnen bzw. Publizisten, Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, Friseurinnen und Friseuren, Kosmetikerinnen bzw. Kosmetikern, Werbefachleuten, diversen Fertigungsberufen, Technikerinnen und Technikern, Ingenieurinnen bzw. Ingenieuren und Sicherheitsberufen. Zurückgehend sind u. a. landwirtschaftliche Berufe und Gärtnerinnen bzw. Gärtner/Floristinnen bzw. Floristen, Glas-, Keramik- und Papierberufe, Händlerinnen und Händler, Vertreterinnen bzw. Vertreter, IT-Kräfte, Bürokräfte, gastwirtschaftliche Berufe, Hausmeisterinnen und Hausmeister (Brenke/Beznoska 2016: S. 26 ff.).

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A nalysen ALTERSSTRUKTUR DER SOLO-SELBSTSTÄNDIGEN (1991 – 2014) 100% 90% 80% 70%

5,3 7,6

4,6

5,0

5,3

6,1

9,7

10,1

9,5

13,3

10,3

25,0

27,3

9,6 9,5 12,8

12,4

60% 50%

15,2 32,2

40%

27,9

30% 20% 35,3

40,0

32,4

10%

23,0

65 Jahre und mehr

60 bis 64 Jahre

55 bis 59 Jahre

40 bis 49 Jahre

25 bis 39 Jahre

15 bis 24 Jahre

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

0%

50 bis 54 Jahre

Darstellung nach Brenke/Beznoska 2016: S. 21.

5 ARBEITSZEIT Entsprechend dem allgemeinen Trend in Deutschland arbeiten auch immer mehr Selbstständige – freiwillig oder unfreiwillig – in Teilzeit. Insbesondere bei den Solo-Selbstständigen ist der Anteil der Teilzeitbeschäftigten stark gewachsen und ist mit 31,3 Prozent höher als unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit 28,3 Prozent. Selbstständige mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern arbeiten dagegen deutlich weniger und nur zu 6,5 Prozent in Teilzeit. Die Höhe der Teilzeitquote unterscheidet sich generell stark nach Geschlechtern und ist auch bei den Selbstständigen sowie bei den Solo-Selbstständigen zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt: Bei den Frauen liegt hier die Quote bei 50 Prozent, von den Männern gehen dagegen lediglich 20 Prozent einer Teilzeittätigkeit nach (Brenke/Beznoska 2016: S. 31). Große Unterschiede zwischen abhängig Beschäftigten und Selbstständigen gibt es auch bei der

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täglichen Arbeitszeit: 63,8 Prozent der Selbstständigen und 41,4 Prozent der Solo-Selbstständigen haben 2014 mehr als 48 Stunden pro Woche gearbeitet, was als überlange Arbeitszeit gilt. Bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern waren es nur 12,3 Prozent (Destatis 2015: S. 1).

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VERBLEIB IN DER BESCHÄFTIGUNG Insgesamt zeichnet sich die Solo-Selbstständigkeit durch eine hohe Fluktuation aus. Alles in allem tendiert etwa nur die Hälfte der Solo-Selbstständigen dazu, längerfristig selbstständig zu bleiben. Dabei handelt es sich vor allem um Personen, die auf überdurchschnittliche Einkünfte kommen und deren Haushalte im Schnitt über ein erhebliches Vermögen verfügen. Daneben gibt es solche, für die die Solo-Selbstständigkeit eine Brückenfunktion hat oder eine Notlösung darstellt und die eigentlich eine abhängige Beschäftigung anstreben. Darüber hinaus gibt es


A nalysen zahlreiche Rentnerinnen und Rentner, die nicht auf die Erwerbseinkommen angewiesen sind, die aber, bei oft vergleichsweise geringer Arbeitszeit und hohen Stundensätzen, weiter am Erwerbsleben teilnehmen wollen. Bei Selbstständigen mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie bei abhängig Beschäftigten ist ein Statuswechsel seltener (Brenke/Beznoska 2016: S. 49 ff.).

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VERMÖGEN UND ALTERSSICHERUNG

Betrachtet man die Gruppe der Solo-Selbstständigen auf Basis der Umfragedaten des Mikrozensus, so fällt auf, dass weniger als die Hälfte von ihnen durch regelmäßige Versicherungszahlungen für das Alter vorsorgen. Das persönliche Nettovermögen von Solo-Selbstständigen ist im Mittel (Median) mit 65.000 Euro deutlich höher als das von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit 21.000 Euro. Knapp 40 Prozent der Solo-Selbstständigen verfügen über ein Gesamtvermögen von über 100.000 Euro, gut ein Drittel aber nur über ein Gesamtvermögen von weniger als 20.000 Euro (Brenke/Beznoska 2016: S. 47 ff.). Knapp ein Drittel der Solo-Selbstständigen zahlte laut Mikrozensus 2013 regelmäßig in die gesetzliche Rentenversicherung ein (als Pflichtversicherte oder freiwillig Versicherte), wobei ein Teil von ihnen zusätzlich über eine Kapitallebensversicherung verfügte, und 10 Prozent der Solo-Selbstständigen bezogen bereits eine Altersrente, womit etwas über die Hälfte keine Altersvorsorge auf diese Weise betrieb oder erhielt. Ob Personen ohne institutionelle Altersvorsorge eher über Vermögen verfügen als Personen, die über eine Versicherung vorsorgen, ist nicht bekannt.

8 EINKOMMEN Die Zunahme von Selbstständigkeit war auch durch eine Zunahme an Teilzeitarbeit sowohl bei Selbstständigen als auch bei abhängig Beschäftigten sowie durch eine sinkende Medianbruttostundenvergütung bei Solo-Selbstständigen begleitet. In Bezug auf die Vergütung gibt es aber innerhalb der Gruppe der Solo-Selbstständigen große Unterschiede und eine starke Streuung der Einkommen. Solo-Selbstständige verdienen jedoch erheblich weniger als die Selbstständigen mit Beschäftigten. Die durchschnittliche Brut-

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tostundenvergütung von Solo-Selbstständigen lag 2014 mit knapp 19 Euro rund 2 Euro über dem von abhängig Beschäftigten. In den unteren drei Vierteln der Lohnverteilung verdienen Solo-Selbstständige weniger, erst im oberen Quartil verdienen sie im Schnitt mehr als abhängig Beschäftigte. Die Medianstundenvergütung von abhängig Beschäftigten übersteigt mit 15 Euro die von Solo-Selbstständigen um rund 2 Euro (Brenke/Beznoska 2016: S. 39 ff.). Das durchschnittliche monatliche persönliche Nettoerwerbseinkommen beträgt 1.646 Euro gegenüber 1.718 Euro bei Arbeitnehmern. Die besten Einkommenslagen zeigen jedoch diejenigen Selbstständigen, die eine Arbeitnehmerin bzw. einen Arbeitnehmer beschäftigen. Sie verfügen netto über durchschnittlich 3.129 Euro.

9 ZUSAMMENFASSUNG Die Gruppe der (Solo-)Selbstständigen ist sehr heterogen. Noch am ehesten lässt sich der »durchschnittliche« (Solo-)Selbstständige des Jahres 2014 wie folgt beschreiben: Er ist eher männlich und zwischen 40 und 50 Jahre alt. Er hat einen mittleren oder höheren Berufsabschluss, arbeitet durchschnittlich 45,5 Stunden/Woche und verfügt über einen durchschnittlichen monatlichen Nettoverdienst von ca. 1.646 Euro. Oft ist er Freiberufler. Eine Altersvorsorge betreibt er nicht.

II EINDRÜCKE AUS DEN FOKUSGRUPPENDISKUSSIONEN Aufgrund der geringen Anzahl von Teilnehmenden sind die Ergebnisse der Fokusgruppendiskussionen nicht repräsentativ. Sie liefern allerdings gute explorative Informationen, aus denen mit der gebotenen Vorsicht auf verallgemeinerbare Einstellungen und Trends geschlossen werden kann. Als Besonderheit wurde dort, wo möglich, ein statistischer Abgleich der Fokusgruppen mit dem SOEP durchgeführt, der nur zu geringen Abweichungen führte. Als größten Vorteil der Selbstständigkeit betrachteten die Teilnehmenden persönliche Unabhängigkeit, und zwar sowohl hinsichtlich zeitlicher Flexibilität als auch im Hinblick auf

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A nalysen QUALIFIKATIONSSTRUKTUR VON SOLO-SELBSTSTÄNDIGEN, VON SELBSTSTÄNDIGEN MIT ARBEITNEHMERN UND VON ARBEITNEHMERN (2004, 2014) 100% 90% 80%

27,5 41,0

Hochschule; Meisterausbildung (3) Lehre, Fachschule (2)

44,7 53,8

70%

28,1

52,5

Ohne Ausbildung (1)

60% 50% 40% 30%

50,8

48,7 39,9

41,7

60,7

61,9

11,8

10,1

2004

2014

(1) ISCED 0 bis 2 (2) ISCED 3 bis 4 (3) ISCED 5 bis 6

20% 10% 0

8,1

6,6

6,2

5,8

2004

2014

2004

2014

Solo-Selbstständige

Selbstständige mit Arbeitnehmhern

eine akzeptable Work-Life-Balance sowie auf inhaltliche Entscheidungsfreiheit und eigenverantwortliches Arbeiten. An einer klassischen Festanstellung waren die meisten nicht interessiert. Unzufrieden äußerten sich Selbstständige über finanzielle Unsicherheit mit stark schwankenden Einnahmen sowie generell über zu niedrige Einkünfte, die kaum eine soziale Absicherung erlaubten. Zukunftssorgen betrafen gesundheitliche Risiken sowie Konkurrenz und Kostendruck infolge der zunehmenden Digitalisierung, erstaunlicherweise jedoch nicht die finanzielle Situation im Alter. Hier vertraute man auf vorhandene bzw. geplante Vorsorge, teils aber auch auf staatliche Sicherungssysteme wie die Grundsicherung. Das Risiko von Selbstständigen, im Ruhestand von Altersarmut betroffen zu sein, wird als vergleichbar mit dem Risiko abhängig Beschäftigter eingeschätzt. Barrieren, die dem Ergreifen geeigneter Maßnahmen zur Altersvorsorge entgegenstehen, waren aus Sicht der Selbstständigen vor allem: finanzielle Defizite (zu geringe bzw. nicht konstante Einnahmen), Hedonismus (Lebensgenuss hat Priorität vor Zukunftsabsicherung), mangelndes Problembewusstsein (abhängig von Alter, Schlüsselereignissen und Anspruchsdenken),

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Arbeitnehmer Darstellung nach Brenke/Beznoska 2016: S. 25.

mangelnde Eigenverantwortlichkeit (fehlender Finanzierungsautomatismus), Informations- und Beratungsdefizite (bezüglich Notwendigkeit und Optionen der Vorsorge) sowie fehlende Attraktivität der Vorsorgeoptionen (geringe Rendite, mangelnde Sicherheit und Flexibilität).

III FAZIT UND GESTALTUNGSVORSCHLÄGE (Solo-)Selbstständige sind eine sehr heterogene Gruppe in Bezug auf alle ausgewerteten Faktoren. Sämtliche Berufsgruppen und Bildungsabschlüsse sind vertreten. Neben der IT-Spezialistin oder dem Unternehmensberater stehen die selbstständige Reinigungskraft oder auch der Crowdworker. Selbstständigkeit ermöglicht flexiblere Erwerbs- und Lebenszeitmodelle, als dies in einer abhängigen Beschäftigung möglich wäre. Obwohl (Solo-)Selbstständige oft mehr arbeiten, netto weniger verdienen und ein größeres persönliches Risiko tragen als abhängig Beschäftigte, möchten die meisten selbstständig bleiben. Der Verlust an Sicherheit wird dabei nicht nur als negativ empfunden, sondern durch positive Faktoren wie grö-


A nalysen ßere Selbstbestimmung, mehr Spaß an der Arbeit sowie bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf wettgemacht. Problematisch ist, dass die Altersvorsorge in Form regelmäßiger Versicherungszahlungen (in die Rentenversicherung oder private Vorsorge) vor allem bei den Solo-Selbstständigen an Bedeutung verloren hat. Nicht einmal mehr die Hälfte sorgt für das Alter vor. Das System der gesetzlichen Rentenversicherung ist primär ein Sicherungssystem für abhängig Beschäftigte, die generell als schutzbedürftig angesehen werden. Dabei geht es um den Schutz der Betroffenen vor (zu großen) Versorgungsdefiziten im Alter, aber auch um den Schutz der Gesellschaft bzw. des Staats vor sonst nötigen Grundsicherungs- oder Fürsorgeleistungen. Immerhin sind mehr als 10 Prozent der Erwerbstätigen selbstständig tätig und nur die wenigsten zahlen in ein Pflichtsystem ein. Aufgrund ihrer Einkommens- und Vermögenslage zeigt sich bei vielen Solo-Selbstständigen ein hohes Risiko für Altersarmut und daher ein gleicher Schutzbedarf wie bei abhängig Beschäftigten, sodass über eine obligatorische Einbezie-

hung von Selbstständigen in die Alterssicherungssysteme nachgedacht werden sollte. Allein das Merkmal »solo« ist dabei – wie die Heterogenität der Gruppe aller Selbstständigen zeigt – kein geeignetes Differenzierungsmerkmal in Bezug auf eine Pflicht zur Versicherung; vielmehr treffen Risiken und Unsicherheiten alle Selbstständigen gleichermaßen. Deshalb sind auch abhängig Beschäftigte unabhängig von ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit in ein Pflichtversicherungssystem einbezogen. Allerdings muss eine wirtschaftliche Überforderung der Selbstständigen vermieden werden. Zu diesen und weiteren bestehenden Problemen und möglichen Lösungen in der Frage des sozialen Schutzes von (kleineren) Unternehmen und Selbstständigen findet noch in diesem Herbst das Themenlabor »Arbeiten 4.0 – BMAS im Gespräch mit Solo-Selbstständigen, Gründern und kleineren Unternehmen« statt. Diskutiert werden sollen neben der Alterssicherung einschließlich der Absicherung des Risikos der Erwerbsminderung auch die Arbeitslosenversicherung, ferner Weiterbildung und Qualifizierung sowie Entgeltsicherung und kollektive Interessenvertretung.

LITERATUR Apt, Wenke/Bovenschulte, Marc/Hartmann, Ernst A./ Wischmann, Steffen (2016): Foresight-Studie »Digitale Arbeitswelt«, BMAS-Forschungsbericht 463. Brenke, Karl (2013): Allein tätige Selbständige: starkes Beschäftigungswachstum, oft nur geringe Einkommen, DIW-Wochenbericht 7, S. 3 – 16. Brenke, Karl/Beznoska, Martin (2016): Solo-Selbständige in Deutschland – Strukturen und Erwerbsverläufe, BMAS-Forschungsbericht 465. Fahmy, Melanie/Matthes, Anselm/Scholz, Christiane (2016): Diskussion in Fokusgruppen: »Alterssicherung (Solo-)Selbständiger«, Kurzexpertise Nr. 17 im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, unveröffentlicht.

Katz, Lawrence F./Krueger, Alan B. (2016): The Rise and Nature of Alternative Work Arrangements in the United States, 1995 – 2015, vom 29. März 2016, nur online veröffentlicht. Abruf am 1. August 2016: http://scholar.harvard.edu/files/lkatz/files/ katz_krueger_cws_v3.pdf Mai, Christoph-Martin/Marder-Puch, Katharina (2013): Selbstständigkeit in Deutschland, in: Wirtschaft und Statistik, H. 7, S. 482 – 496. Schulze Buschoff, Karin (2016): Solo-Selbstständigkeit in Deutschland. Aktuelle Reformoptionen, WSI Policy Brief 4. Statistisches Bundesamt (Destatis) (2015): Jeder zweite Selbstständige in Vollzeit mit überlanger Arbeitszeit. Pressemitteilung, 3. November 2015 – 403/15.

Jahresbericht (2015): Bundesverband der Freien Berufe e.V. (BFB) Jansen, Jonas (2016): Auftragsarbeit für ein paar Cent, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Mai 2016.

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A nalysen

SCHAFFEN NEUE ARBEITSFORMEN NEUE BEZIEHUNGSFORMEN? Josephine Hofmann

Waren Organisationen des letzten Jahrhunderts durch klare zeitliche und räumliche Grenzen gekennzeichnet, so lassen sich Organisationen der Netzwerkökonomie eher als offene Wertschöpfungsnetzwerke charakterisieren. Vor allem die von jedem Ort und zu jeder Zeit ausführbare informations- und kommunikationsintensive »Wissensarbeit« verstärkt die Tendenz zur organisationalen Entgrenzung. Was bedeutet das für die Arbeitsbeziehungen von Beschäftigten und Führungskräften?

ZUR EMPIRISCHEN RELEVANZ DER FRAGESTELLUNG Die Arbeitswelt 4.0 verändert nicht nur die Art, was, wie und wo wir arbeiten, sie tangiert auch das Beziehungsgeflecht zwischen Kolleginnen und Kollegen, Führungskräften und Kundinnen und Kunden. Um die Relevanz dieser Veränderung herauszuarbeiten, lohnt es, die beobachtbare Realität genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Anteil der Wissensarbeit, also hochkommunikativer, ergebnis- und prozessoffener Leistungen, nimmt zu. Damit steigen die Bedeutung der Mitarbeitenden, die diese Arbeit ausführen können, und die Abhängigkeit von ihrer Bereitschaft, ihr Wissen zum Wohl der Organisationen und Unternehmen einzusetzen und weiterzugeben. In der Konsequenz rücken Wissensarbei-

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tende stärker ins Zentrum betrieblicher Wertschöpfung und nicht zuletzt in den Aufmerksamkeitsfokus von Personalverantwortlichen. Die demografische Gesamtentwicklung macht klar, dass in Zukunft hoch qualifizierte Arbeitskräfte ein knapper werdendes Gut sind. Wissensarbeit ist per definitionem informations- bzw. wissensintensiv, d. h. auch, sie kann in großem Umfang durch digitale Arbeitsmittel unterstützt werden. Aus vielen Untersuchungen in Unternehmen wissen wir zudem, dass rund zwei Drittel der Arbeitszeit eines Wissensarbeitenden aus Kommunikation und Zusammenarbeit mit anderen, etwa persönlichen Besprechungen, Rücksprachen, Kundenkontakten, Telefonaten, dem Lesen und Verfassen von E-Mails, der Vorbereitung und Durchführung größerer Sitzungen etc. bestehen. Beide Fakten sprechen für eine weitgehende Flexibilisierbar- bzw. Virtualisierbarkeit dieser Tätigkeiten: Sie setzen


A nalysen keine unmittelbare physisch-räumliche Präsenz mehr voraus. Der »Anytime, anyplace«-Modus der Arbeit wird breit gelebter Alltag (Hofmann 2013). Leistungsfähige Informations- und Kommunikationsplattformen, der Einsatz von Social Media, die auf unterschiedlichsten Kanälen Kommunikation und (virtuelle) Begegnung möglich machen, unterstützen diese Tendenz. Die Flexibilisierung kennt viele Ausprägungen: Neben den Formen der unternehmensinternen Flexibilisierung durch räumlich und zeitlich entgrenzte Tätigkeiten (Telearbeit, mobile Arbeit, Teilzeitformen etc.) sowie standortübergreifende virtuelle Teamintegration gehört hierzu die zeitlich begrenzte Integration externer Spezialistinnen und Spezialisten von Solo-Selbstständigen bzw. Freelancerinnen und Freelancern bis hin zu Crowdworkern, die ihre Ressourcen »aus der Cloud« bzw. über spezifische Plattformen anbieten. Führungslinien werden in diesen komplexer werdenden Netzwerk- und Organisationsmodellen immer stärker gesplittet und mehrdeutig (Hofmann/Noestdal 2014). So wird es gerade in immer globaler arbeitenden Unternehmen üblich, ein- und derselben Führungskraft disziplinarische Führungsfunktion für eine bestimmte (örtlich nähere) Gruppe von Personen zu geben und sie gleichzeitig weltweit verstreute Expertinnen und Experten des Unternehmens fachlich steuern zu lassen – Expertinnen und Experten, deren disziplinarische Führung wiederum einer vor Ort agierenden Führungskraft obliegt. Eine Situation, die nicht nur die Führungsspannen als solche dramatisch nach oben treibt, sondern – wie alle matrixähnlichen Strukturen – sehr häufig mit überlagerten Verantwortlichkeiten und Loyalitätskonflikten einhergeht (Bonnet/Hofmann/Schmidt/ Wienken 2015).

WAS SIND DIE BEZIEHUNGSSEITIG WICHTIGSTEN KONSEQUENZEN DER ZUNEHMENDEN ZEITLICHEN UND RÄUMLICHEN ENTGRENZUNG DER ORGANISATIONEN? MEHR AUFWAND – UND DADURCH TENDENZIELL VERARMUNG VON KOMMUNIKATION UND INTERAKTION Unsere anwendungsorientierte Forschung hat gezeigt, dass bei allem Mehr an Kommunikation im

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heutigen Büroalltag – etwa durch die viel beklagte E-Mail-Flut oder eine Überzahl an »Meetings« – der eigentliche Austausch zwischen Personen in solchen flexibilisierten Arbeitskontexten häufig nachlässt. Das hat naheliegende Gründe: Nicht selten gilt gerade »Ungestörtheit« durch räumliche Entfernung etwa im Homeoffice als Gestaltungsziel. Zudem bedeutet jegliche Mediennutzung bis heute Mehraufwand und erfordert eine Medienkompetenz, über die nicht jeder verfügt. E-Mails müssen geschrieben, möglicherweise weitergeleitet oder archiviert werden, es gilt, Videokonferenzen zu aktivieren und sinnvoll zu nutzen, auch Chatforen oder Audiokonferenzen erfordern einen gewissen Initialisierungsaufwand und Bedienungsgeschick und werden von Menschen, die nach eher klassischen Prinzipien der Büroorganisation sozialisiert wurden, gerne vermieden. Die mediale Vermittlung verändert überdies die Mikroorganisation von Interaktionen: Teammeetings, die über technische Medien ablaufen, erfordern beispielsweise andere Moderationsformen als Zusammenkünfte in Konferenzräumen.

BEHARRUNGSKRAFT DER PRÄSENZORIENTIERUNG Wir sind es schlicht noch nicht gewöhnt, im Wesentlichen über technische Medien zusammenzuarbeiten. Noch immer ist es so, dass in vielen Unternehmen direkte Führung, Anleitung und Rückmeldung, Zusammenarbeit »über den Schreibtisch« oder »über den Gang« erfolgt, und dies nicht selten spontan. Hier ist in entgrenzten, flexiblen Arbeitskontexten ein Umdenken erforderlich: Besprechungen mit physischer Anwesenheit müssen längerfristig geplant oder eben doch über neue Telemedien abgewickelt werden. Besprechungsinhalte müssen für diejenigen, die nicht teilnehmen können, zeitnah dokumentiert und nachvollziehbar gemacht werden. Zudem sind wir es gewöhnt, viele Informationen in »normalen« Arbeitsumgebungen quasiautomatisch aufzunehmen, ohne dass wir uns hierfür anstrengen müssen. Wir lesen morgens auf den ersten Blick im Gesicht des Kollegen, dass er möglicherweise private Probleme hat; der übervolle Schreibtisch oder die geschlossene Bürotür signalisieren hohe Arbeitsbelastung oder einfach »bitte nicht stören«, das kurze Gespräch am Kaffeetresen ist wichtig

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A nalysen für den informellen Austausch, die Bindung der Menschen an die Organisation und den Arbeitsbereich, nicht zuletzt auch für das Generieren neuer Ideen und Kooperationen. Ein großer Teil dieser unmittelbaren Informationswahrnehmung und Kommunikation geschieht beiläufig und wird von uns quasi unbemerkt »mit erledigt«.

AUS DEN AUGEN, AUS DEM SINN? Unsere Erfahrung zeigt überdies: Mitarbeiter, die weiter »weg« sind, geraten bei Führungskräften und Kolleginnen und Kollegen, die den Umgang mit virtuellen Arbeitsteams nicht gewohnt sind, leicht aus dem Blick. Das heißt zugespitzt: Wo macht man Karriere in den Organisationen? Wo und wie fällt man den Entscheiderinnen und Entscheidern auf? Wie viel physische Präsenz, wie viel Small Talk im Aufzug ist wichtig? Wer kann die Minuten auf dem Weg vom Sitzungsraum nach draußen nutzen, um der Geschäftsführerin oder dem Geschäftsführer die eigene Idee persönlich zu erläutern? Räumliche Trennung kann dazu führen, dass die Betreuung von Mitarbeitenden abnimmt oder gute Talente »unsichtbar« bleiben und nicht gefördert werden. Das entspringt in der Regel keiner schlechten Absicht, sondern offenbart die starke Gewöhnung an und Sozialisierung in präsenzorientierten Arbeitssettings. Dementsprechend ist die Veränderung weg von einer präsenzorientierten hin zu einer vertrauensorientierten Arbeitskultur eine wesentliche Aufgabe im Übergang zu flexiblen Arbeitskontexten.

ZUSÄTZLICHE KOMPLEXITÄT DURCH INTERKULTURALITÄT UND DIVERSITÄT Technik macht vieles möglich, aber sie muss geplant, diszipliniert, im richtigen Maß und in der richtigen Mischung von virtueller Kommunikation und »realem» Miteinander angewandt werden. Theorien der Mediennutzung erklären den zusätzlichen Befund, dass die beschriebenen Effekte bei zunehmender Diversität der Beteiligten eher größer werden. Diese Problematik verschärft sich noch einmal, je größer der Anteil von Teamangehörigen wird, die nicht fest zur Firma gehören, sondern als Freelancerinnen oder Freelancer, Cloudworker etc. integriert werden. Zusammenarbeit gerade über Distanz braucht

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Vertrauen – dieses aber baut sich wesentlich vor dem Hintergrund gemeinsamer Erfahrungen und Erlebnisse auf.

GRENZEN DER ENTGRENZUNG? Ein Schlaglicht auf die Frage nach den Grenzen der Entgrenzung warf eine viel beachtete Aktion der Yahoo-Chefin Marissa Meyer im Jahr 2013. Per Rundmail beorderte sie sämtliche Mobile Worker der Firma von heute auf morgen zum Wiederantritt in die firmeneigenen Büros (Bund 2013). Begründet wurde dies mit der schwierigen Lage des Unternehmens, die eine lokale Bündelung der kreativen Kräfte notwendig mache. Über diese Aktion und ihre möglicherweise weiter im Hintergrund liegenden Gründe ist in der Presse viel spekuliert worden – sie legt aber in jedem Fall den Finger auf die Wunde bezüglich der Frage, für welche Organisation mit welchem digitalen Reifegrad welches Ausmaß an Flexibilisierung vertretbar erscheint. Welcher Mehraufwand wird erzeugt, wie viel kommunikative Disziplin in der medial unterstützten Kommunikation ist erforderlich, was macht ein großes Maß an Entgrenzung mit der Identifikation von Einzelnen mit der Arbeitsgruppe oder der Organisation? Wir wissen: Mitarbeitende brauchen ein gemeinsames Ziel und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sie auch zu außergewöhnlichen Arbeitsleistungen motivieren kann.

VERÄNDERTE FÜHRUNGSAUFGABEN Die veränderten kommunikativen Anforderungen bilden sich auch im Führungsalltag ab. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO), der Bertelsmann Stiftung und von zehn Unternehmen beschäftigte sich in den Jahren 2013 bis 2015 explizit mit den Veränderungen, die grenzenlose Arbeitswelten für Führungskräfte mit sich bringen. Aufgrund der Befragung von 2500 Führungskräften und 40 ausführlichen Gesprächen mit diesen wurde untersucht, wie sich der Führungsalltag in einer flexiblen Arbeitswelt gestaltet, wie Flexibilisierung tatsächlich gelebt wird, was die Realisierung moderner Arbeitsformen für die Führungskräfte bedeutet und wie die Führungskräfte deren Wirkungen einschätzen. Das Ergebnis zeigt unter


A nalysen anderem, dass die Anforderungen an das Kommunikationsverhalten quantitativ wie qualitativ deutlich gewachsen sind. Wie die Studie feststellt, sind flexible Arbeitsformen für Führungskräfte mit einem deutlich höheren Kommunikationsund Koordinationsaufwand verbunden. Explizite und dauerhafte Kommunikation, so zeigten die empirischen Ergebnisse, ist Voraussetzung für die reibungslose Zusammenarbeit und den Zusammenhalt der Arbeitsbereiche. Dabei muss diese Kommunikations- und Informationsarbeit viel leisten: Abstimmung, Orientierung, die Weitergabe von Informationen, aber auch das Anbieten einer Plattform für soziale Beziehungen, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung. Mitarbeitende wollen »gesehen werden« – in ihrer Arbeitsleistung, aber auch als individuelle Personen mit sozialen Bedürfnissen (Bonnet/Hofmann/Schmidt/ Wienken 2015). Diesen unterschiedlichen Aufgaben über zunehmend IT-basierte Kommunikationskanäle gerecht zu werden, erfordert aktives Bespielen einer vielfältigen Klaviatur: von E-Mails bis zu Telefonkonferenzen, vom persönlichen Blog bis zur kurzfristigen Videokonferenz. Wie die Studie ebenfalls zeigen konnte, sind die Beteiligten dafür unzureichend vorbereitet.

WAS MUSS SICH ÄNDERN? INSPIRATION, ORIENTIERUNG, ENTWICKLUNG UND BINDUNG STATT KONTROLLE UND ANWEISUNG Die Flexibilisierung der Arbeitswelt fällt vor dem Hintergrund veränderter Erwartungen und Werte der Mitarbeitenden mit einer Diskussion über das Selbstverständnis von Führung und ihrer Legitimation zusammen. Eine Arbeitsgesellschaft, die Selbstbestimmung und Individualisierung immer mehr zum Leitbild erhebt und von selbstbewussten Nachwuchskräften geprägt wird, stellt auch Aufgaben und Sinnhaftigkeit von Führung infrage. Die Generation der Digital Natives hinterfragt klassische Autoritätsmuster zunehmend und fordert Teilhabe und Beteiligung. Ist klassische, hierarchische Führung in diesem Kontext überhaupt noch nötig? Worin besteht diese Führungsarbeit? Wer ernennt, entlässt oder befördert Führungskräfte in welche Positionen? Gibt

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es »Haltbarkeitsdaten« für Führungskräfte, und wenn ja, müssten dann nicht Führungsaufgaben immer wieder neu vergeben werden? (Korge/Buck/ Stolze 2016). Diskutiert wird einerseits in Richtung demokratischerer Strukturen und einer Abkehr von hierarchischen Führungskonzepten. Andererseits betonen Forschung und Praxis den Wert charismatischer und führungsstarker Persönlichkeiten. Diese leisten demnach gerade in einer volatilen und unsicheren Unternehmensumwelt persönliche wie strategische Orientierung, sie stellen Identifikationspunkte dar und definieren sich als Entwicklungspartner ihrer Mitarbeitenden (Gebhard/Hofmann/Roehl 2015). In jedem Fall werden hierarchische Weisungslinien und rein top-down-orientierte Managementprinzipien in

»Medienkompetenz wird zur Schlüssel­ qualifikation.« ihrer Bedeutung abnehmen. Sie können die tatsächlichen Führungsbedarfe in flexibilisierten, vernetzten und sich schnell wandelnden Arbeitswelten nicht mehr befriedigen. Als Kernführungsaufgaben können dagegen Orientierung und Inspiration, eine chancenorientierte Begleitung von Mitarbeitenden im Sinne der Ressourcenentwicklung sowie Einbindung und Loyalitätssicherung definiert werden. Bei der Ausgestaltung von Führungsbeziehungen wird eine neue Balance in der kommunikativen Beziehung zwischen Mitarbeiter oder Mitarbeiterin und Führungskraft notwendig werden, insbesondere bei der Nutzung technischer Kommunikationsmedien, dem Austarieren von räumlicher Nähe und virtueller Begegnung, der Gewährung von Flexibilität bei gleichzeitiger Vermeidung von Überlastung und ungesunder Entgrenzung. Mitarbeitende, die in der flexibilisierten Arbeitswelt zunehmend eigenständig arbeiten, müssen im richtigen Maß gefördert, angeleitet, aber auch »freigelassen« werden, damit sie ihr Potenzial entfalten können.

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A nalysen MEDIENKOMPETENZ ALS SCHLÜSSELQUALIFIKATION DER ZUKUNFT In grenzenlosen Arbeitswelten wird somit Medienkompetenz zur Schlüsselqualifikation, und zwar sowohl im Sinne eines echten Bedienwissens als auch im Sinne der Kenntnis der Wirkung unterschiedlicher Medien. Wenn auch technisch vieles bereits realisierbar ist, zeigt die tatsächliche Stabilität und Bedienungsfreundlichkeit der eingesetzten technologischen Lösungen immer noch Schwächen. Gescheiterte Zugriffe auf zentrale Server, die unterbrochene Videokonferenz oder eine unzumutbare Sprachqualität in der Telefonkonferenz sind Faktoren, die die Konzentration der Nutzenden schnell vermindern. Bis heute kommt professionelle Kommunikation mittels dieser Medien kaum je in Trainingsprogrammen vor. Vermittelt wird maximal das Wissen, das es braucht, um die Technologien in Gang zu bringen, aber nicht, wie sie dann für eine befriedigende und zielführende Kommunikation und Kooperation verwendet werden. Das ist aus Sicht des IAO eine Vergeudung von Potenzial. Wer bereits mehrfach in einer schlecht moderierten Telefonkonferenz gesessen und miterlebt hat, wie störende Nebengeräusche, technisch überforderte Gesprächsteilnehmer oder abweichende Gesprächsgepflogenheiten vom eigentlichen Gesprächsziel ablenken, weiß, welche Produktivitätsreserven hier noch zu heben sind. Vermittelt werden muss dieses Bedienwissen für die Nutzung von Telemedien ebenso wie spezielle Moderations- und Gesprächstechniken, die auf die Besonderheit der medialen Unterstützung eingehen. Dazu gehört auch, dass interkulturelle Unterschiede gekannt und beachtet werden (Hofmann 2013).

FLEXIBILISIERUNG BRAUCHT DISZIPLIN: GLEICHKLANG VON SELBSTVERWIRKLICHUNG UND SELBSTVERANTWORTLICHKEIT DER BESCHÄFTIGTEN Digitalisierung ermöglicht Flexibilisierung von Arbeit, insbesondere in Bezug auf Zeit und Ort der Leistungserbringung. Besonders was die Entgrenzung von Berufs- und Privatleben betrifft, können jedoch wie beschrieben auch neue Belastungen auftreten, die individuell wie organisationsbezogen negative Effekte haben: dann

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nämlich, wenn das Privatleben der Beschäftigten systematisch zur Restgröße verkommt, wenn Führungskräfte ihrem Führungsauftrag nicht mehr nachkommen können, wenn Engagement und Teamgeist leiden, einzelne Mitarbeitergruppen übermäßig beansprucht werden oder die Serviceund Arbeitsqualität eines Bereichs an der Kundenschnittstelle leidet. Flexibilisierung, so schlussfolgern wir, erfordert ein hohes Maß an Disziplin aller Beteiligten, eine teambezogene Ausgestaltung sowie ein hohes Maß an Selbstverantwortlich-

»Mitarbeitende verlangen nach ernsthafter Einbindung und Beteiligung.« keit der Beschäftigten (Hofmann 2015). Je flexibler gearbeitet wird, umso disziplinierter und wechselseitiger aufeinander bezogen muss die Arbeit zwischen den Beteiligten organisiert werden. Anders formuliert: Flexibilisierungsnehmer und Flexibilisierungsgeber müssen in einem immer wieder zu justierenden Aushandlungsprozess interagieren.

RENAISSANCE DER PERSÖNLICHEN BEGEGNUNG Wo persönliche Begegnung seltener wird, kann sie in Zukunft bewusster gestaltet und zunehmend als Auszeichnung verstanden werden. Die unvergleichbaren Möglichkeiten des sozialen Kontakts und des zufälligen Zusammentreffens in gemeinsam genutzten Räumlichkeiten werden heute nicht zuletzt in den immer häufigeren Co-Working-Centers sichtbar, obwohl – oder weil – diese auch Personen zusammenführen, die nicht in derselben Firma arbeiten. Wir wissen: Freelancerinnen und Freelancer als bisherige Hauptzielgruppe dieser Angebote schätzen die gebotene Infrastruktur, die gemeinsam effizient genutzt


A nalysen werden kann, sowie die ermöglichte Trennung von Berufs- und Privatleben, sie schätzen aber auch das Element der persönlichen Begegnung. Der Aufschwung der Co-Working-Centers als »Fortsetzung von Facebook im realen Raum« (Zitat eines Co-Workers) verstärkt unsere Einschätzung, dass dem direkten sozialen Kontakt viel Innovation und Dynamik innewohnen kann und diese Orte nicht zuletzt eine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bieten können. Diese Erkenntnis fördert auch entsprechende Gestaltungsanstrengungen verantwortlicher Facility-Managerinnen bzw. Facility-Manager und Unternehmensentscheiderinnen und Unternehmensentscheider. Es ist eben kein Widerspruch, dass sich Unternehmen wie Microsoft, die neben der Vertrauensarbeitszeit auch den Vertrauensarbeitsort definiert haben, mithin maximale Flexibilität anbieten, in diesen Tagen eine neue Firmenzentrale in München-Schwabing eröffnen, deren Gestaltung vor allem Begegnung, Kommunikation, Innovation und Zusammenhalt befördern soll (Kutsche 2016).

BETEILIGUNG – ANSPRUCH UND ORGANISATORISCHE CHANCE: Mitarbeitende verlangen, nicht anders als die Bürgerin und der Bürger in der Bürgergesellschaft, nach ernsthafter Einbindung und Beteiligung. In der vernetzten Welt, in der soziale Medien zum wichtigsten Aufenthaltsort der nachwachsenden Generationen werden und in der Wertschöpfung in verketteten Wertschöpfungsnetzen realisiert wird, gehören schnelle Information und direkte, unhierarchische Kommunikation zwischen verschiedensten Beteiligten zu den »Grundnahrungsmitteln«, die sowohl in politischen Prozessen als auch arbeitsbezogenen Lebenswelten erwartet werden und die ungeheure Mobilisierungskräfte freisetzen können. Daher sollte auch die Gestaltung der Arbeitswelt von einer möglichst weitgehenden Beteiligungsorientierung geleitet werden. Das scheint gerade angesichts der zunehmenden Entgrenzung von Arbeits- und Privatleben mehr als legitim.

LITERATUR Bonnet, Petra/Hofmann, Josephine/Schmidt, Carsten/ Wienken, Valerie (2015): Die flexible Führungskraft. Strategien in einer grenzenlosen Arbeitswelt, Gütersloh. Bund, Kerstin (2013): Marissa Mayers Schritt zurück, http://www.zeit.de/2013/25/yahoo-home-office Gebhard, Birgit/Hofmann, Josephine/Roehl, Heiko (2015): Zukunftsfähige Führung. Die Gestaltung von Führungskompetenzen und -systemen, Gütersloh. Hofmann, Josephine (2013): Führung in der virtuellen Arbeitswelt, in: Funk, Jürgen/Hummel, Nora/Schack, Axel (Hrsg.): Arbeitsleben 3.0 – Erfolg in einer veränderten Welt. 9. Wiesbadener Gespräche zur Sozialpolitik, Frankfurt/M., S. 216 – 229.

Hofmann, Josephine (2015): Führen in komplexen Zeiten. So bereiten Chefs ihre Mitarbeiter auf den Wandel vor, in: Süddeutsche Zeitung (Hrsg.): Im digitalen Zeitalter führen. Wirtschaftsgipfel 2015, S. 68 – 72. Korge, Gabriele/Buck, Susanne/Stolze, Dennis (2016): Die Digital Natives: Grenzenlos agil?, Stuttgart. Online unter: http://www.businessmanagement.iao. fraunhofer.de/kaicontent/dam/kai/de/documents/ 2016_Fraunhofer_IAO_KAI_Digital_Natives_Agile_ Working_Korge_Buck_Stolze.pdf Kutsche, Katharina (2016): So sieht es bei Microsoft Schwabing aus, online unter: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/neue-zentraleso-sieht-es-bei-microsoft-in-schwabing-aus-1.2998007

Hofmann, Josephine/Noestdal, Rita (2014): Einsatz, Bedeutung und rechtliche Stellung von externen Spezialisten in Organisationen, Stuttgart.

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GENDER GAPS. WARUM WIR ÜBER ZEIT SPRECHEN MÜSSEN Lena Hipp und Friederike Molitor

Unterschiede in der Erwerbstätigkeit zwischen Männern und Frauen haben sich in den letzten Jahrzehnten massiv verringert. Arbeitsmarktungleichheiten bestehen dennoch fort. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stehen vor der Herausforderung, Frauen und Männern, insbesondere auch Müttern und Vätern, eine partnerschaftliche Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zu ermöglichen.

Betrachtet man die Entwicklung der Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern über die Zeit, so scheinen sich Geschlechterungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt allmählich verringert zu haben: Waren Mitte der 90er-Jahre rund 55 Prozent der Frauen im erwerbsfähigen Alter erwerbstätig, so liegt dieser Anteil mittlerweile bei knapp 70 Prozent. Damit hat sich der Unterschied in der Erwerbstätigenquote zwischen Männern und Frauen in den letzten 25 Jahren fast um die Hälfte verringert und beträgt nunmehr weniger als 10 Prozentpunkte (WSI 2015). Dennoch besteht weiterhin Handlungsbedarf. Frauen – ganz besonders Mütter – erfahren trotz ihrer steigenden Erwerbsbeteiligung weiterhin massive Nachteile auf dem Arbeitsmarkt. Sie sind noch immer seltener und mit durchschnitt-

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lich weniger Stunden erwerbstätig als Männer (»Gender Time Gap«). Betrachtet man die Gruppe der 25- bis 54-Jährigen – also diejenigen Personen, die zu hohen Anteilen ihre Ausbildung abgeschlossen, aber das rentenfähige Alter noch nicht erreicht haben –, so liegt die Differenz bei den erwerbstätigen Personen bei zehn Wochenarbeitsstunden (erwerbstätige Frauen arbeiten im Schnitt 31, erwerbstätige Männer 41 Stunden pro Woche). Diese geschlechtsspezifische Arbeitszeitdifferenz vergrößert sich um zwei weitere Stunden, wenn nicht nur die derzeit erwerbstätige Bevölkerung, sondern alle Personen im Alter von 25 bis 54 Jahren einbezogen werden (Europäische Arbeitskräfteerhebung 2014, eigene Berechnungen). Kürzere Arbeitszeiten und längere Erwerbsunterbrechungen gehen mit niedrigeren Ein-


A nalysen kommen und weniger Aufstiegschancen einher. Außerdem sind »typische Frauenberufe« deutlich schlechter entlohnt als »typische Männerberufe«. All dies trägt zu einer erstaunlich beharrlichen Lohnlücke zwischen Männern und Frauen (»Gender Pay Gap«) von derzeit durchschnittlich 21 Prozent bei (Destatis 2016a). Die aktuellsten Auswertungen der Verdienststrukturerhebung zu Berufen zeigen, dass beispielsweise vollzeitbeschäftigte Zahntechnikerinnen mit einem durchschnittlichen Bruttomonatslohn von 2.022 EUR sogar 31 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen (2.920 EUR) verdienen. Die Einkommen vollzeitbeschäftigter Bankfachmänner liegen mit 4.931 EUR pro Monat im Schnitt 29 Prozent über dem durchschnittlichen Monatseinkommen von Bankfachfrauen (3.499 EUR) (Destatis 2013). Selbst unter der unrealistischen Annahme, dass Männer und Frauen unter den aktuellen Bedingungen in gleichem Umfang und in denselben Berufen erwerbstätig sind, bleibt ein sogenannter bereinigter Gender Pay Gap von sieben bis acht Prozent bestehen (Allmendinger 2014; Hipp/Molitor 2016; Allmendinger/von den Driesch 2015; ADS 2015, 2016). Im Zusammenspiel mit Teilzeitarbeit und familienbedingten Erwerbsunterbrechungen akkumulieren sich die niedrigeren Einkommen von Frauen im Laufe des Erwerbslebens und sind ursächlich für deren deutlich geringere Alterseinkommen. Derzeit wird dieser »Gender Pension Gap« auf 43 Prozent in Westdeutschland und auf 12 Prozent in Ostdeutschland beziffert (Allmendinger/von den Driesch 2015). Für Gesamtdeutschland beträgt die Rentenlücke 38 Prozent (Statistik der deutschen Rentenversicherung 2015: 124 f., eigene Berechnung). Durch ihre Erwerbsbiografien und die daraus resultierenden geringeren Rentenansprüche sind Frauen auch in stärkerem Maße von einem Altersarmutsrisiko betroffen. Laut Statistischem Bundesamt sind 17 Prozent der Frauen im Rentenalter armutsgefährdet, während es knapp 13 Prozent der Männer sind (Destatis 2014). Neben der weiterhin notwendigen Diskussion um die ungleiche Bezahlung gleichwertiger Arbeit ist es daher unabdingbar, über das Thema Zeit und speziell über die Unterschiede in den Erwerbsarbeits- und Familienarbeitszeiten von Männern und Frauen zu sprechen.

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DER GENDER TIME GAP IN BEZAHLTER UND UNBEZAHLTER ARBEIT Eine im vergangenen Jahr am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) durchgeführte Studie zeigt, dass große Geschlechterunterschiede bei der Erwerbsarbeit fortbestehen: Frauen in Paarbeziehungen im Alter zwischen 25 und 54 Jahren arbeiten im Schnitt rund 16 Wochenstunden weniger als ihre Partner (→ Abbildung 1, S. 68); bei Paaren mit Kindern ist dieser Unterschied noch ausgeprägter. Damit gehört Deutschland im europäischen Vergleich zu den Ländern, in denen sich die wöchentlichen Arbeitszeiten von Frauen und Männern in Paarbeziehungen besonders stark unterscheiden. Nur in Italien und Malta sind die Unterschiede noch größer (Hipp/Leuze 2015).

»In Deutschland unterscheiden sich wöchentliche Arbeitszeiten in Paarbeziehungen besonders stark.« Die ungleiche Verteilung von bezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen spiegelt sich auch in der ungleichen Verteilung unbezahlter Arbeit wider. Die aktuellen Daten der deutschen Zeitverwendungsstudie zeigen, dass Männer in Deutschland im Schnitt rund 19 und Frauen rund 29 Stunden pro Woche für Haus- und Familienarbeit aufbringen; betrachtet man nur Eltern, vergrößert sich der durchschnittliche Unterschied auf mehr als 18 Wochenstunden (Destatis 2015a). Auch hinsichtlich der Frage, wer aufgrund von Kinderbetreuung oder der Pflege von Angehörigen aus dem Erwerbsleben aussteigt, zeigen sich weiterhin große Unterschiede zwischen den Geschlechtern (Hipp/Molitor 2016). Insgesamt

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DURCHSCHNITTLICHE WÖCHENTLICHE ARBEITSZEITUNTERSCHIEDE INNERHALB VON PAARBEZIEHUNGEN IM INTERNATIONALEN VERGLEICH

0

MT IT GR NL DE LU ES UK AT IE BE CZ US CY SK HU EE RO PL PT FI SE DK LV LT BG SI

-2,7

-5

-3,9

-10

-8,1 -8,2

-6,9

-7,3

-3,1

-2,5

-6,2 -6,1

-8,6 -8,4

-9,7 -12 -12

-15

-14 -14 -16 -16 -16

-15 -15

-14

-11

-13

-25

-20

-19

-30

-26

Quelle: Hipp/Leuze 2015. Eigene Berechnung auf Grundlage von EU LFS, CPS IPUMS 2011. Altersbeschränkung auf 25 bis 54 Jahre. N = 399.540.

Abbildung 1

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A nalysen nehmen Frauen nicht nur häufiger, sondern auch deutlich länger Elternzeit: Während 96 Prozent der Mütter im Jahr 2014 Elterngeld beanspruchten, waren es lediglich rund 34 Prozent der Väter (Destatis 2016b). Außerdem nehmen knapp 80 Prozent der Väter mit Elterngeldbezug nur die beiden Monate in Anspruch, die andernfalls verfallen würden. Damit liegt der Bundesdurchschnitt der Elterngeldbezugsdauer bei Vätern derzeit bei ca. drei Monaten, bei Müttern hingegen bei knapp zwölf Monaten (Destatis 2015b).

DISKREPANZ ZWISCHEN WUNSCH UND WIRKLICHKEIT Die ungleiche Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit entspricht jedoch in vielen Fällen nicht den Wünschen von Müttern und Vätern. Während Vollzeit arbeitende Eltern – sowohl Mütter als auch Väter – gerne weniger arbeiten würden, möchten teilzeiterwerbstätige und nicht erwerbstätige Eltern gerne mehr arbeiten. Unsere Auswertungen einer Zusatzerhebung zur Befragung »Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten« (AID:A II) des Deutschen Jugendinstituts (DJI) aus dem Jahr 2015 zeigen: Vollzeiterwerbstätige Väter mit Kindern bis zu zwölf Jahren arbeiten derzeit durchschnittlich rund 44 Stunden pro Woche, würden jedoch im Schnitt neun Stunden weniger pro Woche arbeiten wollen (→ Abbildung 2, S. 70). Bei vollzeiterwerbstätigen Müttern ist die Diskrepanz zwischen tatsächlicher und gewünschter Wochenarbeitszeit noch ausgeprägter. Mit durchschnittlich 41 Stunden pro Woche arbeiten die befragten Frauen 14 Wochenstunden mehr, als sie idealerweise möchten. Umgekehrt verhält es sich bei der Gruppe derjenigen, die derzeit nicht erwerbstätig oder in Teilzeit beschäftigt sind. Dieser Personenkreis möchte tendenziell gerne mehr arbeiten. Die Gruppe der nicht oder teilzeiterwerbstätigen Väter gibt eine durchschnittliche Wunscharbeitszeit von 27 Wochenstunden an, bei der Gruppe der nicht oder teilzeiterwerbstätigen Mütter beträgt die Wunscharbeitszeit knapp 22 Stunden pro Woche (→ Abbildung 2, S. 70). Ähnlich verhält es sich mit den Elternzeiten. Mütter würden, sofern die Kinderbetreuung gesichert ist, lieber früher wieder ins Berufsleben einsteigen, Väter würden gerne (länger) Elternzeit

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beanspruchen. Gegen eine Elternzeit sprechen aus der Sicht der Väter vor allem finanzielle und berufliche Gründe; einer längeren Elternzeit von Vätern steht zusätzlich häufig der Wunsch der Partnerin nach einer längeren Elternzeit entgegen (Hipp/ Molitor 2016). Insgesamt fallen Wunsch und Wirklichkeit in puncto Arbeits- und Familienzeiten auseinander. Dabei geht es zum einen um eine Arbeitszeitreduktion bei denjenigen, die Vollzeit oder Vollzeit mit Überstunden arbeiten, sowie eine Arbeitszeiterhöhung bei denjenigen, die Teilzeit arbeiten oder

»Gegen eine Elternzeit sprechen aus der Sicht der Väter vor allem finanzielle und berufliche Gründe.« nicht erwerbstätig sind. Zum anderen geht es insbesondere um eine Umverteilung der Erwerbsarbeitszeiten zwischen den Partnern. Wie kann das erreicht werden?

POLITISCHE HANDLUNGSOPTIONEN Um diese Frage zu beantworten, kann ein Blick in andere Länder helfen. Wie Paare Erwerbsarbeit aufteilen, ist nicht reine Privatsache, sondern maßgeblich von politischen Rahmenbedingungen abhängig. Auch das ist ein Ergebnis der bereits erwähnten WZB-Studie (Hipp/Leuze 2015). Arbeitszeitunterschiede innerhalb einer Partnerschaft sind tendenziell dann größer, wenn das Paar verheiratet ist, wenn Kinder im Haushalt leben oder die Frau einen Beruf von gleichem oder niedrigerem Status ausübt als ihr Partner. Aber: Diese Zusammenhänge sind nicht in allen Ländern gleich stark ausgeprägt, und auch die durch-

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TATSÄCHLICHE UND GEWÜNSCHTE ARBEITSZEITEN VON ELTERN JUNGER KINDER

MÄNNER (VOLLZEIT)

50 40

27,4

0

0

MÄNNER (NICHTERWERBSTÄTIGKEIT/ TEILZEIT)

50 40 30 20

21,6

10

17,5

0

0 Tatsächliche Arbeitszeit

Stunden/Woche

26,7

20

30

40

50

FRAUEN (NICHTERWERBSTÄTIGKEIT/ TEILZEIT)

10

Stunden/Woche

22,2

20

30

41,4

10

Stunden/Woche

40 20

35,6

30

44,4

10

Stunden/Woche

50

FRAUEN (VOLLZEIT)

Gewünschte Arbeitszeit

Diese Ergebnisse basieren auf einer Zusatzerhebung zur AID:A II-Befragung des DJIs aus dem Jahr 2015; eigene Berechnungen. Die dargestellten Ergebnisse sind repräsentativ für Eltern in Paarbeziehungen mit Kindern bis einschließlich 12 Jahre, in denen mindestens ein Elternteil abhängig beschäftigt ist. Fallzahlen: Männer in Vollzeitbeschäftigung mit ≥ 35 Wochenstunden (N = 747), Frauen (N = 376); nicht oder in Teilzeit erwerbstätige Männer < 35 Wochenstunden (N = 131), Frauen (N = 502)

Abbildung 2

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A nalysen schnittlichen Arbeitszeitunterschiede variieren (→ Abbildung 1, S. 68). Arbeitszeitunterschiede sind in denjenigen Ländern geringer, in denen Einkommen individuell besteuert werden, Kinderbetreuung gut ausgebaut ist oder Männer und Frauen ähnliche Stundenlöhne für gleiche Arbeit bekommen (Hipp/Leuze 2015): So gibt es in puncto Arbeitszeitdifferenzen in Schweden mit seinem System der individuellen Einkommensbesteuerung keine Unterschiede zwischen verheirateten und unverheirateten Paaren. In Deutschland hingegen, mit seinem System des Ehegattensplittings, arbeiten verheiratete Frauen im Vergleich zu unverheirateten Frauen rund fünf Wochenstunden weniger als ihre Partner. Auch eine gut ausgebaute Kinderbetreuungsinfrastruktur hilft Eltern, Erwerbsarbeit ausgeglichener aufzuteilen. Wäre die Kleinkindbetreuung in Deutschland während des Untersuchungszeitraums der oben genannten Studie ähnlich gut ausgebaut gewesen wie in Dänemark, so hätte der durchschnittliche Arbeitszeitunterschied von Eltern mit kleinen Kindern womöglich nur noch zehn statt 16 Stunden betragen. Außerdem gilt: Je ungleicher die Entlohnung von Männern und Frauen in einem Land, desto ungleicher werden auch Arbeitszeiten aufgeteilt (ebd.). Eine Analyse der Auswirkungen der Elternzeit auf Väter in Deutschland zeigt außerdem, dass Väter, die Elternzeit in Anspruch genommen haben, ihr Engagement in Haus- und Familienarbeit erhöhen und ihre Erwerbsarbeitszeiten reduzieren: Väter, die bis zu zwei Monate Elternzeit genommen haben, reduzieren ihre Wochenarbeitszeit durchschnittlich um drei Stunden; Väter mit längerer Elternzeit reduzieren ihre Wochenarbeitszeiten im Schnitt sogar um fünf Stunden (Bünning 2015). Zusammengenommen können aus diesen Befunden folgende Handlungsempfehlungen abgeleitet werden: Steuerliche Anreize sollten so gesetzt werden, dass partnerschaftliche Arbeitszeiten honoriert werden und nicht Arrangements, in denen eine Person besonders lange und die andere besonders kurz oder gar nicht arbeitet. Vor diesem Hintergrund sollte in Deutschland neben dem Ehegattensplitting auch die beitragsfreie

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Mitversicherung bei der gesetzlichen Krankenversicherung und die Minijobregelung überdacht werden (Prognos 2014). Kinderbetreuung sollte weiter ausgebaut werden und für Eltern finanzierbar sein, um Müttern die Chance auf eine Erwerbsarbeit und Vätern die Chance auf eine Arbeitszeitreduzierung zu ermöglichen. Väter sollten außerdem weiter dazu ermutigt werden, Elternzeit auch über die Dauer der de facto zwei »Vätermonate« hinaus in Anspruch zu nehmen. Die Politik ist auch gefragt, wenn es darum geht, die in Deutschland nach wie vor große Lohnlücke zwischen Männern und Frauen zu schließen; der Vorstoß zu mehr Transparenz bei Gehältern (BMFSFJ 2016) ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

FAZIT Trotz wesentlicher Fortschritte in den vergangenen Jahren bleiben geschlechtsspezifische Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt bestehen. Ausgeprägte Differenzen in Erwerbs- und Familienarbeitszeiten (»Gender Time Gap«) und in der Entlohnung von Männern und Frauen (»Gender Pay Gap«) akkumulieren sich im Laufe des Lebens und führen zu ausgeprägten Unterschieden bei den Alterseinkommen (»Gender Pension Gap«). Dreh- und Angelpunkt einer Verringerung dieser Differenzen ist die Umverteilung von Erwerbsund Familienarbeitszeiten, zumal insbesondere bei Eltern in Deutschland die tatsächlichen und gewünschten Arbeitszeiten mitunter stark divergieren. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Auszeiten und Teilzeitarbeit wirken sich nur dann negativ auf Einkommen, Karriereverläufe oder Rentenbeträge aus, wenn sie von Dauer sind, wie es derzeit für viele Frauen in Deutschland der Fall ist. Sind sie zeitlich befristet und auf beide Partner verteilt, tun sie dies nicht. Eine Umverteilung von Erwerbsarbeit könnte sicherstellen, dass beide Partner finanziell auf eigenen Beinen stehen und sowohl Frauen als auch Männern ausreichend Zeit für andere, wichtige Dinge des Lebens verschaffen.

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LITERATUR Allmendinger, Jutta (2014): Abrakadabra und der kleine Rechentrick – Die halbierte Frau. Das Berlin-Magazin zum Tag für Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen, S. 3. Allmendinger, Jutta/von den Driesch, Ellen (2015): Der wahre Unterschied: Erst die Rente zeigt den ganzen Umfang der Geschlechterungleichheit. WZB-Mitteilungen, Berlin, S. 36–39. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) (2015): Gleiche Rechte – gegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Bericht der unabhängigen Expert_innenkommission der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Berlin. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) (2016): Gender Pay Gap. Online unter: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/ SharedDocs/Glossar_Entgeltgleichheit/DE/ 13_Gender_Pay_Gap.html;jsessionid= 0AE86D2C68E0EB3636EB5B279A1BE0E2.2_ cid322?nn=6573636 Bünning, Mareike (2015): What Happens after the »Daddy Months«? Fathers’ Involvement in Paid Work, Childcare, and Housework after Taking Parental Leave in Germany. European Sociological Review, 2015, 31/6, S. 738–748. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2016): Lohngerechtigkeit – denn gleich ist mehr! Online unter: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/ gleichstellung,did=88096.html Statistisches Bundesamt (Destatis) (2013): Verdienste und Arbeitskosten. Verdienststrukturen 2010. Online unter: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/ VerdiensteArbeitskosten/VerdiensteBerufe/ Verdienststrukturerhebung2162001109004.pdf?__blob= publicationFile Statistisches Bundesamt (Destatis) (2014): Frauen EUweit häufiger als Männer von Altersarmut betroffen. Online unter: https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/ BevoelkerungSoziales/ SozialesLebensbedingungen/Altersarmut.html Statistisches Bundesamt (Destatis) (2015a): Wie die Zeit vergeht – Ergebnisse zur Zeitverwendung in Deutschland 2012/2013. Online unter: https://www.destatis.de/DE/ PresseService/Presse/Pressekonferenzen/2015/z eitverwendung/Pressebroschuere_zeitverwendung. pdf?__blob=publicationFile Statistisches Bundesamt (Destatis) (2015b): Rund 80 % der Väter in Elternzeit beziehen Elterngeld für 2 Monate. Pressemitteilung Nr. 109. Online unter: www.destatis.de/ DE/PresseService/Presse/ Pressemitteilungen/2015/03/ PD15_109_22922.html

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Statistisches Bundesamt (Destatis) (2016a): Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern in Deutschland bei 21 %. Pressemitteilung Nr. 097. Online unter: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/ Pressemitteilungen/2016/03/PD16_097_621.html Statistisches Bundesamt (Destatis) (2016b): Väterbeteiligung beim Elterngeld steigt weiter an. Pressemitteilung Nr. 212. Online unter: https://www.destatis.de/DE/ PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2016/06/ PD16_212_22922.html Hipp, Lena/Leuze, Kathrin (2015): Institutionelle Determinanten einer partnerschaftlichen Aufteilung von Erwerbsarbeit in Europa und den USA. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 67 (4), S. 659-684. Hipp, Lena/Molitor, Friederike (2016): Inanspruchnahme von Elternmonaten. Neue Zeitschrift für Familienrecht, 3, 5, S. 193-195. Prognos (2014): Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Maßnahmen und Leistungen in Deutschland. Endbericht. Im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Online unter: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung2/ Pdf-Anlagen/gesamtevaluation-endbericht,property= pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) (2015): Erwerbstätigkeit. Erwerbstätigenquoten und Erwerbsquoten. Online unter: media.boeckler.de/Sites/A/Online-Archiv/17593


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DATEN AID:A II »Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten«. Online unter: http://www.dji.de/index.php?id=1547 Zusatzerhebung 2015. Current Population Survey (CPS IPUMS) 2011. Online unter: https://cps.ipums.org/cps/documentation.shtml Europäische Arbeitskräfteerhebung (EU LFS 2011 und 2014). Online unter: http://ec.europa.eu/eurostat/de/ web/lfs/overview Statistik der Deutschen Rentenversicherung, Rentenversicherung in Zeitreihen (2015): DRV-Schriften, Deutsche Rentenversicherung Bund. Online unter: http://www.deutsche-rentenversicherung.de/cae/servlet/ contentblob/238700/publicationFile/62588/ 03_rv_in_zeitreihen.pdf

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FLEXIBEL, ABER SELBSTBESTIMMT – ARBEITSZEITWÜNSCHE HEUTE Annette Schicke und Oliver Lauenstein

Im Kontext der Digitalisierung erlebt die Debatte um die Arbeitszeit eine Renaissance (Seifert 2014). Doch ging es in den 1980er-Jahren noch um das Für und Wider einer kollektiven Verkürzung der Arbeitszeit – durch Einführung der 35-Stunden-Woche, die auch als Mittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit angesehen wurde –, so geht es heute vielmehr um die flexible Gestaltung der Lage, Dauer und Verteilung von Arbeit. Arbeitszeitmodelle sind vielfältiger, individueller und flexibler geworden, und immer mehr Beschäftigte nutzen Instrumente wie Gleitzeit, Arbeitszeitkonten, Teilzeitarbeit, flexible Schichtarbeit, Vertrauensarbeitszeit oder mobiles Arbeiten. Eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung verfehlte heute die Wünsche der Beschäftigten und die Bedürfnisse der Unternehmen (Bosch 2015).

TECHNISCHE ANFORDERUNGEN, GESELLSCHAFTLICHER WERTEWANDEL UND INDIVIDUELLE BEDÜRFNISSE Geprägt wird der aktuelle Wandel der Arbeitswelt einerseits durch sich teilweise rapide verändernde technische Möglichkeiten und Anforderungen, andererseits aber auch durch einen gesellschaftlichen Wandel, der veränderte Rollenbilder und individuelle Bedürfnisse mit sich bringt.

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Die fortschreitende Digitalisierung und die Globalisierung fordern von Betrieben, flexibel auf wirtschaftliche Entwicklungen und kurzfristige Veränderungen reagieren zu können. Breitband-Internet, Netzwerktechnologien und mobile Endgeräte machen Arbeit mobil und 24 Stunden verfügbar: Ein zunehmender Anteil an Tätigkeiten kann potenziell immer und überall durchgeführt werden. Der damit einhergehende Trend zu flexiblen Arbeitszeiten und dezentralen Arbeitsorten


A nalysen wird mit der Digitalisierung weiter voranschreiten. Umgekehrt werden auch Beschäftigte durch diese Technologien permanent erreichbar.

derzeit am liebsten beide etwa 30 Stunden pro Woche arbeiten und sieben Prozent beide Vollzeit (IfD 2014).

Dabei überlagern sich belastende und entlastende, souveränitätssteigernde und souveränitätseinschränkende Effekte für die Beschäftigten. Infolge ständiger Erreichbarkeit besteht beispielsweise das Risiko einer wachsenden Beschleunigung, Verdichtung und zeitlichen Entgrenzung von Arbeit, auch droht eine Erosion der Grenze zwischen Berufs- und Privatleben. Doch werden im Zuge der Digitalisierung – etwa durch Reduzierung von Pendlerzeiten (aufgrund zeit- und ortsflexibler Arbeit, zum Beispiel im Homeoffice) oder durch den Wegfall besonders schwerer oder monotoner Arbeiten – Formen individueller Entlastung möglich. Wo die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben dabei verlaufen und wie mit Anforderungen an die Verfügbarkeit und Erreichbarkeit der Belegschaften auch außerhalb betriebsüblicher Arbeitszeiten umgegangen werden wird, sind noch offene Fragen.

Mit diesen gewandelten Ansprüchen verändern sich auch die Flexibilitätsbedürfnisse der Beschäftigten, die sich vor allem mehr zeitliche Souveränität und eine stärker lebenslauforientierte Arbeitszeitgestaltung wünschen (IG Metall 2013). Sie möchten bei der Dauer und Lage ihrer Arbeitszeit mitbestimmen und so stärker selbst entscheiden, wann und wo sie arbeiten. Viele Eltern würden zum Beispiel gerne am Nachmittag ihre Arbeit unterbrechen, um sich um ihre Kinder zu kümmern, und sie am Abend, wenn die Kinder im Bett sind, fortsetzen.

Die Debatte über die Arbeitszeit wird zusätzlich durch einen sozialen Wertewandel bestimmt, der mit veränderten Ansprüchen der Beschäftigten einhergeht. Die Lebensentwürfe vieler, insbesondere jüngerer Menschen sind individueller und vielfältiger geworden (Allmendinger/ Haarbrücker/Fliegner 2013). Damit verbunden ist der Wunsch nach einer funktionierenden Balance zwischen Arbeit und Privatleben. Viele Menschen wünschen sich, dass nicht die Arbeit der Taktgeber ihres Lebens ist; daneben ist es ihnen wichtig, dass sie Zeit für Familie, Freiräume für Erholung, private Interessen, die Pflege von Beziehungen oder auch mehr zeitliche Möglichkeiten für Weiterbildung und ehrenamtliches Engagement haben. Entsprechend verändern sich auch klassische Rollenbilder von Frauen und Männern. Sie wollen gleichberechtigt arbeiten und sich gemeinsam um die Familie kümmern. Vor allem Paare mit kleinen Kindern wünschen sich eine partnerschaftliche Arbeitsteilung: 60 Prozent der Eltern sehen es als »ideal« an, wenn beide Elternteile im gleichen Umfang berufstätig sind und sich um die Familie kümmern (Schröder/Siegers/Spieß 2012). Bei jedem dritten Paar mit Kindern unter drei Jahren würden

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Das veränderte Rollenverständnis bildet sich nur teilweise in den realen Lebensverhältnissen ab: Zwar sind in über der Hälfte aller Paarhaushalte

»Viele Menschen wünschen sich, dass die Arbeit nicht der Taktgeber ihres Lebens ist.« sowohl der Mann als auch die Frau erwerbstätig (IfD 2014). Dennoch werden familiäre Verpflichtungen und unbezahlte Haus- und Care-Arbeit nach wie vor überwiegend von Frauen bewältigt. Häufig bleibt als Lösung, um den familiären Bedürfnissen und Anforderungen gerecht zu werden, nur Teilzeitarbeit (Wanger 2015). Mit dem demografischen Wandel nimmt sowohl die Zahl der Pflegebedürftigen als auch die der pflegenden Angehörigen zu. Viele Beschäftigte mittleren Alters, die sich um ihre Kinder kümmern, übernehmen gleichzeitig auch Verantwortung für ihre Eltern und sind damit besonderen zeitlichen Belastungen ausgesetzt. Fast jede und jeder zweite

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A nalysen Pflegebedürftige wird zu Hause und ausschließlich von Angehörigen, überwiegend Frauen, betreut (Destatis 2015: Pflegestatistik 2013). Jede zweite Frau rechnet damit, in Zukunft die Pflege von Angehörigen zu übernehmen (IfD 2015). Fast zwei Drittel derer, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen, sind auch berufstätig.1 Flexible Arbeitszeiten sind für diese Berufstätigen besonders wichtig, da der Verlauf von Pflegebedürftigkeit schwer vorhersehbar ist und pflegende Angehörige entsprechend variabel beansprucht werden.2

»Arbeitszeiten sind in den letzten beiden Jahrzehnten flexibler, vielfältiger und kürzer geworden.«

ARBEITSZEITREALITÄTEN UND -WÜNSCHE Generell sind Arbeitszeiten, gesamtgesellschaftlich betrachtet, in den letzten beiden Jahrzehnten flexibler, vielfältiger und kürzer geworden. Immer mehr Beschäftigte arbeiten in Schichtarbeit, zu ungewöhnlichen Uhrzeiten oder an Wochenenden (Absenger u. a. 2014; Destatis 2015). Rund 57 Prozent aller Beschäftigten arbeiten zumindest gelegentlich in Schichtarbeit, nachts oder am Wochenende (Maschke 2016). Die durchschnittliche Dauer der tatsächlichen Wochenarbeitszeit sank zwischen 1992 und 2012 kontinuierlich um ca. drei Stunden (Seifert 2014). Trotzdem liegt das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen annähernd auf dem gleichen Niveau wie Mitte der 1990er-Jahre. Dies wird mit der wachsenden Zahl 1 2

von Erwerbstätigen begründet, die jedoch nicht immer Vollzeit arbeiten (Maschke 2016). Vor allem die Erwerbstätigkeit von Frauen nimmt zu, allerdings arbeiten sie vor allem in Teilzeit. Besonders bei Müttern ist die Teilzeitquote hoch: Fast 70 Prozent der erwerbstätigen Mütter arbeiten in Teilzeit (Maschke 2016). Die Teilzeitquote aller Beschäftigten ist von 17,9 Prozent im Jahr 1991 kontinuierlich auf 38,6 Prozent im Jahr 2014 angestiegen und liegt seitdem konstant auf diesem hohen Niveau (IAB 2016). Verschiedene Studien der letzten Jahre zeigen, dass dieser Wandel nicht immer den individuellen Ansprüchen an Arbeit entspricht. Zwar wünschen sich auch Beschäftigte eine Veränderung und Flexibilisierung der Arbeitszeit hin zu mehr Zeitsouveränität und Wahlfreiheit. Exemplarisch seien hier die Ergebnisse einer großen Mitarbeiterbefragung des DGB 2013 angeführt; 92 Prozent der Befragten gaben an, planbare Arbeitszeiten seien wichtig. Dennoch wünschten sich 84 Prozent der Frauen und 79 Prozent der Männer, ihre Arbeitszeit kurzfristig an private Bedürfnisse anpassen zu können. Für eine befristete Absenkung der Arbeitszeit, etwa für Kinderbetreuung und Pflege, sprachen sich 86 Prozent der Frauen und 77 Prozent der Männer aus. In der Realität bestehen zwischen individuell gewünschter, vertraglich vereinbarter und tatsächlich geleisteter Arbeitszeit oftmals deutliche Differenzen (IAB 2014; IAB 2015; DGB 2014; 2016). So berichten Beschäftigte einerseits von (teilweise unfreiwillig) langen Arbeitszeiten über 45 Wochenstunden (DGB 2014, 2016) und andererseits von (teilweise unfreiwillig) verkürzter Teilzeitarbeit von 20 Wochenstunden und weniger (IAB 2015). Die deutlichsten Differenzen bestehen zwischen per Tarif- oder Arbeitsvertrag vereinbarten und tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten. 2009 arbeiteten Männer pro Woche im Schnitt 4,1 Stunden länger als vertraglich vereinbart, bei Frauen betrug der Unterschied 2,0 Stunden (IAB 2015). Wenn die vereinbarten Arbeitszeiten eingehalten würden, käme dies den Wünschen der Beschäftigten deutlich entgegen (Holst/Seifert 2012). Entsprechend wollen laut Statistischem Bundesamt fast vier Millionen, d. h. etwa 10 Prozent der Erwerbstätigen, ihre Arbeitszeit verändern

Geyer/Schulz (2014) geben 61 Prozent an, Eurostat 63 Prozent. Pflegende Angehörige haben mit dem seit Januar 2015 geltenden Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf einen Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit.

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A nalysen (Destatis 2016). Etwa drei Millionen, darunter über ein Drittel Frauen in Teilzeit, möchten ihre bestehende Wochenarbeitszeit (durchschnittlich 19,3 Stunden) um 13,4 Stunden erhöhen. Etwa 900.000, vor allem Männer in Vollzeit, wollen ihre Arbeitszeit im Schnitt um mehr als elf Stunden verkürzen (Destatis 2016). Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung berichtet sogar noch deutlichere Zahlen; je ein Drittel der Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten wünscht sich kürzere bzw. längere Arbeitszeiten (IAB 2014). Diese Zahlen stehen der Aussage gegenüber, dass in Betrieben flexible Arbeitsangebote bereits überwiegend vorhanden sind. In fast der Hälfte der Unternehmen standen den Beschäftigten 2013 flexible Arbeitszeitangebote zur Verfügung (iwd 2014). Allerdings variiert dieses Angebot mit der Unternehmensgröße und -branche. Der Anteil der Unternehmen, die für ihre Beschäftigten Arbeitszeitkonten führen, steigt mit der Größe der Unternehmen (Janßen 2003). Flexibilität betrifft aber nicht nur die Arbeitszeit, sondern auch den Arbeitsort. In Deutschland dominiert bis heute eine Präsenzkultur. Es fehlen oft die notwendigen technischen und strukturellen Voraussetzungen für die Arbeit von zu Hause. 31 Prozent der Angestellten arbeiten gelegentlich oder regelmäßig von zu Hause aus, bei Arbeitern sind es zwei Prozent. Bei Betrieben mit über 500 Beschäftigten ist es die Hälfte. Homeoffice wird vor allem für Führungskräfte und Beschäftigte im Dienstleistungssektor angeboten. Dabei übersteigt das Interesse am Homeoffice das Angebot. Über ein Drittel der Angestellten, die nicht im Homeoffice arbeiten (39 Prozent), würden dies gerne regelmäßig oder gelegentlich tun (Brenke 2016). Arbeit im Homeoffice hat auch Auswirkungen auf die Arbeitsqualität. Beschäftigte, die von zu Hause arbeiten können, sind zufriedener und fühlen sich ihrem Betrieb enger verbunden (BMAS 2015a).

SPANNUNGSFELDER Im Zentrum der aktuellen Arbeitszeitdebatte stehen divergierende, teilweise entgegengesetzte Flexibilitätsvorstellungen und -ansprüche der Beschäftigten, der Unternehmen und der Gesellschaft insgesamt, die entsprechende Span-

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nungsfelder begründen. Ein Spannungsverhältnis besteht aber nicht nur zwischen dem, was Unternehmen, und dem, was Beschäftigte sich unter »mehr Flexibilität« vorstellen, sondern es kann auch beispielsweise zwischen individuellen Ansprüchen von Beschäftigten und kollektiven Regelungen für Beschäftigte auftreten: Rege-

»Flexibilität betrifft nicht nur die Arbeitszeit, sondern auch den Arbeitsort.« lungen für eine einzelne Gruppe oder für alle Beschäftigten entsprechen nicht immer den subjektiven Flexibilitätswünschen der Betroffenen. So können unterschiedliche Flexibilitätsanforderungen der Beschäftigten zu Konflikten in einem Team oder einer Belegschaft führen. Hier können Fachkräfte, die ihre Flexibilitätswünsche bei der Wahl ihrer Arbeitszeit und ihres Arbeitsortes durchsetzen können, Beschäftigten gegenüberstehen, die in befristeten Arbeitsverhältnissen die temporären Lücken füllen oder in Branchen arbeiten, in denen die Gestaltungsspielräume der Beschäftigten im Zuge einer »Rund-um-die-UhrÖkonomie« noch abnehmen (Crary 2014). Wachsende Polarisierungstendenzen können sich dabei auch innerhalb von Betrieben zeigen und zu entsprechenden Konflikten führen. Auch die Erwartungen und Bedürfnisse der Beschäftigten sind nicht homogen. Es gibt diejenigen, die mehr Zeitsouveränität für ein selbstbestimmteres Arbeiten nutzen möchten. Daneben gibt es aber auch eine große Gruppe, die feste und verlässliche Arbeitszeiten und eine klare Trennung von Berufs- und Privatleben wünscht. Außerdem verändern sich individuelle Arbeitszeitwünsche im Laufe des Lebens. Berufseinsteigerinnen und

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A nalysen Berufseinsteiger, die sich eine Basis in ihrem Beruf schaffen wollen, sind häufig bereit, dafür ein höheres Arbeitspensum zu leisten. In Phasen der Familiengründung, der Pflege von Angehörigen, der Weiterbildung, des ehrenamtlichen Engagements oder des Übergangs in den Ruhestand können flexible Arbeitsmodelle helfen, beiden Anforderungen, denen des Berufs und denen des Privatlebens, gerecht zu werden. Daneben können betriebliche Flexibilitätsanforderungen mit per se nicht flexiblen familiären Taktungen in Konflikt geraten, wie z. B. Öffnungszeiten von Kindertagesstätten oder der plötzlichen Erkrankung eines Kindes. Das stellt die Sozialpartner und die Unternehmen vor die Herausforderung, Modelle zu entwickeln, die den Beschäftigten mehr selbstverantwortliche Kompetenz bei der Steuerung ihrer Arbeitszeit (und der Wahl ihres Arbeitsortes) gewähren, gleichzeitig aber den betrieblichen Anforderungen gerecht werden. Hier gibt es bereits viele tarifliche Regelungen, auf deren Grundlage flexible Arbeitszeitmodelle durch Betriebsvereinbarungen gestaltet werden können (Bispinck 2014), wie zahlreiche Beispiele innovativer und flexibler Arbeitszeitmodelle in kleinen Betrieben ebenso wie großen Konzernen der verschiedensten Branchen zeigen (BMAS 2015b). Eine einheitliche Regelung für alle Unternehmen wäre bei den je nach Branche, Standort und Unternehmensgröße teilweise sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten weder möglich noch sinnvoll. Die Unternehmen stehen außerdem vor neuen Herausforderungen bei der Personalplanung, etwa durch die Umsetzung der Rechtsansprüche auf familienbedingte Arbeitszeitreduzierungen (wie Elternzeit, Pflegezeit), deren Inanspruchnahme im betrieblichen Alltag nicht immer konfliktfrei verläuft und nicht nur zwischen den Betriebspar-

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teien, sondern auch zwischen den Beschäftigten ausgehandelt werden muss. Eine ausreichende Personalausstattung in den Unternehmen ist eine Grundvoraussetzung, damit flexible und reduzierte Arbeitszeiten der oder des einen Beschäftigten nicht zu Mehrbelastungen für andere Beschäftigte führen. Nicht zuletzt können sowohl individuelle als auch betriebliche Flexibilitätsansprüche im Widerspruch zum gesellschaftlichen Anspruch auf feste gemeinsame Zeitfenster wie den arbeitsfreien Sonntag stehen. Der Sonntag ist dabei nicht nur ein Tag der Arbeitsruhe, sondern auch ein Tag, an dem möglichst viele Menschen zur gleichen Zeit und im gleichen wiederkehrenden Rhythmus »frei« haben.

AUSBLICK Um die beschriebenen Spannungsfelder aufzulösen, bedarf es erstens einer Verständigung der verschiedenen Akteure über die unterschiedlichen Anforderungen, möglichen Grundkonsense und Kompromisslinien für eine innovative Arbeitszeitpolitik. Der Arbeitszeitdialog, den die HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform mit Bundesministerin Nahles führt, soll dazu beitragen, diese herauszuarbeiten.3 Zweitens bedarf es einer gesicherten Erkenntnis darüber, welche Arbeitszeitmodelle realiter verbreitet sind – etwa wie sich Arbeitszeitdiskrepanzen im Zeitverlauf verändern oder sich Arbeitszeitbedarfe im Lebensverlauf der Beschäftigten wandeln. Neben einer Beschreibung des Istzustands kann eine wissenschaftliche Betrachtung auch dabei helfen, die eingangs beschriebenen Negativfolgen der Flexibilisierung von Arbeit zu erkennen und zu vermeiden. 4

Vgl. den Beitrag »Wie kann eine innovative Arbeitszeitpolitik aussehen?« von Gesine Schwan in diesem Werkheft. Laufende Forschungsprojekte zum Thema »Arbeitszeit« sind u. a.: »Arbeitszeitberichterstattung für Deutschland« der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zur Wiedereinführung eines regelmäßigen Arbeitszeitmonitors in Deutschland; http://www.baua.de/de/Forschung/Forschungsprojekte/f2360.html »ALHabA« – das Projekt untersucht Arbeitszeitdiskrepanzen im Lebensverlauf von Frauen und Männern; http://www.hsu-hh.de/ipa/ index_WZwNJ5Q8IKOkDw9h.html »ZEITREICH« wird aktuell im Rahmen des Bundesprogramms Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) gestartet und soll in einer gemeinsamen Anstrengung der Sozialpartner Arbeitszeitmodelle zur Lösung von Zielkonflikten der Arbeitszeitregelung in kleinen und mittleren Unternehmen aus vier ausgewählten Branchen generieren.

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A nalysen LITERATUR Absenger, Nadine/Ahlers, Elke/Bispinck, Reinhard/ Kleinknecht, Alfred/Klenner, Christina/Lott, Yvonne/ Pusch, Toralf/Seifert, Hartmut (2014): Arbeitszeiten in Deutschland. Entwicklungstendenzen und Herausforderungen für eine moderne Arbeitszeitpolitik, WSI Report, Nr. 19 Allmendinger, Jutta/Haarbrücker, Julia/ Fliegner, Florian (2013): Lebensentwürfe heute: Wie junge Frauen und Männer in Deutschland leben wollen. WZB Discussion Paper. Bispinck, Reinhard (2014): Tarifliche Arbeitszeitregelungen – zwischen betrieblichen Flexi-Ansprüchen und individuellen Arbeitszeitoptionen, Elemente qualitativer Tarifpolitik. Bosch, Gerhard (2015): Warum nicht mal 30 Stunden? Interview in: Die Mitbestimmung 1/2/2015. Brenke, Karl (2016): Home Office: Möglichkeiten werden bei weitem nicht ausgeschöpft. DIW-Wochenbericht 05/2016. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2015a): Monitor. Mobiles und entgrenztes Arbeiten. Aktuelle Ergebnisse einer Betriebs- und Beschäftigtenbefragung. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2015b): Gute Praxis. Zeit- und ortsflexibles Arbeiten in Betrieben. Sammlung betrieblicher Gestaltungsbeispiele. Crary, Jonathan (2014): 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin. DGB (2014): DGB-Index Gute Arbeit Report 2014 mit dem Schwerpunkt Arbeitszeitgestaltung. DGB (2016): DGB-Index Gute Arbeit kompakt: Arbeiten ohne Ende? Wie verbreitet sind überlange Arbeitszeiten. Geyer, Johannes/Schulz, Erika (2014): Who cares? Die Bedeutung der informellen Pflege durch Erwerbstätige in Deutschland. DIW-Wochenbericht 14/2014. Holst, Elke/Seifert, Hartmut (2012): Arbeitszeitpolitische Kontroversen im Spiegel der Arbeitszeitwünsche. WSI Mitteilungen 2/2012.

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) (2016): Durchschnittliche Arbeitszeit und ihre Komponenten. 06/2016. Institut für Demoskopie Allensbach (2014): Monitor Familienleben (nicht veröffentlicht), zitiert in: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2015): Memorandum Familie und Arbeitswelt – Die NEUE Vereinbarkeit. Institut für Demoskopie Allensbach (2015): Frauen der Sandwich-Generation: Zwischen Kinderbetreuung und Unterstützung der Eltern. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung. iw-dienst. Informationen aus dem deutschen Institut für Wirtschaft (iwd) (2014): Flexibel handhaben. Ausgabe 27, 3. Juli 2014, S. 1-2. Janßen, Peter (2003): Investive Arbeitszeitpolitik – Mehr Weiterbildung durch Arbeitszeitflexibilisierung? IW-Trends, 2, S. 1–19. Maschke, Manuela (2016): Flexible Arbeitszeitgestaltung. WISO-Diskurs, Bonn. Schröder, Mathis/Siegers, Rainer/Spieß, C. Katharina (2012): Familien in Deutschland (FiD) – Enhancing Research on Families in Germany. SOEPpapers Nr. 556. Seifert, Hartmut (2014): Renaissance der Arbeitszeitpolitik: selbstbestimmt, variabel und differenziert. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. Statistisches Bundesamt (Destatis) (2015): Pflegestatistik 2013. Statistisches Bundesamt (Destatis) (2015): Qualität der Arbeit: Geld verdienen und was sonst noch zählt. Statistisches Bundesamt (Destatis) (2016): Erwerbstätige arbeiten 35,7 Stunden und wollen 0,6 Stunden mehr Arbeit. Pressemitteilung Nr. 047 02/2016.

IG Metall (2013): Beschäftigtenbefragung, Frankfurt/M.

Statistisches Bundesamt (Destatis): Pflegende Angehörige in Deutschland häufiger erwerbstätig als im EU-Durchschnitt. Quelle: www.destatis.de/Europa/DE/Thema/ BevoelkerungSoziales/Arbeitsmarkt/ErwerbPflege.html

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) (2014): Aktuelle Daten und Indikatoren: Arbeitszeitwünsche von Frauen und Männern 2012. 03/2014.

Wanger, Susanne (2015): Traditionelle Erwerbs- und Arbeitszeitmuster sind nach wie vor verbreitet. IAB-Kurzbericht 4/2015.

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ARBEITSZEITOPTIONEN IM LEBENSVERLAUF Christina Klenner

Arbeit und Privatleben sind in bestimmten Lebensphasen ­b esonders schwer miteinander zu vereinbaren. In Deutschland gibt es vom Elterngeld über das Teilzeit- und Befristungsgesetz bis hin zur Pflegezeit eine Vielzahl von Angeboten, Rechten und Instrumentarien, um diese meist vorübergehenden Stressphasen zu bewältigen. Das Projekt »Arbeitszeitoptionen im Lebensverlauf« (AZOLA) hat untersucht, welche Faktoren die Inanspruchnahme der Angebote befördern und welche eher hinderlich sind.

Eine Neuorganisation der Lebensarbeitszeit wurde bereits vor mehr als zehn Jahren angeregt (Naegele u. a. 2003, Anxo u. a. 2006). Angesichts einer verlängerten Erwerbsphase mit späterem Renteneintritt sollten im Gegenzug Ausstiegs- und Reduzierungsoptionen während der »Stressphasen« des Lebens möglich sein. Eine lebensphasenorientierte Arbeitszeitpolitik ist durch die wachsende Frauenerwerbstätigkeit, die Alterung der Belegschaften, durch gewachsene Ansprüche von Männern auf Familienzeit, zunehmenden Pflegebedarf sowie die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens immer wichtiger geworden. Auch für die Gleichstellung der Geschlechter hat das Recht auf eine selbstbestimmte Erwerbsbiografie große Bedeutung (BMFSFJ 2006, BMFSFJ 2011, Kocher u. a. 2013). Arbeitszeitoptionen sind eine Möglichkeit, Arbeitszeiten an veränderte Zeitbedarfe im

Lebensverlauf anzupassen. Es gibt in Deutschland eine Reihe von gesetzlich oder tariflich verbrieften Arbeitszeitoptionen. Mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz sowie mit gesetzlichen Regelungen zu Elternzeit, Elterngeld und Pflegezeit sind Rechte von Arbeitnehmenden geschaffen worden, die für die Arbeitszeitgestaltung genutzt werden können. Sonderurlaub für die Betreuung kranker Kinder, Freistellungen für Ehrenämter und Bildungsurlaub sind weitere gesetzliche Ansprüche.1 Arbeitszeitkonten, Freistellungsregelungen, Bildungszeiten und altersabhängige Freizeiten sind zum Teil in Tarifverträgen geregelt. Mit der Studie »Arbeitszeitoptionen im Lebensverlauf«2 wurde die Akzeptanz der Nutzung des gesamten Spektrums gesetzlicher und tariflicher Arbeitszeitoptionen für verschiedene

¹ Als Arbeitszeitoptionen sind darüber hinaus die Aufstockung der Arbeitszeitdauer, Sabbaticals sowie ein flexibler Übergang in den Ruhestand anzusehen (Anxo u. a. 2006: 87). Diese Arbeitszeitoptionen, auf die es in Deutschland derzeit keinen gesetzlichen Anspruch gibt, standen im Projekt nicht im Fokus. ² Dieses Projekt wurde 2014 bis 2016 am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam mit Yvonne Lott und in Kooperation mit Svenja Pfahl und Sonja Weeber, Sozialwissenschaftliches Institut für Transfer (SowiTra) Berlin, durchgeführt.

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A nalysen Beschäftigtengruppen untersucht. Im Projekt wurden Interviews mit 95 Beschäftigten und 26 Expertinnen und Experten in Krankenhäusern, Polizeibehörden und Industriebetrieben in Deutschland geführt. Alle sechs untersuchten Erwerbsorganisationen haben mehr als 500 Beschäftigte und werden durch Betriebs- oder Personalräte mitbestimmt. Nicht untersucht wurden die Nutzungsbedingungen in Kleinbetrieben. In der Studie wurde insbesondere der Zusammenhang von Geschlecht, Beruf und Position in der betrieblichen Hierarchie in den Blick genommen. Wovon hängt die Akzeptanz der Nutzung von Arbeitszeitoptionen ab? Wo bestehen betriebliche Barrieren der Inanspruchnahme?

DIE NUTZUNG VON ARBEITSZEITOPTIONEN Von allen verbrieften Arbeitszeitoptionen werden die Reduzierung der Arbeitszeit (Teilzeit) und die Elternzeit in den sechs Betrieben am häufigsten genutzt. Alle anderen Arbeitszeitoptionen spielen eine untergeordnete Rolle. Die Teilzeitoption wird fast ausschließlich von Frauen genutzt. Doch Interesse an kürzeren Arbeitszeiten wird auch von Männern immer wieder geäußert. Neben Einkommenseinbußen wird die mangelnde Akzeptanz reduzierter Arbeitszeiten an ihren Arbeitsplätzen als Grund genannt, warum Männer ihre Arbeitszeiten nicht verkürzen. Dies deutet auf betriebliche Barrieren für die Nutzung der Teilzeitoption hin. Auch die Aufstockung der Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten, für die es keinen gesetzlichen Anspruch gibt, hängt von betrieblichen Faktoren ab. Sie gelingt dann, wenn Bedarf an Arbeitskräften dieser Beschäftigtengruppe besteht oder wenn die Teilzeitarbeit an diesem Arbeitsplatz nur widerstrebend gewährt wurde. Voraussetzung ist, dass das jeweilige Personalbudget die Aufstockung erlaubt. Elternzeit wird von Frauen und Männern genommen, von Frauen deutlich länger. Elternzeit von Vätern hat sich normalisiert, sofern Väter nur die Partnermonate beanspruchen. Allerdings wird teilweise erwartet, dass sich die Väter bei der Legung der Elternzeit nach betrieblichen Belangen richten. Barrieren, die eine Elternzeitnutzung ver-

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hindern können, gibt es vor allem im hoch qualifizierten Bereich, teilweise auch für Mütter. Die Nutzung einer Freistellung für Ehrenämter wie Betriebsrat, Feuerwehr oder Bürgermeisteramt stößt mitunter auf betriebliche Barrieren, besonders wenn Personalmangel herrscht. Teil-

»In Bezug auf Weiterbildung sind die Hochqualifizierten am besten gestellt.« weise verzichten die Berechtigten auf ihre Freistellungsrechte und arbeiten die versäumte Arbeitszeit nach. Andere reduzieren ihr ehrenamtliches Engagement. In Bezug auf Weiterbildung sind die Hochqualifizierten am besten gestellt. Den weniger Qualifizierten, darunter Frauen in Teilzeit, wird Weiterbildung, die nicht unmittelbar am Arbeitsplatz gebraucht wird, verwehrt oder durch mangelndes Entgegenkommen bei der Arbeitszeit erschwert. Andere Optionen werden in den untersuchten Betrieben entweder gar nicht genutzt (Pflegezeit), oder ihre Nutzung erfolgt selten und problemlos (Bildungsurlaub, Altersfreizeiten).

EINFLUSSFAKTOREN AUF DER BETRIEBLICHEN EBENE Im Betrieb entscheidet sich, ob die Nutzung von Arbeitszeitoptionen akzeptiert und unterstützt oder ob die Inanspruchnahme verwehrt oder behindert wird. Zentral für die Nutzung von Arbeitszeitoptionen ist, dass die Interessierten sich tatsächlich zur Inanspruchnahme berechtigt fühlen, andernfalls verzichten sie auf ihre Rechte. Das zeigt auch eine Studie für andere europäische Länder (Sümer u. a. 2008). Für eine Akzeptanzkultur sind unterstützende, nicht abwertende

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A nalysen Reaktionen der Kolleginnen und Kollegen wie der Vorgesetzten wichtig. Welches sind die wichtigsten Faktoren, die die Akzeptanz beeinflussen? Einen Überblick gibt Abbildung 1 (→ Seite 84).

ARBEITSTEILUNG Die Akzeptanz der Nutzung von Arbeitszeitoptionen – und damit eines zeitweiligen Fehlens am Arbeitsplatz – unterscheidet sich je nach Tätigkeit. Die Studie zeigt, dass die Arbeitsplätze mit unterschiedlichen arbeitszeitlichen Stellenzuschnitten versehen sind: Arbeitsplätze werden als solche mit Teilzeit, Vollzeit oder überlanger Arbeitszeit konstruiert. Eine solche Konstruktion der Arbeitsplätze ist eng mit der hierarchischen Position und dem Beruf verbunden. Je höher eine betriebliche Position und je stärker männlich dominiert ein Tätigkeitsbereich (z. B. Polizei, Medizin), desto stärker behindern die betrieblichen arbeitszeitlichen Stellenzuschnitte die Optionalität der Arbeitszeit.

»Geringqualifizierte haben hinsichtlich der Arbeitszeitdauer oftmals keine Wahlmöglichkeit, weil ihnen nur Teilzeitarbeitsplätze angeboten werden.« Besonders bei Hochqualifizierten bestehen erhebliche betriebliche Nutzungsbarrieren bei Teilzeit und Elternzeit, da ständige Verfügbarkeit und Präsenz erwartet werden. Die Zuweisung von Aufgaben und Verantwortung bedingt auf hohen Positionen oft überlange Arbeitszeiten. Am anderen Ende der Hierarchie sind kurze Arbeitszeiten dagegen dort betriebswirtschaftlich

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erstrebenswert, wo Leerzeiten vermieden und die betriebliche Flexibilität erhöht werden sollen. Auch Geringqualifizierte haben daher hinsichtlich der Arbeitszeitdauer oftmals keine Wahlmöglichkeit, weil ihnen nur Teilzeitarbeitsplätze angeboten werden. Wollen Beschäftigte auf hohen oder niedrigen Stellen in der Unternehmenshierarchie ihre Arbeitszeit reduzieren oder aufstocken, erweisen sich die positionsspezifischen arbeitszeitlichen Stellenzuschnitte als Barriere. Am ehesten ist eine Optionalität bei der Arbeitszeit in der Mitte der betrieblichen Hierarchie gegeben. Für viele mittlere Positionen ist der tariflich vereinbarte Standard der Normalarbeitszeit bestimmend, allerdings werden auch hier häufig Überstunden erwartet. Die gegenwärtige Zuweisung von Aufgaben an Frauen oder Männer ist stark von Geschlechternormen geprägt. Das Gleiche gilt für die mit den jeweiligen Arbeitsplätzen verbundenen arbeitszeitlichen Stellenzuschnitte. Betriebliche Diskurse über männliche und weibliche Eigenschaften prägen Vorstellungen von der Eignung von Frauen und Männern für bestimmte Tätigkeiten und Arbeitsplätze. »Typisch männliche« Aufgaben werden auf allen Stufen, auch bei den Geringqualifizierten, mit Vollzeit (oder überlanger Arbeitszeit) verknüpft, während Teilzeit meist als nicht möglich angesehen wird. »Typisch weibliche« Aufgaben werden dagegen, wenn betriebswirtschaftlich erwünscht, mit kurzen Arbeitszeiten verknüpft. Von einem Bedarf an dieser Arbeitszeitdauer seitens der Frauen wird aufgrund von Geschlechterstereotypen ausgegangen, ohne die individuellen Arbeitszeitbedarfe abzufragen. Hier kann eine gewünschte Arbeitszeiterhöhung oft schwer erreicht werden. Frauen auf mittleren Positionen wird aufgrund der traditionellen weiblichen Geschlechterrolle die Nutzung von Arbeitszeitoptionen wie Teilzeit und Elternzeit grundsätzlich zugestanden. Dringen Frauen in hoch qualifizierte Berufe und in Führungspositionen vor (also Bereiche, die früher »typisch männlich« waren), sehen sie sich oft genötigt, auf diesen Stellen mindestens Voll-


A nalysen zeit zu arbeiten und auf Optionen zu verzichten. Allerdings haben einzelne »Pionierinnen« unter günstigen Umständen für sich die Nutzung von Arbeitszeitoptionen erstritten.

ARBEITSORGANISATION Da durch die Nutzung von Arbeitszeitoptionen Fehlzeiten entstehen, müssen Aufgaben im Betrieb häufig umverteilt werden. Hier sind die Größe des Teams und die gegenseitige Vertretbarkeit im Hinblick auf die Qualifikationen wichtige Bedingungen. Wenn die Qualifikationen sich ähneln, ist eine Vertretung innerhalb des Teams sachlich möglich. (Sie kann aber an die Grenzen der Belastung führen, wenn die Personalausstattung zu knapp ist.) Die Nutzung von Arbeitszeitoptionen wird im Team nur dann akzeptiert, wenn es eine arbeitsorganisatorische Reaktion der Führungskräfte auf die ausfallende Arbeitszeit gibt. Das heißt, wenn Arbeitsaufgaben angepasst (einige reduziert oder verschoben, andere priorisiert) werden oder wenn zusätzliches Personal zur Vertretung eingesetzt wird. Eine Arbeitsorganisation dagegen, die auf Spezialistentum aufbaut, bei der also Tätigkeitsbereiche mit großer Verantwortung mit nur einer Person besetzt sind, ist mit besonders großen Barrieren für die Nutzung von Arbeitszeitoptionen verbunden. Nicht selten verzichten Spezialisten beiderlei Geschlechts auf die Inanspruchnahme. Wenn diese Beschäftigten eine Arbeitszeitoption nutzen, gleichen sie die ausfallende Arbeitszeit so gut wie möglich selbst aus (Arbeitsverdichtung und unbezahlte Mehrarbeit der Teilzeitbeschäftigten, Vor- und Nacharbeiten für die Elternzeit). Akzeptieren jedoch die Betriebe den Bedarf an der Nutzung von Arbeitszeitoptionen, werden kreativ neue arbeitsorganisatorische Lösungen gefunden (Tandems ähnlich Qualifizierter, Vertretung nach unten und oben in der Hierarchie, Vertretungskaskaden).

PERSONALAUSSTATTUNG Von der Personalausstattung hängt es ab, ob personelle Lücken wegen Teilzeit, Elternzeit, Freistellung auch ohne gesondertes Vertretungspersonal aufgefangen werden können. Sind in der

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Personalausstattung Ausfälle einkalkuliert und Reserven eingeplant, fällt die arbeitsorganisatorische Umsetzung leichter. Personalmangel, der eine Vertretung der Fehlenden erschwert oder unmöglich macht, führt auch zu Entsolidarisierung zwischen den Beschäftigten. In dieser Situation zeigen sich mangelnde Akzeptanz von Arbeitszeitoptionen sowie Abwertung von Frauen (»Teilzeitschlampen«). Besonders stark behindern die Personalengpässe bei der Polizei und in der Krankenpflege die Nutzung von Arbeitszeitoptionen.

»Personalmangel, der eine Vertretung von Fehlenden erschwert, führt zur Entsolidarisierung der Beschäftigten.« Die angespannte Personalsituation führt dazu, dass die Nutzung von Arbeitszeitoptionen nicht als gleichrangiger Anspruch wie Urlaub, Fehlen wegen Krankheit oder Zeitausgleich für Überstunden behandelt wird. Es zeigt sich eine Konkurrenz der Ansprüche. Die Nutzung von Arbeitszeitoptionen für die Familienphase wird nur akzeptiert, wenn zugleich die Interessen anderer Mitarbeitenden gewahrt bleiben. Vor allem die stärker von Frauen genutzten familienbezogenen Arbeitszeitoptionen werden als Gefährdung für die Bedarfe anderer Kollegen (selten Kolleginnen) wahrgenommen. Dies gilt für den Überstundenabbau sowie für die Normalisierung der Arbeitszeit nach langjähriger Schichtarbeit. Langjährig Schicht-Beschäftigte müssen die Schichtarbeit nicht selten aus Gesundheitsgründen aufgeben. Sie konkurrieren mit Teilzeitbeschäftigten um Tagesarbeitsplätze. Hier kann es sogar zu einem Streit der Generationen kommen. Geregelte Ausstiegswege aus der Schichtarbeit dürften daher auch für die Akzeptanz familienbezogener Arbeitszeitoptionen zentral sein.

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STRUKTUR

Personalausstattung Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation

Diskurse

Personalwirtschaft

Akzeptanz und unterstützte Nutzung von Arbeitszeitoptionen

Institutioneller Kontext und Markt

Pioniere und Wegbereiter

Führungskräfte

Betriebs- und Personalräte

HANDLUNG

Abbildung 1

BETRIEBLICHE AKTEURE Führungskräfte unterstützen die Nutzung von Arbeitszeitoptionen in ganz unterschiedlichem Maß. Die Akzeptanz durch die Führungskräfte ist aus der Sicht einzelner Beschäftigter »Glückssache«. Einige Führungskräfte, die zu den Wegbereiterinnen und Wegbereitern einer neuen, lebensphasenorientierten Praxis gehören, bereiten arbeitsorganisatorische Lösungen für Vertretungen vorausschauend vor. Sie nehmen ihre Verantwortung sowohl für die Nutzenden von Opti-

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onen als auch für alle anderen unterstellten Mitarbeitenden wahr, indem diese nicht übermäßig belastet werden. Ein Balancieren von Aufgaben und Ressourcen kennzeichnet das Handeln von unterstützenden Führungskräften. Auch Betriebs- und Personalräte beeinflussen die Akzeptanz von Arbeitszeitoptionen. Durchsetzungsstarke Interessenvertretungen erhöhen die Akzeptanz von Arbeitszeitoptionen, indem sie das Rechtsbewusstsein allgemein stärken. Management und Belegschaft haben dann ein klares Bewusstsein davon, dass Gesetze einzuhalten und Beschäftigtenansprüche zu respektieren sind.


A nalysen Betriebs- und Personalräte tragen zum Abbau von Nutzungsbarrieren bei, indem sie die Gleichstellung der Geschlechter und familienfreundliche Arbeitsbedingungen thematisieren. Aktive betriebliche Interessenvertretungen erhöhen durch Initiieren von Betriebsvereinbarungen die Akzeptanz von Arbeitszeitbedarfen aller Beschäftigten.

FAZIT Barrieren für die Nutzung verbriefter Arbeitszeitoptionen ergeben sich aus mangelnder Personalausstattung und unzureichender Anpassung der Arbeitsorganisation an das zeitweilige Fehlen derjenigen, die Optionen nutzen. Die Arbeitsteilung nach Hierarchiestufen und Geschlecht ist mit

arbeitszeitlichen Stellenzuschnitten verbunden. Diese behindern die Inanspruchnahme von Arbeitszeitoptionen vor allem auf oberen Hierarchieebenen und in »typisch männlichen« Berufen. Die Akzeptanz der Nutzung von Arbeitszeitoptionen positiv beeinflussen können Führungskräfte, Betriebs- und Personalräte sowie andere Wegbereiterinnen und Wegbereiter einer neuen Praxis im Betrieb, indem sie den Wandel der Beschäftigtenstruktur und der Ansprüche der Beschäftigten anerkennen, Vertretungen organisieren und dafür sorgen, dass personelle Ressourcen und Aufgaben ausbalanciert sind.

LITERATUR Anxo, Dominique/Boulin, Jean-Yves/Fagan, Colette/ Cebrián, Inmanculada/Keuzenkamp, Saskia/Klammer, Ute/Moreno, Gloria (2006): Working time options over the life course: New work pattern and company strategies (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions), Luxemburg. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2006): Flexibilität und Verlässlichkeit – Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. 7. Familienbericht, Berlin.

Naegele, Gerhard/Corinna Barkholdt/de Vroom, Bert/ Goul Andersen, J./Krämer, Katrin. (2003): A new organization of time over working life, Dublin. Sümer, Sevil/Smithson, Janet/Guerreiro, Maria das Dores/Granlund, Lise (2008): Becoming working mothers: Reconciling work and family at three particular workplaces in Norway, the UK, and Portugal, in: Community, Work & Family, 11 (4), S. 365–384.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2011): Neue Wege – gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht, Berlin. Kocher, Eva/Groskreutz, Henning/Nassibi, Ghazaleh/ Paschke, Christian/Schulz Susanne/Welti, Felix/ Wenckebach, Johanna/Zimmer, Barbara (2013): Das Recht auf eine selbstbestimmte Erwerbsbiografie. Arbeits- und sozialrechtliche Regulierungen für Übergänge im Lebenslauf: Ein Beitrag zu einem Sozialen Recht der Arbeit, Baden-Baden.

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FLEXIBEL ARBEITEN IN ZEIT UND RAUM Marc Oliver Huber

Die Digitalisierung ermöglicht es Nutzern, in aller Welt und rund um die Uhr aktiv zu sein. Auch Arbeit, insbesondere die sogenannte Wissensarbeit, ist nicht mehr durchgehend an einen bestimmten Ort und eine feste Zeit gebunden. Für Unternehmen wie Beschäftigte ergeben sich daraus große Chancen, aber auch Risiken. Eine Arbeitsgruppe der IT-GipfelPlattform »Digitale Arbeitswelt« hat die Situation mit Blick auf die betriebliche Praxis und das Handeln der Sozialpartner analysiert und in ihrem Bericht erste Empfehlungen ausgesprochen. Der Beitrag fasst die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe zusammen.1

Betriebe sind darauf angewiesen, ihre Beschäftigten flexibel einsetzen zu können: Sie agieren in globalen Wertschöpfungsketten, produzieren »just in time«, müssen Anlagen und Maschinen profitabel auslasten sowie Produkte und Dienstleistungen an den Kundenbedürfnissen ausrichten. Andererseits sind auch aufseiten der Beschäftigten neue Flexibilitätsbedarfe erkennbar: Die Lebensentwürfe werden individueller und vielfältiger, klassische Rollenbilder weichen auf, persönliche Freiheiten und die Balance von Arbeit und Freizeit werden wichtiger – mit dem Ergebnis, dass Beschäftigte mehr Spielräume benötigen und auch aktiv einfordern, um Beruf und Privatleben miteinander in Einklang zu bringen. Die Digitalisierung kann hierbei als Ermöglicher und Verstärker wirken, Arbeitgeber- wie Arbeitnehmeranliegen unterstützen und einen Beitrag für eine verbesserte Zusammenarbeit in flexibel arbeitenden Teams leisten. Mithilfe webbasierter, vernetzter IT-Endgeräte wie Notebooks und Smartphones können viele Arbeitsgegen1

stände und -inhalte mobil und rund um die Uhr bearbeitet werden; Serviceleistungen müssen zum Teil nicht mehr vor Ort erbracht werden, auch die Produktionsabläufe ändern sich. Wie die Technologien in der Praxis wirken und welche Potenziale sie zur Entfaltung bringen, hängt dabei von der konkreten Ausgestaltung im Betrieb genauso ab wie von der individuellen Nutzung und der tariflichen und gesetzlichen Flankierung. Wie flexibel wollen Beschäftigte in der digitalen Arbeitswelt sein? Wie flexibel müssen sie sein? Wie können neue Flexibilitätskompromisse zwischen Beschäftigten und Betrieben aussehen? Diese und weitere Fragen wurden intensiv in einer Arbeitsgruppe zum Thema »Orts- und zeitflexibles Arbeiten« diskutiert, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen des Nationalen IT-Gipfels eingesetzt und gemeinsam mit der IG Metall geleitet hat. Die Arbeitsgruppe war mit Expertinnen und Experten der Sozialpartner, der Unternehmen, der Politik und der Wissenschaft besetzt und hat Ende Mai 2016 ihre Empfehlungen

er ausführliche Bericht »Orts- und zeitflexibles Arbeiten gestalten. Empfehlungen der Plattform ›Digitale Arbeitswelt‹« ist über die Webseite D www.bmas.de abrufbar.

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A nalysen vorgelegt. Dabei lag der Fokus dieser Arbeitsgruppe auf Gestaltungsfragen, die mit der Digitalisierung der Wirtschaft und der Arbeitswelt für abhängig Beschäftigte sichtbar werden. Was waren die wichtigsten Punkte in dieser Debatte und zu welchen Empfehlungen kommt die Arbeitsgruppe?

CHANCEN UND RISIKEN Die Chancen und Risiken flexibler Arbeitsmodelle werden im Folgenden nur kurz umrissen.2 Bei den Chancen für die Beschäftigten sind vor allem eine selbstbestimmtere Arbeitsgestaltung, eine bessere Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf sowie geringere Belastungen (z. B. durch den Wegfall von Pendelzeiten beim Homeoffice) zu nennen, für die Unternehmen mehr Kundennähe, höhere Effizienz, verbesserte interne Kommunikation sowie eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit. Flexibles Arbeiten kann auf der anderen Seite aber auch zur Entgrenzung von Arbeit führen. Mobile Endgeräte werden zum Risiko für die Beschäftigten, wenn die Grenzen von Arbeit und Privatleben verschwimmen und die Grenzziehung zwischen Berufs- und Privatleben nicht gelingt. Dies birgt die Gefahr eines höheren Arbeitsvolumens und höherer Arbeitsintensität ohne ausreichende ungestörte Erholungsphasen und kann mit hoher gesundheitlicher Beanspruchung einhergehen. Eine verstärkte Orts- und Zeitflexibilität bringt auch für Unternehmen Risiken mit sich: Bei unzureichender Kommunikation und Koordination kann es zu Reibungsverlusten und erhöhten Aufwänden kommen, dynamische Prozesse können behindert werden. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die notwendige technische Ausstattung in der Regel höhere Kosten verursachen dürfte. Auch sind laufend datenschutzrechtliche Fragen zu beantworten.

ERFOLGSFAKTOREN Die Teilnehmenden in der Arbeitsgruppe waren sich einig, dass eine erfolgreiche Umsetzung flexibler Arbeitsmodelle in den Betrieben die Einbeziehung der gesamten Besprechungs- und Arbeitskultur voraussetzt. Als ein weiterer zen2

traler Erfolgsfaktor wurde gewertet, dass Beschäftigte befähigt werden, eigenständig zu arbeiten und dabei auch Grenzen zu ziehen. Damit dies gelingen könne, seien jedoch nicht nur individuelle Kompetenzen gefragt, sondern auch verbindliche Regelungen. Betriebliche Regelungen für den Einsatz ortsund zeitflexibler Arbeitsmodelle können dazu beitragen, diese angemessen in die Arbeitsorganisation zu integrieren. Sie können helfen, wechselseitige Erwartungen der Beschäftigten und der Führungskräfte zu formulieren. Damit können sie beiden Gruppen mehr Sicherheit im eigenen Handeln und im Umgang miteinander geben. Die bislang abgeschlossenen Regelungen und Betriebsvereinbarungen beziehen sich meist auf die klassischen arbeitspolitischen Bereiche wie technische Ausstattung, Arbeitszeitregelungen, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Arbeitszeiterfassung sowie Datensicherheit. Eine enge Beteiligung der Beschäftigten an der Erarbeitung neuer Regeln und ihrer Weiterentwicklung wurde dabei als weiterer Erfolgsfaktor identifiziert. Auch wenn die Beteiligung nicht in jedem Fall rechtlich verpflichtend ist, erhöht sie die Chance, dass die erarbeiteten Regelungen in der betrieblichen Praxis akzeptiert und angewendet werden und ein Ausgleich der Bedürfnisse der Beschäftigten mit den betrieblichen Belangen stattfindet. Dies geschieht dort, wo es Betriebsräte beziehungsweise Personalräte gibt, im Rahmen der Betriebsverfassung oder im Rahmen von Tarifverträgen, die zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ausgehandelt werden. Einzelne Unternehmen oder betriebliche Interessenvertretungen führen zusätzlich Mitarbeiterbefragungen durch oder beteiligen die Mitarbeitenden auf andere Weise. Einen Einblick in gute Praxis gibt die Sammlung betrieblicher Gestaltungsbeispiele »Zeit- und ortsflexibles Arbeiten in Betrieben«, die von der Arbeitsgruppe vorgelegt wurde (BMAS 2015a).

HERAUSFORDERUNGEN Im Zusammenspiel von Betriebs- und Tarifpartnern ist aufgrund der geltenden Gesetze bereits heute ein hohes Maß an Flexibilität mög-

Sie werden im Beitrag Schicke, Annette/Lauenstein, Oliver: Flexibel, aber selbstbestimmt – Arbeitszeitwünsche heute, S. 74 ausführlicher dargestellt.

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A nalysen Beschäftigte, die noch nicht im Homeoffice arbeiten: Warum würden Sie gerne von zu Hause arbeiten?

74 %

Vereinbarkeit Beruf und Familie

64 %

Fahrzeit sparen

Vereinbarkeit mit Freizeit

63 % Mehr arbeiten können*

49 %

* Wörtlich: »Weil ich damit meine effektive Arbeitszeit erhöhen kann.«

lich und wird auch »gelebt«. Folgende Herausforderungen wurden dabei in der Arbeitsgruppe intensiv diskutiert: …

Realisierung von Wünschen, im Homeoffice zu arbeiten: In Deutschland herrscht eine relativ starke Anwesenheitskultur. Lediglich ein Drittel der Betriebe mit 50 oder mehr Beschäftigten bietet ihren Mitarbeitenden die Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten. Dieses Angebot richtet sich insbesondere an Führungskräfte und ist weniger Arbeitsform für den Alltag als vielmehr ein Instrument, um auf besondere Situationen zu reagieren. Doch ist der Wunsch der Beschäftigten, im Homeoffice zu arbeiten, deutlich größer als das aktuelle Angebot: Über ein Drittel der Angestellten, die bislang nicht im Homeoffice arbeiten (39 Prozent), würden dies gerne regelmäßig oder gelegentlich tun (BMAS 2015b, S. 17). Bei der Homeoffice-Nutzung liegt Deutschland unter dem EU-Durchschnitt (Brenke 2016). Grenzen der Möglichkeiten, zeit- und ortssouverän zu arbeiten: Andererseits ist zu berücksichtigen, dass flexibles Arbeiten, zum Beispiel im Homeoffice, nur für einen Teil der Tätigkeiten (vor allem Bürotätigkeiten) in Betracht kommt. So gibt es auch typische Tätigkeiten, bei denen nicht absehbar ist, wie die Zeit- und Ortsbindung der

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Haut: C 7 M 3 Y 5 K 8

Besser arbeiten können

36 %

Haut: C 7 M 3 Y 5 K 8

Beschäftigten außer Kraft gesetzt werden könnte, wie zum Beispiel Servierdienste im Hotel- und Gastgewerbe, Verkaufstätigkeiten im stationären Einzelhandel, Pflegetätigkeiten am Menschen, Beförderungsdienstleistungen oder auch Tätigkeiten in der Produktion. Viele Beschäftigte, die nicht mobil arbeiten, möchten dies auch gar nicht (BMAS 2015b, S. 16). Weitere Schranken bei der Umsetzung können sich aus der betrieblichen oder technischen Machbarkeit, den entstehenden Kosten sowie unterschiedlichen Interessen von Mitarbeitenden und Teams ergeben. Flexiblere Lage und Dauer der Arbeitszeit: Den Beschäftigten kann mehr Zeit- und Ortssouveränität helfen, berufliche, familiäre und individuelle Belange besser auszutarieren. Zugleich sehen Betriebe den Bedarf einer weiteren Anpassung an die Gegebenheiten stark internationalisierter und standortübergreifender Arbeitsprozesse. Dabei ist im Gegensatz zur Auffassung der Gewerkschaften aus Sicht der Arbeitgeber der geltende gesetzliche Rahmen teilweise zu starr, um den Bedürfnissen von Beschäftigten und Betrieben ausreichend Rechnung zu tragen, etwa wenn Beschäftigte früher nach Hause gegangen sind und am Nachmittag ihre Kinder betreut haben und am späteren Abend noch arbeiten wollen oder wenn in der Hochphase eines Projekts ein Mitarbeiter aus


A nalysen Beschäftigte, die bereits im Homeoffice arbeiten: Wie häufig kommt es vor, dass Sie in Ihrer Freizeit dienstlich angerufen werden oder dienstliche E-Mails beantworten?

Wie hoch ist der Anteil der Beschäftigten, die vom Homeoffice Gebrauch machen können? (Berechtigte Beschäftigte, nicht tatsächliche Nutzerinnen und Nutzer)

2013

2015

Nie

40 %

35 %

Einige Male im Jahr

26 %

25 %

Verarbeitendes Gewerbe

Einige Male im Monat

17 %

20 %

Dienstleistungen

Einige Male pro Woche

12 %

15 %

5 %

5 %

Führungskräfte

Beschäftigte

41 %

15 %

64 %

20 % …

Jeden Tag

Deutschland an einer kurzfristig angesetzten Telefonkonferenz mit Projektpartnern aus den USA teilnehmen soll. Grenzen der Erreichbarkeit: Eine potenziell permanente Erreichbarkeit von Beschäftigten kann von den Beschäftigten als Belastung empfunden werden, Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von Arbeit und Freizeit mit sich bringen und gesundheitliche Folgen nach sich ziehen, die die Arbeits-, Motivations- und Innovationsfähigkeit beeinträchtigen. Die Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit für dienstliche Anliegen hat sich in den vergangenen Jahren erhöht. Zwei Drittel aller Angestellten sind zumindest gelegentlich zu Hause erreichbar (BMAS 2015b, S. 11). Bei den Arbeiterinnen und Arbeitern sind es 41 Prozent.

Betriebe < 500 Beschäftigte

56 %

18 %

Betriebe ≥ 500 ­Beschäftigte

40 %

23 %

ßigen Anwesenheit der Beschäftigten im Betrieb und gemeinsamen Teamzeiten einhergehen sollte. Von Ausnahmen abgesehen, können dies im Falle des mobilen Arbeitens vor allem alternierende Modelle leisten, die auch eine ausreichende Präsenz im Betrieb sicherstellen. Dabei bestand Einigkeit darin, dass die Lebenssituationen der Beschäftigten und die Bedarfe von Betrieben vielfältig sind und es deshalb differenzierter Antworten bedarf. Dafür sind betriebliche und tarifliche Lösungen, die auf Besonderheiten der Betriebe und einer Branche eingehen können, das geeignete Instrument. Gesetzliche Regelungen braucht es dort, wo gleiche Mindeststandards für alle Beschäftigten gelten sollen. Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge können darauf aufbauen.

EMPFEHLUNGEN Die Arbeitsgruppe hat nicht nur Erfolgsfaktoren und Herausforderungen analysiert, sondern auch Empfehlungen für orts- und zeitflexibles Arbeiten entwickelt und diskutiert. Dabei wurde das Ziel nicht darin gesehen, flexibles Arbeiten zum Leitbild für alle Beschäftigten zu machen, sondern zu ausgewogenen Lösungen zu kommen. So waren die Beteiligten beispielsweise der Auffassung, dass mobiles Arbeiten in der Regel mit einer regelmä-

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Aus der Sicht der Arbeitgeber sollten Homeoffice-Möglichkeiten möglichst nach dem Prinzip der doppelten Freiwilligkeit ausgeweitet werden. Weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dürften dazu gezwungen werden. Aus Sicht der Gewerkschaften bedarf es einer Stärkung der Ansprüche der Beschäftigten auf betrieblicher, tariflicher oder gesetzlicher Ebene, um mehr Zeit- und Ortssouveränität und geringere Belastungen für Beschäftigte durchzusetzen.

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A nalysen Beschäftigte, die bereits im Homeoffice arbeiten: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Arbeiten von zu Hause gesammelt?

Pro Weniger Fahrzeit

Bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben Manche Tätigkeiten besser erledigen

Haut: C 7 M 3 Y 5 K 8

Höhere Wochenarbeitszeit*

Kontra

78 %

Stärkere Vermischung von Arbeit und Privatem**

30 % 73 %

54 %

50 % 22 %

Schlechterer Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen

30 % 63 %

49 %

Haut: C 7 M 3 Y 5 K 8

Schlechtere Leistungs­wahr­ nehmung durch Vorgesetzte

16 % 4 % 7 %

40 % 39 %

Haut: C 7 M 3 Y 5 K 8

* Wörtlich: »Durch die Arbeit von zu Hause kann ich eine höhere Wochenarbeitszeit erzielen.«

** Wörtlich: »Durch die Arbeit von zu Hause verschwimmt die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit.«

Mobiles Arbeiten ist in der Regel an Techniknutzung gebunden, seien es mobile Endgeräte, Apps und dergleichen oder Social Enterprise Software, die in einigen Unternehmen auch für eine bessere Zusammenarbeit und einen besseren Wissensfluss in orts- und zeitflexibel arbeitenden Teams eingesetzt werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Mitarbeitenden lernen können, wie, wo und wann sie bestimmte Technologien und Anwendungen nutzbringend einsetzen können.

cher Natur sein. Geleistete Arbeitszeit sollte unabhängig von der Form und dem Ort der Erbringung entsprechend den Regelungen in Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen erfasst und vergütet werden.

Die Unternehmen sollen darüber hinaus die Kompetenzen der Beschäftigten und Führungskräfte im Umgang mit den besonderen Anforderungen von mobilen Arbeitsformen fördern und ihnen helfen, ihre Arbeit zu organisieren und auch Grenzen zu setzen. Hier sind aus Sicht der Arbeitgeber passgenaue Lösungen (z. B. Schulungen, Coaching) gefragt, die jedoch auch ein gewisses Maß an Eigeninitiative und Engagement der Beschäftigten voraussetzen. Aus Sicht der Gewerkschaften sollten Beschäftigte einen Anspruch auf eine solche Kompetenzförderung haben; entsprechende Angebote müssen mit den Arbeitnehmervertretungen abgestimmt sein. Regelungen hinsichtlich der Zeiterfassung beim mobilen Arbeiten und einer Kompensation von Überstunden können in Betriebs- und Tarifverträgen festgehalten werden. Aus Sicht der Gewerkschaften könnten solche Regelungen auch gesetzli-

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Um die Arbeitszeitflexibilität von Betrieben und Beschäftigten zu fördern, sollte ausHaut: Sicht der C 7 M 3werden. Arbeitgeber das Arbeitszeitgesetz verändert Y 5 8 Konkret wurden eine Umstellung derK täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie eine Ausweitung der Möglichkeiten für Tarifvertragsparteien, die Ruhezeit von elf Stunden auf neun Stunden zu verkürzen, gefordert. Eine kurze Unterbrechung der Ruhezeit, etwa für einen Blick in das E-Mail-Postfach, soll aus Sicht der Arbeitgeber nicht als eine die Ruhezeit unterbrechende Arbeitsaufnahme gewertet werden. Eine Änderung des geltenden gesetzlichen Rahmens wird dagegen von den Gewerkschaften mit Verweis auf den Gesundheitsschutz der Beschäftigten und die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten, die die bestehenden gesetzlichen Regelungen bereits zulassen, abgelehnt. Bei den Betriebsräten werden Änderungen am geltenden gesetzlichen Rahmen teils abgelehnt, teils wird eine Ausweitung von Öffnungsmöglichkeiten im Arbeitszeitgesetz auf der Basis tariflicher Regelungen im Grundsatz befürwortet. Damit sollen Lösungen ermöglicht werden, die stärker auf die Bedürfnisse der Beschäftigten zugeschnitten sind.


A nalysen Eine weitere Empfehlung der Arbeitsgruppe ist, dass in Betrieben verstärkt diskutiert werden sollte, welche Erwartungshaltungen an die Erreichbarkeit der Beschäftigten bestehen und welche Grenzen der Erreichbarkeit bewusst gezogen werden können. Ein Rechtsanspruch auf Nichterreichbarkeit außerhalb der vereinbarten Arbeitszeit, der tariflich oder betrieblich konkret ausgestaltet wird, soll aus Sicht der Gewerkschaften einen gesundheitsförderlichen Rahmen schaffen. Aus Sicht der Arbeitgeber sind gegebenenfalls einheitliche betriebliche Regelungen begrüßenswert, die signalisieren, dass eine permanente Erreichbarkeit nicht erwartet wird. Ein gesetzlicher Handlungsbedarf wird jedoch nicht gesehen.

tierräume einzurichten, in deren Rahmen ergebnisoffen neue Gestaltungsansätze entwickelt, konkrete Veränderungen im direkten Betriebsablauf erprobt und verallgemeinerbare Schlussfolgerungen abgeleitet werden können. Eine sozialpartnerschaftliche Entwicklung von Gestaltungsideen und deren Umsetzung sei dabei eine grundlegende Voraussetzung, um unter den Beschäftigten breite Akzeptanz für die Durchführung eines Praxislabors und die daraus gegebenenfalls resultierenden Veränderungen zu erwirken. Weitergehende Konzepte, Formate und konkrete Fragestellungen solcher Praxislabore sollten in dafür geeigneten Strukturen noch weiterentwickelt und ausformuliert werden.

Die Unternehmen und Betriebe sollen einen adäquaten Arbeits- und Gesundheitsschutz gewähren und gesundheitliche Prävention durch Gefährdungsbeurteilungen und weitere Maßnahmen betreiben. Die gesetzlichen Regelungen im Arbeitsschutz schützen die Beschäftigten vor unzulässigen gesundheitlichen Belastungen und vor dauerhaften Schädigungen als Folge belastender Arbeitssituationen.

FAZIT

Ob bei der Frage nach einer guten Arbeitsorganisation, der künftigen Rolle der Führungskräfte, Auswirkungen auf die Produktivität, Möglichkeiten zur Förderung von Flexibilitätskompetenzen oder gesundheitlichen Langzeitwirkungen auf Beschäftigte: Neben punktuell vorhandener Evidenz gibt es in Bezug auf Erfolg oder Misserfolg etwaiger Maßnahmen zahlreiche Wissensdefizite.

Die Arbeitsgruppe »Orts- und zeitflexibles Arbeiten« kam bei ihren Diskussionen zu dem Ergebnis, dass eine gemeinsame sozialpartnerschaftliche Gestaltung der Arbeitswelt in Zeiten rasanter Veränderungen viele Vorteile für Deutschland bietet. Gerade das Zusammenspiel von Tarifpolitik und betrieblicher Mitbestimmung bietet Chancen für eine Innovationskultur, die sowohl betriebliche Ideen und Innovationen unterstützt als auch Beschäftigtenbelange angemessen berücksichtigt. Dabei können betriebliche Experimentierräume neue Wege der sozialpartnerschaftlichen Gestaltung erschließen. Ob es gelingt, in der Tradition der sozialen Marktwirtschaft zu neuen Kompromissen zu gelangen, wird zur Schlüsselfrage für unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft und unsere Arbeitswelt.

Deshalb besteht eine zentrale Empfehlung der Arbeitsgruppe darin, betriebliche Experimen-

LITERATUR Brenke, Karl (2016): Home Office: Möglichkeiten werden bei weitem nicht ausgeschöpft. DIW-Wochenbericht 5/2016, S. 95-104.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hrsg.) (2015b): Monitor Mobiles und entgrenztes Arbeiten. Aktuelle Ergebnisse einer Betriebs- und Beschäftigten­ befragung.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hrsg.) (2015a): Gute Praxis. Zeit- und ortsflexibles Arbeiten in Betrieben. Sammlung betrieblicher Gestaltungsbeispiele.

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A nalysen

PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN DER ARBEITSWELT Projektteam »Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – wissenschaftliche Standortbestimmung« der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

Steigt mit der Digitalisierung der Arbeitswelt, mit zunehmenden Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen, die psychische Belastung der Beschäftigten? Und: wie können Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sinnvoll darauf reagieren? Ein Projekt der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) zielt darauf, den Stand des Wissens über psychische Belastungsfaktoren im Rahmen einer wissenschaftlichen Standortbestimmung aufzuarbeiten. Ein Projektbericht.

Steigt mit der Digitalisierung der Arbeitswelt, mit zunehmenden Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen, die psychische Belastung der Beschäftigten? Und: wie können Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sinnvoll darauf reagieren? Ein Projekt der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) zielt darauf, den Stand des Wissens über psychische Belastungsfaktoren im Rahmen einer wissenschaftlichen Standortbestimmung aufzuarbeiten. Ein Projektbericht. Die Arbeitswelt unterliegt einem steten Wandel, der sich unter anderem in zunehmenden Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen an die Beschäftigten zeigt. Daneben verändert sich aber auch die Arbeit selbst: Es entstehen neue Anforderungen, wie zum Beispiel Emotionsarbeit

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bei personenbezogenen Dienstleistungen, oder Arbeitsbedingungen, durch die Arbeit intensiviert wird (Rothe/Morschhäuser 2014). Darüber hinaus ist – ausgehend von den im Konzept Industrie 4.0 beschriebenen Zukunftsszenarien – eine zunehmende Vernetzung und Kollaboration von Mensch und Maschine zu erwarten (Kagermann/Wahlster/ Helbig 2013). Mit den skizzierten Entwicklungen geht auch eine Verschiebung der Arbeitsanforderungen einher, da die Anzahl von Tätigkeiten, bei denen kognitive, informatorische sowie emotionale Faktoren dominieren und somit die psychischen im Vergleich zu den physischen Anforderungen überwiegen, gestiegen ist. Damit wird es wichtiger, die psychische Belastung stärker in den Arbeitsschutz zu integrieren, da


A nalysen auch die veränderten neuen Arbeitsbedingungen den Kriterien menschengerechter Arbeit entsprechen sollten. Eine Tätigkeit gilt als human, wenn sie die Gesundheit insgesamt, das Wohlbefinden sowie die Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt, der Qualifikation des Beschäftigten entspricht und die Entfaltung individueller Potenziale und Kompetenzen erlaubt (GfA 1999). Dies verlangt, dass die vorhandenen Kenntnisse zur psychischen Belastung aufbereitet, vorhandene Wissenslücken identifiziert und die Aussagekraft der verfügbaren Gestaltungsaussagen überprüft werden. So ist zu differenzieren zwischen 1. Gestaltungswissen, das im Rahmen von Interventionsstudien oder Studien vergleichbarer Qualität gewonnen wurde (höchster Evidenzgrad), 2. Gestaltungsempfehlungen, die zum Beispiel aus empirisch begründeten Zusammenhängen zwischen Belastung und Beanspruchung gefolgert werden, ohne dass eine separate (empirische) Prüfung der Gestaltungsaussagen vorgenommen wurde, und 3. Gestaltungshinweisen, die sich zwar auf die in den Studien berichteten Erkenntnisse beziehen, jedoch nicht aus der berichteten Evidenz abgeleitet werden (niedrigster Evidenzgrad). Das BAuA-Projekt »Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt« zielt dementsprechend darauf, den Stand des Wissens über psychische Belastungsfaktoren im Sinne einer wissenschaftlichen Standortbestimmung aufzuarbeiten. Einbezogen wurden in die Untersuchung Arbeitsbedingungsfaktoren, die zentrale Komponenten arbeitswissenschaftlicher bzw. arbeitspsychologischer Theorien und Modelle darstellen. Daneben erfolgte die Berücksichtigung solcher Faktoren, die in der politischen Diskussion zur psychischen Gesundheit im Fokus stehen und Eingang etwa in Regulationsvorschläge, Vereinbarungen oder Leitfäden gefunden haben und in der Öffentlichkeit intensiv thematisiert werden. Die so ermittelten Arbeitsbedingungsfaktoren lassen sich inhaltlich vier Themenbereichen zuordnen, nämlich »Arbeitsaufgabe«, »Führung und Organisation«, »Arbeitszeit« sowie »Technische Faktoren«. Bei der Aufbereitung der Literatur wurden nicht nur psychische Störungen, Herz-Kreislauf- und Muskel-Skelett-Erkran-

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kungen, sondern auch Motivation, Arbeitszufriedenheit und Befinden erfasst, da Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern auch das körperliche, geistige und soziale Wohlergehen als wesentliche Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit des Menschen und dessen Teilhabe am Erwerbsleben umfasst (WHO 1946). Das Projekt gliedert sich in drei aufeinander aufbauende Phasen: So erfolgte in Phase 1 eine Aufbereitung des Wissens über die Zusammenhänge zwischen den Arbeitsbedingungsfaktoren und den Gesundheitsindikatoren auf Basis der Methode des Scoping Reviews (Arksey/O’Malley 2005): Dazu wurden Publikationen (Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften, Kongressbeiträge etc.) in Literaturdatenbanken gesucht und ausgewertet, wobei es keine Einschränkung auf bestimmte methodische Vorgehensweisen in den Studien gab. Damit erlaubt dieser Ansatz eine breite Erfassung der verfügbaren Evidenz, sodass auch neuere Themen mit einem noch geringen Stand elaborierter Forschung berücksichtigt werden können. Die Entwicklung der Suchstrings für die einzelnen Scoping Reviews basierte auf den zu den Arbeitsbedingungsfaktoren jeweils vorliegenden Theorien, Modellen und Konzepten. Daneben fanden aber auch publizierte Suchstrings – wie der von Mattioli u. a. (2010) – zur Eingrenzung der Literatursuche auf den Arbeitskontext Verwendung. Artikel wurden von der weiteren Bearbeitung dann ausgeschlossen, wenn die Operationalisierung der Variablen fehlte bzw. nicht nachvollziehbar war oder wenn die Darstellung des methodischen Vorgehens, der verwendeten Messinstrumente bzw. der Ergebnisse unvollständig war. Daneben blieben Artikel unberücksichtigt, die keine Aktualität mehr besaßen, etwa dann, wenn durch technische Entwicklungen Veränderungen des jeweiligen Arbeitsbedingungsfaktors eingetreten sind, die in der entsprechenden Publikation noch nicht berücksichtigt waren. Die Evaluation der in den Publikationen gefundenen quantitativen Ergebnisse berücksichtigt neben der statistischen Signifikanz der Befunde auch die Effektstärke, die Rückschlüsse über die praktische Bedeutsamkeit der Ergebnisse zulässt. Die Klassifikation der Höhe der Effektstärken orientierte sich am Cohen-Schema (Cohen 1988), das zwischen kleinen, mittleren und großen Effekten unterscheidet.

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A nalysen In der Phase II – der Wissensvertiefung – erfolgte im Rahmen von Expertengesprächen mit fachlich einschlägigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus nationalen und internationalen Hochschulen und Forschungseinrichtungen eine Beratung der in den Überblicksarbeiten beschriebenen Befunde. In diesem Rahmen erwies sich bei der Diskussion von Wirkmechanismen der Arbeitsbedingungsfaktoren sowie von Fragen zur Arbeitsgestaltung die Klassifikation der Faktoren in Stressoren und Ressourcen als zielführend. Ein Stressor geht mit physiologischen und/oder psychischen Kosten einher, erschwert das Erreichen der betrieblich erwarteten Arbeitsergebnisse oder übersteigt das Leistungsvermögen des Beschäftigten. Dagegen ist eine Ressource funktional für das Erreichen von Zielen, reduziert Kosten, stimuliert die persönliche Entwicklung und kann die Wirkung von Stressoren abmildern (vgl. Demerouti/Bakker/Fried 2012). In den Expertengesprächen wurden darüber hinaus übergreifende Fragen zum jeweiligen Themenfeld aufgegriffen, unter anderem zu Wirkungszusammenhängen, zu Gestaltungsstrategien, zu Schlüsselfaktoren und Forschungslücken. Die insgesamt so erhaltenen Hinweise und Empfehlungen führten dann zu einer Überarbeitung der Scoping Reviews. In der nun anstehenden Phase III – der Wissensanwendung – soll die im wissenschaftlichen Diskurs ermittelte Erkenntnislage unter dem Aspekt ihrer Relevanz und ihrer Übertragungsmöglichkeiten in die Praxis mit Fachkreisen des Arbeitsschutzes und mit den Vertreterinnen und Vertretern der Sozialpartner und Politik erörtert werden. Dabei wird es wichtig sein, auch einen Überblick über den Beitrag zu erstellen, den existierende Aktivitäten wie das Arbeitsprogramm »Psyche« der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) oder vorhandene, tarifliche Vereinbarungen etc. in Bezug auf die Integration psychischer Anforderungen in den Arbeitsschutz bereits leisten. In diesem Rahmen zeichnen sich die folgenden Diskussionspunkte ab: So dürften einmal Überlegungen zur Weiterentwicklung des klassischen Arbeitsschutzes wichtig werden, der bisher in der Regel vor allem als potenziell kritisch geltende Faktoren betrachtet, für die idealerweise

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normative Schwellenwerte und Messinstrumente vorliegen, wie etwa beim Lärm, oder bei denen eine Minimierung der Exposition nach technischen Standards vorzunehmen ist, wie bei Gefahrstoffen. Bei psychischen Arbeitsbedingungsfaktoren ist zwar zum Teil auch eine Reduktion (etwa Daueraufmerksamkeitsanforderungen), häufiger jedoch eine Optimierung der Arbeitsanforderungen anzustreben, da – wie etwa bei der Arbeitsintensität – eine Überforderung wie auch Unterforderung gleichermaßen zu vermeiden ist. Mit der Wirkung der Arbeitsbedingungsfaktoren als Ressource oder Stressor ergeben sich auch neue Möglichkeiten für den Arbeitsschutz, da die Förderung bzw. der Aufbau von Ressourcen den Einfluss von Stressoren abmildern, Spielräume für die Selbstgestaltung der eigenen Arbeit eröffnen oder die Entwicklung personenbezogener Ressourcen (zum Beispiel die Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Problemlösungskompetenzen) unterstützen kann. Weiterhin erscheint es sinnvoll, bei der Gestaltung nicht einzelne Faktoren, sondern Belastungskonstellationen zu berücksichtigen, da die Wirksamkeit eines Arbeitsbedingungsfaktors immer auch von der Ausprägung der anderen Faktoren mit abhängt und somit die Auswirkungen von Gestaltungsmaßnahmen auf andere Organisationseinheiten oder Kundinnen und Kunden mit bedacht werden müssen. Darüber hinaus sind auch die arbeitsbezogenen Orientierungen und Strategien der Beschäftigten bei der Bewältigung der Arbeitsanforderungen von Bedeutung für die auftretenden gesundheitlichen Folgen, was ein partizipatives Vorgehen bei der Gestaltung nahelegt: So sollten nicht nur Expertinnen und Experten ihr Wissen um Gestaltungsprinzipien und -regeln, sondern auch die Beschäftigten ihre konkreten betrieblichen Kenntnisse über die Arbeitsbedingungen vor Ort mit in den Gestaltungsprozess einbringen. Ein solches Vorgehen setzt voraus, dass die Kompetenzen der Beschäftigten zur Gestaltung ihrer eigenen Arbeit auch gefördert werden. Ein derartiger beteiligungsorientierter Ansatz dürfte weiter mit dazu beitragen, dass die jeweiligen Belastungskonstellationen beachtet und die vorhandenen


A nalysen arbeitswissenschaftlichen und -psychologischen Gestaltungsprinzipien in betrieblich realisierbare, tätigkeitsspezifische Lösungen übersetzt werden. Um eine solche komplexe Gestaltungsaufgabe handhabbar zu machen, könnte es sinnvoll sein, Tätigkeitstypologien zu entwickeln, die den dominierenden Charakter der Aufgabe bzw. die jeweils gegebene, typische Belastungskonstellation beschreiben. Dies dürfte auch die operativen Führungskräfte unterstützen, denen bei der Gestaltung gesundheitsgerechter Arbeit eine zentrale Rolle zufällt: Über sie erfolgt die Klärung von Aufgaben und die Bereitstellung von Ressourcen, und sie verfügen über Möglichkeiten, um im Sinne einer differenziellen und dynamischen Arbeitsgestaltung Aufgaben, Ausführungsbedingungen oder Arbeitszeitarrangements personenbezogen zu optimieren. Wie die Reviewergebnisse belegen, hat ein solcher an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wie an den Aufgaben orientierter Füh-

rungsstil positive Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten. Eine Integration der psychischen Belastung in den Arbeitsschutz wird nur dann gelingen, wenn die maßgeblichen Akteure gemeinsam die Möglichkeiten der Arbeitsgestaltung bei psychischer Belastung im Rahmen des Arbeitsschutzes fortentwickeln, wobei zahlreiche Initiativen bereits erfolgreich gestartet wurden. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin will zu diesem Prozess beitragen und in der Phase 3 des Projekts »Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt« eine entsprechende Diskussion mit der Praxis führen. Der zum Projektende 2016 vorzulegende Abschlussbericht wird den Stand des Wissens sowie den notwendigen Forschungsbedarf beschreiben und Hinweise für die Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes geben.

LITERATUR Arksey, H./O’Malley, L. (2005): Scoping Studies: Towards a Methodological Framework. International Journal of Social Research Methodology, 8, S. 19-32. Cohen, Jacob (1988): Statistical power analysis for the behavioral sciences, 2. Aufl., Hillsdale, NJ. Demerouti, E./Bakker, A.B./Fried, Y. (2012): Work orientations in the job demands-resources model. Journal of Managerial Psychology, 27 (6), S. 557–575. Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA) (1999): Selbstverständnis der GfA, Dortmund. Kagermann, H./Wahlster, W./Helbig, J. (2013): Deutschlands Zukunft als Produktionsstandort sichern – Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0. Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, Frankfurt/M.

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Mattioli, S./Zanardi, F./Baldasseroni, A./Schaafsma, F./ Cooke, R.M.T./Mancini, G./Fierro, M./ Santangelo, C./ Farioli, A./Fucksia, S./Curti, S./Violante, F.S./Verbeek, J. (2010): Search strings for the study of putative occupational determinants of disease. Occupational and Environmental Medicine, 67, S. 436–443. Rothe, Isabel/Morschhäuser, Martina (2014): Psychische Belastungen im Wandel der Arbeit, in: Klein-Heßling, Johannes/Krause, Dominique (Hrsg.), Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt, Heidelberg, S. 77–89. World Health Organization (WHO) (1946): Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. https://www.admin.ch/opc/ de/classified-compilation/19460131/201405080000/ 0.810.1.pdf

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2 DEBATTE

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D ebatte

BETEILIGUNG UND MITBESTIMMUNG Einfluss auf die eigenen Arbeitsbedingungen und die Organisation im Betrieb zu haben, ist für viele Beschäftigte von großer Bedeutung. Auch sind mitbestimmte Unternehmen oft wirtschaftlicher. Welche Herausforderungen ergeben sich für Partizipation und Mitbestimmung in einer sich wandelnden Arbeitswelt? Drei Standpunkte.

VON FORMALISIERTER MITBESTIMMUNG ZU CHANCEN NEUER PARTIZIPATION

Die heutige Arbeitswelt befindet sich in einem Zustand des permanenten Wandels, der aufseiten der Unternehmen vor allem durch die Zunahme der Informationsdichte, die Beschleunigung von Prozessen und die Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen geprägt ist. Aufseiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lässt sich eine zunehmende Heterogenisierung der Interessen und Erwartungen beobachten.

Dr. Elke Eller ist seit Juni 2015 Präsidentin des Bundesverbands der Personalmanager (BPM). Hauptberuflich ist sie als Mitglied des Vorstandes für das Ressort Personal sowie als Arbeits-

Das traditionelle deutsche System der Mitbestimmung wird durch diese Veränderungen vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Denn einerseits müssen sich formelle Verfahrensweisen der Mitbestimmung erheblich beschleunigen – etwa wenn es um neue Geschäftseinheiten oder die Aufsetzung neuer IT-Systeme geht –, und andererseits müssen die Stellvertreter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihrer Arbeit eine viel größere Bandbreite von individuellen Interessen und Anforderungen abdecken. Betriebsräte und Personalmanagerinnen und Personalmanager müssen sich vor diesem Hintergrund fragen, wie verhindert werden kann, dass die oftmals langwierigen und von Bürokratie geprägten Freigabeprozeduren für neue

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direktorin der TUI Group tätig. Sie studierte Volksund Betriebswirtschaft an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität in Frankfurt/Main.


D ebatte IT-Anwendungen oder dynamisch am Markt agierende Ausgründungen zu Innovationsbremsen werden. Hier müssen beide Parteien zu schnelleren und agileren Aushandlungsformen kommen und sich künftig stärker am Geist der Sache orientieren. Denn fest steht: Ohne eine maßvolle Flexibilisierung wird Deutschland in einer digitalisierten und globalisierten Weltwirtschaft bald erhebliche Wettbewerbseinbußen hinnehmen müssen. Gleichzeitig müssen und wollen wir die hohen Schutzstandards unseres Arbeitsrechts wahren und weiterentwickeln, ein Balanceakt, der nicht einfach werden wird. Darüber hinaus geht es darum, das bewährte System der Mitbestimmung nachhaltig zukunftsfähig zu machen. Denn eines dürfte klar sein: An einem Verschwinden der Mitbestimmung und damit dem Ende von für alle Seiten verbindlichen Kollektivverhandlungen haben weder die Unternehmen noch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Interesse. Historisch hat sich die Mitbestimmung in Deutschland stets dadurch ausgezeichnet, dass sie weitgehende Mitspracherechte der Beschäftigten ermöglichte, ohne unternehmerische Innovation und die nötige Flexibilität über Gebühr zu behindern. Soll diese prinzipiell positive Rolle der Mitbestimmung unter den Bedingungen einer gänzlich neuen Dynamik fortgeschrieben werden, muss auch die Mitbestimmung selbst ein neues Tempo einschlagen und gegenüber unternehmerischen Notwendigkeiten an vielen Stellen überdacht werden. Doch Mitbestimmung wird nicht nur von außen gefordert, sie muss auch die Gefahr einer Erosion von innen abwehren: In dem Maße, in dem elektronische Tools und Kommunikationsmedien eine unmittelbare Meinungsbildung unter den Beschäftigten quasi in Echtzeit ermöglichen, läuft die überwiegend repräsentativ verfasste Mitbestimmung schnell Gefahr, nicht als »wahre« Stimme der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstanden zu werden – ein Risiko, das durch immer heterogenere Beschäftigteninteressen nicht kleiner wird. Die Herausforderung hinsichtlich der Mitbestimmung in den kommenden Jahren besteht darin, neue und direkte Partizipationsformen agil in die betriebliche Willensbildung einzubinden und dennoch mit »one voice« für die Belegschaften zu sprechen. Hier können Personalmanagerinnen und Personalmanager vor allem dadurch helfen, dass sie Betriebsräte mit modernen digitalen Kommunikationstools vertraut machen. Das System der Mitbestimmung muss sich weiterentwickeln, an Dynamik gewinnen und neue Partizipationsformen erproben. So wird der Weg für eine Mitbestimmung 4.0 geebnet.

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VERTRAUENSVOTUM MIT NOTBREMSE – WIE WIR ALS NICHT NEINSAGER GEMEINSAM UND TROTZDEM SCHNELL ENTSCHEIDEN

Wir haben unser Mitbestimmungsmodell wegen einer Kaffeemaschine geändert: Wir hatten unsere Agentur Dark Horse mit 30 gleichberechtigten Gründerinnen und Gründern aus 25 Disziplinen gegründet und standen damals kurz vor dem Umzug in ein größeres Büro. Nach zwei Stunden Diskussion über Tabs (umweltschädlich), Siebträger (teuer) und Filterkaffee (nicht lecker) gab es Tränen und Geschrei, aber keine Entscheidung. Wir wussten: Wenn wir kurzfristig wieder Kaffee trinken und langfristig als Unternehmen überleben wollten, mussten wir schneller Entscheidungen treffen. Hierarchie als der traditionelle Weg dafür schied aus. Einerseits wollte keiner von uns Chef oder Chefin sein und allein Verantwortung übernehmen, und andererseits wollte niemand in allen Anliegen durch jemand anderen repräsentiert werden.

Monika Frech ist Mitgründerin und Partnerin bei Dark Horse Innovation. Dark Horse ist eine Agentur für Innovationsentwicklung aus Berlin. Dark Horse entwickelt gemeinsam mit seinen Auftraggebern Produkte, Services und Geschäftsmodelle und unterstützt sie darin, ihre Strukturen, Prozesse und Denkweisen an das digitale Zeitalter anzupassen.

Als Erstes haben wir operative und strategische Entscheidungen entkoppelt. Operativ arbeiten wir in wechselnder Besetzung in zwei- bis fünfköpfigen Projektteams zusammen. Die Teams sind völlig frei, es gibt keinerlei Managementstrukturen. Jedes Team darf und muss seine Entscheidungen von der Budgetplanung bis zur Abrechnung komplett selbstständig treffen. Diese temporäre Führung fördert unternehmerisches Handeln und gemeinsame Lerneffekte. Strategische Entscheidungen – also Dinge, die uns alle angehen und den Kurs unserer Firma maßgeblich beeinflussen – treffen wir nach wie vor gemeinsam. Allerdings haben wir den Entscheidungsmodus auf das sogenannte Konsentprinzip umgestellt. Das bedeutet, ein Vorschlag ist angenommen, wenn keiner einen schwerwiegenden Einwand dagegen hat. Das Vetorecht funktioniert wie eine Notbremse im Zug. Diese zieht man nicht, weil man Lust auf einen Spaziergang hat, sondern weil man um das Wohlergehen der Reisegesellschaft fürchtet. Wie bei der Notbremse wird Missbrauch bestraft; wer einen Einwand hat, muss an einer Alternative mitdenken. Es geht also nicht darum, dass möglichst viele »Ja« sagen, sondern keiner »Nein«. Wir haben gelernt abzuschätzen, wann ein Einwand wirklich schwerwiegend ist und wann wir mit einem Vorschlag leben können. Wir suchen nicht nach perfekten Lösungen, da es diese in einer sich ständig wandelnden Welt sowieso nicht gibt, sondern nach Ansätzen, die funktionieren und bei Bedarf angepasst werden können. Einmal getroffene Entscheidungen können sofort implementiert werden, es gibt keine Blockaden oder Unternehmenspolitik, denn es hätte jeder beizeiten

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D ebatte Nein sagen können. So sind wir weiterhin alle an wichtigen Entscheidungen beteiligt und sind trotzdem schnell. Uns, der Generation Y, sagt man nach, wir könnten schlecht mit Hierarchien umgehen. Wir finden: Nachwuchskräfte, die es ihr Leben lang gewohnt waren mitzudenken, kann man auch als Vorteil für den Arbeitsmarkt sehen. Zudem macht die Digitalisierung Beteiligung in vielen Lebensbereichen erlebbar. Wir beraten unsere Auftraggeber u. a. darin, sich im digitalen Zeitalter gut zu positionieren. Dabei raten wir ihnen dringend davon ab, unser Modell einfach auf gewachsene Strukturen zu übertragen. Im Gegenteil, wenn Chefs sich selbst abschaffen, werden wir eher skeptisch. Stattdessen überlegen wir gemeinsam, welche Ziele ein Unternehmen hat und welche Strukturen heute hilfreich sind, um diese zu erreichen. Unabhängig von den Bedürfnissen und Werten, die sich je nach Branche, Größe und Umfeld einer Firma oder einzelner Abteilungen unterscheiden, ist echte Beteiligung für uns immer dreistufig: Mitarbeitende können erstens Entscheidungen treffen, die ihre tägliche Arbeit unmittelbar beeinflussen. Sie sind zweitens an Entscheidungen beteiligt, die das Unternehmen als Ganzes betreffen. Governance, die Entscheidung darüber, wie überhaupt Entscheidungen getroffen werden, ist die dritte Stufe. Im Kern geht es um Befähigung und Vertrauen. Was nach Bullerbü klingt, ist harte Arbeit: Wer Vertrauen bekommt, muss Verantwortung übernehmen. Auch gemeinschaftlich muss man harte Entscheidungen treffen. Der Wandel der Arbeitswelt ist kein Selbstläufer, aber es lohnt sich trotzdem, selbst schon mal loszulaufen und anzufangen. Mit etwas gutem Willen und viel gutem Kaffee kann er gelingen.

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BETEILIGUNG IN DER ARBEITSWELT 4.0 SICHERN – MITBESTIMMUNGSPOLITISCHEN STILLSTAND ÜBERWINDEN

Die eine möchte früher, länger und mehr im Büro, der andere später, kürzer und mehr von zu Hause arbeiten. Dank der neuen technologischen Möglichkeiten in der Arbeitswelt 4.0 ist dies auch möglich. Die Digitalisierung wird einigen Beschäftigten mehr individuelle Freiheiten bringen. Sie werden zum Beispiel stärkeren Einfluss darauf nehmen können, wann und wo sie arbeiten. Arbeit und Privates werden näher zusammenrücken und sogar teilweise ineinanderfließen.

Thomas Fischer hat Politikwissenschaft an der Universität München studiert. Er war von 2000 bis 2014 für die Bertelsmann Stiftung tätig, die letzten sechs Jahre als Leiter des Büros Brüssel. Seit August 2014 leitet Fischer

Es ist allerdings ein ebenso naheliegender wie falscher Schluss, dass dann am besten jeder nur noch selbst seine individuellen Interessen vertritt. Wenn Unternehmen und Beschäftigte das gleiche Ziel haben, sind Verhandlungen einfach. Wenn durch eine kreative Anpassung von Arbeitsort oder Arbeitszeit der individuelle Alltag der Beschäftigten entlastet wird, kommt das natürlich auch dem Unternehmen zugute. Schwieriger wird es, wenn sich verschiedene Interessen gegenüberstehen. So ist beispielsweise die freie Wahl der Arbeitszeit nur eine Fassade, wenn der Arbeitgeber von den Beschäftigten Erreichbarkeit rund um die Uhr einfordert, die Personaldecke zu dünn ist und dauerhaft zu viel gearbeitet werden muss. Auf Fragen der Personalplanung und des Personaleinsatzes haben die einzelnen Beschäftigten in den seltensten Fällen Einfluss. Notwendig ist ein wohldefinierter Rahmen, der genug Raum für eine individuelle Gestaltung der Arbeitsbedingungen lässt, gleichzeitig aber die Überforderung der Beschäftigten verhindert. Diesen Rahmen zu schaffen, ist Aufgabe der Mitbestimmung. Um dem Unternehmen die Grenzen seines Zugriffs auf die Beschäftigten aufzuzeigen, brauchen wir Betriebs- und Personalräte mehr denn je. Am Ende sollte es die tarifvertraglich abgesicherte Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung sein, die für die oder den Einzelnen ein solides Fundament liefert, um ihre bzw. seine persönliche Arbeitsumgebung bedürfnis- und bedarfsgerecht auszugestalten. Die Themen, für die dieser Regelungsbedarf besteht, verändern sich radikal im Zuge der Digitalisierung. Die Möglichkeiten der Mitbestimmung müssen sich diesen Veränderungen anpassen, um weiterhin die Gestaltung von guter Arbeit gewährleisten zu können. Typische Digitalisierungsthemen, bei denen den Betriebs- und Personalräten bislang die notwendigen Mitbestimmungsrechte fehlen, sind – um nur einige wenige zentrale Bereiche zu nennen – der

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die Abteilung Grundsatzangelegenheit und Gesellschaftspolitik des DGB.


D ebatte Datenschutz, Änderungen im Arbeitsablauf, Personalplanung und Outsourcing sowie Leiharbeit und Werkverträge. Ebenso wichtig wie eine Erweiterung der Mitbestimmungsrechte ist die Praxis der Zusammenarbeit. Insbesondere die um sich greifende, illegale Praxis der systematischen Betriebsratsverhinderung ist ein Skandal und muss endlich wirksam unterbunden werden. Dies gilt vor allem für Erstwahlen von Interessenvertretungen. Sie müssen besser gegen gezielte Behinderungen durch Dritte abgesichert werden. Denn am Ende ist es das konstruktive Ringen zwischen den betrieblichen Sozialpartnern, das es ermöglicht, neue Freiräume für die Beschäftigten zu schaffen und diese fair auszugestalten. Voraussetzung dafür sind gegenseitiger Respekt und Vertrauen. Betriebs- und Personalräte sind nahe an den Beschäftigten, bringen die aus dieser Nähe gewonnenen Kenntnisse in die Unternehmensprozesse ein und verbessern diese. Dies ist übrigens auch im Sinne der Arbeitgeber. Zum Beispiel wissen wir aus der Mitbestimmungspraxis, dass eine frühzeitige Einbindung von Betriebs- und Personalräten schon in der Planungsphase zur Beschleunigung von Entscheidungsprozessen im Unternehmen beiträgt, statt sie zu verlangsamen. Als Fazit bleibt, dass die Bedeutung individueller Beteiligungsansprüche und -rechte in der digitalen Arbeitswelt zunimmt. Um sie tatsächlich in Anspruch nehmen zu können, bedarf es aber mehr denn je klar definierter Leitlinien, die für die Beschäftigten nur durch die rechtlich verbürgten Instrumente kollektiver Mitbestimmung gezogen werden können. Dafür müssen diese Mitbestimmungsrechte allerdings den veränderten Anforderungen der digitalen Arbeitswelt angepasst und der lange anhaltende mitbestimmungspolitische Stillstand in unserem Land muss endlich überwunden werden.

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STELLUNGNAHMEN ZUM GRÜNBUCH ARBEITEN 4.0 An dieser Stelle veröffentlichen wir Auszüge aus den Stellungnahmen von Verbänden und Organisationen zum Grünbuch Arbeiten 4.0. Ausgewählt werden Textsequenzen, die zum jeweiligen Schwerpunktthema passen. In diesem Heft geht es unter dem Thema »Wie wir arbeiten (wollen)« um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Organisation von Arbeit, sich ändernde Ansprüche an die Arbeitszeit sowie neue Herausforderungen für Arbeitsschutz und Mitbestimmung. Die vollständigen Stellungnahmen finden sich im Internet unter: www.arbeiten-vier-punkt-null.de

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ORTS- UND ZEITFLEXIBLES ARBEITEN Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Kommissariat der deutschen Bischöfe, Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesverband ­mittelständische Wirtschaft, Robert Bosch GmbH, Die Führungskräfte e. V.

FLEXIBEL ARBEITEN IM LEBENSVERLAUF Handelsverband Deutschland, dbb beamtenbund und tarifunion, Zentralverband des Deutschen Handwerks, Bundesarbeitgeberverband Chemie

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ARBEITSSCHUTZ vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V., Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Sozialverband Deutschland, Die Führungskräfte e. V.

ARBEITSORGANISATION Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Daimler AG, Arbeitnehmerkammer Bremen, vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V.

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MITBESTIMMUNG Hans-Böckler-Stifung, Daimler AG, ver.di, Bundesarbeitgeberverband Chemie

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ORTS- UND ZEITFLEXIBLES ARBEITEN

Die Digitalisierung ermöglicht neue Formen der Arbeits- und Arbeitszeitgestaltung. Mobiles Arbeiten oder das Arbeiten im Homeoffice gehören heute bereits für viele Beschäftigte zum Alltag. Ihre Zahl wird zunehmen. Beschäftigte legen großen Wert darauf, die Arbeitszeit flexibel zu gestalten. Arbeitszeit wird sich künftig zudem mehr an der individuellen Arbeitsaufgabe und dem Arbeitsanfall orientieren (z. B. Projektarbeit). Der Einsatz neuer Technologien ermöglicht die Berücksichtigung von Flexibilitätsanforderungen der Unternehmen sowie der Flexibilitätsbedürfnisse der Beschäftigten gleichermaßen. So schafft mobiles Arbeiten die Voraussetzung für eine deutlich verbesserte Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben durch mehr zeitliche und insbesondere räumliche Flexibilität. Unternehmen ist es wichtig, dass ihre Beschäftigten Familie und Beruf in Einklang bringen können. Eine gelingende Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben spielt eine wichtige Rolle bei der Personalgewinnung und -bindung. Immer mehr Beschäftigte wollen sich sowohl beruflich als auch familiär einbringen können. Zudem müssen Lösungen für Beschäftigte mit Pflegeverpflichtungen gefunden werden. Digitale Technologien helfen dabei; so können z. B. Pendelzeiten oder Präsenzzeiten reduziert werden. Es bleibt dabei aber wichtig, dass eine Organisationskultur erhalten bleibt, die persönliche Kontakte zwischen den Beschäftigten untereinander sowie zwischen Führungskraft und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglicht. Präsenzzeiten und Zeiten mobilen Arbeitens im Homeoffice sollten mit Blick auf unternehmerische Anforderungen und Wünsche der Beschäftigten harmonisiert sein. Die Digitalisierung kann und wird das persönliche Gespräch nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen.

BUNDESVEREINIGUNG DER DEUTSCHEN ARBEITGEBERVERBÄNDE Die BDA ist der Spitzenverband der deutschen Wirtschaft. Nach außen vertritt sie branchenübergreifend die sozial- und arbeitspolitischen Interessen der privaten und gewerblichen Wirtschaft. Nach innen moderiert die BDA branchen- und regionenübergreifende Konsense ihrer etwa eine Million Mitglieder. Im Rahmen der Sozialpartnerschaft ist die BDA der zentrale Ansprechpartner aufseiten der Arbeitgeber.

Der besseren Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben stehen jedoch vereinzelt gesetzliche Regelungen entgegen. Das deutsche Arbeitsrecht schreibt momentan eine tägliche, ununterbrochene Ruhezeit von elf Stunden vor. Wenn z. B. eine Arbeitnehmerin am Abend nach dem Kinobesuch in der S-Bahn noch schnell einige E-Mails beantwortet, muss sie die Arbeit am kommenden Morgen um 8.00 Uhr wieder aufnehmen können. Das entspricht der Lebenswirklichkeit und der Vorstellung vieler, insbesondere junger Menschen, die mit dem Smartphone zwischendurch kleinere berufliche Dinge erledigen wollen. Oder ein anderes Beispiel: Ein Arbeitnehmer macht früher Feierabend, weil er sein Kind von der Kita abholen möchte. Um die Arbeit vom Nachmittag nachzuholen, arbeitet er am Abend von zu Hause weiter. Wenn seine normale Arbeit um 7.00 Uhr am nächsten Morgen im Betrieb beginnt, dürfte er nach

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D ebatte 20.00 Uhr nicht weiterarbeiten. Hier sollten die gesetzlichen Vorgaben angepasst und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht werden. Digitale Kommunikationsmittel haben Auswirkungen auf Vernetzung innerhalb von weltweit tätigen Unternehmen. Ihre Beschäftigten arbeiten heute selbstverständlich über Zeitzonen hinweg zusammen. Teams werden nicht mehr nur an einzelnen Standorten, sondern für spezielle Projekte zeitweise auch mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weltweit zusammengestellt. In der Hochphase eines Projektes kann es notwendig sein, dass sich beispielsweise ein Spezialist in der deutschen Niederlassung per Telefonkonferenz an einer kurzfristig angesetzten Abstimmungsrunde in den USA beteiligen muss. Sollte er an diesem Tag in Deutschland bereits neun Stunden gearbeitet haben, dürfte er nach aktueller Gesetzeslage maximal eine Stunde an der Telefonkonferenz teilnehmen. Hier sollte es eine Regelung geben, die mehr Flexibilität zulässt. Eine Möglichkeit wäre die Umstellung der Tageshöchstarbeitszeit auf eine Wochenhöchstarbeitszeit, so wie es auch die EU-Arbeitszeitrichtlinie vorsieht. Dies bedeutet keine Ausweitung der Arbeitszeit, sondern nur eine bessere Möglichkeit, die Arbeitszeit innerhalb einer Woche zu verteilen. Die Digitalisierung ermöglicht neue Formen der Arbeits- und Arbeitszeitgestaltung. Mobiles Arbeiten oder das Arbeiten im Homeoffice gehören heute bereits für viele Beschäftigte zum Alltag. Ihre Zahl wird zunehmen. Allerdings sind auch viele Arbeitsplätze hierfür offensichtlich ungeeignet oder es stehen offenkundig betriebliche Belange entgegen, z. B. in der produzierenden Industrie. Ein grundsätzlicher Rechtsanspruch auf Homeoffice ist folglich weder notwendig noch sinnvoll. Viele Beschäftigte streben zunehmend nach einer flexiblen Gestaltung der Arbeitszeit. Wo diese möglich ist, muss diese größere Unabhängigkeit dann aber auch mit einer größeren Eigenverantwortung einhergehen. Folgerichtig wäre, im Sanktionssystem des Arbeitszeitgesetzes bei Arbeitszeitgestaltungen auf Wunsch des Arbeitnehmers eine Exkulpationsmöglichkeit für den Arbeitgeber aufzunehmen, soweit er seinen Aufklärungspflichten nachgekommen ist. Mit der Digitalisierung ändert sich auch das Konsumverhalten. Das Einkaufen via Internet ist für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit geworden. Das Internet bietet die Gelegenheit, nach Ladenschluss oder am Wochenende einzukaufen und Bankgeschäfte zu erledigen. Die Kunden erwarten von den Unternehmen auch einen umfangreichen telefonischen Beratungsservice. Darauf müssen die Unternehmen reagieren. Da der meiste Internethandel am Wochenende stattfindet und Kauf ohne Beratung auch im Interesse des Verbraucherschutzes kein Ziel sein kann, sollten bei den Genehmigungen von Sonn- und Feiertagsarbeit keine übermäßigen bürokratischen Hürden gestellt werden. Bei Callcentern ist bereits eine Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland zu beobachten.

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D ebatte Die mit der digitalen Technik einhergehende räumliche und zeitliche Entgrenzung der Arbeit ermöglicht es einerseits, die Arbeitszeit individueller einzuteilen und zu gestalten. Sie spart Fahrtzeiten zum Arbeitsplatz und kann – verantwortlich gestaltet – die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern. Andererseits fördert sie auch die Isolation des Arbeitnehmers und der Arbeitnehmerin, weil etwa soziale Kontakte am Arbeitsplatz abnehmen. Außerdem birgt sie die Gefahr, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit nicht nur fließender werden, sondern gänzlich verwischen, mit der Folge, dass Arbeitszeiten verlängert und ehedem typische Freizeitelemente in das Arbeitsleben integriert werden, was zur nicht unerheblichen Belastung werden kann. Private Freizeit wird so »verbetrieblicht«.

KOMMISSARIAT DER DEUTSCHEN BISCHÖFE Das Kommissariat der deutschen Bischöfe – katholisches Büro in Berlin ist die Vertretung der deutschen Bischöfe im politischen Berlin sowie in Brüssel. Im Auftrag der

Der Wechsel von Arbeit und Ruhe gehört zum Leben und Dasein des Menschen. Eine Lockerung des grundsätzlichen Arbeitsverbots an Sonn- und Feiertagen lehnt die Kirche daher auch im digitalen Zeitalter ab. Der Sonntag gibt dem Zeitempfinden einen wiederkehrenden Rhythmus und gewährt einen regelmäßigen Freiraum. Menschen leben in Beziehungen: mit der Familie, der Gemeinschaft von Freunden, der Nachbarschaft, dem sozialen Umfeld. Diese Beziehungen können nur gelingen, wenn gemeinsame freie Zeit für sie eingesetzt werden kann. Der Sonntag ist ein Tag der Arbeitsruhe, an dem möglichst viele Menschen zur gleichen Zeit »freihaben« sollen. Der Zusammenhalt in überschaubaren Gemeinschaften wie in der Gesellschaft im Ganzen wird nicht allein durch wirtschaftliche Güter gewährleistet; dazu gehört auch die gemeinsame Teilhabe an kulturellen Gütern, das gemeinsame Erleben, Wahrnehmen und Gestalten der Zeit. Gerade in einer mobilen Gesellschaft trägt der Sonntag zur Unterbrechung und Besinnung wesentlich bei. Der Sonntag unterbricht den Kreislauf von Arbeit und Konsum. Er ist auch im digitalen Zeitalter als gemeinsamer Ruhetag, als Schutz der Arbeitenden, als Symbol der Freiheit und für die Christen als Tag des christlichen Gottesdienstes für die Qualität menschlichen Lebens und Zusammenlebens unersetzlich. Er gehört zu den wichtigen Beiträgen des Christentums zur Kultur unserer Gesellschaft.

Deutschen Bischofskonferenz ist das Kommissariat in politischen Fragen gegenüber den Organen des Bundes, den gemeinsamen Organen der Länder, den Landesvertretungen beim Bund, den Parteien und den auf Bundesebene agierenden gesellschaftlichen Kräften sowie im Zusammenhang damit auch gegenüber internationalen Stellen tätig.

Aber auch innerhalb der werktäglichen Arbeitswoche gilt, dass zum Schutz des Arbeitenden arbeitsfreie Zeiten eingehalten und die Balance von Arbeit und Regeneration gewahrt werden müssen. Ein Arbeitszeitgesetz muss daher aus Sicht der Kirche auch in der »digitalen« Zukunft diese Balance im Blick behalten und gewährleisten.

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DEUTSCHER GEWERKSCHAFTSBUND Der DGB ist die größte

Fakt ist, dass der Arbeitsmarkt in Deutschland bereits in hohem Maße von flexiblen Arbeitszeiten geprägt ist. Aufgrund der durch neue Marktanforderungen und stimulierte Kundenerwartungen zunehmenden Ergebnisorientierung der Unternehmen – insbesondere im Zuge der Digitalisierung (On Demand-Economy, 24/7-Ansprüche et al.) – hat eine Debatte um eine weitere Flexibilisierung von Arbeitsformen und Arbeitszeiten begonnen.

gewerkschaftliche Dachorganisation in Deutschland. Er vertritt als zentraler gewerkschaftlicher Akteur die Arbeitnehmerinteressen und deckt dabei alle Branchen und Wirtschaftsbereiche ab. Dabei fällt ihm die Aufgabe zu, die durchaus diversen

Flexible Arbeitszeiten sind heute in weiten Teilen Deutschlands Normalität. Das Arbeitszeitgesetz lässt den Tarifvertragsparteien weitreichende Möglichkeiten, die dazu genutzt werden, um Arbeitszeiten flexibel anzupassen. Die tariflichen Arbeitszeitregelungen zeigen ein hohes Maß an Flexibilität durch Arbeitszeitkonten (zum Beispiel durch Gleitzeit-, Flexi- oder Langzeitarbeitszeitkonten) sowie spezifisch festgelegte Arbeitszeitkorridore, mit denen die Wochenarbeitszeit ebenso verkürzt wie verlängert werden kann. Die Schwankungsbreite von Ober- und Untergrenzen beträgt bis zu 25 Prozent.

Positionen aus Industrieund Dienstleistungsgewerbe zu vereinen. So steht für den DGB der Erhalt fundamentaler Arbeitnehmerrechte ebenso im Vordergrund wie deren Ausweitung auf neue Felder digitalisierten Arbeitens.

Arbeitszeitsouveränität für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist jedoch trotz der Flexibilisierung nur sehr eingeschränkt gegeben. Nach der aktuellen Unternehmensbefragung von Eurofound (2015) bieten nur knapp 32 Prozent der Unternehmen dem Großteil ihrer Mitarbeiter an, Arbeitsbeginn und Arbeitsende ihren Bedürfnissen anzupassen. Die eingeschränkte Selbstbestimmung der Beschäftigten wird durch den DGB-Index Gute Arbeit (2014) belegt: Danach können 41 Prozent der Beschäftigten überhaupt nicht über Lage und Dauer ihrer Arbeitszeit mitentscheiden. Weit verbreitet und für viele Beschäftigte Normalität sind dagegen atypische Arbeitszeiten. 31 Prozent der Beschäftigten arbeiten oft am Abend, 27 Prozent oft am Wochenende (DGB-Index Gute Arbeit 2014), sonntags 13,8 % (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2015). Schichtarbeit ist auf 16 Prozent gestiegen (WSI 2014).

BUNDESVERBAND MITTELSTÄNDISCHE WIRTSCHAFT Der Bundesverband mittel-

Das Thema Arbeitszeit wird eine Schlüsselfrage der Debatte über zukünftige Arbeit bleiben. Es bedarf passgenauer Lösungen, die anerkennen, dass es die »Normalität« früherer Berufsbiografien immer weniger geben wird. Dazu zählt auch, dass Arbeitnehmer gleichzeitig Konsumenten sind, für die es im Internet oder bei telefonischen Beratungsangeboten keinen Ladenschluss und kein Wochenende gibt. Die Frage nach Sonn- und Feiertagsarbeit wird sich daher in Zukunft verstärkt stellen.

ständische Wirtschaft ist ein branchenneutraler Interessenverband. Inklusive der Mitglieder der kooperierenden Fach- und Branchenverbände spricht der BVMW für

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Eine Chance, um diese unterschiedlichen Faktoren miteinander zu vereinbaren, könnte die Umstellung von einer Tageshöchstarbeitszeit auf eine Wochen- oder Monatshöchstarbeitszeit sein. Die gleiche Arbeitszeit könnte so anders verteilt werden. Das würde keine Ausweitung der Arbeitszeit bedeuten, sondern eine Möglichkeit, die Arbeitszeit besser an individuelle Bedürfnisse


D ebatte von Arbeitnehmern und betriebsinterne Erfordernisse von Unternehmen anzupassen. Im Rahmen flexiblerer Arbeitszeitmodelle können Langzeitarbeitskonten besser genutzt werden, um unterschiedlichen Lebensphasen gerecht zu werden.

mehr als 270.000 Unternehmen mit rund neun Millionen Beschäftigten. Der BVMW will die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland verbessern.

Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist in der Bosch-Gruppe elementarer Baustein der Personalpolitik. Bereits heute wird dem mit vielfältigen, flexiblen Beschäftigungsmodellen Rechnung getragen. Diese Modelle basieren auf den bestehenden gesetzlichen Bedingungen und geben den Beschäftigten die Freiheit, die Arbeit mehr an die individuellen Bedürfnisse und die jeweilige Lebensphase anzupassen. Die Kontrolle des Arbeitgebers beschränkt sich auf die Erfüllung der Arbeitsaufgaben und die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben.

ROBERT BOSCH GMBH Die Bosch-Gruppe ist ein international führendes Technologie- und Dienstleistungsunternehmen mit weltweit rund 375.000 Mitarbeitern (Stand: 31.12.2015).

Die Beschäftigungsmodelle sind nicht auf die gesetzlichen Formen wie Teilzeit, Elternzeit und Pflegezeit beschränkt, sondern wurden um innovative Flexibilitätsmodelle erweitert. Schon heute bietet »mobiles Arbeiten« – durch eine entsprechende Konzernbetriebsvereinbarung – Bosch-Mitarbeitern die individuelle Möglichkeit, ihrer Tätigkeit unabhängig vom betrieblichen Arbeitsplatz an einem anderen Ort nachzugehen (z. B. im Homeoffice, im Flugzeug, im Zug, im Café). Langzeitkonten ermöglichen verschiedenen Mitarbeitergruppen, Auszeiten nach Bedarf der jeweiligen Lebensphase zu nehmen. Gleiches gilt für die neben den Langzeitkonten angebotenen Sabbaticals. Job-Sharing und Top-Sharing stehen für flexible und selbstbestimmte Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit. Ebenso läuft in einem Fertigungsbereich ein Projekt zur Realisierung einer durch die Beschäftigten selbst gesteuerten Schichtplanung (sog. Schicht-Doodle). Aus diesen Erfahrungen leiten wir für die Gestaltung der Industrie 4.0 folgende Schlussfolgerungen ab: •

Flexible Beschäftigungsformen führen nur dann zum Erfolg, wenn die unternehmerische Tätigkeit und die Bedürfnisse der Beschäftigten den gleichen Stellenwert haben.

Die individuelle Anpassung der Bedürfnisse und Lebensphasen an die berufliche Tätigkeit erfordert eine gesteigerte Planungs- und Organisationskompetenz aufseiten der Beschäftigten. Durch Freiheiten bei der Wahl des Arbeitsortes und der Lage der Arbeitszeit wird der Beschäftigte tiefer in das unternehmerische Handeln eingebunden und seine Eigenverantwortung steigt.

Starre gesetzliche Vorgaben erschweren die von den Beschäftigten gewünschte Flexibilisierung. Die Anpassung der Beschäftigungsmodelle an die individuellen Bedürfnisse der Beschäftigten erfordert Spielraum für die Konkretisierung durch die Sozialpartner und darf nicht durch unflexible gesetzliche Rahmenbedingungen beschränkt werden.

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Sie erwirtschaftete im Geschäftsjahr 2014 einen Umsatz von 70 Milliarden Euro. Die Aktivitäten gliedern sich in die vier Unternehmensbereiche Mobility Solutions, Industrial Technology, Consumer Goods sowie Energy and Building Technology.

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DIE FÜHRUNGSKRÄFTE E. V. Der Verband Die Führungs­

Eine Erweiterung der gesetzlichen Rahmenbedingungen ist in den Bereichen notwendig, in denen es gemeinsamen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen gebieten. Deshalb sollten die durch die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG eingeräumten Freiräume in der nationalen Gesetzgebung genutzt werden:

Das ArbZG sollte entsprechend der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG eine wöchentliche statt eine tägliche Höchstarbeitszeit festlegen (keine Erhöhung des zu leistenden, wöchentlichen Arbeitszeitvolumens).

Kurzfristige Unterbrechungen der Ruhezeit sollten für die Einhaltung von Ruhezeiten unerheblich sein.

Im ArbZG sollten allgemeine Öffnungsklauseln für kollektive Regelungen aufgenommen werden, die Abweichungen von den gesetzlichen Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten für die Fälle gestatten, in denen die Lage der Arbeitszeit durch den Arbeitnehmer bestimmt wird. Derzeit sind die Öffnungsklauseln auf Möglichkeiten begrenzt, die sich auf die »Art der Arbeit« beziehen und nicht auf die Wünsche des Arbeitnehmers.

Flexibles und mobiles Arbeiten wird zukünftig viel stärker nachgefragt werden. Dies gilt auch und gerade für Führungskräfte. In Deutschland verbindet man Führung und Leitung oft noch mit Präsenz(-pflicht) im Unternehmen. Der/die Vorgesetzte hat durch die Anwesenheit zu delegieren und auch zu kontrollieren. Doch dieses Klischee der Führungskraft ist längst durch die Realität überholt.

kräfte e. V. fungiert als Berufsverband für Fach- und Führungskräfte. Er vertritt in seinem Netzwerk rund 25.000 Mitglieder auf politischer und wirtschaftlicher Ebene und bietet umfangreiche karriereunterstützende

Bereits heute sind Führungskräfte für ihre Mitarbeiter infolge vieler Auswärtstermine, Meetings, Kundenbesuche etc. kaum mehr physisch anwesend. Umgekehrt gilt dies auch für die Mitarbeiter, deren fachliche und disziplinarische Vorgesetzte nicht nur in Deutschland, selbst oft an unterschiedlichen Orten ihren Dienstsitz haben, sondern immer häufiger auch in ausländischen Niederlassungen des deutschen Unternehmens oder bei einer ausländischen Muttergesellschaft arbeiten.

Maßnahmen an. Neben Seminaren und juristischen Services gehört vor allem die ausgeprägte, bundesweite Netzwerktätigkeit zu den Leistungen des DFK. Der Verband gibt die Zeitschrift »Perspektiven für Führungskräfte« heraus.

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Eine erfolgreiche und gute Führung ist dennoch sehr gut möglich. Oft scheinen Ressentiments in den Unternehmen und bei den Mitarbeitern zu bestehen, viele trauen ihren Mitarbeitern ein eigenständiges und strukturiertes Arbeiten außerhalb betriebsüblicher Arbeitszeiten nicht zu. Hier besteht häufig die Sorge, dass die Mitarbeiter z. B. im Homeoffice leichter abgelenkt werden. Aber: Die bloße Anwesenheit im Büro garantiert gleichfalls nicht, dass wirklich effektiv gearbeitet wird. Viele Arbeitskräfte, die teilweise im Homeoffice arbeiten, berichten uns, dass sie hierdurch viel effizienter arbeiten können als im Büro und unter einem vorgegebenen Arbeitszeitrahmen.


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FLEXIBEL ARBEITEN IM LEBENSVERLAUF

Im Grünbuch wird die Frage aufgeworfen, ob ein Teil der möglichen Produktivitätsgewinne durch die digitale Wirtschaft für die Förderung lebensphasenorientierter Arbeitszeitmodelle verwendet werden kann. In diesem Zusammenhang fällt auch das Stichwort der sog. »Familienarbeitszeit«. Die Idee, Entgelteinbußen durch vollzeitnahe Teilzeit mithilfe staatlicher Mittel zu kompensieren, würde – ebenso wie die im Koalitionsvertrag angekündigte Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Rückkehranspruchs auf Teilzeit – zu einer weiteren Ausweitung der Arbeitszeitsouveränität von Arbeitnehmern führen.

HANDELSVERBAND DEUTSCHLAND Der Handelsverband Deutschland (HDE) ist die Spitzenorganisation des deutschen Einzelhandels. Insgesamt erwirtschaften in

Für die Unternehmen stellt sich damit vermehrt die Frage, wie die frei werdenden Zeitkontingente, die häufig nur wenige Wochenstunden betragen, ausgefüllt werden sollen. Zumal die Flexibilisierungsinstrumente auf Arbeitgeberseite im Gegenzug immer weiter eingeschränkt werden (bspw. die Zeitarbeit). Besonders problematisch ist auch die Lage der frei gewordenen Zeitkontingente. Häufig werden sich die Arbeitnehmer wünschen, ihre Arbeitszeit um die unter Arbeitnehmern eher unpopulären Arbeitszeiten zu verringern, bspw. früh am Morgen oder kurz vor Feierabend. Unternehmen haben in der Praxis dann häufig große Probleme, diese geringen Zeitkontingente mit entsprechend qualifiziertem Personal aufzufüllen. Welche Fachkraft würde denn ein Arbeitsverhältnis im Umfang von bspw. fünf bis zehn Wochenstunden annehmen? Noch zusätzlich erschwert wird die Suche nach Personal, wenn diese Stelle wegen des Rückkehranspruchs des zu ersetzenden Arbeitnehmers nur befristet angeboten werden könnte.

Deutschland 300.000 Einzelhandelsunternehmen mit drei Millionen Beschäftigten an 450.000 Standorten einen Umsatz von über 450 Milliarden Euro jährlich. Der HDE hat rund 100.000 Mitgliedsunternehmen aller Branchen, Standorte und Größenklassen. Mit seiner Stimme repräsentiert der HDE die Pluralität des Einzelhandels vom Mittelstand bis hin zu großen Weltunternehmen. Der HDE wirkt in mehr als 60 nationalen und internationalen Organisationen mit.

Dem Wunsch der Eltern nach partnerschaftlicher Teilung der Erziehungsarbeit kann durch eine gemeinsame Reduzierung der Arbeitszeit der Eltern mit finanziellem Ausgleich Anschub geleistet werden. Da Erziehungsarbeit kein Privatvergnügen darstellt, sondern eine wichtige gesellschaftsrelevante Aufgabe ist, müssen die Einkommensverluste, die durch die Reduzierung entstehen, auch gesamtgesellschaftlich getragen werden. Die in der Diskussion stehende Familienarbeitszeit ist ein guter erster Schritt. Hierbei muss auch an Anreize gedacht werden, die den Eltern, die sich derzeit in der klassischen Rollenverteilung befinden – Vater Vollzeit, Mutter Teilzeit – eine partnerschaftliche Aufgabenteilung ermöglichen. Eine Mutter mit 20 Wochenarbeitsstunden profitiert nur dann von einer Familienarbeitszeit, wenn sie ihre Arbeitszeit auch tatsächlich erhöhen kann. Zudem bedarf es einer Bandbreite an Arbeitszeitmodellen. Das gängig vorgeschlagene 80-80-Modell, d. h., jeder Elternteil reduziert seine Arbeitszeit auf 80 Prozent der vollen Arbeitszeit, greift zu kurz. Es gibt viele Kombinationswünsche, die zu einer partnerschaft-

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DBB BEAMTENBUND UND TARIFUNION Mit über 1,28 Millionen Mitgliedern ist der dbb die große deutsche Interessenvertretung für Beamte und Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst und im privaten Dienstleistungssektor. Ziele sind eine leistungsstarke und menschliche Verwaltung, engagierte

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D ebatte Beamte mit leistungsorientiertem Dienstrecht, der Erhalt von Tarifautonomie

lichen Aufgabenverteilung führen. Eine Lösung wäre ein größerer Arbeitszeitkorridor, der den Eltern Platz für ihre Bedürfnisse zwischen Aufteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit lässt.

und Flächentarifvertrag, moderner Föderalismus statt egoistischer Kleinstaaterei und eine leistungsbezogene Bezahlung.

ZENTRALVERBAND DES DEUTSCHEN HANDWERKS Der Zentralverband des Deutschen Handwerks ist der Dachverband der Handwerkskammern sowie der handwerklichen Fachverbän-

Der Gesetzgeber muss die Möglichkeiten einer temporären Freistellung von der Arbeit weiter ausbauen. In vielen Lebenslagen ist es einem Beschäftigten nicht ohne Weiteres möglich, seiner Arbeit nachzukommen. Die derzeit geregelten Möglichkeiten, eine Auszeit zu nehmen, greifen oftmals zu kurz. So deckt eine Übertragung der Elternzeit bis zum achten Lebensjahr des Kindes nicht das Bedürfnis der Eltern ab, das Kind in wichtigen Lebensschritten vollumfänglich zu unterstützen. Zu denken ist hier als Beispiel die Unterstützung des Kindes bei dem Übergang zur weiterführenden Schule. Elternzeit, die ohne berufliche Nachteile bis zum 18. Lebensjahr des Kindes genommen werden kann, sollte das Ziel sein. Zudem wäre es gesellschaftspolitisch wünschenswert und zukunftsorientiert, wenn die zeitliche Beschränkung der Inanspruchnahme der Elternzeit gänzlich aufgehoben wird. Strikte drei Jahre Elternzeit werden für viele Eltern künftig bei der Familienplanung nicht mehr ausreichend sein.

Der durchschnittliche Handwerksbetrieb beschäftigt fünf bis acht Mitarbeiter. Würden in einem Betrieb mit fünf Beschäftigten nur zwei Arbeitnehmer ihre individuellen Arbeitszeitwünsche etwa im Rahmen der Familienarbeitszeit durchsetzen, müssten 40 Prozent des im Betrieb verfügbaren Arbeitszeitvolumens umverteilt und zudem noch in Einklang mit im Zweifel entgegenstehenden Arbeitszeitvorstellungen anderer Beschäftigter gebracht werden. Dies wird insbesondere dann schwierig sein, wenn es um Arbeiten auf externen Baustellen geht, deren An- und Abfahrt zu Arbeitsbeginn bzw. Arbeitsende oftmals gemeinschaftlich durch die Arbeitnehmer erfolgt, oder Anschlussarbeiten auch im Zusammenwirken mit anderen Gewerken notwendig sind.

de. Er vertritt die Interessen der handwerklichen Betriebe und ihrer Beschäftigten auf Bundes- und EU-Ebene. Der ZDH argumentiert dement-

Ebenso wäre ein – wenn auch nur teilweiser – Lohnausgleich im Rahmen der Familienarbeitszeit gerade für die personalintensiven Handwerksbetriebe, die im Vergleich zur Industrie einen überproportionalen Anteil von Personalkosten zu tragen haben, nicht leistbar.

sprechend für eine stärkere Berücksichtigung handwerksspezifischer Themen, die nicht im Gegensatz zu Industrie, Handel und Dienstleistung gedacht werden sollen.

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Auch die Einführung eines befristeten Rückkehrrechts aus einer Teilzeitin ein Vollzeitarbeitsverhältnis wäre problematisch, da damit die Flexibilität vor allem kleiner und mittlerer Betriebe des Handwerks erheblich eingeschränkt wird. Es ist schwer nachvollziehbar, wie es bei einem Auftragsvorlauf von regelmäßig gerade mal vier bis sechs Wochen in diesen Betriebsstrukturen gelingen soll, über Jahre hinweg ein gewisses Zeitvolumen – im Zweifel künstlich – aufrechtzuerhalten. Bereits der gegenwärtige Teilzeitanspruch stellt die Unternehmen vor große Herausforderungen.


D ebatte

BUNDESARBEITGEBERVERBAND CHEMIE Der Bundesarbeitgeberverband Chemie ist der tarif- und sozialpolitische Spitzenverband der chemischen und pharmazeutischen Industrie sowie großer Teile der Kautschuk-Industrie und der Kunststoff verarbeitenden Industrie. Er vertritt

Leben und Arbeiten in Einklang zu bringen, ist aber nicht nur eine zentrale Herausforderung im Lebensalltag von Familien, sondern betrifft auch Menschen in anderen Lebensphasen. Gesundheitsverträgliche Arbeitszeiten sowie die Kombination von Arbeit mit einer Aus- oder Weiterbildung können ebenfalls Zeitkonflikte verursachen. Zur Ermöglichung einer lebensphasenorientierten Arbeitszeitgestaltung haben die Tarifvertragsparteien der chemischen Industrie mit der Fortentwicklung des Tarifvertrages Lebensarbeitszeit und Demografie (TV Demo) im Jahr 2012 das tarifliche Modell RV 80 geschaffen, das im Mai 2016 weiterentwickelt wurde. Mit diesem Modell können eine flexible Arbeitszeitgestaltung für bestimmte Lebensphasen (z. B. Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, Weiterbildung) und ein flexibler Übergang in den Ruhestand realisiert werden. Es ermöglicht die Reduzierung auf beispielsweise 80 %, ohne dass sich entsprechend die Vergütung verringert.

die Interessen seiner zehn regionalen Mitgliedsverbände mit 1.900 Unternehmen und 550.000 Beschäftigten gegenüber Gewerkschaften, Politik und Öffentlichkeit.

Darüber hinaus stellt der TV Demo ein weiteres zukunftsorientiertes Instrument für eine flexible Lebensarbeitszeit – das Langzeitkonto – zur Verfügung. So können die Arbeitnehmer in der chemischen Industrie während ihres aktiven Berufslebens auf einem Langzeitkonto ein Guthaben ansparen, welches zur Finanzierung bezahlter Freistellungsphasen (z. B. für Qualifizierung, Freizeit, Pflege von Angehörigen, vorgezogenen Ruhestand) herangezogen wird. Aus Sicht der Chemie-Arbeitgeber ist es vorrangige Aufgabe der Tarifvertragsparteien, bedarfsgerechte Rahmenbedingungen für moderne Arbeitsformen zu schaffen bzw. fortzuentwickeln, die dann durch die Betriebspraxis entsprechend konkretisiert und ausgefüllt werden können.

ARBEITSSCHUTZ VBW – VEREINIGUNG DER BAYERISCHEN WIRTSCHAFT E. V. Die vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. ist eine freiwillige, branchenübergreifende und zentrale

Durch die Arbeitsschutzvorschriften werden hohe bürokratische Hürden für den Mitarbeitereinsatz an anderen Orten aufgebaut. Der Arbeitgeber ist nach derzeitiger Rechtslage verpflichtet, eine Gefährdungsbeurteilung für jeden Arbeitsplatz vorzunehmen und Dokumente über das Ergebnis dieser Beurteilung bereitzuhalten. Die Einschätzung fällt jedoch schwer, soweit Arbeitnehmer an wechselnden Orten außerhalb des Betriebsgeländes tätig sind. Die Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung muss ausdrücklich auf den Bereich beschränkt werden, der dem Einflussbereich des Arbeitgebers unterliegt. Das wird auch dem Zweck des ArbSchG und der zugrunde liegenden europäischen Richtlinie 89/391/EWG gerecht: Der Arbeitnehmer soll vor Gefahren bei der Arbeitsleistung geschützt werden, aber nicht vor Gefahren, denen er sich selbst aussetzt. Weitere Rechtsverordnungen zum Arbeitsschutz sind überflüssig.

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D ebatte Interessensvereinigung der bayerischen Wirtschaft, vertritt 127 Arbeitgeber- und

Einheitliche Vorschriften in diesem Bereich können den betrieblichen und branchenspezifischen Besonderheiten nicht gerecht werden. Das gilt insbesondere für die diskutierte Neufassung zur Arbeitsstättenverordnung.

Wirtschaftsverbände sowie 41 Einzelunternehmen und fungiert als bayerische Landesvertretung von BDA und BDI. Im Rahmen dieses Auftrags setzt sich die vbw für wirtschaftliche, soziale und gesellschaftspolitische Belange ihrer Mitglieder ein.

Es wird die Tatsache nicht ausgeschlossen, dass Veränderungen in der Arbeitswelt zu neuen Handlungsfeldern im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes führen. Es wird ebenfalls nicht ausgeschlossen, dass dadurch neuartige multifaktorielle Verknüpfungen zwischen den klassischen Gefährdungsfaktoren entstehen und neue Formen von psychisch-physiologischen Belastungen und Beanspruchungen für Beschäftigte befördert werden. Dies verlangt jedoch nicht nach neuen gesetzlichen Regelungen, sondern nach prospektiver, ganzheitlicher und nachhaltiger Planung beim Umgang mit psychischen Belastungsfaktoren. Daraus ergibt sich ein Bedarf an Methodenentwicklung und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen sowohl in der Erarbeitung notwendiger Kompetenzen zur Förderung der Selbstregulation der Mitarbeiter als auch im Themenfeld der Arbeitsanalyse und ganzheitlicher Gefährdungsbeurteilung. Vorrangiges Ziel muss daher sein, durch konkrete Hilfestellungen Handlungssicherheit in den Unternehmen zu erzeugen. Je mehr Freiheiten die Mitarbeiter durch digitales, orts- und zeitunabhängiges Arbeiten erlangen, desto mehr Eigenverantwortung muss man ihnen auch beim Arbeitsschutz überlassen. Eine ständige Überwachung des mobilen Arbeitnehmers durch den Arbeit-geber ist weder sinnvoll noch machbar.

DEUTSCHE GESETZLICHE UNFALLVERSICHERUNG Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) ist der Dachverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der Unfallkassen. In den Selbstverwaltungsgremien aller Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und ihres Verbandes »Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung« sind sowohl die Arbeitgeber als auch die Versicherten (Arbeitnehmerinnen und

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Der digitale Wandel – bedingt durch den technischen Fortschritt – verändert zunehmend und mit hoher Dynamik die Gesellschaft und die Risiken, denen sie ausgesetzt ist. Vielfach kommt es zu deutlich höherer technischer Sicherheit in den Betrieben. Technische Innovationen und immer kürzere Produktlebenszyklen können aber auch nicht beabsichtigte und unvorhersehbare Folgen mit sich bringen. So können innovative Fertigungstechniken und Arbeitsmethoden neue Unfallrisiken oder Gesundheitsbelastungen zur Folge haben: Beispielhaft sei die Vielzahl neuer Verfahren und Einsatzbereiche für bekannte und neue, bislang unzureichend untersuchte Gefahrstoffe genannt, bei denen die Risiken vor allem durch komplexe Mischexpositionen im Niedrigdosisbereich entstehen. In diesem Kontext sind Gefahrstoffbelastungen durch den Einsatz von 3-D-Druckern zu erwähnen. Weitere Beispiele sind Sicherheitsrisiken durch kollaborierende Roboter, physische und psychische Belastungen durch Informationsüberflutung oder mobile Arbeit, aber auch Probleme der Datensicherheit in digitalisierten, vernetzten Arbeitssystemen. Hier muss die Unfallversicherung mit daran wirken, dass Arbeitssysteme und Mensch-System-Schnittstellen menschengerecht, gesund und sicher (auch im Sinne sicherer Datenübertragung) gestaltet werden. Hier sind Methoden gefragt, mit denen sich Sicherheits- und Gesundheitsrisiken frühestmöglich abschätzen lassen, damit man mit der


D ebatte hohen Innovationsgeschwindigkeit Schritt halten kann. Eine durch fortschreitende Digitalisierung mögliche Verschiebung von vielseitig körperlich belastenden, manuellen Tätigkeiten hin zu eher einseitigen körperlichen oder geistigen Belastungen oder Kombinationsbelastungen kann auch zu einer Verschiebung der gesundheitlichen Beanspruchung führen. Gleichzeitig werden viele Tätigkeitsprofile komplexer. Hieraus können neue Herausforderungen für die arbeitsmedizinische Forschung und Betreuung entstehen. Auch ob dies zu neuen Berufskrankheiten führt, wird sorgfältig zu beobachten sein.

Arbeitnehmer) mit jeweils gleicher Stimmenzahl (paritätisch) vertreten.

Die zukünftige Präventionsforschung muss sich den durch Digitalisierung veränderten Arbeitssystemen als Ganzes (Mensch, Organisation, Technik) zuwenden, um gesundheitliche Wirkungen zu erforschen und Lösungen zu entwickeln bis hin zu Regeln für eine menschengerechte Gestaltung. Technische Entwicklung, arbeitsmedizinische und arbeitswissenschaftliche Forschung sind dabei gleichermaßen gefragt. […] Bei der Soloselbstständigkeit – wie auch im Fall von Telearbeit und mobiler Arbeit – entsteht durch Flexibilisierung zunächst größere Arbeitszeitsouveränität. Den damit verknüpften positiven Effekten können aber häufig eine Verdichtung und/oder Entgrenzung von Arbeit gegenüberstehen mit entsprechenden Negativfolgen für die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten (körperliche und psychische Gesundheitsgefahren, Unfälle, Arbeitsunfähigkeit). Neuartige flexible, weitestgehend selbstbestimmte Arbeitsformen an wechselnden Orten verlangen zwangsläufig nach mehr Selbstverantwortung und Kompetenzen in Bezug auf sicheres und gesundes Arbeiten bei den Beschäftigten. Die Arbeitsschutzgesetzgebung allein wird deshalb dem Wandel der Wertschöpfung nicht gerecht werden können. Damit solche Selbstverantwortung und Kompetenzen möglich werden, wird die gesetzliche Unfallversicherung, insbesondere die Prävention, neue Kommunikationsformen, -medien und -kanäle nutzen und entwickeln, um ihre Botschaften erfolgreich zu transportieren und Menschen für Sicherheits- und Gesundheitsthemen zu sensibilisieren und zu einem sicherheits- und gesundheitsgerechten Verhalten zu motivieren.

Die neuen digitalen Techniken bringen für die Beschäftigten eine Entgrenzung von Zeit und Raum mit sich. Gearbeitet werden kann von jedem Ort zu jeder Zeit – und das in einem immer schnelleren Tempo. Ein 24/7-Dienst ist nicht mehr nur die Ausnahme für Beschäftigte z. B. bei Polizei, im Krankenhaus oder bei der Feuerwehr. Auch die Dienste im Logistikund Versandhandelbereich sind rund um die Uhr gefragt – vorangetrieben von den Interessen der Konsumenten, 24 Stunden am Tag per Mausklick einkaufen zu können und die Ware per Expresslieferung möglichst sofort zu erhalten; vorangetrieben vom Wettbewerb zwischen den einzelnen Onlinekaufhäusern um den jeweils höchsten Umsatz. Auch andere Branchen sind inzwischen davon

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SOZIALVERBAND DEUTSCHLAND Der Sozialverband Deutschland (SoVD) zählt zu den ältesten sozialpolitischen Verbänden in Deutschland.

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D ebatte Er vertritt die Interessen der gesetzlich Rentenversicherten, der gesetzlich Krankenversicherten sowie der pflegebedürftigen und behinderten

betroffen. Zu nennen sind die Callcenter oder die Unternehmen, die die technische Infrastruktur bereitstellen und betreiben. Letztendlich erwarten wir, dass die ganze Wirtschaft, Produktion und somit auch die gesamte Arbeitswelt von der Digitalisierung in einem globalen Prozess durch diesen Wandel vollständig neu aufgestellt werden.

Menschen gegenüber der Politik. Der Verband setzt sich für soziale Gerechtigkeit und für den Erhalt und den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme ein. Der SoVD ist gemeinnützig und parteipolitisch unabhängig.

Für die Beschäftigten kann dies eine komplette Entgrenzung und Verdichtung von Arbeit bedeuten, die zu einer hohen psychischen Belastung führt. Sie müssen immer mehr Leistung in der gleichen Zeit erbringen; viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind stets erreichbar – ob im Urlaub, in der Freizeit, am Wochenende oder in den Abendstunden. Laut einer Studie des DGB hat die Zahl der unbezahlten Überstunden in den letzten Jahren stetig zugenommen und ein Sechstel der Angestellten in Deutschland leistet immer wieder unbezahlte Überstunden. Dieser negative Trend muss gestoppt werden. Damit mobiles Arbeiten nutzbringend für die Beschäftigten eingesetzt werden kann, sind Regelungen nötig, mit denen sie vor versteckten Überstunden, vor permanenter Verfügbarkeit und den negativen Folgen der Entgrenzung geschützt werden. Konzepte müssen entwickelt und eingeführt werden, die Arbeitszeiten im digitalen Arbeiten vollständig erfassen. Weiterhin ist den Beschäftigten das Recht einzuräumen, zu bestimmten Zeiten nicht erreichbar zu sein. Das Arbeitszeitgesetz hat sich in der Vergangenheit bewährt. Es schützt die Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, indem es die Höchstgrenzen für die tägliche Arbeitszeit und die Mindestdauer für Pausen festlegt. Aus Sicht des SoVD sind daher die im Arbeitszeitgesetz festgelegte tägliche Höchstarbeitszeit und die vorgeschriebenen Ruhezeiten zu erhalten und Wege zu finden, diese auch durchzusetzen.

DIE FÜHRUNGSKRÄFTE E. V. Der Verband Die Füh-

Das Thema Gesundheit am Arbeitsplatz ist ebenfalls von zentraler Bedeutung und sollte in den Unternehmen viel mehr auch die psychische Gesundheit umfassen. Auch hier hat die digitale Arbeitswelt neue Themen auf den Plan gerufen. Die derzeitigen und zukünftigen Möglichkeiten für flexibles Arbeiten erfordern aber auch eine eigene und unternehmensseitige Gesundheitsfürsorge des Einzelnen.

rungskräfte e. V. fungiert als Berufsverband für Fach- und Führungskräfte. Er vertritt in seinem Netzwerk rund 25.000 Mitglieder auf politischer und wirtschaftlicher Ebene und bietet umfangreiche karriereunterstützende Maßnahmen an. Neben Seminaren und juristischen Services, gehört vor allem die

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Ein Beispiel von vielen ist auch die ständige Erreichbarkeit durch die digitalen Kommunikationsmittel: Die Arbeit ist ständiger Begleiter – wo immer man ist. Die Segnungen größerer Flexibilität stehen der schwindenden Grenze zwischen Freizeit und Arbeitszeit gegenüber. Gerade Führungskräfte sind hier auf der einen Seite mitverantwortlich und auch Vorbild für ihre Mitarbeiter, aber sind zugleich selbst Betroffene. So legte eine Studie des DFK aus 2013 offen, dass die deutliche Mehrheit wochentags (89,7 %), am Wochenende (70,9 %) und im Urlaub erreichbar (58 %) ist. Zwei Drittel der befragten Führungskräfte glauben an eine höhere gesundheitliche Belastung durch die ständige Erreichbarkeit. Eine große Mehrheit sieht die Gefahr, nicht mehr abschalten zu können. Die


D ebatte Unternehmen sind derzeit jedoch noch weit entfernt davon, auf das Problem zu reagieren. 81 % der DFK-Führungskräfte sehen keine Maßnahme ihres eigenen Unternehmens, um die ständige Erreichbarkeit einzuschränken.

ausgeprägte, bundesweite Netzwerktätigkeit zu den Leistungen des DFK. Der Verband gibt die Zeitschrift

Weder gesetzliche Regelungen noch technische Lösungen (z. B. Server abschalten in den Abendstunden) werden hier aber eine Besserung erreichen. Es muss Klarheit hinsichtlich der Erreichbarkeit außerhalb der Dienstzeiten geben. Ausdrückliche Vereinbarungen in den Unternehmen hierzu sind höchst selten. Hier sind insbesondere die Eigenverantwortung der Führungskräfte und mehr Achtsamkeit im Umgang mit den digitalen Medien in den Unternehmen gefordert. Dies sollte jedoch nicht durch Gesetze, sondern durch unternehmensinterne Regelungen und Absprachen erfolgen, welche die Politik aber ausdrücklich einfordern sollte.

»Perspektiven für Führungskräfte« heraus.

ARBEITSORGANISATION

Die Digitalisierung wird die Spezialisierung und die Arbeitsteilung in der Wirtschaft vorantreiben. Wesentliche Grundlage dieser Spezialisierung und Arbeitsteilung werden Werk- und Dienstverträge sein. Unternehmen werden insbesondere bei IT-Anwendungen, Robotik-Systemen und komplexen Maschinensystemen auf externe Dienstleister zurückgreifen. Dabei muss die Entscheidung, ob Wertschöpfung im eigenen Unternehmen erfolgt oder ganz oder in Teilen unter Rückgriff auf Werk- und Dienstverträge gestützt wird, weiter beim Unternehmer verbleiben. Hierbei handelt es sich um strategische Fragen, die Teil der freien unternehmerischen Entscheidung bleiben müssen.

BUNDESVEREINIGUNG DER DEUTSCHEN ARBEITGEBERVERBÄNDE Die BDA ist der Spitzenverband der deutschen Wirtschaft. Nach außen vertritt sie branchenübergreifend die

Im Rahmen der Digitalisierung wird das sogenannte Crowdworking diskutiert. Bei Crowdworking handelt es sich um eine freie Tätigkeit unter Zuhilfenahme von Internet-Plattformen. Crowdworker sind Selbstständige. Wer aus freien Stücken eine solche Aufgabe im Internet übernehmen will, sollte und kann daran weder gesetzlich noch in anderer Weise gehindert werden. Selbstständige können selbst entscheiden, zu welchen Konditionen, wann und wo sie tätig werden wollen. Sozialversicherungsrechtlich besteht kein Handlungsbedarf, da auch Crowdworker von der Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung erfasst sind und Zugang zur gesetzlichen Rentenversicherung haben. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist Crowdworking bislang lediglich eine Randerscheinung. Es kann aber sinnvoll sein, Crowdworking empirisch zu untersuchen und so die Debatte auf eine sachliche Grundlage zu stellen. […] In einigen Bereichen wird die Digitalisierung dazu führen, dass sich klassische Betriebsstrukturen auflösen. Viele Unternehmen strukturieren sich nicht mehr in hierarchisch geleitete Abteilungen, Unterabteilungen und Teams von fest zugeordneten Mitarbeitern. Mithilfe moderner Kommunikationsmittel

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sozial- und arbeitspolitischen Interessen der privaten und gewerblichen Wirtschaft. Nach innen moderiert die BDA branchen- und regionenübergreifende Konsense ihrer etwa eine Million Mitglieder. Im Rahmen der Sozialpartnerschaft ist die BDA der zentrale Ansprechpartner aufseiten der Arbeitgeber.

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D ebatte findet die Arbeit flexibel je nach Anforderung in wechselnder Zusammensetzung ohne vorgegebene klassische horizontale oder vertikale Strukturen statt (Matrixstrukturen). Die Änderung alter Unternehmensstrukturen bringt schnellere und unkompliziertere Entscheidungsprozesse mit sich. Um Abstimmungsprozesse zu vereinfachen, kann es sich für Unternehmen anbieten, Betriebe, die heute noch als eigenständige Einheiten geführt werden, künftig zu einem Betrieb zusammenzufassen. Dieser Entwicklung sollte auch das Betriebsverfassungsgesetz Rechnung tragen. Die Möglichkeiten zur Neuorganisation der betrieblichen Strukturen durch Betriebsvereinbarung sollte mit Blick auf die Arbeit im virtuellen Raum flexibler gestaltet und den Betriebsparteien mehr Gestaltungsspielraum beim Zuschnitt von Betrieben eingeräumt werden.

DAIMLER AG Die Daimler AG ist als DAX-30-Unternehmen eines der Zugpferde der deutschen (Export-)Wirtschaft. Weltweit

Durch die Digitalisierung verändern sich die Anforderungen an die Kompetenzen unserer Mitarbeiter. In Abhängigkeit von der konkreten Arbeitsorganisation kann es in den Produktionsbereichen zu einer Aufgabenänderung kommen. In den Verwaltungsbereichen werden projekthafte Arbeitsstrukturen und internationale Kooperationen zunehmend an Bedeutung gewinnen.

erwirtschaften fast 285.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Umsatz von ca. 150 Milliarden Euro. Als weltweit bekannter Automobilhersteller ist Daimler ein zentraler Akteur, der arbeitgeberseitig Interessen bezüglich der Arbeit der Zukunft formuliert.

In der Produktion steht das Konzept der intelligenten Fabrik (»smart factory«) im Mittelpunkt, die sich durch Wandlungsfähigkeit, Ressourceneffizienz, Ergonomie und die Integration von Kunden und Partnern in die Wertschöpfungsprozesse auszeichnet. Ein Meilenstein auf dem Weg zur wandlungsfähigen Fabrik ist die Mensch-Roboter-Kooperation. Daimler hat als einer der ersten Automobilhersteller die Potenziale des sensitiven Leichtbauroboters erkannt und in Pilotanwendungen erfolgreich für die Serienfertigung erprobt. Durch die Mensch-Roboter-Kooperation lassen sich die kognitive Überlegenheit des Menschen und seine Flexibilität optimal mit der Kraft, Ausdauer und Zuverlässigkeit der Roboter verbinden. Der Mensch wird dabei immer im Mittelpunkt stehen – an seine Flexibilität kommt keine Maschine der Welt heran. Umso mehr wird es auf die intelligente Verbindung von Mensch und Technik ankommen. Der Einsatz neuer Robotergenerationen wird quantitative und qualitative Auswirkungen auf die zukünftige Belegschaftsstruktur haben. Dank unseres langfristigen Ressourcenmanagements können wir diese Anpassungsprozesse effizient steuern. Dabei werden wir unsere Belegschaft für neue Anforderungen qualifizieren und überbelastende oder ergonomisch ungünstige Arbeiten minimieren. Bezüglich der Arbeitssicherheit bei Mensch-Roboter-Kooperationen verfügen wir dank der Erfahrung aus mehreren Pilotprojekten und dem operativen Einsatz bereits heute über validierte Sicherheitskonzepte und Risikobeurteilungen, z.B. im Hinblick auf biomechanische Belastungsgrenzen. In der Verwaltung ermöglicht der Einsatz moderner Kommunikations- und Kollaborationstechniken mehr Flexibilität für das Unternehmen und die

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D ebatte Beschäftigten. Wir wollen diese Chancen nutzen, indem wir neue Zusammenarbeitsmodelle einführen, eine agile Arbeitsorganisation mit weniger Linien- und mehr Projekttätigkeiten entwickeln und die Wissensarbeit durch den Abbau von Routinearbeit fördern. Gleichzeitig entwickeln wir das Führungsverständnis und die Führungsprozesse weiter, um sie an die veränderten Anforderungen dieser neuen Modelle und Organisationsformen anzupassen.

Digitalisierung verlegt Wertschöpfungsprozesse in ein Netzwerk aus Menschen und Maschinen, das hoch flexibel auf Produktanforderungen reagieren kann und unabhängig von Zeit, Ort und sogar Unternehmensgrenzen miteinander kommuniziert. Das erhöht den betrieblichen Bedarf nach flexibler Verfügbarkeit von Arbeitskraft und verändert das Verhältnis von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu ihrem Betrieb. Flexible Arbeitszeiten und mobile Arbeitsorte sind eine Seite dieser Entwicklung, eine volatilere Bindung zwischen Unternehmen und Beschäftigten eine andere. Schon jetzt entwickeln sich am Arbeitsmarkt neue digitale Arbeits- und Vertragsformen, die außerhalb unseres klassischen Beschäftigungssystems liegen. Sie unterscheiden sich vom Normalarbeitsverhältnis ebenso wie von atypischer Beschäftigung. Dazu zählen Voucher based Work, bei der die Bezahlung in Gutscheinen besteht, die bei Dritten eingelöst werden, oder Pool Work, bei der ein Beschäftigter von mehreren Arbeitgebern gemeinsam unter Vertrag genommen wird und zwischen ihnen rotiert, oder die neue digitale Tagelöhnerarbeit, bei der sich Crowd Worker (die über virtuelle Plattformen zu ihren weltweiten Auftraggebern finden) oder Cloud Worker (die in Computing Clouds von überall auf der Welt ihre Aufträge im Unternehmen abwickeln) immer wieder für kleinere Aufträge verdingen.

ARBEITNEHMERKAMMER BREMEN Unter dem Dach der Arbeitnehmerkammer Bremen versammeln sich etwa 380.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Minijobberinnen und Minijobber und ehemalige Beschäftigte der Freien Hansestadt Bremen. Für ihre Mitglieder bietet die Arbeitnehmerkammer Bremen vielfältige Angebote von der Beratung bis zur Qualifizierung an. In verschiedenen Kooperationen und Netzwerken engagiert

Diese neuen Arbeits- und Vertragsformen liegen außerhalb der Reichweite der Arbeitsmarktinstitutionen, die doch einmal geschaffen wurden, um das Machtungleichgewicht am Markt auszugleichen, dem von Beschäftigung Abhängige sonst beim individuellen Aushandeln von Verträgen ausgeliefert wären – und die zugleich die sozialen Normen und Werte unserer Gesellschaft widerspiegeln. Das individuelle und kollektive Arbeitsrecht kommt aber in diesen neuen Beschäftigungsformen ebenso wenig zur Anwendung wie die soziale Absicherung bei Krankheit, Invalidität oder im Alter und wie schließlich auch die Standards von Arbeits- und Gesundheitsschutz.

sich die Kammer zudem in den Themenfeldern Arbeitsmarktpolitik und Mitbestimmung.

Viele Expertinnen und Experten gehen von einem Digitalisierungsszenario aus, das den Arbeitsmarkt weiter dualisiert: Um eine Stammbelegschaft herum könnte sich der Rand mit Leih- und Werkvertragsbeschäftigten erweitern um einen Schwarm neuer Dienstleister in neuen Arbeitsformen, die auf Soloselbstständigkeit und digitaler Tagelöhnerarbeit basieren. Damit würde eine neue Qualität erreicht, unternehmerische Risiken und Kosten auf abhängig Beschäftigte abzuwälzen, ohne dass dies durch kollektive Schutzmechanismen abgemildert würde. Zudem wird es für abhängig Beschäftigte schwieriger, sich

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D ebatte bei der Ad hoc-Zusammenarbeit in virtuellen Netzen zu organisieren und die eigenen Interessen kollektiv wahrzunehmen. Weil die digitale Technik auch den globalisierten Zugriff auf ein weltweites Arbeitskräftepotenzial erleichtert, könnte zudem der Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen und schließlich auch auf den Arbeitsmarkt selbst steigen.

VBW – VEREINIGUNG DER BAYERISCHEN WIRTSCHAFT E. V. Die vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. ist eine freiwillige, branchen-

Der Flexibilitätsbedarf der Unternehmen wird sich in Zukunft – verstärkt durch die Anforderungen der digitalen Arbeitswelt und weitere Einflüsse – weiter erhöhen. Die Unternehmen befinden sich in einer Flexibilitätszange. Einerseits entstehen durch die automatisierten Betriebsabläufe reduzierte bzw. geänderte Anforderungen der Einwirkung durch menschliche Arbeitskraft. Andererseits steigen auch die Wünsche nach mehr Flexibilität im Arbeitsangebot. Dieser Effekt wird flankiert und verstärkt durch entsprechende tarifliche Ansätze seitens der Gewerkschaften, aber auch gesetzliche Ansprüche, wie beispielsweise im Pflegezeitgesetz. Die Flexibilität wird zum Dauerzustand in den Unternehmen.

übergreifende und zentrale Interessensvereinigung der bayerischen Wirtschaft, vertritt 127 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände sowie 41 Einzelunternehmen und fungiert als bayerische Landesvertretung von BDA und BDI. Im Rahmen dieses Auftrags setzt sich die vbw für wirtschaftliche, soziale und gesellschaftspolitische Belange ihrer Mitglieder ein.

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Hier bietet die Zeitarbeit ganz wesentliche Lösungsansätze, weil sie einerseits den Flexibilitätsbedarfen der Unternehmen gerecht wird und andererseits als unbefristetes, sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis den Mitarbeitern in ihrer Flexibilität eine besondere soziale Sicherheit bietet. Insofern sind Zeitarbeitsverhältnisse gerade mit Blick auf die Anforderungen der digitalen Arbeit der Zukunft anders zu diskutieren als in der Vergangenheit, wo es primär um das Abdecken von Produktionsspitzen ging. Hier müssen Gesellschaft und Politik akzeptieren, dass es Aufgabe der Zeitarbeit in der Zukunft nur sein kann, den Anforderungen nach betrieblicher Flexibilität nachzukommen – unter Umständen auch über längere Zeiträume hinweg.


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MITBESTIMMUNG

Es geht bei Arbeiten 4.0 auch darum, betriebliche Mitbestimmung weiterzuentwickeln, sodass sie nicht leer läuft, weil die betrieblichen Strukturen sich verändern, die Rechte und Rechtewahrnehmung aber auf der Strecke bleiben und nicht ausgeübt werden können. Damit die Institution Mitbestimmung nicht ins Leere läuft, wird es wichtig sein:

HANSBÖCKLERSTIFTUNG Die Hans-Böckler-Stiftung

Die Grundrechte des Betriebsrates in seiner Existenz zu stärken, um Arbeit auf Augenhöhe leisten zu können. Dafür braucht es Ressourcen: Personen, die kompetent sind, sowie Zeit, Geld und Qualifizierung für den Betriebsrat.

ist das Mitbestimmungs-, Forschungs- und Studienförderungswerk des DGB. Zu den Aufgaben gehört die Förde-

Faire Arbeitsbedingungen für heterogene Belegschaftsstrukturen zu schaffen. Dazu gehört auch, arbeitnehmerähnliche Personen in das Betriebsverfassungsgesetz einzubeziehen sowie Solo-Selbstständige in den Blick zu nehmen.

rung von Theorie und Praxis der Mitbestimmung durch die wissenschaftliche Beratung und Qualifizierung. Die Stiftung fördert Forschungs-

Mitbestimmungsrechte zu stärken bei Schlüsselthemen wie Technikeinsatz, Qualifizierung, Beschäftigungssicherung, Arbeitsorganisation, Personalbemessung, Zielvereinbarungen sowie bei Auslagerungen, im Daten- und Gesundheitsschutz.

projekte zur Erhebung, Analyse und praxisgerechten Aufbereitung von Daten zu den Themen Mitbestimmung, Strukturpolitik, Arbeitsge-

Bei zeit- und ortsflexibler Arbeitszeitgestaltung auch über Leistungsverdichtung und Personalbemessung zu reden sowie echte Selbstbestimmung durch Wahlarbeitszeitmodelle im Lebensverlauf zu stärken.

Tarifvertrags- und betriebsratsfreie Zonen zu verringern, Tarifverträge zu erhalten, nicht auszuhebeln.

Die Flucht aus der Unternehmensmitbestimmung in Deutschland und Europa zu verhindern.

sellschaft, öffentlicher Sektor, Sozialstaat, Arbeitsmarkt, Wirtschaft und Tarifpolitik.

Die besondere Rolle der Sozialpartner und der betrieblichen Akteure der Mitbestimmung für die Arbeitswelt der Zukunft muss deutlich betont werden. Betriebsräte und Gewerkschaften sind kompetente und legitime Akteure, die nicht nachgelagert angehört, sondern frühzeitig und direkt einbezogen werden müssen. Mitbestimmung gehört an den Anfang der Gestaltung, Entwicklung von Technik und zur Begleitung der Auswirkungen im Arbeitsprozess, nicht an das Ende, um soziale Nachteile abzumildern. Die Betriebsverfassung gibt dem Betriebsrat die anspruchsvolle Rolle, gleichzeitig die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten und wirtschaftliche Betriebsziele zu berücksichtigen. Die wichtige Aufgabe des Staates und der Sozialpartner in der Arbeitswelt 4.0 ist es, das System der Mitbestimmung für die Zukunft zu stärken. Verbesserte Qualifikationen und individuelle Lebensstile haben die Ansprüche von Menschen an ihre Arbeit verändert. Menschen wollen sich stärker an der Gestaltung ihrer Arbeit und Arbeitsbedingungen beteiligen und einbringen. Das eröffnet Chancen für neue Beteiligungsformen

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D ebatte als Verstärkung der kollektiven betrieblichen Mitbestimmung, nicht als ihren Ersatz. Mitbestimmung kann so gestaltet sein, dass Belegschaften sich vertreten fühlen und zugleich aktiv Beteiligung ausüben können. Und das nützt dem Unternehmen und seinem Erfolg. In dieser Weise verstanden kommt Demokratie am Arbeitsplatz nicht ohne kollektive Interessenvertretung innerhalb und außerhalb des Betriebes aus, im Gegenteil, Letztere schafft erst die Voraussetzung und Bewegungsfreiheit für individuelle Teilhabe und Wahrnehmung von Rechten. Dabei sollte Teilhabe nicht auf materielle Beteiligung am Unternehmen reduziert oder damit gleichgesetzt werden. Materielle Beteiligung am Unternehmen ist eine zusätzliche Übernahme finanzieller Risiken durch Beschäftigte.

DAIMLER AG Die Daimler AG ist als DAX-30-Unternehmen eines der Zugpferde der deutschen (Export-)Wirtschaft. Weltweit erwirtschaften fast 285.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Umsatz von ca. 150 Milliarden Euro. Als weltweit bekannter Automobilhersteller ist Daimler

Digitalisierung ist gleichzusetzen mit Schnelligkeit, Flexibilität und Transparenz. In Ländern mit hoher Mitbestimmung sind Mitbestimmungsrechte entsprechend anzupassen, um die vorhandene Geschwindigkeit, Anpassungs- und Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere in den heutigen Industrieländern, zu erhalten und weiter auszubauen. Unternehmen und Betriebsräte sowie Gewerkschaften müssen in ihren Positionen vernetzt und international denken. Die Forderung nach einer erweiterten betrieblichen Mitbestimmung geht an den Erfordernissen der Digitalisierung in vielen Punkten vorbei. Es bedarf einer offenen Diskussion, um gute Ergebnisse zu erreichen und die Belegschaften gemeinsam zu überzeugen. Aber: Weder die Digitalisierung noch das weiter gefasste Thema Industrie 4.0 bieten einen Anlass, die derzeitigen Mitbestimmungsgrenzen grundsätzlich infrage zu stellen.

ein zentraler Akteur, der arbeitgeberseitig Interessen bezüglich der Arbeit der Zukunft formuliert.

Das digitale Arbeiten, insbesondere in internationalen Produktionsnetzwerken, überlagert den klassischen Betriebsbegriff und stellt neue Anforderungen an die Mitbestimmungskultur. Das deutsche Betriebsverfassungsgesetz muss an diese Entwicklungen angepasst und weiterentwickelt werden. Die deutschen Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes sind geprägt von einem lokalen Betriebsbegriff, der die Zukunft dezentral organisierter Produktionsverbünde über mehrere Standorte nur mit erheblichem Abstimmungsaufwand abdecken kann. Hier besteht Änderungsbedarf auf unterschiedlichen Ebenen (Betrieb, Unternehmen, Konzern) und zu unterschiedlichen Themen (bspw. Personalplanung, Personaleinsatzsteuerung (Versetzungsbegriff), Arbeitsorganisation). Als Beispiel sei die Einführung oder Anwendung von technischen Einrichtungen genannt: Permanente Updates und Software-Anpassungen machen es sowohl für den Betriebsrat als auch für das Unternehmen nahezu unmöglich, der Mitbestimmung in einem sinnvollen Rahmen gerecht zu werden. Eine vorsichtig einschränkende Auslegung (unter Beachtung des Schutzgedankens) auf die Ersteinführung oder wesentliche Änderungen eines Systems ist geboten.

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D ebatte Nach dem Grünbuch erhöht sich mit der Mitbestimmung der wirtschaftliche Erfolg, und sie führt zu besseren Arbeitsbedingungen. Mit räumlich und zeitlich entgrenzter Arbeit wird jedoch Mitbestimmung erschwert oder Mitbestimmungsregeln gelten nicht. Richtigerweise wird im Grünbuch darauf verwiesen, dass für die Zukunft von Branchen und Unternehmen ihr Innovationspotenzial und dabei die Mitbestimmung und -gestaltung entscheidend ist, um Kreativität und Engagement zu erzielen. Ein Zusammenhang, den wir regelmäßig mit dem ver.di-Innovationsbarometer bestätigen können. So auch in diesem Jahr, in dem wir die ver.di-Mitbestimmungsträger schwerpunktmäßig zum Thema Digitalisierung befragt haben. Gleichzeitig wird stets deutlich, dass die Handlungs- und Entscheidungsspielräume, um neue Ideen zu entwickeln und auszuprobieren, nur in einer Minderheit der Unternehmen (2015: 19 %) ausreichen.

VER.DI Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di vertritt einen Großteil derjenigen Beschäftigten, die von der Digitalisierung unmittelbar in ihrem Arbeitsalltag betroffen sind. Als zweitgrößte Einzelgewerkschaft setzt sie sich für Interessen von etwa zwei Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des Dienstleistungs-

Maßnahmen: Weil mit räumlich und zeitlich entgrenzter Arbeit Mitbestimmung erschwert wird, setzt sich ver.di für die Novellierung des Betriebsverfassungs- und der Personalvertretungsgesetze ein. Auch der Schutz der Persönlichkeitsrechte steht vor neuen Herausforderungen, und einer weiteren Prekarisierung gilt es vorzubeugen. Deshalb ist eine Stärkung der Mitbestimmung wie etwa durch mehr Rechte bei der Auftragsvergabe, Standortverlagerung, Auslagerung von Arbeit, beim Schutz der Persönlichkeitsrechte und für die Beauftragung »arbeitnehmerähnlicher Personen«, Leiharbeiter, Scheinselbstständige und abhängig Solo-Selbstständige erforderlich. Die Mitbestimmungsträger brauchen mehr Ressourcen, da sie nun mehr Aufgaben haben, die im Prozess der Digitalisierung wichtiger werden – wie das Initiativrecht zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung oder das Recht, eigene Vorstellungen zum Innovationsgeschehen einzubringen. Außerdem ist gute Arbeit als beteiligungsorientierter Ansatz zu fördern, weil nur ein partizipatives Vorgehen den Autonomieansprüchen der Erwerbstätigen gerecht wird und Grundlage dafür ist, dass Gestaltungsmöglichkeiten der Digitalisierung auch in ihrem Interesse genutzt werden.

Neue Kommunikations- und Produktionsabläufe haben auch neue Entscheidungsfindungs- und Umsetzungsprozesse in Unternehmen und Betrieben zur Folge. Die Einführung neuer IT-Systeme kann der Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen, die bereits durch die theoretische Möglichkeit der Mitarbeiterkontrolle ausgelöst werden kann. Das mag in Zeiten, in denen die Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen nicht zum Alltagsgeschäft gehörte, seine Berechtigung gehabt haben. Den heutigen Voraussetzungen wird dies jedoch nicht mehr gerecht. Es ist wirklichkeitsfern, wollte man weiterhin die Einspielung auch nur eines Software-Updates von der Zustimmung des Betriebsrats abhängig machen.

sektors ein. ver.di unterstützt die Stellungnahme des DGB.

BUNDESARBEITGEBERVERBAND CHEMIE Der Bundesarbeitgeberverband Chemie ist der tarifund sozialpolitische Spitzenverband der chemischen und pharmazeutischen Industrie

Die heutige Mitbestimmung macht das Mitbestimmungsrecht bei Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen allein von der Eignung

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sowie großer Teile der Kautschuk-Industrie und

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D ebatte der kunststoffverarbeitenden Industrie. Er vertritt die Interessen seiner 10 regionalen Mitgliedsverbände mit 1.900 Unternehmen und 550.000 Beschäftigten gegenüber Gewerkschaften, Politik und Öffentlichkeit.

dieser Einrichtungen zur Leistungs- und Verhaltenskontrolle abhängig. Dieser Ansatz ist zu eng und verhindert die Implementierung von Prozessen, wie sie dem Alltagsgeschäft entsprechen. Er entspricht nicht mehr einer digitalisierten Arbeitswelt. Die Einbeziehung der Arbeitnehmervertretung über ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht darf daher erst dann geboten sein, wenn eine Absicht der Verhaltens- und Leistungskontrolle feststellbar ist. Ansonsten hat sich die Kontrolle hinsichtlich der Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen auf eine diesbezügliche Überwachung und das Recht zur Information zu beschränken. Flexibilisierung ist auch mit einer stärkeren Orientierung der Arbeitszeit an den zu erledigenden Arbeitsaufgaben verbunden. Die heutige Mitbestimmung orientiert sich jedoch an Arbeitsabläufen, die in örtlicher wie zeitlicher Hinsicht starr sind. Dies wird den aktuellen wie künftigen Gegebenheiten nicht gerecht. Bestritten werden soll nicht die Kontrollfunktion betrieblicher Mitbestimmung, die allerdings die Vielfalt der Möglichkeiten der Arbeitsverrichtung in zeitlicher wie örtlicher Hinsicht zu berücksichtigen hat. Dem Schutz personenbezogener Daten kommt gerade in einer Zeit eines immer weiter steigenden Datenvolumens, das an jedem Ort abrufbar ist, erhöhte Bedeutung zu. Dies zu gewährleisten, bleibt unbestritten. Gleichermaßen gilt aber auch, dass das Erheben, Verarbeiten und Nutzen von Daten die im stetigen Wandel befindlichen Arbeitsprozesse unterstützt und nicht behindert. Zusätzliche Regulierung und unnötige Bürokratie sollten daher vermieden werden.

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D ebatte Jede Veränderung birgt Chancen. Alleine die Geschwindigkeit zu erhöhen, bedeutet nicht, schneller anzukommen. Arbeit muss für jeden möglich, erträglich und austräglich sein. Arbeit muss Grenzen haben. (Theodor Huber, 16.07.2015, arbeitenviernull.de)

DEBATTE IM NETZ Ein Bestandteil des Dialogprozesses Arbeiten 4.0 ist der

Arbeitswelt lässt sich nicht konservieren, brauchen neuen Flexibilitätskompromiss. #arbeitenviernull (@personalmagazin, 15.03.2016, Twitter)

öffentliche Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern. Dieser findet auch online auf der Website

Flexibel ist das neue Normal. Leider ist das noch nicht bei allen angekommen. #arbeitenviernull (@julianepetrich, 15.03.2016, Twitter)

arbeitenviernull.de und in den sozialen Medien statt. An dieser Stelle veröffentlichen wir ausgewählte

Beim Thema Flexibilität im Beruf ist Deutschland Entwicklungsland – agree #arbeitenviernull (@SabrinaLieske, 22.04.2015, Twitter)

Beiträge, die sich mit der Arbeitswelt auseinandersetzen.

Vielleicht benötigen manche Unternehmen in Zukunft keine Büros mehr, da jeder von zu Hause aus arbeitet? (David, 21.04.2015, arbeitenviernull.de) Rund um die Uhr erreichbar, von überall auf der Welt. Durch weltweite Vernetzung ist der Arbeitsplatz nicht mehr geografisch gebunden. Alles natürlich unter Wahrung von Compliance und Security. (Jürgen Redlich, 23.11.2015, arbeitenviernull.de) Zukunft der Arbeit bedeutet für mich, mobiler und flexibler, aber auch ersetzbarer zu sein. Globalisierung und Technologisierung ermöglichen es, von überall in derselben Qualität zu arbeiten. (Jürgen, 21.04.2015, arbeitenviernull.de) Menschen, die ihre Arbeit im Büro verbringen, sollten in Zukunft die Möglichkeit haben, von zu Hause aus zu arbeiten. Vorteil: Angehörige pflegen, Kinder betreuen, Krankenstand sinkt, Freiheitsgefühl. (Dana Hüttig, 24.09.2015, arbeitenviernull.de) Technische Neuerungen werden Arbeit von überall und jederzeit ermöglichen. Diese Freiheit ist wunderbar und ermöglicht mir Selbstbestimmung. Aber sie macht auch unfrei, wenn die Arbeit nie aufhört. (Carolin Amtsfeld, 20.05.2015, arbeitenviernull.de) Digitales Office versus Anwesenheitskultur. Eine breite Diskussion zu Chancen, aber auch Risiken der Auslagerung des Arbeitsortes in private Bereiche wäre wünschenswert. (Silvia, 22.04.2015, arbeitenviernull.de) Ich habe den Eindruck, dass sich Freizeit und Arbeit durch die Technik mehr und mehr verknüpfen und es dadurch schwerer fällt, mal abzuschalten. (Katharina, 22.04.2015, arbeitenviernull.de)

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D ebatte Firmen sollten seriöse Homeoffice-Jobs schaffen. Dann steuerlich entlastet werden. Die Vorteile: Der Arbeitnehmer spart Zeit und Fahrgeld, das Auto wird weniger genutzt, damit die Umwelt geschont. (Holger Holthaus, 17.08.2015, arbeitenviernull.de) Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist wünschenswert, aber der Schutz vor Selbstausbeutung darf dabei nicht außer Acht gelassen werden. Gute Vernetzung ist hilfreich, aber nicht alles. (Dirk Eickhoff, 22.04.2015, arbeitenviernull.de) Mobil zu jederzeit an unterschiedlichen Orten meine beruflichen und privaten Ziele verfolgen – gerne beruflich auch am Wochenende oder nach 20 Uhr, wenn es Sinn macht – das bietet Zeit für die Familie. (Sven Semet, 22.04.2015, arbeitenviernull.de) Wie schränkt die bisherige Arbeitszeitregelung #arbeitenviernull denn ein? Kann auch heute mit Gleitzeit schon modular arbeiten. (Anna, 23.07.2015, arbeitenviernull.de) Lasst die Arbeitszeitregelungen, wie sie sind, Arbeitnehmer leisten schon genug. Wenn dies gekippt wird, sind wir Freiwild für den Arbeitgeber, dies geht nur zu Lasten des Arbeitnehmers. (Boris, 24.07.2015, arbeitenviernull.de) Wenn die Mitarbeiter es wünschen, dann mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit. Die teils starren Regelungen im Arbeitszeitgesetz entsprechen nicht immer den Mitarbeiterwünschen und Anforderungen. (Elisabeth Lotz, 15.03.2016, arbeitenviernull.de) Trotz notwendiger Flexibilität muss der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft gewahrt bleiben. Die noch vorhandenen Rahmenbedingungen der AZO – auch ein grdsätzl. Sonntagsarbeitsverbot – sind gut. (Rüdiger Schneider, 05.08.2015, arbeitenviernull.de) Arbeit heute sollte nicht zu einem Rückgang von ehrenamtlichem Engagement führen. Deshalb halte ich es für erforderlich, dass es einen arbeitnehmerfreundl. Ausbau der Telearbeitsmöglichkeiten gibt. (Torben Pfeufer, 22.04.2015, arbeitenviernull.de) Arbeit muss nahe oder im Wohnort vorhanden sein, das Pendeln muss immer mehr Ausnahme werden. Ländliche Regionen dürfen nicht weiter abgekoppelt werden von Arbeit und Nahverkehr. (Uwe Mergel, 20.03.2016, arbeitenviernull.de)

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3 PRAXIS

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WIE WIR ARBEIT VERTEILEN Protokolliert von Julia Sprügel und Nina Hoppmann Fotografiert von Malwine Schomburg

Die Rollenverteilung von Paaren hat sich in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewandelt. War 1996 noch der »männliche Alleinverdiener« das vorherrschende Modell, arbeiten heute bei fast der Hälfte der Paare der Mann in Vollzeit und die Frau in Teilzeit. Auch wenn Paare, bei denen beide in Vollzeit arbeiten ebenfalls an Bedeutung verloren haben, machen diese – ebenso wie Alleinerziehende – einen bedeutenden Teil der Erwerbstätigen aus. Zum Wandel der Rollenverteilung kommen flexiblere Lebensentwürfe und neue Möglichkeiten des orts- und zeitflexiblen Arbeitens. Ein einheitliches Modell, die Anforderungen und Möglichkeiten der Arbeit und des Privatlebens zu organisieren gibt es heute weniger denn je. Wie Beschäftigte aus dem Zusammenspiel von Arbeitsanforderungen, Arbeitsort und Arbeitszeiten sowie privaten Bedürfnissen ihre Arbeit und ihr Privatleben organisieren, zeigen die folgenden Beispiele.

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DEUTLICHE VERÄNDERUNGEN IN DER ROLLENVERTEILUNG VON PARTNERN Ansprüche an Arbeit und veränderte Erwerbsbiographien

50%

47%

40%

30%

36%

35% 27%

28%

26%

23%

21%

20%

18%

10%

2%

1%

1% 0% 1996

2003

2013

Quelle: Mikrozensus

Männer: Vollzeit/Frauen: Teilzeit Männer: Vollzeit/Frauen: nicht erwerbstätig Beide vollerwerbstätig Beide teilzeiterwerbstätig

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»DAS PENDELN IST FÜR UNS ALS FAMILIE SEHR ANSTRENGEND.« Aygül Yildiz arbeitet 20 Stunden pro Woche in einem Verein, der Frauen mit Migrationshintergrund in Konfliktsituationen beratend zur Seite steht. Nebenbei macht sie einen Master in psychosozialer Beratung. Taylan Yildiz ist als akademischer Rat auf Zeit im Bereich Politikwissenschaft an einer Universität im Ruhrgebiet beschäftigt. Er pendelt zwischen Ruhr­g ebiet und dem Wohnort Mainz hin und her. Das Paar hat zwei Kinder im Alter von 10 und 13 Jahren.

Aygül  Wir haben früh geheiratet und sind mit 28 Eltern geworden. Als unsere Kinder auf die Welt kamen, musste ich erst einmal eine Weile aussetzen und mein Studium beenden. Dann habe ich Taylan den Vortritt gelassen und er hat promoviert. Taylan  Die Zeit war materiell sehr schwierig. Wir hatten nur mein Stipendium und lebten noch in unserer Studentenbude. Wir mussten irgendwie gucken, dass wir nicht auf der Strecke bleiben. Materiell hat sich die Situation irgendwann verbessert. Aber wenn man im akademischen Bereich arbeitet, muss man schon einiges in Kauf nehmen. Es ist ein prekärer Weg, der mit vielen Unsicherheiten verbunden ist. Selbst wenn man viel Leistung einbringt, heißt das nicht, dass man eine feste Anstellung bekommt. Ich mag meine Arbeit sehr, aber wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich mich für die Familie entscheiden. Aygül  Montags bis mittwochs ist Taylan an der Uni und nicht in Mainz. Ich arbeite dann so bis zwei oder halb drei. Dann komme ich nach Hause und erledige den Haushalt und kümmere mich um die Freizeittätigkeiten der Kinder und alles, was dazugehört. Wenn Taylan donnerstags und freitags von zu Hause arbeitet, kümmert er sich um die Kinder, den Haushalt und was so anliegt. Ich bin froh dar-

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über, dass es die Ganztagsbetreuung an der Schule gibt. Vor allem, dass jemand ein Auge auf die Hausaufgaben hat. Aber es ist auch nicht so, dass ich nach Hause komme und die Beine hochlegen kann. Meinen Kindern schmeckt das Essen in der Mensa schon lange nicht mehr. Deshalb muss ich trotzdem immer kochen. Taylan  Ich finde, das klingt erst einmal viel: Aygül arbeitet Teilzeit und hat ein berufsbegleitendes Studium, Kinder, und ihr Mann ist nicht immer zu Hause. Aber irgendwie sind wir gut aufeinander abgestimmt. Das hat damit zu tun, dass ich nach Vertrauensarbeitszeit arbeite. Es gibt Gremienarbeiten, einen Fakultätsrat, in dem ich sitze, und die Lehre, das alles findet zu festen Zeiten statt. Aber bei allen anderen Tätigkeiten, wie eigene Publikationsprojekte oder die Vorbereitung der Lehre, schaut keiner, ob ich im Büro, zu Hause, im Zug, oder sonst wo arbeite. Aygül  Für mich ist es einfacher, wenn ich ins Büro gehe und meine Arbeit nicht mit nach Hause bringe. Bei meinem Studium ist das natürlich anders. Ich muss mich gut strukturieren und mir die Zeit nehmen. Wenn ich zu Hause arbeite, kommt das Kind um die Ecke und will irgendwas. Das Problem hat Taylan öfter.


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Aygül und Taylan Yildiz

Taylan  In den drei Tagen an der Uni versuche ich sehr viel abzuarbeiten. Da sitze ich oft bis sieben oder acht im Büro. Dafür mache ich am Donnerstag, wenn die Kinder nach Hause kommen, um drei Uhr Schluss. Aygül  Dieses Pendeln ist für uns als Familie schon sehr anstrengend. Die Familie ist in den drei Tagen ein kleines System, das funktioniert, und dann gibt es wieder einen Umbruch. Ich glaube, für die Kinder ist es teilweise auch sehr anstrengend. Aber es hat natürlich auch Vorteile. Man

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sieht sich drei Tage nicht und hat wieder etwas zu erzählen. Der Alltag schleicht sich nicht so schnell ein. Taylan  Man hat ja wöchentlich Trennungsschmerz und man freut sich richtig wieder aufeinander. Aygül  Die drei Tage sind okay, aber ich könnte mir das echt nicht vorstellen, wenn er wirklich von Montag bis Freitag weg wäre. Die Familie hat schon einen etwas höheren Stellenwert als die Arbeit. Es ist wichtig, dass es uns allen gut dabei geht.

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»WIR NEHMEN BEIDE KEINE ARBEIT MIT NACH HAUSE.« Manuela Mai arbeitet an fünf Tagen insgesamt 30 Stunden in der Woche als medizinische Fachangestellte in einer Praxis. Sebastian Mai ist Spezialbaufacharbeiter und arbeitet 43 Stunden in der Woche für immer wechselnde Großbauprojekte. Wenn er auf Montage ist, kann er freitags freinehmen und arbeitet an den anderen Tagen von 6:30 bis 19 Uhr, auch mal bis 20 Uhr. Das Paar hat eine vierjährige Tochter.

Sebastian  Als unsere Tochter geboren wurde, war ich die ersten zwei Monate zu Hause. Das war eine schöne Zeit, das mache ich gerne wieder. Von der Firma aus gab es keinerlei Probleme. Arbeitszeit zu reduzieren, wäre bei mir schon eher schwierig. Wenn wir auswärts arbeiten, fahren wir immer geschlossen als Kolonne montags gegen 4 Uhr früh hin und donnerstagabends wieder zurück. Weniger Stunden zu arbeiten würde gar nicht gehen, auch weil der Termindruck immer mehr zunimmt.

Sebastian  Bei meiner Firma bin ich jetzt seit sieben Jahren. Die Arbeitszeitregelung mit der Möglichkeit zur Vier-Tage-Woche war schon ein Grund, weshalb ich mich für die Stelle entschieden habe. Mit dem freien Freitag, das ist schön. Ich glaube, viel besser kannst du es auf dem Bau nicht einrichten. Eigentlich will die Firma ja, dass man Zeit mit der Familie verbringt. Manchmal klappt es, manchmal klappt es nicht. Derzeit bin ich aber eher selten auf Montage. Das heißt, wir fahren jeden Tag zur Baustelle eine Stunde hin und eine Stunde zurück. Damit wir auf die Stunden kommen, fangen wir um 7 Uhr an und arbeiten bis 17 Uhr. Freitags haben wir früher frei.

Manuela  Ich arbeite fünf Tage die Woche, habe drei kürzere Tage und zwei längere Tage. Morgens bringen meine Schwiegereltern die Kleine in den Kindergarten, und an den langen Tagen holen meine Eltern sie ab. Wir wohnen im Haus der Schwiegereltern, und meine Eltern wohnen auch hier im Ort. Wir haben wirklich viel Unterstützung von den Eltern und Schwiegereltern. Sonst wäre das alles nicht möglich. Nur so konnte ich auch fünf Monate nach der Geburt meiner Tochter schon wieder einen Tag in der Woche arbeiten. Da haben meine Eltern sie genommen.

Manuela  In der Praxis bin ich erst ein halbes Jahr. Ich habe vorher zehn Jahre in Göttingen in einer Praxis gearbeitet. Das ist von uns aus eine Dreiviertelstunde bis Stunde entfernt. Auf die Fahrerei hatte ich keine Lust mehr wegen der Kleinen. Jetzt bin ich in 20 Minuten zu Hause, wenn mal was sein sollte oder der Kindergarten anruft.

Nebenbei bin ich noch im Sportverein und im Kindergarten im Elternsprecherrat. Da stehen viele Treffen an, wenn zum Beispiel Feste organisiert werden müssen. Das alles kann ich machen, weil wir so viel Unterstützung von den Großeltern haben.

Sebastian  Flexibel zu sein, wenn das Kind krank ist, geht eigentlich auch ganz gut. Dann rufe ich morgens im Betrieb an. Als Vater stehen einem ja auch zehn Tage zu, und die nehme ich in Anspruch, wenn es sein muss. Aber das ist kein Problem in der Firma.

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Manuela und Sebastian Mai

Auch als meine Frau mal krank war, konnte ich kurzfristig freinehmen. Da habe ich Urlaub genommen und konnte Überstunden abbauen. Zum Glück war das im Winter, da gibt es ja die Schlechtwetterregelung. Wenn wir weniger als 43 Stunden arbeiten oder Überstunden machen, wird das auf einem Konto vermerkt. Manuela  Bei mir ist das auch kein Problem, kurzfristig abzusagen, wenn die Kleine krank ist. Ich arbeite ja im Vorzimmer. Da kommt halt jemand anderes und arbeitet für mich. Die Zeiten

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sind schon flexibel. Wenn irgendwas ist oder so, machen die immer alles möglich. Sebastian  Arbeit mit nach Hause nehmen wir beide nicht. Wenn Feierabend ist, ist auch Feierabend. Und am Wochenende machen wir immer etwas Schönes. Das Arbeitsleben ist eigentlich dafür da, dass wir uns was leisten können und dass wir auch mal Urlaub machen können. Es geht ums Geldverdienen und darum, dass es uns gut geht.

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»WIR WISSEN BEIDE VONEINANDER, WIE WICHTIG UNS DIE ARBEIT IST.« Maria Brakel arbeitet in der Eisenbahnbranche als Assistentin im Personalmanagement. Laut Vertrag hat sie eine wöchentliche Arbeitszeit von 39 Stunden. Sie pendelt von ihrem Wohnort täglich etwa 120 Kilometer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Philipp Ballhausen hat mit einem Schulfreund ein Unternehmen gegründet, das sich auf die Entwicklung von Web-Applikationen spezialisiert hat.

Philipp  Meine Arbeitssituation ist gar nicht so einfach zu erklären. Ich bin vorrangig Student. Das ist das, was ich zumindest auf dem Papier mache. Nebenbei bin ich selbstständig. Da investiere ich neben meinem Studium sehr viel Zeit. Auf die Woche gesehen mache ich nicht viel mehr als 10 Stunden etwas für das Studium und dafür 35 Stunden für das Unternehmen. Aber das vermischt sich sehr. Zusätzlich engagiere ich mich in der Jungen Union und versuche, mich im September bei der Kommunalwahl wählen zu lassen. Maria  Ich habe eigentlich auch keine festen Arbeitszeiten, jedenfalls werden sie nirgendwo festgehalten. Dadurch, dass ich bei meiner Arbeit eine enge Verbindung zu meinem Chef habe, ist es schwierig, ganz flexibel zu sein. Meine Arbeitszeit richtet sich nach der Anwesenheit meines Chefs und den Aufträgen, die er mir gibt. Und durch die Fahrten mit der Bahn bin ich natürlich etwas gebunden. Grundsätzlich fange ich morgens um 8 Uhr an, aber wann ich gehe, ist ganz unterschiedlich. Philipp  Wir haben mit unserer Firma ein eigenes Büro. Da bin ich so von 8 oder halb 9 Uhr bis ungefähr 18 Uhr. Da es nah bei der Uni ist, kann ich immer mal kurz rübergehen. Wenn Maria abends am Bahnhof ankommt, versuche ich Feierabend

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zu machen. Und wenn sie noch eine Stunde länger im Büro braucht, dann arbeite ich auch länger. Insofern passen unsere Arbeitszeiten sehr gut zusammen. Maria  Ich nehme mir manchmal Arbeit für das Wochenende oder für den Feierabend auch mit nach Hause. So kann ich die Sachen in Ruhe erledigen, weil niemand zwischendurch anruft oder reinkommt. Ich bearbeite Mails am Handy oder frage sie unterwegs ab, damit ich reagieren kann, wenn mein Chef noch Aufgaben hat. Das nimmt aber nicht mehr als eine Stunde in Anspruch und ich mache es freiwillig. Philipp  Bei dringenden Projekten arbeite ich auch mal am Wochenende. Oder wenn es einen Notfall gibt und ein Kunde sich meldet, dann setze ich mich eben an den Laptop und gucke, wo der Fehler liegt. Aber vor allem mache ich am Wochenende was für mein Studium, da das in der Woche immer ein bisschen zu kurz kommt. Maria  In meinem Leben hat Arbeit einen sehr hohen Stellenwert. Momentan eigentlich fast den wichtigsten. Mir macht die Arbeit Spaß und ich möchte vorankommen. Dafür muss man viel investieren.


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Maria Brakel und Philipp Ballhausen

Philipp  Ich versuche mir ja gerade ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Dort fließt einfach viel Zeit und Energie rein. Vor allem mache ich das aus Leidenschaft, also ist mir die Arbeit unglaublich wichtig. Sie hat bei mir auch einen sehr hohen Stellenwert. Mein politisches Engagement möchte ich auf kommunaler Ebene weiterführen, aber ich strebe keine höhere politische Karriere an. Ich habe das Gefühl, dass ich mit meinem eigenen Unternehmen etwas ganz anderes erreichen kann. Darin steckt eine ganz andere Dynamik.

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Maria  Klar ist es mit den Arbeitszeiten manchmal nicht so einfach, wenn ein Familiengeburtstag ansteht oder man Behördengänge machen muss – vor allem für mich mit dem Pendeln. Untereinander sind wir da aber eigentlich relativ flexibel. Wir wissen beide voneinander, wie wichtig uns die Arbeit ist und haben deshalb auch Verständnis für den anderen. Ich habe ein ganz anderes Arbeitsmodell als Philipp. Durch seine Flexibilität können wir uns damit aber gut arrangieren.

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»DIE ZEIT MIT DEN KINDERN KOMMT BEI 40 STUNDEN EINFACH ZU KURZ.« Christina Lehnerl ist alleinerziehende Mutter von Zwillingen. Sie hat zwei Arbeitsstellen mit je 20 Stunden. Vormittags arbeitet sie als Projektmanagerin in einem Verlag und nachmittags ist sie als Geschäftsstellenleitung für einen Verein tätig. Ihre beiden fünfjährigen Jungs gehen 45 Stunden pro Woche in die Kita.

Christina  Die beiden Jobs parallel mache ich noch gar nicht so lange, und eine Dauerlösung ist das sicher nicht. Bis meine Kinder in die Schule kommen, muss sich dringend etwas ändern. Zwei Jobs sind einfach auch deutlich anstrengender als eine 40-Stunden-Stelle. Der Anspruch liegt für mich darin, zwischen den zwei Stellen gedanklich zu »switchen«. Ich habe das Riesenglück, dass meine Kinder ein sehr gutes Immunsystem haben. Sie sind unglaublich selten krank. Letzte Woche hatte mein Sohn mal Fieber, da konnte ich zum Glück Homeoffice machen. Die Stunden, in denen ich nicht arbeiten konnte, habe ich dann am Abend drangehängt. Wann ich ins Homeoffice gehen kann, ist aber bei beiden Stellen sehr projektabhängig. Bei der einen Stelle im Verlag betreue ich das Projekt komplett alleine. Der andere Job ist eine Geschäftsstellenleitung für einen Verein, der mehrere Projekte betreut. Hier hängt sehr viel davon ab, wie viel in den einzelnen Projekten gerade los ist. Ich arbeite ab und zu projektbedingt am Abend, wenn die Kinder im Bett sind oder auch mal am Wochenende. Dann nehmen meine Eltern die Kinder. Im Moment kommt das so alle fünf bis sechs Wochen vor. Und ich habe noch einen Patenonkel, der zwischendurch mal die Kinder

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nimmt, wenn ich einen Abendtermin habe. Ohne diese Unterstützung würde es überhaupt nicht funktionieren. Unterstützt werde ich im Alltag vor allem durch die Kita. Wir haben sehr gute Betreuungszeiten von morgens 6:30 Uhr bis abends 19:00 Uhr. Man kann sich relativ flexibel entscheiden, welche Stunden man pro Tag für sein Stundenkontingent buchen kann. Mehr als neun Stunden am Tag dürfen es aber nicht sein. Das ist auch gut so. Und sollte bei den gebuchten Zeiten mal eine Änderung oder Engpass spontan sein, kann ich die Kinder auch länger dort lassen. Das ist sehr selten, aber es kommt halt vor. Der Job als Projektmanagerin erfüllt meinen Wunsch nach Vielseitigkeit in meinen Tätigkeiten. Neben dem Management, sind Gestaltung, Pressearbeit, Sale und Eventorganisation Bestandteil meiner Arbeit. Diese Vielfältigkeit macht das Besondere. Allerdings reicht die Bezahlung nicht aus. Das hat letztendlich zu der Entscheidung geführt, eine zweite Stelle anzunehmen. Und die macht mir auch Spaß. Das hat nichts mit einem Selbstverwirklichungstrip zu tun. Mir wäre es lieber, wenn ich eine gut bezahlte 30-Stunden-Stelle hätte, um einfach mehr Zeit für die Kinder zu haben.


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Christina Lehnerl

Finanziell ist man ganz auf sich alleine gestellt. Ich habe mehrere Gespräche mit diversen Ämtern geführt. Aber es gibt leider keine weitere Unterstützung bei einer Stelle. Oder ich wüsste zumindest von keiner. Eigentlich sollte die Familie an erster Stelle stehen. Tatsächlich ist das aber leider nicht der Fall. Die Arbeit hat zwar neben der Lebensexistenz einen hohen Stellenwert für mich, weil ich in beiden Stellen mit Themen arbeite, die mich begeistern und die Arbeit mir das Gefühl gibt, nicht nur

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Mutter zu sein, aber die Zeit mit den Kindern, kommt bei 40 Stunden in zwei Jobs einfach zu kurz. Die vermisse ich. Meine Kinder gehen wirklich gerne in die Kita. Nur abends merkt man einfach, dass sie fertig sind, weil sie einen verdammt langen Tag hatten. Umso mehr genießen wir die Wochenenden. Da kommt es auch oft vor, dass die Kinder sagen: Mama, wir wollen einfach nur zu Hause bleiben. Das ist natürlich auch ganz schön.

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»DASS MEINE FRAU SELBSTSTÄNDIG IST, MACHT AUCH MICH FLEXIBLER.« Petra Böhm arbeitet hauptberuflich als Übersetzerin und Sprachtrainerin. Ihre Arbeitszeit liegt zwischen 15 und 25 Stunden in der Woche. Volker Böhm ist in einem großen Chemieunternehmen im Bereich Business Development tätig. Er arbeitet in Vollzeit und pendelt jeden Tag circa 15 Kilometer mit dem Auto. In der Regel ist er fünf Tage in der Woche im Büro. Etwa vier bis fünf Tage im Monat geht er auf Dienstreise. Die beiden haben zwei Kinder im Alter von 8 und 11 Jahren.

Petra  Die Familie ist der Grund, weshalb ich selbstständig arbeite. Ich bin damals zur Studienberatung gegangen und habe gesagt: Ich möchte gerne etwas mit Sprachen machen. Der Studienberater hat mich relativ schnell auf Dolmetschen und Übersetzen gebracht und gesagt: Das ist ein Beruf, den man gut mit der Familie verbinden kann.

Basketball mit Kollegen und Freunden. Ansonsten unternehmen wir viel mit unseren Kindern. Ich sehe zu, dass ich Zeit für meine Hobbys habe und vor allem, dass die Familie nicht darunter leidet. Aber dazu kann vielleicht Petra mehr sagen ...

Als die Kinder kamen, habe ich nur eine kurze Pause gemacht. Im Prinzip habe ich durchgehend von zu Hause gearbeitet. Elternzeit oder so etwas gab es ja für Freiberufler nicht. In dieser Zeit habe ich fast ausschließlich übersetzt, weil das sozusagen mit Kind auf dem Schoß noch ganz gut ging.

Petra  Dem kann ich zustimmen. Volkers Arbeit ist wichtig, weil er Hauptverdiener ist. Aber die Familie hat bei ihm auch einen sehr hohen Stellenwert. Bei mir steht das Muttersein immer vorne, eindeutig. Aber ich bin sehr froh, dass ich nebenher arbeiten kann. Zurzeit unterrichte ich neben der Arbeit ehrenamtlich Deutsch als Fremdsprache. Außerdem bin ich Elternsprecherin.

Volker  Ich habe keine Elternzeit genommen. Zum Glück habe ich aber Vertrauensarbeitszeit. Meine Chefs hatten immer Verständnis dafür, dass auch mal kurzfristig Dinge in der Familie passieren. Ich springe immer dann ein, wenn meine Frau nicht kann. In dieser Hinsicht sind wir nicht ganz gleichberechtigt.

Volker  Ich bin sehr dankbar und glücklich, dass meine Frau selbstständig ist und quasi von überall auf der Welt aus arbeiten kann. Das macht auch mich extrem flexibel in meinem Job. Besonders gemerkt habe ich das, als ich 2010 von meiner Firma für dreieinhalb Jahr nach Hongkong geschickt wurde.

Arbeit ist mir wichtig, aber nicht so, dass ich alles andere der Arbeit unterordnen würde. Ich versuche, einen Kompromiss zu finden. Vielleicht dominiert die Karriere manchmal etwas mehr, aber nicht immer. Neben der Arbeit bin ich ehrenamtlich in der Kirchengemeinde tätig und in einem Service Club. Einmal in der Woche spiele ich

Petra  Für mich hat sich in Asien nicht viel geändert. Ich konnte für das deutsche Generalkonsulat in Hongkong beglaubigte Personenstandsurkunden und ähnliche Übersetzungen übernehmen. Dort war ich sogar die einzige vereidigte Übersetzerin für Englisch–Deutsch, Deutsch–Englisch. Stundenmäßig habe ich in Hongkong etwas mehr gear-

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Petra und Volker Böhm

beitet als in Deutschland, weil wir mehr Unterstützung im Haushalt hatten – was dort vollkommen normal ist. Hier haben wir auch eine Haushaltshilfe. Sie kommt aber maximal alle zwei Wochen, manchmal sogar weniger. Auch eine Hilfe ist, dass wir Fahrgemeinschaften mit unseren Nachbarn haben zum Sport oder zur Schule bei Regen. Wenn wir beide mal nicht können, was ab und zu vorkommt, dann kommen unsere Eltern und nehmen eine Strecke von 100 km auf sich. Volker  Im November bin ich seit 15 Jahren im Unternehmen. Als ich angefangen habe, musste ich noch stechen. Dann wurde relativ schnell auf

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Vertrauensarbeitszeit umgestellt. Damals haben die außertariflichen Mitarbeiter aber sowieso länger gearbeitet. Erst im Laufe der Zeit hat sich das hin zu einer tatsächlichen Vertrauensarbeitszeit gewandelt. Erst durch die neue Generation an Führungskräften hat es sich durchgesetzt, mehr an Arbeitsergebnissen zu messen als an Präsenz. Petra  Ich würde sagen, wir haben wenige Probleme im Alltag aufgrund der Arbeitszeit. Ich muss schon mal am Wochenende arbeiten, aber dann ist ja Volker da, um sich mit den Kindern zu beschäftigen. Ich finde das eigentlich ziemlich optimal.

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»MEINE FREIZEIT IST MIR WICHTIG. FRÜHER WAR DAS ANDERS.« Daniel Hübenthal arbeitet in der Personalabteilung einer großen Bundesbehörde. Er beginnt seinen Arbeitstag um 6 Uhr und hat gegen 15 Uhr frei. Für den Weg zur Arbeit braucht er etwa eine Stunde mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Stephan Gellrich ist bei einem Verein, der sich mit den Themen HIV und Aids beschäftigt. Seine Kernarbeitszeit liegt zwischen 10 und 16 Uhr. Er braucht keine fünf Minuten für den Weg zur Arbeit. Beide arbeiten in Vollzeit und kümmern sich um ihren Hund Anton.

Daniel  Arbeit ist für mich das Mittel zum Zweck. Man muss ja irgendwie Geld verdienen. Bisher hat es aber auch immer Spaß gemacht. Stephan  Bei mir ist es ein bisschen anders. Ich bin Quereinsteiger. Früher habe ich mich aus persönlichen Gründen relativ viel ehrenamtlich für die Themen HIV und Aids eingesetzt. Für mich ist das mehr als nur eine Arbeitsstelle. Das ist Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite ist es ein Fluch, weil man manche Sachen dann doch mit nach Hause nimmt, die man vielleicht besser im Büro lassen würde. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass man für bestimmte Dinge ein bisschen mehr Leidenschaft entwickeln kann als wenn es »nur« darum geht, einen Job zu machen. Daniel  Wir haben eine automatisierte Zeiterfassung, sprich mit Stechuhr, wie man früher sagte. Plus- und Minusstunden mache ich aber auf jeden Fall. Im Sommer sind es eher Minusstunden, weil man da doch mal früher geht. Im Winter ist es eh dunkel, dann bleibt man auch mal länger im Büro sitzen. Man kann sich bei uns in einem Radius von plus oder minus 20 Stunden im Monat frei bewegen. Außer wenn es darüber geht, dann gibt

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es einen kleinen Wink vom Vorgesetzten, dass man das Stundenkonto in den Griff kriegen sollte. Ansonsten gibt es auch Möglichkeiten, Stunden auf Langzeitarbeitskonten zu übertragen für einen vorzeitigen Ruhestand oder ein Sabbatjahr zum Beispiel. Stephan  Wir können unsere Arbeitszeit relativ selbstbestimmt einteilen, da genießen wir das Vertrauen unseres Arbeitgebers. Das finde ich sehr schön. Da ich ab und zu mal am Wochenende arbeite, habe ich eine Art Zeitkonto, mit dem ich ein bisschen spielen kann und was meistens ganz gut funktioniert. Ich finde so einen Mischmasch zwischen fester Arbeitszeit in der Woche und Wochenendterminen auch ganz interessant und abwechslungsreich. Letztes Jahr hatte ich allerdings 18 Wochenendtermine. Das war mir dann schon etwas zu viel und es gab auch mal kleinere Schwierigkeiten, wenn man etwas machen wollte, zum Beispiel einen Freund in Berlin oder eine Freundin in München zu besuchen. Daniel  Genau, der Klassiker. Ich habe das Wochenende eigentlich immer frei. Es reicht auch, wenn einer in der Familie sich da betätigt. Außerdem


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Daniel Hübenthal und Stephan Gellrich

muss einer ja auf den Hund aufpassen, das ist wie mit Kindern. Ich habe vorher im Handel gearbeitet, da musste ich samstags arbeiten. Für mich ist es eine Verbesserung, die Wochenenden frei zu haben. Stephan  Meine Freizeit ist mir schon wichtig. Früher war das anders. Da habe ich auch über den Job hinaus sehr viel Zeit mit Engagement in dem Bereich verbracht. Nach 20 Jahren ist es dann mal gut und man merkt, dass man auch Zeit für sich selber braucht. Jetzt haben wir seit zwei oder drei Jahren einen Garten, um den ich mich leidenschaftlich kümmere. Das ist für mich ein guter Ausgleich, weil ich da einfach den Kopf frei kriege

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und buddeln kann und über nichts anderes nachdenken muss. Daniel  Bei mir ist es ähnlich. Der perfekte Sonntag sieht für mich ungefähr so aus: Ich liege in der Hängematte im Garten bei gutem Wetter. Ansonsten versuche ich in der Woche, mehr oder weniger regelmäßig zum Sport zu gehen. Man muss ja irgendwie fit bleiben, gerade mit so einem Bürojob. Stephan  Daniel wird ja, zumindest regelhaft, früher in Ruhestand gehen als ich. Ich würde das gerne mit ihm gemeinsam tun und werde deshalb schauen, ob und unter welchen Voraussetzungen das möglich ist.

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WIE BETRIEBE FLEXIBLES ARBEITEN ORGANISIEREN Viele Unternehmen bieten bereits neuen Optionen an, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer individueller über Arbeitszeit und Arbeitsort entscheiden können. Die digitale Technik schafft dafür neue Möglichkeiten und unterstützt die Zusammenarbeit und den Wissensfluss in orts- und zeitflexibel arbeitenden Teams. Hier berichten Arbeitgeber und Arbeitnehmer von ihren Erfahrungen. Die Publikation »Zeit- und ortsflexibles Arbeiten in Betrieben« (BMAS 2015) bietet weitere betriebliche Gestaltungsbeispiele1.

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Die Broschüre ist unter www.bmas.de bestellbar.

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FUTURE WORK: DEUTSCHE TELEKOM In dem Projekt Future Work entscheiden die Mitarbeiter, wo sie am besten Arbeiten können. Dies kann auch von Zuhause oder anderswo sein. Bis Ende 2017 sollen ca. 25 000 Mitarbeiter in Deutschland in den neuen Arbeitsumgebungen arbeiten.

Doris Hallerbach

Michael Schneider

Future Work

Mitarbeiter im Bereich Personal

»Wir wollen die Innovationskraft und Kreativität der Mitarbeiter fördern, deshalb setzen wir auf ›activity based working‹ in Verbindung mit der Förderung von Ergebnis- und Vertrauenskultur: diese Neugestaltung der Arbeitswelt wird in dem Projekt ›Future Work‹ vorangetrieben. Wir setzen zukünftig mehr auf virtuelle Zusammenarbeit statt auf physische Präsenz. Vertrauen wird wichtiger sein als Kontrolle. Unser Schlüssel zum Erfolg ist Flexibilität. Das bedeutet, Mitarbeiter können ihren Arbeitsort selbst wählen, je nach anstehender Tätigkeit: Mobiles Arbeiten, ruhiger Think Tank, temporärer Projekt- oder Kreativraum. Die Umstellung auf das neue Arbeiten erfordert allerdings ein neues Verständnis von Zusammenarbeit bei allen Beteiligten. Eigenverantwortung und gegenseitige Rücksichtnahme sind Grundprinzipien einer modernen Arbeits- und Führungskultur. Klar ist natürlich auch: Viele Tätigkeiten werden weiterhin an einen Ort gebunden sein.«

»In den letzten 30 Jahren hat sich in Sachen Präsenz am Arbeitsplatz einiges getan. Ich habe noch Chefs kennengelernt, die ihre Mitarbeiter um 07:00 Uhr morgens an der Eingangstür begrüßt haben. Ich bin mobiler Telearbeiter und an meinen ‚Arbeitsplatz‘ in Frankfurt komme ich selten. Er bietet mir dann aber alle räumlichen Voraussetzungen, um kurzfristig einen Arbeitsplatz zu buchen, Konferenzräume anzumieten, Besprechungen zu organisieren oder mich mit Kollegen in Lounges zum Austausch zu treffen. Meetings bestimmen, an welchem Standort ich bin. Aber es geht auch nicht alles über die digitalen Wege; manchmal muss man sich in die Augen sehen, um eine Lösung zu finden. Im Homeoffice arbeite ich häufig. Das erfordert natürlich ein wenig Selbstdisziplin, um die privaten Ablenkungen in den Griff zu bekommen. Dafür habe ich aber die nötige Umgebung, um die Arbeiten zu erledigen, die Ruhe und Konzentration erfordern. Es geht also heute nicht mehr darum, anwesend zu sein, sondern um die Ergebnisse der persönlichen Arbeit. Mit der richtigen Ausstattung und der richtigen Einstellung ist mobiles Arbeiten überall möglich geworden.«

DEUTSCHE TELEKOM Telekommunikation, Bonn, 115.000 Beschäftigte

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P raxis

HOMEOFFICE: BUSINESS INTELLIGENCE GMBH Die BI Business Intelligence GmbH bietet allen Beschäftigten – mit Ausnahme der Assistenz der Geschäftsleitung, für die während der Kernzeit zwischen 9 und 15 Uhr Anwesenheitspflicht besteht – die Möglichkeit zum Homeoffice.

Conrad Moeller

Mario Lösel

Geschäftsführer

Mitarbeiter im Vetrieb

»Die Nutzung des Homeoffice gestaltet sich bei uns erstaunlich zielführend. Das erreichen wir durch genaue Absprachen unter den Mitarbeitern und genauer Aufgabenverteilung. Außerdem ist die Erreichbarkeit eine Voraussetzung für das Arbeiten im Homeoffice. Bestünde die Möglichkeit zum Homeoffice nicht, würde hier und da sicher immer wieder Arbeit liegen bleiben, zum Beispiel wenn Mitarbeiter persönliche Termine wahrnehmen müssen, die nicht den ganzen Tag in Anspruch nehmen. Im Homeoffice können sie viel flexibler auf solche Situationen reagieren. Als Geschäftsführer nutze ich die Möglichkeit des Homeoffice gelegentlich in Projektphasen, in denen ich hochkonzentriert arbeiten muss und keine Ablenkung gebrauchen kann. Der Vorteil des Homeoffce für die Arbeitgeberseite ist, dass keine Arbeit liegen bleibt. Und die Arbeitnehmerseite hat den Vorteil private Termine mit der Arbeit verbinden zu können, eine gute Ausgangssituation für beide Seiten.«

»Die Möglichkeit zum Arbeiten im Homeoffice heißt für mich flexibel zu sein. Genauer bedeutet dies, dass ich von zuhause arbeiten kann, wenn eins meiner Kinder krank ist, was bei Kindern im Kita-Alter ja schon mal vorkommen kann. Den Großteil meiner Aufgaben kann ich dank moderner IT von zuhause erledigen. Ausnahmen sind Kundentermine oder wichtige Besprechungen im Büro. Grundbedingungen für meine Tätigkeit im Homeoffice sind Erreichbarkeit während der Bürozeiten, Zuverlässigkeit sowie enge Abstimmung über zu erledigende Aufgaben mit meinen Kolleginnen und Kollegen. Eine weitere wesentliche Voraussetzung ist ein positives Vertrauensverhältnis zwischen Angestellten und Geschäftsleitung. Wenn diese erfüllt ist, stellt das Arbeiten im Homeoffice für beide Seiten einen Gewinn dar.«

BI BUSINESS INTELLIGENCE GMBH IT /Software Entwicklung für Unternehmen der Energiewirtschaft, Leipzig, 30 Beschäftigte

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ZEIT- UND ORTSFLEXIBEL ARBEITEN BEI KLAB Das Unternehmen will durch gute technische Lösungen in Kombination mit klaren Verabredungen ein größtmögliches Maß an zeit- und ortsflexibler Arbeit anbieten. Die überschaubare Unternehmensgröße ermöglicht das Experimentieren mit neuer Software und neuen Apps.

Benjamin Wüstenhagen

Hanna Hänel

Geschäftsführer

Mitarbeiter im Marketing

»Um mobile Arbeit zu gewährleisten, haben wir in verschiedenen Teams unterschiedliche Tools zur Unterstützung der Arbeitsprozesse und Kommunikation im Einsatz. Diese sind jeweils auf die spezifischen Anforderungen der Arbeitsweise angepasst. Das ermöglicht eine hohe Flexibilität für unser Team in Bezug auf mobile und ortsunabhängige Arbeit. Allerdings sind die verschiedenen Software-Lösungen nicht direkt miteinander kompatibel. Das erfordert einen erhöhten Koordinationsaufwand bei der Zusammenführung der Aufgaben und Ziele. Wir finden, dass es sich dennoch lohnt auf die spezifischen Bedürfnisse auch spezifisch einzugehen.«

»Vor der Einführung unseres Chat-Tools beschränkte sich die Teamkommunikation auf Meetings, Skype und massenhafte E-Mails. Das kann sehr schnell unübersichtlich werden und die Kommunikation langsam machen. Egal, ob es um Projekte oder die vielen gemeinsamen Aufgaben in einer Gruppe geht: Je besser der Informationsaustausch aller Mitarbeiter organisiert ist, umso effizienter gestaltet sich der Beitrag jedes einzelnen Mitarbeiters. Unser Team arbeitet oft dezentral. Somit ist ein einfacher und schneller Kommunikationskanal sehr wichtig, viele akute Themen können schnell und effektiv innerhalb des Chats diskutiert werden. Natürlich ist der Chat kein Ersatz für Meetings und E-Mails. Dennoch hat es uns geholfen, die interne Kommunikation zu verbessern.«

K.LAB EDUCMEDIA GMBH Start-Up IT / Bildungstechnologie, Berlin, 17 Beschäftigte

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FLEXIBLE SCHICHTPLANUNG: WESTAFLEX Bei Westaflex tragen sich die Mitarbeitenden von zu Hause oder unterwegs für ihre Arbeitsschichten ein. KapaflexCy sorgt für die Einhaltung von Ruhephasen zwischen den Schichten und der Höchstarbeitszeit. Beschäftigte in der Fertigung nutzen das Tool auf freiwilliger Basis.

Jan Westerbarkey

Petra Kilian

Geschäftsleitung

Mitarbeiterin Personal

»Unsere Beschäftigten erhalten mit KapaflexCy eine hohe Entscheidungsbefugnis darüber, wann, wo und wie sie arbeiten. Sie können dies nun selbst bestimmen – natürlich in Absprache mit dem Team und, falls notwendig, auch mit ihrem Vorgesetzten. Entscheidendes Kriterium dabei ist, dass die Aufgaben erledigt werden und dass es zu möglichst geringen Reibungsverlusten kommt. Dies ist allerdings nur in einer Unternehmenskultur möglich, die sich von der Anwesenheitsorientierung hin zu einer strikten Aufgabe- und Ergebnisorientierung entwickelt.«

»Vor der Einführung von KapaflexCy befürchteten die Meister, die Kontrolle über ihre Teams zu verlieren. Sie scheuten den erhöhten Organisations- und Koordinationsaufwand, der mit der Führung virtueller Teams verbunden ist und sorgten sich, dass sie den neuen Führungsstil nicht beherrschen könnten. Sie erhielten als Coach die Aufgabe, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Beschäftigten optimal arbeiten können. Ergebnis des KapaflexCy Programms ist, dass unsere Mitarbeiter durch die stärkere Selbstbestimmung und Gestaltung ihrer Arbeitszeit wesentlich zufriedener sind und aufgrund der höheren Arbeitssouveränität weniger Vereinbarkeitsstress empfinden. Sie können ihre Anforderungen im Berufsleben mit ihren familiären Pflichten und Freizeitinteressen besser in Einklang bringen.«

WESTAFLEX GMBH Metallverarbeitung, Gütersloh, 250 Beschäftigte

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4 PERSPEKTIVEN

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P erspektiven

»WIR MÜSSEN DEN SOZIALEN ASPEKT DER ARBEIT NEU DENKEN« Der digitale Strukturwandel birgt enorme Herausforderungen, aber auch Chancen. Die Art, wie wir arbeiten, verändert unser Zusammenleben. Sie kann Demokratie und Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern, aber auch zu einer Neuerfindung des Sozialen führen. Der amerikanische Soziologe und Historiker Richard Sennett über Entwicklungstrends und Gestaltungschancen der Zukunft der Arbeit.

Frage: Welche Trends und Entwicklungen werden aus Ihrer Sicht den größten Einfluss auf die Zukunft der Arbeit haben? Sennett: In Westeuropa ist der wichtigste Trend hinsichtlich der Zukunft der Arbeit, dass die Mitte des Arbeitsmarktes immer kleiner werden wird. Betroffen von diesem Trend sind Dienstleistungen, die weder von Hochqualifizierten noch von körperlich arbeitenden Geringqualifizierten erbracht werden. Vielmehr geht es um Büroarbeit. Ich rechne damit, dass diese Tätigkeiten entweder in Niedriglohnländer, zum Beispiel nach Fernost, verlagert werden oder dass sie aufgrund des technologischen Fortschritts wegfallen. Diese beiden Trends lassen sich bereits heute stellenweise beobachten: Die Mitte des Arbeitsmarktes wird einen immer kleineren Teil des Kuchens ausmachen. Sie läuten also nicht allgemein das Ende der Arbeit ein? Spracherkennungssoftware

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und

interaktive

Dienst­leistungssoftware entwickeln sich weiter. Dadurch werden viele Kundendienstleistungen wegfallen. Zum Beispiel wird es in Zukunft höchstwahrscheinlich nur sehr wenige Banken geben, die noch Kundenabteilungen mit Mitarbeitern haben werden. Diese Tätigkeiten werden verschwinden. Allerdings gibt es auch Dienstleistungen, die nicht der Digitalisierung zum Opfer fallen werden. Hier denke ich zum Beispiel an den Gesundheitsbereich. Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Digitalisierung und den Beschäftigungszahlen gibt. Diese Branche digitalisiert sich, aber gleichzeitig wird auch mehr eingestellt. Diese Arbeitsplätze sind also sicher. Die Alterung der Gesellschaft wird auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. Die Betreuung älterer Menschen wird sich nicht durch einen größeren Einsatz von Computern bewerkstelligen lassen. Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass einfache Tätigkeiten im öffentlichen Dienst in Zukunft von Maschinen erledigt werden, denn häufig beschränkt sich die Arbeit in diesem Bereich auf die Verwaltung von Daten.


P erspektiven beitern ausgebildet werden. In Großbritannien und in den USA haben junge Menschen nicht die Möglichkeit, eine Berufsausbildung zu absolvieren, und sie haben daran auch gar kein Interesse. In der Regel streben junge Menschen einen Hochschulabschluss an, um dann als mittlere Angestellte zu arbeiten und nicht dort, wo körperliche Arbeit gefragt ist. Aber genau diese Arbeitsplätze verschwinden. Neoliberale Volkswirtschaften trifft diese Entwicklung meiner Meinung nach besonders hart, aber der technologische Fortschritt und die Verlagerung von Tätigkeiten ins Ausland machen auch vor Ihrem Land nicht halt.

Prof. Richard Sennett (geb. 1943) ist einer der einflussreichsten Theoretiker der modernen Arbeits- und Lebenswelt. Er beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit den Auswirkungen wirtschaftlicher und technologischer Entwicklungen auf die Gefühlswelt des Einzelnen und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Mit Veröffentlichungen wie »Der flexible Mensch« (1998), »Die Kultur des neuen Kapitalismus« (2005) oder zuletzt »Handwerk« (2008) und »Zusammenarbeit« (2012) prägte er öffentliche Debatten. Richard Sennett lehrt Soziologie und Geschichte sowie Sozial- und Kulturtheorie an der New York University und an der London School of Economics.

Sie sagten vorhin, dass sich diese Veränderungen vor allen Dingen in Westeuropa abspielen werden. Was ist mit anderen Regionen? Vielleicht werden die Veränderungen bei Ihnen in Deutschland weniger stark ausgeprägt sein als in den angelsächsischen Ländern, weil bei Ihnen viele junge Menschen ja nach wie vor zu Fachar-

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Ich habe von Westeuropa gesprochen, weil die Krise der Arbeit dort ganz anders geartet ist als in Südeuropa. In Südeuropa haben wir es mit dem klassischen Fall zu tun, dass körperliche Arbeit einen Wandel erlebt. Diese Länder sind keine Industriestandorte, daher haben wir es dort mit körperlichen Tätigkeiten zu tun, die auch von Einwanderern erledigt werden können, die daher als Bedrohung wahrgenommen werden. Welche negativen Konsequenzen und Reaktionen könnte der Verlust von Arbeitsplätzen im mittleren Bereich aktuell oder in Zukunft auslösen? Ich halte das für ein riesiges politisches Problem, denn dieser Druck auf die Mitte der Gesellschaft führt oft dazu, dass Menschen sich rechtsextremen oder populistischen Strömungen zuwenden. Genau das sind dann die Menschen, die fälschlicherweise der Meinung sind, Einwanderer hätten ihnen ihre Jobs weggenommen. Die Wahrheit ist jedoch, dass ihre Arbeitsplätze ins Ausland verlagert oder von Maschinen ersetzt wurden. Für mich ist das die große aktuelle Herausforderung in Westeuropa. Früher hat man bei hoher Arbeitslosigkeit zumindest hier in Großbritannien, wo ich lebe, den staatlichen Sektor ausgeweitet. Die Zeiten haben sich aber geändert. Diese klassische Krisenbewältigungsstrategie eines Zurückdrängens der Arbeitslosigkeit durch eine Ausweitung des öffentlichen Sektors werden wir dieses Mal nicht erleben. Wie wirkt sich die Entgrenzung der Arbeit und des Privatlebens auf die Beschäftigten in

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P erspektiven OECD-Ländern wie Deutschland, Großbritannien und den USA aus? In zweierlei Hinsicht. Erstens spielt das Geschlecht eine Rolle. Als es vor 20 Jahren zum ersten Mal wirklich möglich wurde, die private Wohnung und den Arbeitsplatz miteinander durch Computer zu verbinden, ging man davon aus, dass dies für Frauen ein großes Befreiungspotenzial mit sich bringen würde. Stattdessen ist eine neue gläserne Decke entstanden. Frauen, die von zu Hause aus arbeiten, sind von informellen Kontakten abgeschnitten. Von inoffiziellen Dingen, die mit Chancen verbunden sind, erfahren sie erst gar nicht. Aufstiegsmöglichkeiten in großen Unternehmen hängen aber häufig davon ab, was man beiläufig im Gespräch erfährt. Von dem, was geschieht, wenn man gerade nicht am Computer sitzt. Frauen waren da häufig außen vor. Sie hatten keinen Zugang zu diesen informellen Kontakten mit ihren vielfältigen Chancen. Ich persönlich denke, dass Computer nur sehr begrenzt jeglichen direkten Kontakt ersetzen können. Auf der Beziehungsebene macht es einen großen Unterschied, ob wir beide uns direkt oder im Internet miteinander unterhalten. Gespräche im Netz sind viel langsamer und längst nicht so informell, wie wenn man sich spontan über den Weg läuft und zum Beispiel sagt: »Hab ich dir das eigentlich schon erzählt? Im Flur unter uns suchen sie nach einem neuen Kollegen.« Verstehen Sie, was der Unterschied ist? Da gibt es also Grenzen, die nicht ohne Weiteres überwunden werden können. Welche neuen Chancen kann die Digitalisierung eröffnen? Ich bin davon überzeugt, dass Westeuropa seine Beschäftigungskrise nur mit einer Kombination aus Jobsharing und einem Grundeinkommen in den Griff bekommen wird. Anstatt dass sich drei Leute auf einen Arbeitsplatz bewerben und dann einer den Job bekommt und die anderen beiden von Sozialleistungen leben, sollten wir darüber nachdenken, wie wir Stellen auf zwei oder drei Personen aufteilen können. Um das geringere Einkommen wettzumachen und um den Lebensunterhalt der Menschen zu sichern, müsste die Gemeinschaft zusätzlich unterstützend eingreifen.

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Auf der praktischen Ebene müsste man das im Internet koordinieren. Hier sehe ich zusätzliche Chancen der voranschreitenden Digitalisierung. Wo sind die Ressourcen, wo sind die Arbeitsplätze und wer kann die Aufgaben erledigen? Bei all diesen Fragen kann der Staat eine Schlüsselrolle einnehmen und auf die neuen digitalen Möglichkeiten zurückgreifen. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, dass ich damit rechne, dass es in Europa einen Arbeitsmangel geben wird und dieses Problem nicht allein durch die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen gelöst werden kann. Die vorhandenen Arbeitsplätze müssen daher als eine Art knappe Ressource gesehen werden, die es so gerecht wie möglich zu verteilen gilt. Die Menschen würden also in Teilzeit arbeiten und zusätzlich staatliche Unterstützung erhalten. Das Zusammenbringen von Bewerbern und Stellen müsste online erfolgen. Das kann nicht über informelle Kontakte laufen. Plattformen wie LinkedIn haben eine große Schwäche: Für Kontakte der oberen Mittelschicht funktionieren sie gut, aber man kann damit nur schlecht die Verteilung von Arbeit organisieren. Der Staat könnte die Aufgabe übernehmen, Angebote im Internet bereitzustellen, die die Menschen dorthin vermitteln, wo die Arbeitsplätze sind. Ziel ist es, Arbeit innerhalb einer Volkswirtschaft gleichmäßiger und effizient zu verteilen. Sie sprachen bereits die Folgen digitaler Plattformen an. Wie bewerten Sie die Auswirkungen der Plattform-Ökonomie auf die Beschäftigten, Gewerkschaften und die Arbeitsbeziehungen insgesamt? Meine Auffassung ist, dass Plattformen reguliert werden müssen. Ich persönlich würde beispielsweise die Taxi-Plattform Uber vom Markt nehmen. Ich würde sie verbieten und in den Bankrott treiben. Sie steht für mich sinnbildlich für einen falschen Weg, der Plattformen zu einer neuen neoliberalen Spielwiese werden lässt, auf der uneingeschränkt die Spielregeln des freien Marktes gelten. Das wäre ein Rückschritt. Denn wir möchten einerseits, dass der Staat die Arbeitsbedingungen gestaltet, und andererseits überlassen wir das Feld beim Arbeitsschutz dem freien Markt der Plattformen. Warum sollten wir die Plattformen nicht politisch


P erspektiven gestalten? Für mich wäre ein erster Ansatzpunkt, dass die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft für Uber-Fahrer Pflicht wird. Arbeitgeber sollten nicht einzeln mit den Fahrern verhandeln, sondern so wie mit anderen Gewerkschaften auch. Wir haben gedankenlos beschlossen, dass, nur weil das Internet für alle zugänglich ist, es auch nicht reguliert werden soll, dass der Staat sich bei der Bekämpfung der so entstehenden Ungerechtigkeiten zurückziehen soll. Das ist eine Fehlentwicklung, der wir nicht tatenlos zusehen sollten. Der Staat muss eingreifen, wenn es auf Plattformen unfair zugeht. Die Firma Amazon nutzt beispielsweise das Plattform-Modell, um Arbeitsstandards zu umgehen und zu zerstören, um Steuern zu vermeiden und um andere Firmen in den Ruin zu treiben. Man sollte es Amazon nicht erlauben, einfach alles zu verkaufen. Übrigens gelten solche Aussagen in Großbritannien als ketzerisch (lacht). Sozusagen als extremer Auswuchs des Sozialismus. Nun gut. Wie gesagt: Man kann sich nicht für eine aktive Rolle des Staates in der Offline-Wirtschaft aussprechen und ihm dann online jeglichen Einfluss verwehren. Wie kann der Wert der Arbeit in einer flexiblen, dynamischen Arbeitsgesellschaft wiederhergestellt werden? Dies betrifft die Frage, wie man Arbeit organisiert, und nicht die Arbeit an sich. Wenn Sie in einer Firma mit einer kurzfristigen Perspektive arbeiten und Aufgaben erledigen sollen, die nicht von heute auf morgen zu schaffen sind, wird Ihnen keine Wertschätzung entgegengebracht. Flexibilität bedeutet Kurzfristigkeit und es entsteht keine emotionale Verbindung zwischen den Beschäftigten und dem Arbeitsplatz, da jeder nur auf Zeit angestellt ist. Wenn die Rahmenbedingungen für die Mitarbeiter aber stimmen und die Arbeit so organisiert wird, dass sich bei ihnen Loyalität gegenüber ihrer Firma oder einer bestimmten Aufgabe einstellt und sie ihre Erfahrung einbringen können, entsteht Raum für kooperative Arbeitsprozesse und das Gefühl, etwas wirklich gut zu machen. Als der Neoliberalismus vor 20 Jahren an Dynamik gewann, ging man davon aus, dass eine flexible

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Arbeitswelt den Wert der Arbeit in den Augen der Menschen erhöhen würde und sie mehr Gestaltungsmöglichkeiten haben würden. Mehr Flexibilität ist gleich mehr Freiheit, so dachte man damals. Fakt ist, dass auf diese Weise mehr geringfügige Beschäftigung entstanden ist. Diese Art der kurzfristigen Flexibilität höhlt Arbeitsplätze aus. Deshalb müssen wir meiner Meinung nach vollkommen neue Wege hinsichtlich der Arbeit und ihrer Gestaltung und Organisation einschlagen. Die Anwendung und der Erwerb von Kompetenzen müssen in das Zentrum gestellt werden. Könnten Sie dies weiter ausführen? Unter welchen Voraussetzungen können wir gute Arbeit erreichen? Echte Zusammenarbeit und erfüllende Arbeit sind nicht nur moralische Gesten, die wir uns in der Realität nicht leisten können. Wir müssen den sozialen Aspekt der Arbeit neu denken. Das bedeutet, dass wir gesellschaftliche Normen brauchen, die nicht auf eine Maximierung hinauslaufen. Insbesondere wenn es um Zeit geht. Zeit ist eine Frage der Lebensqualität. Ich würde mir sehr wünschen, dass mehr darüber diskutiert wird, wie man diese Ideen umsetzen kann. Übrigens ist dies auch im Interesse der Arbeitgeber, denn die Qualität der Arbeit von überarbeiteten Mitarbeitern ist nicht besonders gut. Das lässt sich auch statistisch belegen. Die Rahmenbedingungen müssen so sein, dass Menschen Kompetenzen entwickeln und ausbauen können. Ich glaube nicht, dass man ein permanentes Glück am Arbeitsplatz empfinden kann. Aber ich bin der Überzeugung, dass es zutiefst erfüllend ist, etwas wirklich gut zu machen. Dafür braucht man jedoch Zeit. Wir sollten anerkennen, dass die Art und Weise, wie Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen, sehr großen Einfluss auf ihr Selbstwertgefühl und ihren Lebenssinn hat. Das lässt sich nicht durch etwas Unproduktives ersetzen. Arbeit spielt die entscheidende Rolle.

Das Gespräch führte Sven Rahner 2. Juni 2016

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P erspektiven

WIE KANN EINE INNOVATIVE ARBEITSZEITPOLITIK AUSSEHEN? Gesine Schwan

Um Grundkonsense und Kompromisslinien einer innovativen Arbeitszeitgestaltung auszuloten und Gestaltungsräume zu öffnen, haben die HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform und Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles für diesen Sommer Sozialpartner, Unternehmen sowie Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft zu einem Arbeitszeitdialog eingeladen. Seine Ergebnisse sollen in das Weißbuch Arbeiten 4.0 einfließen.

Arbeit ist immer noch ein fester Taktgeber im Leben der meisten Menschen, aber Arbeitszeiten sind durch die Digitalisierung und die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens flexibler geworden. Die Ansprüche der Beschäftigten an ihre Arbeit haben sich gewandelt. Sie wünschen sich in der Gestaltung ihrer Arbeitszeit mehr Souveränität, um Arbeit und Privatleben besser in Einklang bringen zu können. Gleichzeitig müssen sich die Unternehmen durch internationale Arbeitsteilung in globalen Wertschöpfungsketten, Just-in-timeProduktion und eine verstärkte Kundenorientierung bei Produkten und Dienstleistungen neuen Zeitbedarfen anpassen, sodass Arbeitszeiten am Abend und am Wochenende heute keine Ausnahme mehr sind. Breit akzeptierte, gemeinwohlorientierte Lösungen sind wichtige Voraussetzungen für die erfolgreiche Gestaltung des digitalen und kultu-

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rellen Wandels und einer innovativen Arbeitszeitpolitik. Der im Juli begonnene Arbeitszeitdialog soll dazu beitragen, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zu befördern, Argumente aller Seiten zu sammeln und Perspektivenvielfalt zu ermöglichen, um nachhaltige Gestaltungsoptionen im gemeinsamen Interesse zu identifizieren. Dabei geht es auch um die Widersprüche des Begriffs Flexibilität bzw. Flexibilisierung, mit dem Unternehmen und Beschäftigte sehr unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse bezeichnen. Wir greifen dabei auf das von der HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform bereits vielfach erfolgreich angewandte Trialogverfahren zurück. Die Trialoge sind ein Format des deliberativen Austauschs, das Vertrauen in politische Entscheidungsprozesse herstellt und zu gemeinwohlorientierter Politik beiträgt. Unsere Trialoge organisieren eine gemeinwohlorientierte Verstän-


P erspektiven digung von Stakeholdern aus Politik, Unternehmenssektor und organisierter Zivilgesellschaft. Die drei Akteursgruppen decken aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionen, Erfahrungen und Machtpotenziale ein breites Spektrum wesentlicher gesellschaftlicher Perspektiven ab. Wir schaffen einen vertraulichen Rahmen, der garantiert, dass jede Stimme und jedes Anliegen Gehör findet – unabhängig von divergierenden Machtpositionen. Dabei setzen wir auf die Aufdeckung der Argumente, die hinter den vorgetragenen Positionen stehen. Wir durchbrechen so die schlichte Gegenüberstellung oft wiederholter und holzschnittartiger Positionen. Im Nachgang der Trialoge werden die unterschiedlichen Argumente analysiert, um Gemeinsamkeiten zu identifizieren. Unser Ziel ist es, einen Grundkonsenskorridor zu beschreiben, in dem nachhaltige Lösungen gefunden werden können. Somit unterscheiden sich unsere Trialoge deutlich von traditionellen Anhörungen, Lobbygesprächen oder Sachkonferenzen.

vorrangigen Interessen von Sozialpartnern, Unternehmen und Zivilgesellschaft zu identifizieren und eine gemeinsame Formulierung konsensfähiger Positionen zu erörtern. Bei der zweiten, für Ende August 2016 vorgesehenen Veranstaltung werden unter der Frage »Flexibel, aber selbstbestimmt?« konkrete Problem- und Lösungsbestimmungen der ersten Veranstaltung weiter vertieft sowie Ansätze für möglichst breit getragene Gestaltungsoptionen, Umsetzungsschritte und -strategien auf dem Weg zu neuen Flexibilitätskompromissen bei der Arbeitszeit formuliert. Zum Abschluss des Gesamtdialogs »Arbeiten 4.0« wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Ende 2016 ein Weißbuch vorlegen. Relevante Ergebnisse des Arbeitszeitdialogs werden dort aufgenommen.

Das Trialogthema Arbeitszeitpolitik ist kein »weiches« Thema mehr, sondern schließt harte Fragestellungen ein, die über Einzelinteressen hinausreichen und auch gemeinwohlorientiert beantwortet werden sollten: Wie können die unterschiedlichen Erfordernisse einer Gesellschaft – von der Fürsorge für andere oder Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen etwa durch die Übernahme von Ehrenämtern bis hin zur Regeneration der Beschäftigten – mit den Anforderungen der modernen Arbeitswelt in Einklang gebracht werden? Wie kann ein neuer Flexibilitätskompromiss über Wahloptionen bei Arbeitszeit und -ort inhaltlich und prozedural gestaltet werden? Gibt es Regulierungsbedarf für einzelne Aspekte flexiblen Arbeitens? Bei der ersten, für Anfang Juli 2016 geplanten Veranstaltung sollen Herausforderungen und Chancen sowie Positionen und Konzepte der verschiedenen Teilnehmergruppen für eine innovative Arbeitszeitgestaltung diskutiert werden. Unser Ziel ist es, in vertraulicher Atmosphäre die

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Prof. Dr. Gesine Schwan ist Politikwissenschaftlerin und Präsidentin der gemeinnützigen HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform. Von 1999 bis 2008 war sie Präsidentin der EuropaUniversität Viadrina. 2004 und 2009 kandidierte sie für das Amt der Bundespräsidentin.

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P erspektiven

WAS KANN DIVERSITY MANAGEMENT LEISTEN? Jutta Rump und David Zapp

Die gesellschaftliche Diversität spiegelt sich in der Arbeitswelt. Neben rechtlich-politischen Treibern wie Gleichbehandlungsgesetzen oder Quotenregelungen, gibt es betriebs- und volkswirtschaftliche Gründe für eine höhere Diversität in den Belegschaften, wie etwa den demografischen Wandel oder Maßnahmen zur Fachkräftesicherung. Ein intelligenter Umgang mit dieser Vielfalt gehört zu den Führungsaufgaben der Zukunft. Welche Chancen und Herausforderungen bringen heterogene Belegschaften mit, an welche wissenschaftlichen Erkenntnisse kann ein modernes Diversity Management anknüpfen und welche Best Practices können als Orientierung dienen?

DIE CHANCE EINER »GEMANAGTEN« VIELFALT Unterschiedliche Altersgruppen, Kulturen, Gender, Nationalitäten, sexuelle Orientierungen und Lebenssituationen sind nur einige Beispiele für die komplexen Unterschiede, die heute auch am Arbeitsplatz anzutreffen sind. Die aktuellen migrationspolitischen Herausforderungen tun ein Übriges, um die Diskussion über den intelligenten Umgang mit stark heterogenen Belegschaften anzuregen. Ein entsprechendes Management der Betriebe scheint zweckmäßig. Zwar beschäftigen sich laut einer Studie der PageGroup bereits zahlreiche Personalverantwortliche in Deutschland ernsthaft mit dem Thema, bisher aber steht bei

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der Mehrheit der befragten Unternehmen ein professionelles Diversity Management nicht auf der Agenda (PageGroup 2014: S. 4). Beim Diversitätsmanagement-Ansatz handelt es sich im Wesentlichen um ein gleichstellungspolitisches Konzept, das darauf abzielt, Vielfalt entsprechend der Bedarfe zu managen. Wird Diversität in einem Unternehmen sich selbst überlassen, können Produktivitätseinbußen aufgrund von Spannungen, Konflikten und Diskriminierungen die Folge sein. Wird Vielfalt in einem Unternehmen hingegen »intelligent gemanagt«, kann dies ökonomisch vorteilhaft sein. »Intelligent managen« heißt, dass Bedingungen geschaffen werden, unter


P erspektiven denen alle Beschäftigten ihre Leistungsfähigkeit und -bereitschaft uneingeschränkt entwickeln und entfalten können und unter denen niemand aufgrund bestimmter Merkmale ausgeschlossen oder diskriminiert wird (Rump/Schiedhelm 2016).

HERAUSFORDERUNG UND CHANCE ZUGLEICH Durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, Ansichten und Erfahrungen besteht in heterogenen Belegschaften unleugbar ein Reibungspotenzial. Allerdings beobachtet man auch, dass Mitarbeitende, die den gleichen »Stallgeruch« haben, vereinzelt weniger Leistung bringen als Arbeitsgruppen, die bunt gemischt sind (Leitl 2003). Gibt man ihnen die passenden Rahmenbedingungen und die nötige Zeit, so kann ein »diverses« Team beachtliche Synergieeffekte, beispielsweise in Form kreativer und innovativer Problemlösungen hervorbringen. Insbesondere dann, wenn ein breites Themenspektrum überblickt wird und möglichst viele unterschiedliche Blickwinkel erforderlich sind (Mead 2005: S. 18). Diversität kann darüber hinaus bei der Gewinnung neuer Bewerberinnen und Bewerber, der Erschließung weiterer Marktnischen sowie der Förderung des innerbetrieblichen Wissens- und Erfahrungsaustauschs helfen. Aber auch neue Produktvarianten oder individualisierte Services, wie zum Beispiel arabischsprachige Kundenberaterinnen und -berater zur Ausweitung des Kundenstamms, können das Resultat einer heterogenen Belegschaft sein. Gelingt es einem Unternehmen, diese Potenziale gewinnbringend einzusetzen, lässt sich daraus ein langfristiger, wirtschaftlicher Nutzen generieren (Franken 2015: S. 7-9).

Ein genauerer Blick auf den Bereich der Interkulturalität kann die Vielfalt der Herausforderungen verdeutlichen. Es gilt hier die Potenziale von vier unterschiedlichen Zielgruppen zu fördern. Das sind erstens die bereits in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund. Betrachtet man unter ihnen ausschließlich die Erwerbstätigen, so macht diese Gruppe fast 20 Prozent aus (Destatis 2015: S. 62). Bei den Erwerbslosen sind es mit mehr als einem Drittel sogar noch deutlich mehr (BA 2014: S. 2). Die zweite Zielgruppe bilden die zahlreichen geflüchteten Menschen, deren Anzahl in den letzten Monaten nochmals stark angestiegen ist. Aber auch jene, die zukünftig noch den Weg aus den Krisengebieten in Richtung Deutschland auf sich nehmen werden, müssen

»Bei guten Rahmenbedingungen können ›diverse‹ Teams kreative und innovative Problemlösungen liefern.«

WAS IST ZU TUN?

berücksichtigt werden. Die dritte Zielgruppe setzt sich aus denjenigen Mitarbeitenden zusammen, die von den Unternehmen – vor allem im Zuge des Fachkräftemangels – zunehmend im Ausland rekrutiert werden. Dabei handelt es sich sowohl um Nachwuchskräfte, die ausgebildet werden sollen, als auch um bereits qualifizierte Arbeitskräfte.

Bisherige Forschungen zum Thema Diversität bestätigen die beiden Sichtweisen: Auch hier wird Diversität auf der einen Seite als potenzieller Konfliktherd im Unternehmen betrachtet, der die Arbeitsleistung der Belegschaft vermindert. Auf der anderen Seite besteht die Vorstellung von Diversität als Potenzialträger, wodurch Kreativität und Innovationen entstehen, indem alle Talente der verschiedenen Belegschaftsgruppen gewinnbringend eingesetzt werden (Jans 2004; Rump/ Schiedhelm 2016).

Auch wenn das Thema Diversity Management für die vierte und letzte Gruppe eine gänzlich andere Rolle einnimmt, so sind an dieser Stelle dennoch die sogenannten Expatriates mit anzuführen. Also jene Mitarbeitende, die im Rahmen einer Entsendung durch ihren international tätigen Arbeitgeber in die betrieblichen Abläufe einer ausländischen Niederlassung, sei es in Deutschland oder in einem anderen Land, zu integrieren sind. Denn auch diese Gruppe braucht ein ihren Bedürfnissen entsprechendes Management.

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P erspektiven Bei allen Gruppen besteht die Herausforderung darin, schnell und umfassend Barrieren zu überwinden und eine Integration in das deutsche Arbeits- und/oder Bildungssystem zu erwirken (Rump/Eilers 2016). Neben der rein sprachlichen Integration soll das Diversity Management damit auch einen Beitrag zur qualifikatorischen Integration der Mitarbeitenden sowie zur Förderung interkultureller Kompetenzen – unter Berücksichtigung aller im Unternehmen vertretenen Kulturen – leisten. Auf der Basis dieses »Dreiklangs« lassen sich passende Maßnahmen wie zum Beispiel Sprachkurse, Fortbildungen, interkulturelle Workshops oder Sensibilisierungstrainings durchführen, die sekundär auch zur Aufklärung, Bildung und Förderung von Toleranz sowie zur Betonung der Chancen der Zuwanderung beitragen können (Becker 2016: S. 311). Dieses Beispiel verdeutlicht, wie umfassend die Herausforderungen in einem der Teilbereiche von Diversity sein können. Werden hier auch seitens der Regierung frühzeitig und zielführend die passenden Rahmenbedingungen, beispielsweise durch einen zügigen Anerkennungsprozess von Schul-, Berufs- und Hochschulabschlüssen, geschaffen, so steht dem Einsatz operativer Maßnahmen in den Unternehmen nichts mehr im Wege. Einen sehr nützlichen Beitrag können dabei einige, ganz grundlegende Handlungsempfehlungen leisten. So sind für die nachhaltige Implementierung von Diversity-Aktivitäten mitunter die folgenden Rahmenbedingungen hilfreich: •

Die Diversity-Ziele sind mit den Zielen, der Vision und der Strategie des Unternehmens sichtbar in Einklang zu bringen.

Das Thema Diversity sollte im Idealfall als offizielle Funktion mit beratenden und unterstützenden Aufgaben in die Unternehmensstruktur integriert werden.

Die Führungskräfte müssen auf allen Ebenen als Gestalter und Umsetzer der Diversity-Strategie agieren.

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Eine breite Einbeziehung der Mitarbeitenden und umfangreiche Möglichkeiten zur Beteiligung begünstigen den Wandel.

Die Schaffung einer Diversity-freundlichen Unternehmenskultur sollte nachhaltig gefordert und gefördert werden (Franken 2015: S. 61).

Der Umgang mit der Vielfalt erfordert ferner neue und vor allem flexible Arbeits- und Organisationsstrukturen. Lange Entscheidungswege und eingefahrene Hierarchien hemmen die notwendige Flexibilität. Kleine, dezentrale Einheiten geben den Mitarbeitenden hingegen die Möglichkeit, sich aktiv einzubringen und eigene Bedürfnisse zu kommunizieren. Sei es durch die Einbindung in betriebliche Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse, die Förderung von Belegschaftsnetzwerken und -vereinigungen, die Errichtung von Ideen-Management-Plattformen, die Ermöglichung von Partizipation an Interessenvertretungen oder Teilnahme an speziellen Gremien, wie zum Beispiel einem Diversity-Arbeitskreis (Franken 2015: S. 7). Nicht weniger wichtig sind außerdem die Kenntnisse und Fähigkeiten derjenigen Personen, die das betriebliche Diversity Management vorantreiben sollen. So sollten diese neben der Fähigkeit zur Selbstreflexion hinsichtlich eigener stereotyper Zuschreibungen auch solche Kenntnisse besitzen, die notwendig sind, um ein erfolgreiches Diversity Management allererst zu implementieren. Hierzu zählen insbesondere Kommunikations- und Konfliktmanagementkompetenzen sowie methodische und theoretische Grundlagenkenntnisse im Bereich Diversität, die es erlauben, Diversitätsphänomene auch im Tagesgeschäft zu identifizieren und passende Maßnahmen einzuleiten (Hanappi-Egger 2015: S. 1). Schließlich sorgt die nötige Handlungskompetenz dafür, dass die spezifischen Kompetenzen sich auch in konkreten Handlungen niederschlagen (Hanappi-Egger/Hofmann 2012: S. 343). Neben den zahlreichen und konzertierten Maßnahmen und Kenntnissen, die den Umgang mit der Vielfalt erleichtern können, stellt das offene Bekenntnis der Führungsebene zur Förderung einer diversen Belegschaft einen ganz wesentli-


P erspektiven chen Schritt auf dem Weg zu einem diversitätsorientierten Unternehmen dar. Dieses Bekenntnis lässt sich auf unterschiedlichste Weise zum Ausdruck bringen. Neben der öffentlichen Kommunikation, etwa über die Unternehmenswebsite oder durch das Unternehmensleitbild, besteht auch die Möglichkeit der Unterzeichnung der »Charta der Vielfalt«, die mit einer Reihe von Selbstverpflichtungen in der Frage der Diversität verbunden ist. Ein solcher Schritt kann dazu beitragen, dass

»Ein nachhaltiges Diversity Management kann auch in kleinen und mittelständischen Unternehmen gelingen.« Vielfalt und ihre Chancen im Unternehmen als Thema präsent bleiben, die entsprechenden Prozesse ständig überprüft und kontinuierlich neue Aktivitäten im Sinne des nachhaltigen Diversitätsmanagements eingeleitet werden (Charta der Vielfalt 2011).

WELCHE ERFOLGE SIND BEREITS SICHTBAR? Dass es den Unternehmen, die Diversity Management gezielt nutzen, keinesfalls nur um einen sozialen Anstrich geht, zeigen zahlreiche Studien. Eine dieser Untersuchungen belegt auf Basis von über 100 weiteren, internationalen Studien einen klaren Trend: Unternehmen, die sich diversitätsbewusst aufstellen, gewinnen häufig nicht nur neue Kunden, sondern verbessern in zahlreichen Fällen auch ihre Arbeitsatmosphäre, ja sie reduzieren sogar nicht selten Krankheitsund Fehlzeiten. Eine US-amerikanische Studie stellte zudem bereits vor zehn Jahren den direkten Zusammenhang zwischen Unternehmensimage

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und -performance her. Danach wiesen Unternehmen, die explizit auf Diversity Management setzten, im Vergleich zu ihren direkten Konkurrenten einen vergleichsweise höheren Unternehmenswert auf (Kraske 2012). Um den Erfolg von Diversity-Aktivitäten zu messen, gibt es bereits hilfreiche Ansätze. Zwar bildet die Ausgangslage eine gewisse Schwierigkeit, da wir es überwiegend mit qualitativen Daten zu tun haben; doch lassen sich etwa durch den Einsatz von Kausalketten, Belegschaftsbefragungen oder der Diversity-Scorecard durchaus belastbare Ergebnisse abbilden (Hardenberg 2013: S. 650-652).

BEST-PRACTICES Ein nachhaltiges Diversity Management kann auch in kleinen und mittelständischen Unternehmen gelingen. Wie zahlreiche Beispiele belegen, kann auch dort, wo wenig Geld für zusätzliche Prozesse zur Verfügung steht und beispielsweise die Errichtung einer eigenen Diversity-Abteilung unzweckmäßig wäre, ein gleichwohl weitreichender Diversity-Prozess angestoßen werden (RKW Berlin-Brandenburg 2010: S. 12). So etwa bei der KAMB GmbH. Das Elektrotechnik-Unternehmen aus Ludwigshafen mit rund 200 Beschäftigten bildet 90 Prozent der Fachkräfte selbst aus. Dabei haben mehr als die Hälfte von ihnen einen Migrationshintergrund. Damit die Integration klappt, ist die gute Kenntnis der deutschen Sprache in Wort und Schrift eine der wichtigsten Voraussetzungen. Ebenso wichtig ist die gute Einbindung in das Arbeitssystem des Unternehmens und in den sozialen Rahmen. Bisher läuft dies für das Unternehmen in fast allen Fällen hervorragend. Geschäftsführer Georg Kamb ist begeistert, dass er »von den jungen Leuten auch unendlich viel zurück bekommt an Wertschätzung und Anerkennung«. Im Unternehmensalltag sieht er das Thema Werte immer stärker im Fokus, gerade auch in Verbindung mit der anstehenden Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsprozess. Dabei bestehen deutliche Unterschiede zwischen neu in Deutschland angekommenen Flüchtlingen und in Deutschland sozialisierten Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund. Für viele der Flüchtlinge sind Sprache und Schulbil-

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P erspektiven dung kurz- bis mittelfristig die größte Hürde. Allerdings ist der Unternehmer auch offen für die Arbeitsmarktpotenziale, die durch die Flüchtlinge entstehen (IBE/Accente Communication 2016). Was ein Großunternehmen im Bereich Vielfalt leisten kann, zeigt unterdessen die Commerzbank AG. Das Diversity Management der Commerzbank bündelt die Diversity-Aktivitäten der Bank und entwickelt die dafür notwendigen Konzepte. Entstanden ist es aus dem Thema Chancengleichheit. Ende der 80er-Jahre machte eine Belegschaftsbefragung deutlich, dass weibliche Beschäftigte bessere Karrieremöglichkeiten einfordern. Pilotprojekte, etwa Seminarangebote speziell für Mitarbeiterinnen, ein Frauennetzwerk, die erste betriebliche Kinderausnahmebetreuung in Deutschland oder eine wissenschaftliche Studie, die den Wert von Betreuungsplätzen für die Bank quantifizierte, kennzeichneten die Arbeit der ersten Jahre. Heute wird das Diversity Management am Bedarf der Geschäftseinheiten und Regionen im In- und Ausland strategisch ausgerichtet und über einen »Global Diversity Council« gesteuert. Der Fokus liegt auf insgesamt sieben Handlungsfeldern: Frauen in der Bank, Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf, Zusammenarbeit der Generationen, Sexuelle Orientierung, Kulturelle Vielfalt, Unterstützung der Belegschaftsnetzwerke sowie Kommunikation/Training/Evaluation. Wichtige Instrumente sind dabei die insgesamt sieben Mitarbeitendennetzwerke, die die Bank begleitet: Unter anderem das Frauennetzwerk »Courage«, »Arco« als Netzwerk für homosexuelle, bisexuelle und transidente Mitarbeitende, das Väternetzwerk »Fokus Väter«, das auf interkulturelle Fragestellungen fokussierte Netzwerk »Cross Culture«, das Netzwerk »Pflege« für Mitarbeitende, die pflegebedürftige Angehörige pflegen, sowie das Netzwerk »Horizont«, in dem sich Burnout-Betroffene austauschen (David 2016).

SCHLUSSFOLGERUNG Blickt man auf die Einflüsse und Konsequenzen, die mit einer vielfältigen Belegschaft einhergehen, so wird deutlich, dass der Umgang mit der gesellschaftlichen Vielfalt in der Arbeitswelt zwar einen besonderen Kraftakt darstellt, gleichermaßen jedoch die Antwort auf die damit

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verbundenen Herausforderungen enthält. In ihm liegt eine zentrale Führungsaufgabe der Zukunft. Die zunehmende Heterogenität der Belegschaften verlangt nach neuen Wegen zu mehr Integration und Koordination und damit auch zur Berücksichtigung individueller Bedürfnisse – sei es von älteren oder behinderten Mitarbeitenden, von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft, in unterschiedlichen Arbeitsmodellen oder Lebensphasen (Rump/Eilers 2016; Fraunhofer IAO 2013). Werden die entsprechenden Rahmenbedingungen für die Etablierung eines erfolgreichen Diversitätsmanagements berücksichtigt, kann eine inklusive Arbeitskultur entstehen, in der alle Mitarbeitenden ihre Fähigkeiten optimal einbringen. Die Potenziale, die damit einhergehen (Akquisitions- und Personalmarketingpotenzial, Marketing- und Vertriebspotenzial, Kreativitätsund Innovationspotenzial, Systemflexibilisierungspotenzial) steigern nicht zuletzt auch die Unternehmensperformance. Last but not least gilt es zu berücksichtigen, dass Vielfalt weit über Statusgruppen und die sichtbaren demografischen Merkmale hinausgeht. Durch die Fokussierung auf Diversity rückt zwangsläufig auch das Thema Individualisierung in den Vordergrund, was im Bereich des Managements in der individuellen Führung einzelner Personen mündet. Da diese eine immense Herausforderung darstellt, werden Mitarbeitende in der Praxis häufig zu Gruppen, wie »Gender«, »Age« oder »Culture«, zusammengefasst. Das sorgt vordergründig für eine bessere Handhabbarkeit der einzelnen Erscheinungsformen von Diversität, überdeckt jedoch auch Bruchlinien und kann eine soziale Isolation noch verstärken. Was es daher neben den betriebs- und volkswirtschaftlichen sowie den rechtlich-politischen Treibern von Diversität (Demografie, Marktvorteile, Kostenüberlegungen, Fachkräftesicherung, Weiterbildung beziehungsweise Quotenregelungen, Gleichbehandlungsgesetze) kontinuierlich zu bedenken gilt, ist ihre wesentliche Eigendynamik (Rump/ Schiedhelm 2016). Ziel muss es sein, langfristig zu einer Kultur der Potenzialentfaltung zu gelangen (Rump/Eilers 2016; IfB! 2012).


P erspektiven LITERATUR Bundesagentur für Arbeit (BA) (2014): Der Arbeitsmarkt in Deutschland – Menschen mit Migrationshintergrund auf dem deutschen Arbeitsmarkt; http://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/ Arbeitsmarktberichte/Personengruppen/ generische-Publikationen/ Broschuere-Migranten-2014-07.pdf (Stand: 08.07.2016). Becker, Manfred (2016): Was ist Diversity Management, in: Fereidooni, Karim/Zeoli, Antonietta Patrizia (Hrsg.): Managing Diversity: Die diversitätsbewusste Ausrichtung des Bildungs- und Kulturwesens, der Wirtschaft und Verwaltung, Wiesbaden, S. 291-317. Charta der Vielfalt e.V. (2011): Die Charta im Wortlaut; http://www.charta-der-vielfalt.de/charta-der-vielfalt/ die-charta-im-wortlaut.html (Stand: 12.05.2016). David, Barbara (2016): Diversity Management in der Commerzbank, in: Rump, Jutta/Eilers, Silke (Hrsg.): Auf dem Weg zur Arbeit 4.0. Innovationen in HR, Heidelberg (in Druck). Statistisches Bundesamt (Destatis) (2015): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Bevölkerung mit Migrationshintergrund, Ergebnisse des Mikrozensus, Fachserie 1, Reihe 2.2; https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/ Bevoelkerung/MigrationIntegration/ Migrationshintergrund2010220147004.pdf?__ blob=publicationFile (Stand: 08.07.2016). Franken, Swetlana (2015): Personal: Diversity Management, Wiesbaden. Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) (2013): Arbeit der Zukunft. Wie sie uns verändert. Wie wir sie verändern, Stuttgart. Hanappi-Egger, Edeltraud/Hofmann Roswitha (2012): Diversitätsmanagement unter der Perspektive organisationalen Lernens: Wissens- und Kompetenzentwicklung für inklusive Organisationen, in: Bendl, Regine/ Hanappi-Egger, Edeltraud/Hofmann, Roswitha (Hrsg.): Diversität und Diversitätsmanagement, Wien, S. 327-349. Hanappi-Egger, Edeltraud (2015): Kompetenzerfordernisse im Diversitymanagement: Zwischen Selbsterkenntnis und Fachwissen, in: Genkova, Petia/Ringeisen, Tobias (Hrsg.): Handbuch Diversity Kompetenz: Perspektiven und Anwendungsfelder, Wiesbaden, S. 1-7. Hardenberg, Aletta Gräfin von (2013): Vielfalt gewinnt: Controlling von Diversity Management, in: Arbeit und Arbeitsrecht (Hrsg.), Ausgabe 11/13, S. 650-652; http://www.charta-der-vielfalt.de/fileadmin/ user_upload/beispieldateien/Downloads/Artikel/ AuA_AvH_Controlling_11-13.pdf (Stand: 04.07.2016). Initiative für Beschäftigung! (IfB!) (2012): Arbeit der Zukunft gestalten: Ergebnisse des Fachdialogs; http://www.der-paritaetische.de/nc/fachinfos/artikel/

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news/die-arbeit-der-zukunft-gestaltengemeinsamer-dialogprozess-der-initiative-fuerbeschaeftigung-und/?type=123&cHash= 1add7e57300ce8eb0d2a9c5784d8ef0d&filename=dpwv.pdf (Stand: 12.05.2016). Institut für Beschäftigung und Employability (IBE) (2016): NachGefragt – Interview mit Georg Ludwig Kamb, in: Accente Communication GmbH (Hrsg.), Interview: »Die schiere Lust« auf zukunftsorientierte Personalführung; http://www.accente-kommunikation-wiesbaden.de/ 2016/03/15/interview-die-schiere-lust-aufzukunftsorientierte-personalführung/ (Stand: 20.05.2016). Jans, Manuel (2004): Empirische Effekte organisationsdemografischer Diversität in Organisationen - Ergebnisse und Erkenntnisse einer Metaanalyse. Essener Beiträge zur Personalforschung Nr. 3; https://www.uni-due.de/apo/ Download/EBPF3.pdf (Stand: 17.05.2016). Kraske, Marion (2012): Vielfalt in der Belegschaft zahlt sich aus, in: Zeit Online (Hrsg.), erschienen am 03.05.2012; http://www.zeit.de/karriere/beruf/2012-04/ diversity-unternehmen (Stand: 08.07.2016). Leitl, Michael (2003): Diversity Management? in: Harvard Business Manager, Heft 12/2003; http://www.harvardbusinessmanager.de/heft/ artikel/a-620354.html (Stand: 10.05.2016). Mead, Richard (2005): International Management. Cross-Cultural Dimensions, 3. Aufl., Malden. PageGroup (2014): Diversity Management Survey. Vielfalt leben: Ziele, Initiativen und Ausblicke für Unternehmen in Deutschland; https://www.pagepersonnel.de/sites/ pagepersonnel.de/files/ PageGroup_DIVERSITY_MANAGEMENT_SURVEY.pdf (Stand: 10.05.2016). RKW Berlin-Brandenburg (Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft e.V.) (2010): Diversity Management in kleinen und mittleren Unternehmen. Erfolgreiche Umsetzungsbeispiele; http://www.charta-der-vielfalt.de/fileadmin/ user_upload/beispieldateien/Downloads/Studien/ studie_diversity_management_in_kmu_erfolgreiche_ umsetzungsbeispiele.pdf (Stand: 12.05.2016). Rump, Jutta/Eilers, Silke (2016): Arbeit 4.0 – Leben und arbeiten unter neuen Vorzeichen, in: Rump, Jutta/Eilers, Silke (Hrsg.): Auf dem Weg zur Arbeit 4.0. Innovationen in HR, Heidelberg (in Druck). Rump, Jutta/Schiedhelm, Melanie (2016): Diversität zur Steigerung der Unternehmens-Performance. Inklusion oder Illusion?, in: Rump, Jutta/Eilers, Silke (Hrsg.): Auf dem Weg zur Arbeit 4.0. Innovationen in HR, Heidelberg (in Druck).

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EINE GEMEINSAME STRATEGIE FÜR DIE PSYCHISCHE GESUNDHEIT Andreas Horst und Jana May-Schmidt

Die psychischen Belastungen steigen: Darauf deutet jedenfalls auch der Anstieg der Arbeitsunfähigkeitstage und der Rentenzugänge in die Erwerbsminderungsrente aufgrund von psychischen Erkrankungen hin. Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA), eine Initiative von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern, hat in der 2. GDA-Periode 2013 bis 2018 »Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung« zu einem Schwerpunkt des gemeinsamen Handelns gemacht.

Der Wandel der Arbeit eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten und Gestaltungschancen für gute, sichere und gesunde Arbeit. Mit adaptiven Assistenzsystemen können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beispielsweise von körperlich schwerer Arbeit entlastet werden. Solche Systeme ermöglichen auch die Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Routinetätigkeiten können zunehmend technischen Systemen übertragen werden. Die erhöhte Komplexität der Fertigung wird zu einer Anreicherung von Tätigkeitsinhalten führen und die Arbeit interessanter machen (BMWi 2014). Mit dem Wandel der Arbeit verändern sich auch die Anforderungen an die Beschäftigten. Andere, zum Teil neue Qualifikationen mit einer hohen IT-Kompetenz werden gebraucht, neue

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Produktionskonzepte, wie zum Beispiel cyberphysische Systeme, neue Technologien, wie 3-D-Drucker, und neue Arbeitsformen, wie Telearbeit oder Crowdworking, werden entwickelt, bestimmen die Arbeit der Menschen zunehmend und müssen beherrscht werden. Wir wissen aus unserer langen Tradition der Humanisierung der Arbeitswelt, dass neue Produktions- und Dienstleistungskonzepte oder neue Technologien für die Beschäftigten nicht per se gut oder schlecht sind. Eine an die jeweilige Auftragslage angepasste, größtenteils ortsunabhängige Leistungserbringung mit an Kennziffern orientierten Zielvorgaben bietet Handlungsspielräume und kann eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben bedeuten; sie kann aber auch zu Phänomenen führen, die wir als »interessierte


P erspektiven Selbstgefährdung« (Krause/Dorsemagen/Peters 2010) beschreiben. Was wir im Wandel der Arbeit beobachten, ist der wachsende Stellenwert der psychischen Belastung unter allen Belastungsfaktoren. Entwicklungen wie Entgrenzung, Verdichtung, Flexibilisierung der Arbeit sowie mobiles Arbeiten stehen für die Zunahme psychischer Belastungen und müssen untersucht, bewertet und gestaltet werden.

viduellen Disposition psychosoziale Stressfaktoren beispielsweise aus der Arbeitswelt sowie schwerwiegende Lebensereignisse eine Rolle spielen. Das zweite uns beschäftigende Phänomen ist die Zunahme psychischer Belastung in der Arbeitswelt. Gut belegt ist, dass psychische Belastungsfaktoren mit dem Wandel der Arbeitswelt zunehmen. Entwicklungstendenzen sind unter anderem: •

Der Arbeits- und Gesundheitsschutz muss zum Teil neu gedacht werden. Wir brauchen analog zur Arbeit 4.0 einen Arbeitsschutz 4.0. • Im Zusammenhang der psychischen Gesundheit bestimmen derzeit zwei Phänomene die Diskussion: Erstens eine starke Zunahme von psychischen und Verhaltensstörungen mit erheblicher Arbeitsunfähigkeit sowie die starke Zunahme der Frühverrentungen wegen Erwerbsunfähigkeit aufgrund dieser Erkrankungen:

• •

Bundesweit gehen 79,3 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage auf psychische Erkrankungen zurück (SUGA 2014). 2003 gingen 9,7 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage auf psychische Erkrankungen zurück, 2014 waren es 14,6 Prozent (SUGA 2014). Berentung wegen Erwerbsminderung: 2014: Über 43 Prozent (72.972 Fälle) der Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gehen auf psychische Störungen zurück (2001: 26,7 Prozent bzw. 53.581 Fälle) (SUGA 2014); das Durchschnittsalter für diese Rentenzugänge liegt bei 48 Jahren (SUGA 2014).

Die volkswirtschaftlichen Kosten, die die einzelnen Sozialversicherungsträger, der Staat, aber auch die Arbeitgeber aufwenden müssen, sind enorm. Unbestritten ist, dass psychischen Störungen in der Regel ein multifaktorielles Ursachengeschehen zugrunde liegt. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass neben der indi-

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zunehmende geistige Arbeit, steigende Anforderungen an Qualifikation und beständiger Weiterbildung (Trend zur Dienstleistungsund Wissensgesellschaft) fortlaufende Beschleunigung von Fertigungs-, Dienstleistungs- und Kommunikationsprozessen verstärkter Einsatz neuer Technologien, die permanente Erreichbarkeit ermöglichen, zunehmende Arbeitsunterbrechungen und »Entgrenzung« der Arbeit erhöhte Eigenverantwortung der Beschäftigten bei steigender Komplexität der Arbeitsanforderungen diskontinuierliche Beschäftigungsverhältnisse, steigende Mobilitätsanforderungen und wachsende berufliche Unsicherheit, etwa im Kontext von Restrukturierungsprozessen

Belastungen – auch psychische Belastungen – sind nicht per se negativ zu bewerten. Sie können auch aktivierende, entwicklungsförderliche und damit positive Effekte bewirken. Unser Leben ist ohne psychische und physische Belastungen nicht denkbar. Bezüglich der Wirkungen kommt es entscheidend darauf an, wie sich die Arbeitsbelastung im Verhältnis zu den Bewältigungsmöglichkeiten bzw. »Ressourcen« in- und außerhalb der Arbeit darstellt. Gesundheitsrisiken können sowohl durch qualitative und quantitative Über- wie Unterforderung entstehen. Die negativen Folgen solcher Belastungen zeigen sich dann beispielsweise in Form von Motivationsverlust, Leistungsabfall oder gesteigertem Medikamenten- und Alkoholkonsum. Sie können auch zu den als Burn-outSyndrom bezeichneten Beschwerden und anderen psychischen Störungen führen. Daneben können

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DIE GEMEINSAME DEUTSCHE ARBEITSSCHUTZSTRATEGIE Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) ist eine Initiative von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern. Ziel dieses Verbunds ist es, das Arbeitsschutzsystem in Deutschland zu modernisieren und Anreize für Betriebe zu schaffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten zu stärken. Sie werden dabei von den Sozialpartnern und weiteren Kooperationspartnern, wie zum Beispiel den Krankenkassen, unterstützt. Die »Kernelemente« der GDA sind: •

Gemeinsame Arbeitsschutzziele und Arbeitsprogramme: Bund, Länder und Unfallversicherungsträger verständigen sich auf gemeinsame Arbeitsschutzziele, die in bundesweiten Arbeitsprogrammen gemeinsam umgesetzt werden.

Verbesserte Beratungs- und Überwachungspraxis: Die staatlichen Arbeitsschutzbehörden und der Unfallversicherungsträger entwickeln und realisieren ein abgestimmtes Vorgehen der Aufsichtsdienste bei der Beratung und Überwachung der Betriebe.

Praxisnahe Vorschriften und Regeln: Das komplexe Vorschriften- und Regelwerk von Staat und Unfallversicherungsträgern im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes wird im Sinne der Rechtssicherheit für Unternehmen und Beschäftigte optimiert und aufeinander abgestimmt. Doppelregelungen werden vermieden.

Die Evaluierung der Zielerreichung ist integraler Bestandteil der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (http://www.gda-portal.de/de/Startseite.html). Die GDA wird durch die Nationale Arbeitsschutzkonferenz (NAK) gesteuert. Die NAK setzt sich zusammen aus je drei Vertretern des Bundes, der Arbeitsschutzbehörden der Länder und der Spitzenverbände der gesetzlichen Unfallversicherung. An der NAK nehmen auch je drei Vertreter der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit beratender Stimme teil. In der 2. GDA-Periode 2013 bis 2018 haben sich die Träger der GDA auf folgende drei Arbeitsschutzziele verständigt: • • •

Verbesserung der Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes Verringerung von arbeitsbedingten Gesundheitsgefährdungen und Erkrankungen im Muskel-Skelett-Bereich Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung

Mit dem Ziel »Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung« werden auch die Herausforderungen des Wandels der Arbeit durch den Arbeitsschutz aufgegriffen. Für die Umsetzung dieser Ziele haben die GDA-Träger für jedes der Ziele ein Arbeitsprogramm aufgelegt.

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P erspektiven psychische Belastungen auch zu den in der Bevölkerung weitverbreiteten Muskel-Skelett- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen beitragen. Arbeitsschutz und Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) müssen sich den Herausforderungen stellen und durch Arbeitsgestaltung und Ressourcenstärkung arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken durch psychische Belastungen entgegenwirken.

DAS ARBEITSPROGRAMM »SCHUTZ UND STÄRKUNG DER GESUNDHEIT BEI ARBEITSBEDINGTER PSYCHISCHER BELASTUNG« Das GDA-Programm »Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung« verfolgt die Teilziele: • •

• •

Information, Sensibilisierung und Motivation von Betrieben und Beschäftigten Qualifizierung der betrieblichen und überbetrieblichen Akteure im Arbeits- und Gesundheitsschutz Identifizierung oder Erarbeitung geeigneter Vorgehensweisen zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen (insbesondere Gefährdungsbeurteilung) Verbreitung guter Praxisbeispiele Umsetzung betrieblicher Gestaltungslösungen

Aufsichtsdienste, Betriebe und Beschäftigte stehen mit diesen Aufgaben vor großen Herausforderungen. Denn anders als zum Beispiel bei Gefahrstoffen geht es nicht darum, Belastungen pauschal zu minimieren. Wir haben in der Vergangenheit in vielen Humanisierungsprojekten durch Anreicherung und Ausweitung von Tätigkeitsinhalten Belastungen sogar erhöht und damit die Arbeit interessanter und abwechslungsreicher gestaltet. Wir stehen jetzt vor der Herausforderung, Arbeitsinhalte optimal zu gestalten, sodass die einzelne Tätigkeit vollständige Aufgaben umfasst, ausreichender Handlungsspielraum vorhanden ist, Abwechslungsreichtum gegeben ist und weder zu viele oder umfangreiche noch zu wenige Informationen angeboten werden. Die Qualifikation der Beschäftigten muss der Tätigkeit entsprechen, sodass Über-, aber auch Unterforde-

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rungen vermieden werden. Bei der Arbeitsorganisation müssen hinsichtlich Arbeitszeit, Arbeitsablauf sowie Kommunikation und Kooperation kritische Ausprägungen vermieden werden. Gute soziale Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen und Vorgesetzen können eine starke Ressource sein, schlechte hingegen ein bedeutsamer Stressor. Schließlich können sich auch Umgebungsfaktoren wie Lärm, Beleuchtung, ergonomische Gestaltung oder fehlende bzw. unzureichende Arbeitsmittel negativ auswirken. Diese und andere Themen standen bisher nicht im Mittelpunkt des betrieblichen und überbetrieblichen Arbeitsschutzes. Daher ist die Qualifizierung der betrieblichen und überbetrieblichen Arbeitsschutzakteure eine vordringliche Aufgabe. Länder und Unfallversicherungsträger (UVT) qualifizieren ihre überbetrieblich agierenden Aufsichtspersonen. Grundlage ist die gemeinsame Leitlinie »Beratung und Überwachung bei arbeitsbedingter psychischer Belastung«. Bis zum Ende der zweiten GDA-Periode 2018 werden alle zuständigen Aufsichtspersonen ausreichend qualifiziert sein. Zur Qualifizierung der betrieblichen Akteure wurden »Empfehlungen zur Qualifizierung betrieblicher Akteure für die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung« erarbeitet. Sie wenden sich an Sicherheitsfachkräfte, Betriebsärztinnen und Betriebsärzte, Betriebs- und Personalräte sowie Führungskräfte und Unternehmen. Hier finden sich gemeinsame Qualifizierungsstandards. Diese werden am Beispiel der Sicherheitsfachkräfte erprobt. Wir wollen, dass alle relevanten betrieblichen Akteure sensibilisiert sind für das Thema »Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt« und dass mithilfe der betrieblichen und überbetrieblichen Arbeitsschutzexpertinnen und Arbeitsschutzexperten die notwendigen Gestaltungslösungen realisiert werden können. Entscheidend für den Erfolg des Programms ist aber die aktive Beteiligung der Sozialpartner. Ohne informierte, sensibilisierte und motivierte Arbeitgeber und Beschäftigte werden Arbeitsgestaltungsmaßnahmen nicht erfolgreich umgesetzt werden können. Deshalb musste ein Arbeitsprogramm zu psychischen Belastungen mit der Information und Sensibilisierung von Betrieben

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P erspektiven und Beschäftigten beginnen. Diese Aufgabe haben die Sozialpartner übernommen. Sie, die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, haben seit Beginn des Programms durch zahlreiche Veranstaltungen und Publikationen ihre Zielgruppen angesprochen. Mit der »Gemeinsamen Erklärung zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt« haben BMAS, BDA und DGB Maßnahmen zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt verabredet und ein deutliches Zeichen gesetzt, das in Betrieben und Gesellschaft angekommen ist. Eines der wichtigsten Instrumente des Arbeitsschutzes ist die gesetzlich verpflichtende Gefährdungsbeurteilung. Darunter ist ein Prozess zu verstehen, der mit der Festlegung von Tätigkeiten und der Ermittlung der Belastung oder Gefährdung beginnt, die Beurteilung der

»Die verpflichtende Gefährdungsbeurteilung ist ein wichtiges Instrument zum Schutz der psychischen Gesundheit.« Belastung oder Gefährdung einschließt und dann zur Entwicklung und Umsetzung von geeigneten Arbeitsschutzmaßnahmen zur Vermeidung von Gesundheitsrisiken durch diese Belastungen oder Gefährdungen führt. Der Prozess endet mit der Wirksamkeitskontrolle und der Aktualisierung und Dokumentation des Prozesses. Betriebe, aber auch die Aufsichtsdienste haben sich bisher schwer damit getan, dieses Instrument auch auf psychische Belastungen anzuwenden. Betriebsbefragungen zeigen, dass bisher nur ein geringer Teil der Betriebe eine voll-

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ständige Gefährdungsbeurteilung unter Einbeziehung psychischer Belastungen durchgeführt hat. Es ist deshalb ein wesentliches Anliegen des Programms und insbesondere auch der Vertreter der Sozialpartner in dem Programm den Betrieben eine Handlungshilfe für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung zur Verfügung zu stellen. Dies ist gelungen. Die mit allen Trägern und Partnern der GDA abgestimmten »Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen« richten sich an Unternehmen und betriebliche Arbeitsschutzakteure. Diese Empfehlungen sind eine Orientierungshilfe für die angemessene Berücksichtigung der psychischen Belastungen in der Gefährdungsbeurteilung. Hier finden sich abgestimmte Qualitätsgrundsätze sowie Empfehlungen und Prüffragen zur Auswahl von Instrumenten für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Ein wichtiger Treiber für die Gesundheit der Beschäftigten sind auch Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF), einbezogen Maßnahmen zur individuellen Ressourcenstärkung. Deshalb war es wesentlich, dass in die operative Steuerung des Programms auch die Krankenkassen einbezogen sind. Die Grundlage der Zusammenarbeit ist die gemeinsame Abstimmung der Arbeitsschutzziele und der arbeitsweltbezogenen Präventions- und Gesundheitsförderungsziele durch die Träger der GDA und die Krankenkassen. So haben sich die Krankenkassen auf das arbeitsweltbezogene Präventionsziel »Verhütung von psychischen und Verhaltensstörungen« verständigt. Weitere Handlungshilfen und Unterstützungsangebote für Betriebe und Beschäftigte zur menschengerechten Arbeitsgestaltung, zur Durchführung einer ganzheitlichen Gefährdungsbeurteilung nach dem Arbeitsschutzgesetz und zur individuellen Ressourcenstärkung stehen bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), bei den Trägern der GDA und auch bei den Krankenkassen schon zur Verfügung. Es ist erklärtes Ziel, dass alle Betriebe, auch die kleinen Betriebe, in die Lage versetzt werden, mit vertretbarem Aufwand eine umfassende Gefährdungsbeurteilung mit allen vorgesehenen Prozessschritten von der Auswahl der Tätigkeiten bis zur Evaluierung der getroffenen


P erspektiven betrieblichen Maßnahmen durchzuführen. Zur Verbreitung guter Praxisbeispiele und Handlungsansätze beim Umgang mit psychischen Belastungen am Arbeitsplatz kann auf die Projekte und Beispiele der Träger der GDA, der Sozialpartner, der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und des Bundes, aber auch auf Initiativen wie die Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) oder die Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) zurückgegriffen werden.

AKTUELLE UND ZUKÜNFTIGE HERAUSFORDERUNGEN Arbeitsschutz muss vorausschauend Veränderungen in der Arbeitswelt erfassen und Risikound Potenzialbereiche identifizieren. Wir haben in Deutschland eine lange Tradition der Humanisierung der Arbeitswelt und gezeigt, dass wir in einem umfassenden Innovationsprozess neue technische und technologische Entwicklungen in Einklang mit den Bedürfnissen der Menschen nach menschengerechter Arbeit bringen können. Der Arbeitsschutz leistet dazu seinen Beitrag. Wir

müssen dazu das Instrumentarium des Arbeitsschutzes, Vorschriften und Regeln, Überwachung und Beratung, Forschung und Umsetzung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse und auch Information und Motivation von Beschäftigten und Führungskräften in den Betrieben hinsichtlich der Wirksamkeit für veränderte Arbeitsbedingungen überprüfen und anpassen. Nur mit gemeinsamem Engagement und der Kooperation der Akteure kann das GDA-Arbeitsprogramm erfolgreich sein und damit eine flächendeckende Umsetzung von Maßnahmen der menschengerechten Gestaltung der Arbeit zur Vermeidung von Gesundheitsrisiken durch psychische Belastungen erreichen. Die Träger der GDA, die Sozialpartner, die GKV und viele weitere Kooperationspartner der GDA sind dazu bereit. Weitere Informationen zur GDA finden Sie unter www.gda-portal.de und zum GDA-Programm »Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung« unter www.gda-psyche.de.

LITERATUR Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hrsg.) (2013). Gemeinsame Erklärung psychische Gesundheit in der Arbeitswelt. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)/ Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) (Hrsg.) (2016): Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (SUGA) 2014. Unfallverhütungsbericht Arbeit. Dortmund/Berlin/Dresden, 2. Aufl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (Hrsg.) (2014): Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0.

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GDA-Arbeitsprogramm Psyche (Hrsg.) (2016): Empfehlungen zur Qualifizierung betrieblicher Akteure für die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. GDA-Arbeitsprogramm Psyche (Hrsg.) (2016). Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. 2., erweiterte Aufl. Krause, Andreas/Dorsemagen, Cosima/Peters, Klaus (2010): Interessierte Selbstgefährdung: Nebenwirkungen moderner Managementkonzepte. Wirtschaftspsychologie aktuell, Heft 2, S. 33 – 35.

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Das Berliner Start-up HelloFresh liefert seinen Kunden Kochboxen inklusive Rezept und frischen Zutaten direkt frei Haus. Zu den derzeitigen Investoren des 2011 gegründeten Unternehmens gehört unter anderem die Berliner Start-up Fabrik Rocket Internet. HelloFresh ist mittlerweile in neun Ländern tätig.

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START-UPKULTUR Sie gelten als cool, kreativ und innovativ: Auch etablierte Unter­ nehmen blicken auf die Start-up-Szene, wenn es darum geht, Arbeitsumfelder zu gestalten, in denen neue Ideen entstehen und die für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter attraktiv sind. Der Fotograf Andreas Lukoschek hat für das Webportal ­deutsche-startups.de im Rahmen seiner »Hausbesuche« über 100 Unternehmen besucht und ihre Räumlichkeiten und Arbeitsbedingungen dokumentiert. Andreas Lukoschek studierte an der Franklin University Switzerland und war über zehn Jahre im Marketing und Vertrieb verschiedener Online-Unternehmen und Verlage tätig. Über diesen Zugang fand er zur Fotografie, die er seit fünf Jahren professionell betreibt. Mehr Informationen und Bildergalerien finden Sie unter: www.officedropin.com und www.andreasL.de

HELLO FRESH, Berlin

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Wooga entwickelt Spiele für Smartphones und Tablets für eine globale Zielgruppe. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Berlin gibt es seit 2009. Die heute rund 300 Beschäftigten kommen aus mehr als 40 verschiedenen Nationen.

WOOGA, Berlin

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Glispa Global Group ist ein leistungsstarker Innovator auf dem Gebiet des mobilen Marketings. Seit 2008 agiert Glispa als erfolgreiches Unternehmen mit einer Reihe an neuartig entwickelten Technologien am Markt. Glispas internationales Team besteht aus 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die von Büros in Berlin (HQ), Peking, San Francisco, Bangalore, Tel Aviv, Sao Paulo und Singapur operieren.

GLISPA GLOBAL GROUP, Berlin

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Marley Spoon ist ein Onlineversand für Kochboxen aus nachhaltiger Produktion. Das Berliner Start-up wurde 2014 gegründet und hat Standorte in Großbritannien, den Niederlanden, den USA, Australien und Österreich.

MARLEY SPOON, Berlin

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Stylight ist eine weltweit aktive Lifestyle-Plattform, die Frauen Inspiration im Bereich Mode und Wohnen bietet. Auf dem Portal finden sich Styling- und Beauty-Tipps sowie Neuerscheinungen aus der Modewelt, die beim direkt verlinkten Partnershop gekauft werden können. Das Unternehmen wurde 2008 von vier Münchener Studenten gegründet und beschäftigt über 200 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus mehr als 20 Ländern.

STYLIGHT, München

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Das Berliner Start-up N26 setzt auf Banking per Smartphone. Das Ziel des Unternehmens ist die Vereinfachung des Bankings, weshalb die Kundinnen und Kunden ihre gesamten Bankgeschäfte mithilfe einer App abwickeln können. Selbst die Kontoeröffnung geht direkt am Smartphone und dauert nur acht Minuten. 2016 hat N26 die Banklizenz erhalten.

N26, Berlin

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Die Hotel-Metasuche trivago vergleicht Hotelangebote von rund 250 Buchungsseiten und zeigt der Nutzerin und dem Nutzer die besten Angebote an. Das 2005 gegründete Unternehmen mit Sitz in Düsseldorf bietet das Angebot auf 33 Sprachen an und unterhält 55 Länderplattformen.

TRIVAGO, Düsseldorf

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P erspektiven

DaWanda ist ein Online-Marktplatz für handgemachte Produkte, Do-it-yourself-Anleitungen und passendes Material. Das Besondere: Käufer erwerben die Produkte direkt vom Hersteller. DaWanda wurde 2006 gegründet und beschäftigt rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus 17 Nationen.

DAWANDA, Berlin

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WIE ENTSTEHT DAS NEUE? Die digitale Transformation fordert Wissenschaft und Wirtschaft auf einer kreativen Ebene heraus: Neue Entdeckungen, neue Sichtweisen, neue Erkenntnisse, neue Produkte und neue Geschäftsmodelle erfordern Interdisziplinarität, Agilität, Kooperation und Vernetzung. Alles soll innovativ sein - Unternehmen, Menschen, Prozesse. Doch was ist eigentlich innovativ? Ist innovativ gleich disruptiv? Oder kreativ? Ist die eine zündende Idee besser als eine Vielzahl an Ideen? Die zeitgenössischen Innovationswerkstätten bezeichnen sich als Hubs, Labs oder Experimentierräume, sie entstehen außerhalb, aber auch innerhalb von Unternehmen. Was zeichnet sie aus? Worin unterscheiden sie sich von herkömmlichen Methoden der Forschung, Modellbildung, Entwicklung, Innovation? Wie wird in ihnen gearbeitet? Welche Arbeitsbedingungen, welche Strukturen und welche Unterstützung brauchen Menschen, um in ihrem Arbeitsumfeld Innovationen zu schaffen?

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Diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Praktikerinnen und Praktiker, Führungskräfte sowie Personalverantwortliche antworten auf unsere Frage: »Wie entsteht das Neue?«

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Birgit Isenmann

Dieter Frey

Andrea Augsten S. 185

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Julia Primavera

Frank Piller

Sandra Ohly S. 193

Markus Kohler

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Sandra Guth

Verena Bentele S. 184

Christoph Bornschein

Arndt Pechstein A R B E I T E N 4.0  W E R K H E F T 02

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Arndt Pechstein

VON DER MECHANIK ZUR ORGANIK: NETZWERKORGANISATIONEN ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE Wir leben in einer Zeit des exponentiellen Wandels. Digitalisierung und Vernetzungsdichte steigen rapide. Die neue Systemarchitektur der Netzwerke hat tief greifende Folgen. Zu den größten Herausforderungen der Gegenwart zählen die wachsende Komplexität sowie exponentielle Dynamiken. Vorhersagen sind kaum mehr möglich. Dennoch besteht der Wunsch nach Orientierung und Sicherheit. Klassische Modelle und Linienhierarchien versagen zunehmend, da sie als vereinfachte Modellsysteme den komplexen Problemsystemen nicht mehr gewachsen sind; es eigentlich nie waren. Mit dem Zeitalter der Aufklärung und der Dominanz der Ratio (Vernunft) wurden auf allen Ebenen mechanistische Gebilde geschaffen. Zunächst entstanden in den Wissenschaften voneinander getrennte Disziplinen. Das lineare Ursache-Wirkungs-Denken führte zu fragmentierten Bildungsansätzen. In der Wirtschaft war die Grundlage der Industrialisierung die Mechanisierung der Arbeit. Mit ihr gingen mechanistische Organisationsmodelle mit klaren Linien, Machtstrukturen und Hierarchien einher (Rifkin 2009, Laloux 2014) 1 . Nachdem systemische, insbesondere soziale und ökologische Grenzen bereits in den 70er-Jahren deutlich gezeigt haben, dass derart rigide Systeme und eine Fließbandmentalität ungeeignet, ja sogar schädlich sind (Meadows u. a. 1972), dauerte es bis in die frühen 2000er-Jahre, bis sich ein Paradigmenwechsel unaufhaltsam entfaltete: Netzwerke, Selbstorganisation und Kollaboration weichen seither Linienhierarchie, Steuerung und Wettbewerb auf und ersetzen sie allmählich. Die steigende Vernetzung im digitalen Informationszeitalter führt zunehmend zur Auflösung struktureller Grenzen und zur Demokratisierung sämtlicher Prozesse (Kruse 2005). Die Zukunft orientiert sich nicht mehr am Individuum, sondern am Kollektiv. Kollaborative Arbeitsweisen und das Zusammenbringen verschiedener Expertisen nehmen eine zentrale Rolle ein (Rifkin 2011). Die Grundlage für diesen Megatrend des Wandels sind sogenannte 1

Wir-Qualitäten (WeQ), die übersummative Intelligenz des Netzwerks (Spiegel 2014). Sie revolutionieren derzeit sämtliche Sektoren der Wissensgenerierung, Bildung, Arbeitswelt und Gesellschaft bis hin zur Unternehmenskultur und Innovation. Partizipative Open-Source-Modelle, Social Innovation, Co-Creation und Kollaboration werden zum Leitbild einer neuen Ära. Komplexität kann nur noch durch dezentralisierte, kollektive Mustererkennung reduziert werden. Dazu sind selbst organisierte Netzwerke notwendig – Teams aus Teams –, innerhalb derer Informationen transparent ausgetauscht werden und effiziente Feedbackmechanismen bestehen. Vertrauen, Iteration und die Einführung einer Fehlerkultur werden zur Grundlage innovativer Unternehmensprozesse. Neue Führungskonzepte wie Shared Leadership, Selbstorganisation und intrinsische Anreizmodelle verstärken die Effekte organisch-systemischen Wachstums. Diese Art Biologisierung von Organisationen ist nur eine konsequente Weiterentwicklung der Humanisierung der Arbeitswelt, die im 20. Jahrhundert begann. Selbstorganisation, Feedbackmechanismen, Iteration und Resilienz (Widerstandsfähigkeit) sind grundlegende Mechanismen und Erfolgsstrategien biologischer Systeme. Das Ziel solcher Organisationen ist es, Individuen zusammenzubringen, damit sie ihre Leistungen, Fähigkeiten und Kenntnisse wechselseitig verstärken, und somit die Bildung von Funktionssilos zu verhindern. Starre Gebilde werden so zu organischen, anpassungsfähigen Organismen, die komplexen Bedingungen und damit der Zukunft gewachsen sind.

Dr. Arndt Pechstein ist Berater und Coach für Innovationsprozesse mit Schwerpunkt auf Design Thinking, Biomimicry und Neuroeconomics. Sein Fokus liegt auf dem Etablieren von Netzwerkorganisationen. Mit seiner Innovationsagentur phi360 leitet er Innovations- und Veränderungsprozesse in Unternehmen.

lle Angaben zur verwendeten Literatur finden Sie A im Literaturverzeichnis auf Seite 195.

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Die Zukunft orientiert sich "nicht mehr am Individuum, sondern am Kollektiv."


Julia Primavera

ZWANZIG CHEFS. KEINE ANGESTELLTEN. »Als Nächstes sortieren wir uns nach den Farben unserer Socken.« Die neun Führungskräfte einer deutschen Versicherung schmunzeln zwar, aber nehmen die Ansage ernst. Sie heben ihre Anzughosen, vergleichen Farbtöne und stellen sich schließlich in drei verschiedenen Gruppen auf: Schwarz, Grau, Blau. Ein ganz normaler Workshop-Morgen im INNOKI-Büro. Wer zu uns kommt, will lernen, innovativ zu sein. Und der erste Schritt dahin besteht in der Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen. Die volle Konzentration auf Sockenfarben ist da eine gute Einstiegsübung.

Klar, es ist nicht immer leicht. Jede und jeder von uns fragt sich manchmal, warum wir uns darauf eingelassen haben, eine Firma mit zwanzig Leuten zu gründen. Noch dazu so unterschiedlichen. Was für eine Herausforderung. Doch wir lassen uns immer wieder darauf ein. Bleiben flexibel und finden Lösungen. So schaffen wir uns genau den Arbeitsplatz, von dem wir immer geträumt haben. Was für ein Glück.

Das größte Innovationsprojekt, an dem wir selbst arbeiten, ist unsere eigene Unternehmensstruktur. Der wesentliche Unterschied zwischen INNOKI und anderen Firmen: Bei uns gibt es keinen Chef; bei uns gibt es zwanzig. Und keiner hat eine feste Funktion im Unternehmen. Stattdessen arbeiten wir in rotierenden Kernteams, die jeweils für den Zeitraum von drei Monaten die Verantwortung für bestimmte Bereiche übernehmen. Das funktioniert im Moment sehr gut. Wenn es nicht mehr passt, darf es sich ändern. Was Arbeitsmodelle betrifft, lassen wir uns größtmögliche Freiräume. Keiner muss zur Arbeit kommen.

Julia Primavera ist eine von 20 gleichberechtigten Gründerinnen

Manche INNOKIS arbeiten Vollzeit, andere nur zwei Tage pro Woche. Zwei sind permanent in Schweden, und manche sind ein paar Monate gar nicht da. Alles möglich, solange Transparenz herrscht. Wir legen sehr viel Wert auf Vertrauen. Und Empathie. Jede Stimme soll gehört werden, und ehrliches Feedback ist Teil unseres Arbeitsalltags. Zweimal im Jahr fahren wir alle zusammen auf »Klassenfahrt«. Hier reflektieren wir über unsere Arbeit als Team und lösen angestaute Konflikte. Wir planen die nächsten Monate, entwickeln neue Projektideen und gleichen unsere Visionen miteinander ab. Nachmittags gehen wir im Wald spazieren, abends kochen wir und nachts tanzen wir zu Salsa und Electro Beats.

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und Gründern der Innovationsberatung INNOKI. Hier entwickelt sie nutzerzentrierte Produkte, arbeitet als Innovationscoach und gestaltet hierarchiefreie Unternehmensstrukturen. Nebenher ist sie als Schauspielerin und freie Redakteurin tätig.

" Das grosste Innovationsprojekt, an dem wir selbst arbeiten, ist unsere eigene Unternehmensstruktur."

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Frank Piller

INNOVATION HEISST LERNEN HEISST FEHLER MACHEN MÜSSEN Wir sind gerne Weltmeister: im Fußball wie im Export. Aber sind wir auch Innovationsweltmeister? Wir werden international sehr für die technische Leistung und das Erfindertum hinter unseren Maschinen, Anlagen und Automobilen geschätzt. Doch sind wir auch nachhaltig innovativ? Innovativ nicht im Sinne einer kontinuierlichen Verbesserung und Optimierung bestehender Strukturen und Technologien, sondern innovativ im Sinne der Fähigkeit zum radikalen Wandel, zur Implementierung neuer Geschäftsmodelle? Hier scheint es mir manchmal, dass Erfolg träge macht. Ja, Innovation ist in aller Munde. Aber reden wir nur darüber, oder handeln wir danach? Stellen Sie sich eine Organisation vor, die derzeit nicht innoviert, die sich auf die Verwertung der heutigen Stärken fokussiert hat. Dann bricht der Absatz ein, ein neuer, technologisch überlegener oder einfach nur deutlich günstigerer Konkurrent kommt in den Markt. Was ist dann ein guter erster Schritt zu Innovation? Die erste Antwort ist oft: »Wir brauchen eine Innovationsstrategie.« Denn ohne Plan keine Aktion. Andere Unternehmen sind pragmatischer und richten gleich ein »Innovation Lab« ein, mit einem fokussierten Team, das viel Freiraum abseits vom Tagesgeschäft genießt. Andere stecken alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allgemeine Workshops zur Ideengenerierung. Das Problem mit all diesen Ansätzen ist, sagt mein Kollege Michael Schrage am MIT in Boston, dass sie keine wirkliche Aktion zu Innovation bedingen. Im Gegenteil, sie führen oft nur zur Frustration. Oft setzen wir Innovation mit Ideengenerierung gleich und streben nach möglichst vielen, möglichst »disruptiven« Ideen. Eine ganze Beraterzunft lebt davon, Unternehmen bei der Generierung und Verwaltung von Ideen zu helfen. Doch viele Ideen sind der Feind von Innovation. Sie halten Organisationen davon ab, das zu machen, was am wichtigsten für Innovation ist: aus Ideen etwas Nützliches schaffen. Es

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ist eine gefährliche Falle, nur in immer neue Prozesse und Strukturen zur Generierung von Ideen zu investieren – aber keine Validierungs- und Umsetzungskapazität zu schaffen. Genau hieran scheitern viele Unternehmen: Sie kommen nicht von der Idee zur Implementierung. Warum? Ich beobachte, dass viele Unternehmen vor allem das einfache und schnelle Experimentieren verlernt haben. Bevor wir eine Idee umsetzen, evaluieren und planen wir uns zu Tode. Mit demselben Aufwand, den manche Konzerne mit der Präsentation einer Idee vor dem Vorstand treiben, könnten gleich mehrere Start-ups komplette Produkte am Markt platzieren – und sie dann in ständiger Interaktion zwischen Markt und Unternehmen iterativ verbessern. Nur wenn wir schnell, aber zielgerichtet experimentieren und validieren, also direkt in die Umsetzung, in die Praxis gehen, kommen wir zu Innovation: Erfolgreiche Innovatoren experimentieren: Sie schaffen eine Infrastruktur, um durch viele kleine Experimente und Validierungen von Ideen und Konzepten früh Feedback vom Markt zu bekommen. Dazu gehen sie auch anders mit Prototypen und Konzept-Tests um. Erfolgreiche Innovatoren denken nicht in Erträgen, sondern in Verlusten, die man sich leisten kann: »Frugale Innovation« ist nicht nur ein aktuelles Schlagwort, sondern adressiert eine zentrale Notwendigkeit zu lernen, wie man mit klein(st)en Budgets eine Vielzahl alternativer Hypothesen überprüfen kann. Erfolgreiche Innovatoren überwinden Perfektionismus: Wenn wir verlangen, dass Konzepte perfekt ausgearbeitet sein müssen, bevor wir sie realisieren, wird meist nichts passieren. Innovation heißt Lernen heißt Fehler machen müssen!

Dr. Frank Piller ist Professor für Technologie- und Innovationsmanagement an der RWTH Aachen, wo er auch als Studiendirektor den Executive MBA für Technologiemanager leitet. Seine Forschungsgebiete sind Open Innovation und die Überwindung organisationaler Widerstände für radikale Innovation.

sind der " VieFeilendIdederen Innovation."


Andrea Augsten

en helfen zu verstehen. " GrafikFehler werden sichtbar."

DESIGN UND DAS NEUE Migration, Digitalisierung und Nachhaltigkeit werfen aktuell Fragen auf, die zu beantworten sind. Oftmals ist nicht deutlich, welches Ressort, welche Abteilung oder welcher Fachbereich zuständig ist. Die Fragen gewinnen heute nicht nur an Komplexität, sie müssen auch schneller gelöst werden. Daher arbeiten Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen, um adäquate Lösungen zu entwickeln. Dabei bildet oft Ungleichheit – etwa diverse Arbeitsweisen und Fachbegriffe – eine Hauptschwierigkeit. Es beginnt im »beruflichen Werdegang«, wo bisher der institutionelle Wissenserwerb ganz oben stand: Noten, Ausbildungsort, Disziplin, Stipendien, Auszeichnungen, was alles zusammen wie ein schnelles Log-in wirken kann, freilich in das, was der Psychologe Peter Kruse ein »geschlossenes System« (und schlicht dumm) nennt. Zusammenarbeit über unterschiedliche Erfahrungshorizonte hinweg wird häufig als umso langwieriger und komplizierter empfunden. Viele versuchen, Lösungen zu finden, die auf vertrauten Mustern basieren: Wahrgenommene Unterschiede werden eher verkleinert als ernst genommen. Die resultierenden Lösungen nutzen nicht das Potenzial wirklicher interdisziplinärer Kooperation. Der Soziologe Richard Sennett spezifiziert diese als dialektische Zusammenarbeit, denn es gehe nicht darum, unterschiedliche Standpunkte oder Wissenshorizonte zu verwischen, sondern diese füreinander fruchtbar zu machen. Zur Lösung von Problemen in Politik und Verwaltung, wie beispielsweise der Gestaltung zukünftiger Services im Bürgeramt, reichen die Kapazitäten geschlossener Systeme nicht mehr aus. Als Designforscherin muss ich mich daher fragen: Wie können Arbeitsweisen des Designs Menschen in einem solchen dialektisch-dialogischen Miteinander unterstützen? Und wie letztlich darin, selbst unkonventionelle, aber zielführende Lösungen zu entwickeln? Verschiedene experimentelle Arbeitsweisen des Designs setzen derzeit neue Impulse. Sie helfen Menschen bei interaktiven Entwicklungs- und Gestaltungsprozessen. Beim

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Abbau von Bürokratie können Aufzeichnungen von Prozessen verdeutlichen, wo Problemfelder liegen. Es wird sichtbar, wer beteiligt ist, wo beispielsweise unnötige Wartezeiten entstehen oder regelmäßig Missverständnisse in der Kommunikation auftreten. Grafiken helfen zu verstehen. Einfache Papiermodelle eines digitalen Service können frühzeitig aufzeigen, wo bei der Benutzung einer App Probleme auftreten. Fehler werden sichtbar. Bei der Entwicklung eines urbanen Quartiers können Modelle aus Lego Politikerinnen und Politikern, Architektinnen und Architekten, Stadtplanerinnen und Stadtplanern und Bürgerinnen und Bürgern helfen, die Diskussion am Modell zu führen: offen und spielerisch statt disziplinär und kompetitiv. Denn Veränderungen und Ideen können einfach durch das Versetzen der Legosteine ausprobiert werden. Personae können die einzelnen Nutzerinnen und Nutzer in einem Quartier prototypisch mit konkreten Eigenschaften und einem konkreten Nutzungsverhalten beschreiben und den Prozess um eine Menschzentrierung ergänzen. Visuelle Arbeitsweisen des Designs unterstützen als haptischer Intermediator das interdisziplinäre Verstehen. Ergänzend zu Sprache, ihrer Dialektik und ihren rhetorischen Verhandlungsmechanismen ermöglichen Visualisierungen und taktile Elemente den Dialog und die Gestaltung von Neuem. Bezogen auf ihre Kompetenzen benötigen Menschen weiterhin eine disziplinäre Expertise. Um aber transdisziplinär zusammenzuarbeiten, brauchen wir zusätzlich Empathie und die Fähigkeit des Zuhörens. Ich schlage vor, visuelle, iterative und experimentelle Arbeitsweisen des Designs auszuprobieren, um Neuem einen Nährboden zu geben.

Die Designforscherin Andrea Augsten co-gründete 2014 die Initiative design:transfer, die sich mit Fragestellungen des Designs in Transformationsprozessen in Wirtschaft, Wissenschaft und öffentlichem Sektor beschäftigt. Sie ist Mitglied im Think Tank 30 des Club of Rome und promoviert in Kooperation mit dem Innovation Center der Volkswagen AG über das Potenzial von Design in der Organisationsentwicklung.

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chen liegen dort,wowosieMens n des Neuen Quelle Die ieren, "sich auf Augenhohe austauschen, aftlich diskut an und gemeinsch ihr Wissen teilen en. Ideen arbeit " Markus Köhler

ARBEITSPLATZSOUVERÄNITÄT ALS TREIBER VON INNOVATIONEN Schichtwechsel, Innovationsdruck, Talentismus oder agile Organisationsformen. Schlagworte einer modernen Arbeitswelt, in der Routine gestern war und Veränderungen im morgendlichen Standup-Meeting auf der Tagesordnung stehen oder vom interaktiven Whiteboard gewischt werden. Steigende Komplexität von Arbeit, der Bedeutungszuwachs von Wissen und Kompetenzen und die Wichtigkeit des Faktors Team/Unternehmen agieren mehr und mehr als offene Plattformen und interdisziplinäre Labors für die besten Ideen, um Innovationen zu generieren und zu vermarkten. Immer mehr Arbeitgeber kommen zu dem Schluss: Traditionelle Bürokonzepte passen nicht mehr in die digitalisierte Welt und müssen überdacht werden. Arbeitsumgebungen, die die vielfältigen Möglichkeiten der Digitalisierung integrieren und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit mehr Flexibilität fördern, sind Teil dieses Wandels. Moderne Technologien oder gar die Arbeit Seite an Seite mit schlauen Maschinen oder virtuellen Assistenten geben uns heute die Freiheit, selbst zu entscheiden, wann und wo wir arbeiten. Wer seine Arbeit flexibel und selbstbestimmt gestalten kann, erreicht nicht nur eine bessere Work-Life-Balance, mehr Motivation und eine höhere Leistungsfähigkeit (vgl. die Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, Office 21, Forschungsphase 2014 – 2016), sondern befindet sich einem kreativen Work-Life-Flow. Flexible Arbeitsformen erhöhen die Innovationskraft und Produktivität im Unternehmen. Eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) von 2014 belegt, dass Unternehmen mit Vertrauensarbeitszeit bis zu 14 Prozent mehr neue oder verbesserte Produkte auf den Markt bringen als solche mit herkömmlichen Arbeitszeitregelungen. Mit der Betriebsvereinbarung zur Vertrauensarbeitszeit (seit 1998) und zum Vertrauensarbeitsort (2014) hat Microsoft die Anwesenheitspflicht seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgeschafft und für eine Emanzipation der Arbeit von Zeit und Raum gesorgt. Rund 90 Prozent aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Microsoft Deutschland nutzen heute die flexiblen Arbeits-

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bedingungen und sind nicht täglich im Büro – arbeiten aber mit Kolleginnen und Kollegen, Partnerinnen und Partnern und Kundinnen oder Kunden auf der ganzen Welt zusammen. Dieses veränderte Nutzungsverhalten der Beschäftigten bedeutet für uns auch neue Anforderungen an die Bürostruktur und die Gestaltung unserer Unternehmenszentrale. Mit dem »Smart Workspace« hat Microsoft in enger Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer IAO das Bürokonzept für das Arbeiten 4.0 entwickelt. In der neuen Unternehmenszentrale in München-Schwabing realisieren wir im Herbst 2016 unsere Vision des Büros der Zukunft. Im Mittelpunkt stehen dabei stets unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Talenten und ihren individuellen Anforderungen an Arbeitsplatz und Art der Tätigkeit. Flexibilität ist hier keine Floskel, sondern ein gewolltes Prinzip. So kann jede Kollegin und jeder Kollege selbst entscheiden, wie, mit wem und wo er zusammenarbeiten möchte. Vier Arbeitsbereiche, von Rückzugsorten für Tätigkeiten, die eine hohe Konzentration erfordern, bis zu Büroflächen, die bewusst auf Zusammenarbeit – auch über Hierarchieebenen hinweg – ausgelegt sind: Wir lösen räumliche Grenzen auf. Denn die Quellen des Neuen liegen dort, wo Menschen sich »auf Augenhöhe« austauschen, wo sie diskutieren, ihr Wissen teilen und gemeinschaftlich an Ideen arbeiten. Der »Smart Workspace« bietet uns Raum für das alles und einen Wir-Faktor, der Innovationen fördert. Der Unterschied zu alten Denkmustern? Die Frage, ob eine Arbeit, ihr Ort und die Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich gerade arbeite, Spaß machen, ist 2016 wichtiger denn je. Arbeit ist für viele zu einer zentralen Form der Selbstentfaltung geworden. Die Logik des Arbeitsmarkts kehrt sich um: »Jobs follow people.« Für uns bedeutet das ein hohes Maß an Flexibilität – gerade in der Wahl und Gestaltung des Arbeitsplatzes. Denn wer offen ist, überlebt. Wer abgrenzende Mauern baut, wird in den Unsicherheiten des Wandels untergehen. Markus Köhler ist Mitglied der Geschäftsleitung und Senior Director Human Resources, Microsoft Deutschland.


Hubs Units Labs

Christoph Bornschein

NEUE IDEEN BRAUCHEN NEUE STRUKTUREN

Im November 2015 stellte das Publikum eines Panels zum Thema »Innovationskultur in Großkonzernen« eine praktische Grundsatzfrage: Soll eine Innovations-Abteilung möglichst nah am Stammunternehmen gehalten werden – oder ist eine große räumliche Distanz besser? Klare A/BFrage, klare Auswahl. So antworteten die erfahrenen Diskutanten Marc Stilke und Sebastian Herzog dann auch eindeutig, begründet und mit nachvollziehbaren Argumenten – nur eben völlig gegensätzlich. Es gibt viele Wege zur Innovation, doch eines ist klar: Unternehmen haben den Imperativ des digitalen Wandels erkannt. Wo radikale Veränderungen wirken, braucht es so radikal neue Ideen, dass traditionelle Innovationsstrukturen nicht mehr ausreichen. Dort nämlich entsteht das Neue meist in Ceteris-paribus-Umgebungen als Antwort auf einzelne, isolierte Entwicklungen in einem ansonsten unveränderten Umfeld. Wir leben heute im exakten Gegenteil dieses Modells.

Vor allem aber: Wie können Ergebnisse dieses Teams ins Kernunternehmen transferiert werden? Wo Unternehmen ihre Hubs und Tanks als isolierte Ökonosphären ohne Konsequenzen für traditionelle Prozesse und Strukturen betrachten, wird das Neue zwar entstehen – doch auch folgenlos verpuffen. Die Entstehung des Neuen braucht eine Innovationskultur, die von der Tradition zwar informiert, von ihren Zwängen aber befreit ist, und die die Herausforderungen von morgen antizipieren und Lösungen prototypisieren kann. Doch vor allem braucht sie die Erkenntnis, dass das Neue durchaus das Potenzial hat, das Alte komplett zu ersetzen – und die Bereitschaft des Alten, dies zuzulassen.

Christoph Bornschein ist Mitbegründer und CEO der Agentur für digitale Transformation Torben, Lucie und die gelbe Gefahr (TLGG). Der gebürtige Berliner berät internationale Konzerne

Dedizierte Innovationszirkel – Hubs, Labs, Units – sind eine valide Antwort auf diese Herausforderung. Im Detail jedoch gibt es etliche Ansätze und viele erfolgskritische Faktoren, eben etwa die Frage der Entfernung: Zu große Nähe bedeutet oft hemmende Kontrolle, zu weite Entfernung einen Mangel an Gemeinschaft. Finanzierung, Recruiting, Zuständigkeit im Stammunternehmen – eine vollständige Liste der essenziellen Punkte würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Für den erfolgreichen Aufbau einer Innovationseinheit sind andere Fragen weit wichtiger. Etwa: Welche Elemente eines Geschäftsmodells und welche komplementären Geschäftsprozesse können individuell durch Software ersetzt werden? Denn an diesen Punkten stecken Potenzial und Risiken der Digitalisierung. Sie definieren Handlungsfelder für ein Innovationsteam, das die nächste große Marktveränderung vorwegnimmt und Lösungen erarbeitet.

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und Unternehmen bei der digitalen Transformation. Er ist Autor zahlreicher Fachbeiträge sowie gefragter Referent auf Konferenzen und Kongressen.

Elemente eines " Welche Geschaftsmodells und welche komplementaren Geschaftsprozesse konnen individuell durch Software ersetzt werden? "

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Dieter Frey

UNTERNEHMENSKULTUR DES KRITISCHEN RATIONALISMUS Man muss unterscheiden zwischen Kreativität und Innovation. Kreativität bezieht sich darauf, inwieweit Neues geschaffen wird. Aber ob sich das Neue auf dem Markt durchsetzt, etwa ein neues Produkt oder eine neue Serviceleistung, ist eine ganz andere Frage. Auf Dauer können kommerzielle Unternehmen nur überleben, wenn sie innovativ sind. Aber was sind Erfolgsfaktoren dafür, dass Neues in die Welt kommt? Wir wollen das am Beispiel von kommerziellen Organisationen verdeutlichen.

5. Weiterhin ist auch die Umsetzung sogenannter Center-of-Excellence-Kulturen wichtig:

1.

Man muss Defizite in der Realität (auch aus der Sicht der Kundin und des Kunden) wahrnehmen, beispielsweise bei den eigenen Prozessen, Produkten und Dienstleistungen. Ebenso auch Defizite, die man gegenüber Konkurrentinnen und Konkurrenten hat. Gleichzeitig muss man den Optimismus haben, dass man die Defizite durch kreative, neue Problemlösungen ausgleichen kann.

2. Notwendig ist die Förderung von Kreativen und Erfinderinnen und Erfindern. Denn sie sorgen für die guten Ideen. Die kreativen Köpfe erfahren weder in den Unternehmen noch in der Gesellschaft hohe Wertschätzung. 3. Entscheidend innerhalb einer Organisation sind die Führungs- und die Unternehmenskultur. Angefangen beim Topmanagement bis in jede Führungsstufe: Ist man bereit, Dinge permanent infrage zu stellen, sich zu verbessern, zu verändern und das Neue zu wagen? Dabei müssen in der Mitarbeiterführung Handlungsspielräume gegeben werden, denn wenn zu viel kontrolliert, eingeschränkt, reglementiert wird, werden Menschen ihr Kreativitätspotenzial nicht entwickeln. Eng damit verbunden ist die Wahrnehmung von Fairness: Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen wahrgenommener Fairness und Innovation.

dern durch Teams. Umso wichtiger ist, dass Teams Synergieeffekte entwickeln können. Notwendig ist als Technik die sogenannte Teamreflexion, bei der die Teams laufend drei Fragen stellen: Was läuft gut im Moment und warum? Was läuft noch nicht gut und warum? Wie können wir Dinge verbessern?

• •

eine Problemlösekultur, bei der Probleme mit Kreativlösungen verbunden werden eine Fehlerkultur, bei der man quasi jeden Fehler zum Anlass nimmt, durch eine professionelle Kausalanalyse kreativer zu werden eine Streit- und Konfliktkultur, in der der Konflikt Ausgangspunkt für kreative Problemlösungen ist eine Innovationskultur, bei der es darum geht, laufend zu reflektieren, ob jede einzelne Aktivität zu einer erhöhten Innovation und einer erhöhten Nachhaltigkeit beiträgt. Es geht letztlich um innovationsförderliche Strukturen, also um kurze Wege, wenig Bürokratie und Reglementierung, enge Kontakte zwischen Vertrieb, Marketing, Entwicklung, Produktion und Geschäftsführung.

6. Im Grunde bedarf es einer Unternehmenskultur des kritischen Rationalismus nach Karl Popper, ähnlich einer hierarchiefreien Dialogkultur, in der die Beteiligten den Status quo permanent infrage stellen, also einen gesunden Zweifel haben, jedoch immer mit dem Ziel, Dinge zu verbessern – am besten in Quantensprüngen.

Prof. Dr. Dieter Frey lehrt seit 1993 Sozialpsychologie und Wirtschaftspsychologie an der LMU und forscht dort zu den Themen Führung, Teamarbeit, Motivation, Innovation sowie Einstellungsund Werteforschung. Seit 2006 leitet er das LMU Center for Leadership and People Management, eine Einrichtung der

4. Oft entsteht Neues nicht durch Einzelne, son-

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Oft entsteht Neues nicht "durch Einzelne, sondern durch Teams."

Exzellenzinitiative.


Sandra Ohly

KREATIVITÄT BEIM ARBEITEN 4.0 Wie entstehen kreative Ideen? Entgegen der landläufigen Meinung sind plötzliche Eingebungen oder Geistesblitze nicht die Regel (Baas u. a. 2015). Kreativität entsteht auch nicht im Schlaf oder durch Entspannung. Vielmehr ist Kreativität das Resultat eines anstrengenden Prozesses und entsteht vor allem dann, wenn Menschen sich stark aktiviert fühlen. Im Folgenden werden diese beiden Bedingungen genauer beschrieben und daraus abgeleitet, wie eine Arbeit gestaltet sein muss, um kreativitätsförderlich zu sein. Nach einem einflussreichen Modell der Kreativitätsforschung (Amabile 1996) verläuft der Prozess folgendermaßen: Am Anfang steht die Identifikation eines Problems, oder das Problem wird als Arbeitsaufgabe vorgegeben: »Entwickle ein neues Konzept!« Als zweiter Schritt erfolgt die Vorbereitung. Dabei wird nach relevantem Wissen gesucht. Entweder lässt es sich aus dem eigenen Gedächtnis abrufen oder muss neu erworben werden, indem man Fachliteratur oder Kollegen zurate zieht. Zur Vorbereitung gehört auch das systematische Aufbereiten von Informationen und Wissen über die Problemsituation, sodass klar ist, was bei der Lösung alles beachtet werden muss. Im dritten Schritt erfolgt die Antwortgenerierung. Hier werden eine oder mehrere mögliche Lösungen für das Problem formuliert. Dieser Schritt ist am ehesten dadurch charakterisiert, dass man wilde Ideen entwickelt, die ganz unkonventionell sind. Man denkt in die Breite. Im vierten Schritt werden die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten überprüft. Hierbei wird aus der Vielzahl von Lösungsmöglichkeiten diejenige ausgewählt, die am besten zu den Rahmenbedingungen passt. Am Ende steht ein kreatives Ergebnis des ganzen Prozesses, das anderen mitgeteilt und umgesetzt werden kann.

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ckeln. Die Motivation lässt sich dabei in der Arbeit am ehesten stärken, wenn klar ist, dass kreative Ideen verlangt werden und willkommen sind (Ohly 2011). Verbesserungsvorschläge für bestehende Probleme dürfen nicht leichtfertig vom Tisch gewischt werden. Sonst würde der Eindruck entstehen, dass Neues in der Arbeit nicht willkommen ist. Die Einrichtung von speziellen Arbeitsräumen für Kreativität, sogenannten Hubs, Labs oder Experimentierräumen, kann signalisieren, dass ein Arbeitgeber es ernst meint mit der Kreativität. Wichtig ist aber eben auch, wie im weiteren Prozess mit den Ideen umgegangen wird. Unterstützt der Vorgesetzte die Idee, sind die Kolleginnen und Kollegen interessiert? Auch wenn interessante, komplexe Problemstellungen zu bearbeiten sind, werden Menschen eher motiviert sein, kreativ zu werden. Kreativität ist also abhängig vom Arbeitskontext und von der Aufgabenstellung. Gleichzeitig ist auch das Befinden wichtig. Entspannte, gelassene Stimmung ist zwar angenehm, für Kreativität förderlich haben sich aber gerade aktivierte Gefühlszustände wie Enthusiasmus, aber auch Ärger gezeigt. Ärger kann motivieren, ausdauernd an einem Problem zu arbeiten, und Enthusiasmus liefert die Energie, sich in dem gesamten Prozess zu engagieren. Arbeiten 4.0 sollte daher den Enthusiasmus fördern, beispielsweise durch die Möglichkeit, eigene Ziele zu erreichen, Probleme zu lösen und Erfolg zu erleben (Ohly/Schmitt 2015).

kann " Arger motivieren." Prof. Dr. Sandra Ohly ist Professorin für Wirtschaftspsychologie und Direktorin des

Damit dieser Prozess zu einem Erfolg führen kann, müssen Menschen motiviert sein, genügend Wissen über das Problem haben, und in der Lage sein, auch unkonventionelle Lösungen zu entwi-

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Forschungszentrums für Informationstechnikgestaltung ITeG an der Universität Kassel. Sie forscht zu Kreativität und Eigeninitiative bei der Arbeit sowie zum Umgang mit neuen Technologien und Wohlbefinden.

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vernetzten aft in der gskr run Fuh Die gen "Welt erteilt nicht mehr Weisun , sondern hen Sinnvor. im klassisc gibt Richtungen "

Birgit Isenmann

KREATIVITÄT BRAUCHT SPIELRAUM

Die Bosch-Gruppe hat den Anspruch, ein weltweit führender Anbieter im Internet der Dinge zu werden. Ziel ist es, alle elektronischen Bosch-Produkte internetfähig zu machen. Dadurch können die Produkte gegenseitig Informationen austauschen und damit neue Möglichkeiten für zusätzliche Services und Geschäftsmodelle schaffen. Diese zunehmende Vernetzung wird das Umfeld erheblich verändern. In der vernetzten Welt kann man nicht weiter auf das »Abarbeiten« eines Plans setzen. Vielmehr ist es erforderlich, sich schnell auf sich ändernde Rahmenbedingungen einstellen zu können. Dabei wird vieles komplexer und weniger vorhersehbar. Für Bosch bedeutet dies, dass ein deutlicher Auf- und Ausbau von Softwarekompetenzen erfolgen muss. Die dafür erforderliche Akquise von IT-Spezialistinnen und IT-Spezialisten wird jedoch nur erfolgreich sein, wenn man für diese Berufsgruppe als Arbeitgeber attraktive Beschäftigungsbedingungen und eine kreativitätsfördernde Unternehmenskultur bieten kann. Neue Ideen zur Vernetzung von Erzeugnissen und datenbasierten Dienstleistungen erfordern ein hohes Innovationspotenzial der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dieses Potenzial lässt sich nicht vom Vorgesetzten verordnen und in einen klassischen Arbeitstag von 8 Uhr bis 16 Uhr zwängen. Kreativität braucht Freiraum, sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht. So entstehen heute schon die meisten Ideen im privaten Umfeld und nicht im Büro. Starre Regelungen zu Arbeitszeit und Arbeitsort werden diesen Bedürfnissen nicht gerecht. Führungskräfte unterstützen die Kreativität der Mitarbeiter dann, wenn sie diese für die Aufgaben begeistern, ihnen ein hohes Maß an Selbstverantwortung geben und dabei als Coach und Partnerin bzw. Partner zur Verfügung stehen. Die Führungskraft in der vernetzten Welt erteilt nicht mehr Weisungen im klassischen Sinn, sondern sie gibt eine Richtung vor.

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Auch die Art der Zusammenarbeit wird sich verändern. Teams werden interdisziplinärer arbeiten, sie werden verstärkt auf externe Spezialistinnen und Spezialisten angewiesen sein. Die im Arbeitsrecht vorgesehene Abgrenzung zwischen eigenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anderer Unternehmen verschwimmt in der betrieblichen Praxis zunehmend. Die Gestaltung dieses Wandels birgt viele Herausforderungen, bietet aber auch sehr viele Chancen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen zum sorgsamen Umgang mit der Selbstverantwortung befähigt werden. Wir haben bei Bosch neben einer Vereinbarung zum mobilen Arbeiten auch eine Vereinbarung zur Förderung der psychischen Gesundheit abgeschlossen, um psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Führungskräfte dafür zu sensibilisieren sowie integrierte Hilfsangebote bereitzustellen. Dabei spielt der Dialog zwischen Führungskraft und Mitarbeiterin bzw. Mitarbeiter sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter untereinander eine wichtige Rolle. Die für diesen Dialog erforderlichen Spielregeln, aufgrund derer ein angemessener Ausgleich der Unternehmens- und Mitarbeiterinteressen erzielt werden soll, können am besten durch die Sozialpartner gestaltet werden. Der Gesetzgeber sollte einen rechtlichen Rahmen schaffen, der genügend Spielraum für die Ausgestaltung durch die Sozialpartner bietet.

Birgit Isenmann ist als Arbeitsrechtsjuristin im Bosch Konzern beschäftigt und verfügt über langjährige Erfahrung in der Gestaltung von Beschäftigungsbedingungen. Sie befasst sich mit den Herausforderungen der Digitalisierung und Industrie 4.0 für Arbeitswelt und Beschäftigungsbedingungen.


einer systematischen Vorgehensweise und mangelnde Professionalisierung " DasderFehlen Innovations und Kompetenzentwicklung behindern die nachhaltige Identifizierung und Ausschopfung innovationsrelevanter Kompetenzen und Fahigkeiten." Sandra Güth

INNOVATIONSPOTENZIALE AN- UND UNGELERNTER PRODUKTIONSBESCHÄFTIGTER DURCH STRATEGISCHES KOMPETENZMANAGEMENT AUSSCHÖPFEN Die fortschreitende Wissensintensivierung führt zu digitalen, technologieintensiven und funktionsübergreifenden Produktionsmethoden mit erheblichen Auswirkungen auf traditionelle Industriebranchen. Sie verdrängt zunehmend hierarchische Organisationsstrukturen und tayloristische, arbeitsteilige Produktionsverfahren. Unternehmensintern werden Arbeitsanforderungen dadurch komplexer und begründen teilweise sogar veränderte Berufsbilder und Qualifikationsprofile von Beschäftigten. Unternehmensextern zeichnet sich zugleich eine grundlegende Veränderung der verfügbaren Alters- und Qualifikationsstruktur der Erwerbsbevölkerung ab. Angesichts dieser Herausforderungen vor allem auch für kleine und mittlere Unternehmen stellen sich drängende Fragen nach der langfristigen Stabilisierung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit. Ein Schlüsselfaktor wird daher in der gezielten Nutzung und Steuerung von Kompetenzen der Beschäftigten gesehen. Wie die Erhebung Modernisierung der Produktion 2015 des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI zeigt, beschäftigen KMU zu einem wesentlich höheren Anteil an- und ungelernte Produktionsbeschäftigte als Großunternehmen. Ihnen fällt es zunehmend schwer, qualifiziertes Fachpersonal für die Produktion zu gewinnen und wichtiges Wissen der Beschäftigten im Unternehmen zu halten. Um mit möglichen Ressourcenengpässen und Wissensverlusten umgehen zu können, stellt die Personengruppe der An- und Ungelernten ein noch ungenutztes erhebliches Potenzial dar, das gezielter auszuschöpfen sein wird. Der technische Fortschritt wird den typischen Arbeitsplatz von an- und ungelernten Produktionsbeschäftigten zunehmend erodieren. Ihr Tätigkeitsbereich setzt sich bisher vorrangig aus einfachen Dienstleistungen (wie Fahrzeuge führen und beladen) sowie produktionsbezogenen Hilfstä-

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tigkeiten (wie Maschinen oder technische Anlagen einrichten und warten) zusammen. Einem Rückgang solcher einfachen Montage- und Fertigungstätigkeiten steht eine spürbare Zunahme indirekter Tätigkeiten wie Planung, Steuerung und Qualitätskontrolle gegenüber. Es wird daher entscheidend sein, inwiefern es KMU gelingt, ihre an- und ungelernten Produktionsbeschäftigten durch passfähige Konzepte der Qualifizierung und Kompetenzentwicklung »mitzunehmen« und damit ihr wichtiges Erfahrungs- und Anwenderwissen zu erhalten, weiterzuentwickeln und noch intensiver zu nutzen. Viele KMU verfügen jedoch weder über institutionalisierte Strukturen für die effiziente und planerische Gestaltung von Innovationsprozessen noch über eine strategische Personal- und Kompetenzentwicklung. Beide strategischen Aufgabenfelder fallen deshalb häufig in den Verantwortungsbereich der Geschäftsführung, wo sie unter dem Druck des operativen Tagesgeschäfts ein Nischendasein führen. Das Fehlen einer systematischen Vorgehensweise und mangelnde Professionalisierung der Innovations- und Kompetenzentwicklung behindern die nachhaltige Identifizierung und Ausschöpfung innovationsrelevanter Kompetenzen und Fähigkeiten. Daher besteht ein Bedarf, KMU stärker bei der Konzeption und Umsetzung von Maßnahmen zu unterstützen, um die Entwicklungsmöglichkeiten von An- und Ungelernten besser zu nutzen und den eingangs skizzierten Herausforderungen zu begegnen.

Sandra Güth ist als Wirtschaftspsychologin am FraunhoferInstitut für System- und Innovationsforschung im Geschäftsfeld Industrielle Innovationsstrategien tätig. Dort beschäftigt sie sich mit der betrieblichen Kompetenzentwicklung und den Auswirkungen von Innovationen auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe.

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Verena Bentele

INKLUSION SCHAFFT INNOVATION. INNOVATION SCHAFFT INKLUSION.

Innovation ist immer eine Frage von Bedarfen und Bedürfnissen. Wenn Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können, wenn Arbeit die Befriedigung anderer Bedürfnisse über Gebühr behindert oder wenn die Arbeit kein ausreichend verwertbares Produkt erzeugt, werden Optimierungsprozesse initiiert. Dieser Vorgang lässt sich historisch von der Entwicklung der arbeitsteiligen Gesellschaft bis zur Einführung des Mindestlohns kontinuierlich beobachten. Welche konkreten Impulse für die Gestaltung von Arbeit 4.0 lässt diese Einsicht in Hinblick auf die Herausforderung der Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen in den ersten Arbeitsmarkt erwarten? 1. Inklusion braucht und schafft barrierefreie Arbeitsprozesse Teamorientierte Arbeitsprozesse bieten die Möglichkeit, unterschiedliche Fähigkeiten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern optimal zu nutzen. Die gezielte Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen führt diese Tendenz fort und verdichtet sie. Gegenseitige Assistenzleistungen bei der Erarbeitung von Routinen, bei der gemeinsamen Entwicklung und Formulierung von Ideen oder in der Bewältigung von Schnittstellen nützen jedem Mitglied eines Teams. Der Bedarf an Barrierefreiheit wird die vorhandenen Diversity-Strategien deshalb vorantreiben und so die Entfaltung der individuellen Potenziale aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erleichtern.

der behindernden Barrieren erfordert Produkte und Dienstleistungen, die ohne eine konsequente Nutzung der Betroffenenkompetenz nicht bereitzustellen sind. Der breite Bedarf an universellem Design wird deshalb nicht nur einen neuen Markt schaffen, sondern durch gelingende Inklusion auch dringend benötigte Fachkräfte für andere Segmente des Arbeitsmarktes mobilisieren. 3. Inklusion braucht und schafft Visionen Zwischen der Erfindung des Rads und der Schaffung neuer virtueller Welten liegt eine Reihe großer Visionen. Ob wir Innovationen Raum geben oder nicht, hängt davon ab, ob es uns im entscheidenden Moment gelingt, etablierte Denkmuster zu überwinden. Der Bedarf an Flexibilität wird deshalb eine bewusste Abkehr von normierten Vorstellungen über Durchschnittseigenschaften einleiten. Er wird die Fähigkeit schärfen, die Chancen der Vielfalt zu erkennen und diese innovativ zu nutzen. Wenn Unternehmen und Staat durch entsprechende Förderung und Regulierung gemeinsam die erforderlichen rechtlichen, wirtschaftlichen und organisatorischen Bedingungen für den Inklusionsprozess schaffen, wird aus der Herausforderung Inklusion ein entscheidender Katalysator für diejenigen innovativen Lösungen, die Inklusion ermöglichen – und die eine humanere, weiterentwickelte Arbeit 4.0, 5.0 und 6.0 prägen werden.

2. Inklusion braucht und schafft Offenheit Etwa zehn Prozent aller Menschen werden nach dem Standard der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch die Wechselwirkung ihrer körperlichen Beeinträchtigungen mit einstellungs- oder gestaltungsbedingten Faktoren in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben behindert. Die Beseitigung

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Inklusion

Verena Bentele ist die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Die blinde ehemalige Leistungssportlerin gewann bis 2011 insgesamt zwölf paralympische Goldmedaillen im Biathlon und im Skilanglauf. Sie arbeitet als Speaker und Coach und veröffentlichte 2014 ihr Buch »Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser: Die eigenen Grenzen verschieben und Sicherheit gewinnen«.

Arbeit

4.0 5.0 6.0


VERWENDETE LITERATUR Amabile, Teresa (1996): Creativity in the context, Boulder, CO. Baas, Matthijs/Koch, Severine/Nijstad, Bernard A./ De Dreu, Carsten W. (2015): Conceiving creativity: The nature and consequences of laypeople’s beliefs about the realization of creativity. In: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts, 9 (3), S. 340 – 354. Kruse, Peter (2005): next practice. Erfolgreiches Management von Instabilität, Offenbach. Laloux, Frederic (2014): Reinventing organizations, Brüssel.

Ohly, Sandra/Schmitt, Antje (2015): What makes us happy, angry, feeling at rest or worried? Development and validation of a work events taxonomy using concept mapping methodology. Journal of Business and Psychology, 30, S.15 – 35. Rifkin, Jeremy (2009): The empathic civilization, New York. Rifkin, Jeremy (2011): The Third Industrial Revolution, New York. Spiegel, Peter (2014): WeQ. Wir-Qualitäten verändern alles, http://www.visionsummit.org/fileadmin/user_upload/ documents/WeQ-Essay-Web.pdf (Stand: 28.07.2016).

Meadows, Donella/Meadows, Dennis/Randers, Jorgen/Behrens II, William (1972): The Limits to Growth, New York. Ohly, Sandra (2011): Ideen entwickeln und Verbesserungsvorschläge einreichen: Alles eine Frage der intrinsischen Motivation? Positionsreferat bei der 7. Tagung der Fachgruppe für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie, Rostock.

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5 KONTEXT

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Kontext

»ARBEIT WIRD ZUM GLÜCKSERLEBNIS, WENN MENSCHEN GUT SIND IN DEM, WAS SIE TUN« Die Entwicklung der Arbeitsgesellschaft ist in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Thema in der Kulturproduktion geworden. Insbesondere der Dokumentarfilm reflektiert die Umbrüche in der Arbeitswelt in vielfältiger Weise. Mit dem Filmfestival »Futurale« präsentiert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen des Dialogprozesses Arbeiten 4.0 sieben Filme, die in 25 Städten gezeigt und mit Expertinnen und Experten vor Ort diskutiert werden. In 15 Städten hat das Filmfestival bereits Station gemacht, über 100 Publikumsdiskussionen sind absolviert. Zeit, die Sommerpause zu nutzen und gemeinsam mit zwei Filmschaffenden, die bei einigen Diskussionen dabei waren, Zwischenbilanz zu ziehen.

Frage: Frau Schmid, Herr Jonischkat, beginnen wir grundsätzlich: Arbeiten Sie gerne? Luzia Schmid: Ja. Wenn ich an einem spannenden Projekt wie dem Film »Deine Arbeit, dein Leben!« sitze, habe ich den besten Job der Welt. Tim Jonischkat: Ja, wenn ich nicht gerade vor einem großen Problem stehe. Was ist für Sie persönlich »gute Arbeit«? Worauf legen Sie bei Ihrer Arbeit wert? TJ: Für mich ist Wertschätzung enorm wichtig. Respektieren die Kunden meine Meinung? Arbeiten sie gerne mit mir zusammen? Sind sie mit dem Ergebnis zufrieden? Die beiden Doku1

mentarfilme über die digitalen Nomaden 1 sind mehr oder weniger nebenher entstanden. Schwerpunktmäßig arbeite ich als freiberuflicher Software-Entwickler direkt bei Start-ups vor Ort. Das macht mich glücklich, weil ich mit den Leuten, die mein Produkt am Ende benutzen, intensiv zusammenarbeite und dabei merke, wie glücklich sie sind mit dem, was wir gemeinsam entwickeln. So erfahre ich die Wertschätzung unmittelbar in der Zusammenarbeit. LS: Arbeit ist ein Grundbedürfnis, und die damit verbundene Wertschätzung befriedigt enorm. Geld ist ein Teil davon, aber auch positives Feedback und das gute Gefühl, etwas geschaffen zu haben, sind zentrale Bestandteile von beglückender Arbeit.

»Digitale Nomaden – Deutschland zieht aus« (2014) und »Digitale Nomaden 2 – Deutschland meldet sich ab« (2015/2016).

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Kontext Und was sind negative Aspekte von Arbeit für Sie? Was trübt Ihre Freude an der Arbeit? LS: Ich liebe die Filmbranche. Aber als Solo-Selbstständige stelle ich mir häufig die bange Frage, ob das noch zwanzig Jahre gut geht. TJ: Mir geht es darum, dass Leute, die arbeiten, in Ruhe gelassen werden von Leuten, die Meetings machen. Ich fühle mich mehr als Macher denn als Manager. Ich finde es immer schade, als Macher in einer Organisation von Leuten gefangen zu sein, die ständig Meetings mit mir machen und kontrollieren und steuern wollen. Als Informatiker möchte ich mich in die Dinge reindenken und ganz allein wochenlang an der Lösung eines Problems arbeiten dürfen. Erst, wenn es wieder was zu zeigen und zu besprechen gibt, ist es aus meiner Sicht auch wieder Zeit für ein Meeting. Diese Arbeitsweise ist in einem Angestelltenverhältnis sehr schwierig umzusetzen. Ich finde es wichtig, dass die Leute sich darauf konzentrieren zu arbeiten und nicht darauf Wert legen, beschäftigt zu wirken. Wie kamen Sie dazu, sich im Medium des Dokumentarfilms mit dem Thema Arbeit zu beschäftigen? LS: Arbeit bestimmt und definiert unser Leben. Ist man glücklich mit der Arbeit, hat das enorm positive Auswirkungen auf das ganze Leben. Ich wollte einen Film über unsere Gesellschaft machen, und Arbeit ist für unser Zusammenleben zentral. Wir haben dann die Menschen in Nordrhein-Westfalen aufgerufen, ihre Arbeit zu filmen, zu zeigen, was sie umtreibt, was gut und schlecht ist an dem, was sie täglich tun. Auf diese Weise sind wir dem Alltag der Menschen sehr nahegekommen, denn es war kein fremdes Filmteam, das sie beobachtet hat, sondern sie haben sich selbst der Kamera präsentiert. In Bezug auf Arbeit ist NRW ein sehr spezielles Bundesland, weil es dort einen immensen Strukturwandel gegeben hat. Aus dem riesigen Pool an Einsendungen habe ich dann diesen 70-minütigen Film geschnitten. TJ: Die Entstehung unseres ersten Films war eher Zufall. Ursprünglich wollten Thorsten Kolsch und ich einen Imagefilm für eine neue Onlineplattform

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für digitale Nomaden drehen. Wir wollten die Geschichte um einen Ich-Erzähler herum bauen, der seinen eigenen Weg ins digitale Nomadentum beschreibt. Und dann wurde das Projekt immer größer und ist letztlich zu einem 72-minütigen Film gewachsen, in den Thorsten Kolsch und ich unsere Perspektiven auf das Thema eingebracht haben. Im Verlauf des Films haben wir uns mit dem Lebens- und Arbeitsmodell der digitalen Nomaden kritisch auseinandergesetzt und waren nicht immer einer Meinung. Der Protagonist des Films vertritt uns aber letztlich beide. Ihr Film »Digitale Nomaden« ist ein Film über Menschen, die ohne festen Wohnsitz durch die Welt reisen, sich von regelmäßigen Arbeitszeiten befreien und Aufträge auf Projektbasis abarbeiten. Würden Sie sich selber als digitalen Nomaden bezeichnen? TJ: Ich hatte lange eine Bahncard 100 und bin viel umhergereist als freiberuflicher Software-Entwickler. Da Wertschätzung mir sehr wichtig ist, ist das digitale Nomadentum für mich eher eine schwierige Sache. Über Chats lässt sich Wertschätzung schlecht vermitteln. Für mich sind persönliche Beziehungen, lachen und abends auch mal zusammen einen trinken gehen ganz wichtig. LS: Ich habe eher zufällig, auch durch die Futurale und den Film von Tim Jonischkat, festgestellt, dass ich in gewisser Weise ebenfalls Teil dieser Bewegung bin. Denn ich arbeite als selbstständige Dokumentarfilmerin im Prinzip schon seit zehn Jahren ortsunabhängig und ohne feste Arbeitszeiten, wenn auch mit festem Wohnsitz. Dass es für Leute wie mich den Begriff der »Solo-Selbstständigen« gibt, habe ich auch erst im Rahmen der Futurale erfahren. In Auseinandersetzung mit dem Begriff der digitalen Nomaden frage ich mich schon, ob und wie eine Gesellschaft es verkraften würde, wenn alle so arbeiteten. Und ob bei diesem Leben nicht auch etwas verloren geht. Das soziale Umfeld zum Beispiel und persönliche Wertschätzung. Der Protagonist in Ihrem Film, Herr Jonischkat, reflektiert diese Punkte selbstkritisch. Er fürchtet, ein »egoistischer Selbstoptimierer« zu werden. Ist diese reflektierte Art repräsentativ

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Kontext wenn alle diesen Weg gehen würden? Was es für ein System der kollektiven Alterssicherung bedeutet, wenn sich immer mehr daraus zurückziehen, um nur ein Beispiel zu nennen.

Luzia Schmid gebürtige Schweizerin, arbeitete nach ihrem Journalismusstudium mehrere Jahre als Moderatorin und Redakteurin für das Schweizer Radio und Fernsehen, bevor sie an der Kunsthochschule für Medien in Köln Film studierte. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin arbeitet für die Dokumentationsredaktion des WDR und für verschiedene Fernsehredaktionen. Sie ist Gastdozentin im Bereich Medienkunde an der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern. Ihr Film »Deine Arbeit, Dein Leben!« ist Teil eines crossmedialen Projekts und erzählt aus der Perspektive der Menschen selbst, was Arbeit in einem traditionellen Industrieland heute bedeutet. Auf Einladung des WDR hielten Menschen dafür ihren Arbeitsalltag mit Smartphone oder Videokamera fest. Der Film entstand aus mehreren Hundert dieser Videos.

für die Szene der digitalen Nomadinnen und Nomaden? Stellt man sich dort Fragen, welche Auswirkungen es auf die Gesellschaft hätte,

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TJ: Die Leute machen heute schnell Abi, sprinten durch das Studium, fallen in den Job und stellen dann fest: Mist, jetzt bin ich gerade 30 geworden, was passiert eigentlich noch in meinem Leben? Dann hören sie einen »Flip-Flop-Entrepreneur-Podcast« und versuchen alles, um im nächsten Winter ebenfalls auf Bali zu sein. Früher hat man sich in Studium und Ausbildung mehr Zeit für sich genommen und konnte sich auch mal gehen lassen. Vielleicht ist das digitale Nomadentum eine Reaktion auf diese neuen Strukturen, die einen möglichst schnell in den Arbeitsmarkt bringen sollen. Für viele ist der Ausbruch daraus aber auch nur eine Phase, die sich später wieder relativiert. Meist auch dann, wenn sie ihre sozialen Rückzugsorte vermissen. LS: Dieses extreme Nomadentum ist aus meiner Sicht in den meisten Fällen auf eine Lebensphase begrenzt. Ich kenne die Dimension des digitalen Nomadentums nicht im Detail, vermute aber, sie ist noch nicht relevant für die Gesamtgesellschaft. Ich habe einen Dokumentarfilm über Entwicklungshelferinnen und -helfer beim Roten Kreuz gemacht, die sind im Grunde ja genauso unterwegs wie digitale Nomaden und nie zu Hause bei Freunden und Familie. Und Steuern zahlen diese Menschen auch nur in der Schweiz. Da spricht aber niemand von egoistischer Selbstoptimierung. Das ist ein interessanter Punkt. Sind die digitalen Nomadinnen und Nomaden wirklich eine neue Bewegung? Oder handelt es sich nicht nur um eine neue Variation alter Motive? Man denke an die Kinder der Adeligen und des gehobenen Bildungsbürgertums, deren Erziehung seit der Renaissance mit der sogenannten Kavaliersreise beziehungsweise im 18. und 19. Jahrhundert der »Grand Tour« durch Europa abgeschlossen wurde. Oder die Wanderjahre der Handwerksgesellen. Auch diese Reisetätigkeit wurde durch »ortsflexibles« Arbeiten ermöglicht. Was ist das Neue am digitalen Nomadentum?


Kontext TJ: Digitale Nomaden gehen, weil sie es wollen, nicht, weil sie müssen. Sie greifen als Bewegung niemanden an, sondern nutzen die technischen Möglichkeiten, um zu sagen: Wenn ihr das mit der flexiblen, freiheitlichen Arbeit nicht hinkriegt, dann mache ich jetzt eben einen Blog auf, mache ein bisschen Amazon Affiliate und Tschüss. Darin liegt natürlich eine Kritik an der Arbeitswelt, so, wie sie ist. LS: Es gab schon immer Leute, die zieht es raus, und Leute, die hält es in der vertrauten Umgebung. Und es ist eine Altersfrage. Was ist, wenn Kinder ins Spiel kommen, wenn die Familie kommt? Die digitalen Nomaden sind ja nicht die Einzigen, die das betrifft. Hoch spezialisierte Fachkräfte sind quasi als Geschäftsnomaden für ihre Firmen global unterwegs. Diese extreme Mobilität wird teilweise von den Unternehmen eingefordert. Gleichzeitig passen sich doch auch viele Unternehmen den neuen Bedürfnissen nach Freiheit und lockeren, weniger hierarchischen Strukturen an, etwa mit flexiblen Arbeitsmodellen wie Homeoffice oder Schicht-Doodle. Sie bilden das in Ihrem Film mit dem »Feel-goodManager« ab, der sich um das Wohlergehen der Belegschaft kümmern soll. Und die Protagonisten aus Ihrem Film, Herr Jonischkat, kommen größtenteils aus Arbeitsumfeldern wie der Werbung oder der Start-up-Szene, in denen es ohnehin unkonventioneller zugeht als in vielen Unternehmen. Trotzdem haben die Leute diese Jobs verlassen, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben, und sind als digitale Nomadinnen und Nomaden losgezogen. Warum? LS: Der Wohlfühlmanager ist natürlich ein Versuch, die Leute im Unternehmen zu halten. Das Lustige ist, das kam im Film leider nicht so rüber, die Arbeitsplätze selber waren nicht schön, ein riesiges Großraumbüro mit null Atmosphäre. TJ: Die Agenturkicker usw. sind letztlich eigentlich auch nur ein Instrument der Personalabteilung. In dem Start-up, in dem ich letztes Jahr drei Monate gearbeitet habe, durfte ab 16 Uhr Bier getrunken werden. Da bleiben die Leute dann eben noch mal zwei Stunden länger. Die meisten zumindest …

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Tim Jonischkat wurde 1986 im Ruhrgebiet geboren, studierte in Essen angewandte Informatik und schloss das Studium mit Auszeichnung ab. Als freiberuflicher Software-Ingenieur setzte er zahlreiche Projekte um. Als Regisseur drehte und produzierte er den Film Digitale Nomaden. Darin erzählen fünf etablierte digitale Nomaden ihre Geschichten. Begleitet werden sie von Jonischkats Koproduzent Thorsten Kolsch, der für sich selbst herausfinden möchte, ob dieses Lebensmodell das Richtige für ihn ist. Mit dem ersten deutschsprachigen Dokumentarfilm zu diesem Thema gibt Tim Jonischkat Einblick in die Bewegung des ortsunabhängigen Lebens und Arbeitens in Zeiten von Arbeiten 4.0.

Die digitalen Nomadinnen und Nomaden wählen ihre Erwerbsform freiwillig und definieren sich darüber. Aber es gibt natürlich auch Solo-Selbstständige, die diese Arbeitsform nicht aus Überzeugung und mit dem Ziel der Selbstverwirklichung wählen, sondern weil sie

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Kontext es müssen. Stichwort »digitale Tagelöhner«. Wenn Menschen darauf angewiesen sind, sich ihre Arbeitsaufträge auf Onlineplattformen abzuholen und das komplette Risiko der Arbeit allein tragen, ohne Versicherungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, dann zeigt das, dass diese Entwicklung durchaus ambivalent ist. Sie bietet neue Möglichkeiten, aber fördert auch fragwürdige Geschäftsmodelle wie beispielsweise Uber. TJ: Die Nomaden, die wir im Film vorstellen, haben für sich eine Nische gefunden, sie sind Vorreiter und leben heute meist davon, anderen Kurse zu geben, wie sie so werden können wie sie selber. Es können nur leider nicht 500.000 Leute DigitaleNomaden-Kurse anbieten. Die nicht etablierten Nomaden haben es schwerer und müssen neue Produkte entwickeln. Einige sind, was die Konzeption ihrer Geschäftsmodelle angeht, vielleicht zu naiv.

Filmstills »Deine Arbeit, Dein Leben!« © Luzia Schmid

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LS: Wir haben für unseren Film viele Einsendungen von Solo-Selbstständigen bekommen. Da gab es sehr glückliche und weniger glückliche Beispiele. Aber insgesamt wurde sehr deutlich, wie stark sich die Arbeitsformen gewandelt haben. Das wird auch in meiner Branche, den Medien, besonders deutlich, in der die Digitalisierung schon sehr weit fortgeschritten ist. Als das anfing, mit der Selbstständigkeit, war es cool. Man konnte sich verwirklichen, der Spirit war: »Wir sind schneller und kreativer als die Schnarchnasen aus den öffentlich-rechtlichen Anstalten und den großen Werbeagenturen.« Da wurden neue Arbeitsformen entwickelt. Mittlerweile sehnen sich viele nach einer Festanstellung. Die Anstalten und großen Werbeagenturen haben viel outgesourct und arbeiten mit freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, deren Arbeitsbedingungen sie dennoch weitgehend bestimmen. Die Freiheit der selbstständigen Medienarbeit hat eine Kehrseite: Wenn ich meine Projekte nicht von Bali aus mache, sondern von Castrop-Rauxel, und zwar unfreiwillig, weil das von mir gefordert wird, oder wenn ich meine Artikel von zu Hause schreibe und ein paar Cent pro Zeile bekomme, bin ich zwar frei, aber allein, unterbezahlt und meistens eher schlecht als recht sozial abgesichert. Eine schöne Arbeitswelt sieht anders aus.


Kontext Die Diskussion um die Risiken insbesondere der Solo-Selbstständigkeit nimmt auch im Dialogprozess Arbeiten 4.0 breiten Raum ein: Was ist im Alter? Bei Krankheit, wenn man einmal nicht mehr kann? Wenn die Geschäftsidee oder das Produkt keinen Erfolg hat? Im Film geben die meisten digitalen Nomadinnen und Nomaden an, sich im Notfall an ihre Eltern zu wenden. Diese Möglichkeit haben die meisten Menschen nicht. Braucht es ein Angebot seitens des Staates? Das wäre dann natürlich auch mit Pflichten verbunden …? TJ: Ich bin kein Rentenexperte. Ich bin freiberuflicher IT-ler, weil ich als Freiberufler in meiner Branche deutlich mehr verdiene als als Angestellter. Das heißt für mich, dass ich unternehmerisch handeln muss. Ich muss mich um diese Fragen kümmern. Ich finde das Rentensystem hochgradig ineffizient. Ich möchte daran nicht teilnehmen müssen. Aber wenn es ein freiwilliges Angebot gäbe, würde ich mich dadurch nicht eingeengt fühlen. So ein Angebot wäre gut für Leute, die unter der Solo-Selbstständigkeit leiden, die sich diesen Weg nicht ausgesucht haben, sondern da reingedrängt wurden. Da wäre es gut, wenn es die Sicherheiten gäbe, die Angestellte auch haben. LS: Ich finde den Gedanken einer Art von Versorgungswerk sehr interessant. Ich habe ihn das erste Mal von Frau Nahles während einer Diskussion der Futurale in Dortmund gehört. Ich bin ins Grübeln gekommen: Wie viele der Solo-Selbstständigen betreffen denn die schlechten Bedingungen? Und warum können sie sich nicht gewerkschaftlich organisieren? Ich möchte in einer Solidargemeinschaft leben. Wenn die Arbeitsverhältnisse in der Solo-Selbstständigkeit zunehmend prekär werden und Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt werden, ist das eine Aufgabe des Staates, sich darum zu kümmern. Ich möchte nicht zurück in steinzeitliche Verhältnisse, wo jeder selber schuld ist, wenn er es nicht gepackt hat. In so einer Welt möchte ich nicht leben. Frau Schmid, eine Studie zu den Wertewelten der erwerbstätigen Menschen in Deutschland kommt zu sieben idealtypischen, sehr unterschiedlichen Haltungen gegenüber Arbeit. Sind Ihnen diese sehr unterschiedlichen Ein-

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Filmstills »Digitale Nomaden« © Tim Jonischkat

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Kontext stellungen bei der Arbeit an Ihrem Film »Deine Arbeit, Dein Leben!« begegnet? LS: Es war mein Ziel, mit dem Film die ganze Bandbreite von Arbeit zu zeigen: Da ist die Elefantenpflegerin, die in ganz Deutschland genau die eine Stelle gefunden hat, die wie für sie gemacht ist. Die war extrem happy. Dann gab es aber auch die Frau, die anonym bleiben musste. Sie selbst sagt, sie hat als gelernte Innenausstatterin den schönsten Beruf der Welt. Aber als Alleinerziehende kann sie mit den schwankenden Einnahmen als Selbstständige in dieser Branche nicht mehr planen. Nun arbeitet sie in einem Onlineversandhandel und ist unglücklich. Was macht Menschen in ihrer Arbeit glücklich? LS: Ich glaube, Arbeit wird zu einem Glückserlebnis, wenn Menschen etwas gefunden haben, was ihren Fähigkeiten entspricht. Wenn sie gut sind in dem, was sie machen. Völlig unabhängig von der Branche. Ihr Film gibt Einblicke in ganz verschiedene Arbeitswelten. Wie nehmen die Menschen in Ihrem Film die Digitalisierung wahr? Als Kontrollinstrument, als Erleichterung des Arbeitsalltags oder als Belastung? LS: Nehmen wir den Lastwagenfahrer, der sich erst in einen Computer einloggen muss, bevor er seinen Truck starten kann. Das Gerät zeichnet alles auf, Geschwindigkeit, Strecke, Pausen, die totale

Kontrolle. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er die Belastung spürt: Autofahren ist seine große Leidenschaft, da hat er diesen Kontrollaspekt einfach hingenommen. Oder der Roboter-Doktor, ein Mechaniker, der Roboter repariert und wartet. Der Beruf ist seine Passion, er ist wahnsinnig stolz auf seine »Babys« und was die alles können. Aber zum Schluss sagt er den Satz: »Aber wir sind der Chef.« Ich habe das als ein großes »noch« interpretiert. Er möchte, dass das so bleibt. Und ich habe mich gefragt: Was macht der Mann, wenn es künstliche Intelligenz gibt und der Roboter plötzlich smarter ist als er? Ihr Film gewährt teilweise recht intime Einblicke in die Gefühlswelt seiner Protagonistinnen und Protagonisten. Sie haben ihn aus Filmsequenzen komponiert, die Menschen Ihnen zugeschickt haben. Was hat diese Menschen bewogen, Ihnen Filme aus ihrem Arbeitsalltag zu schicken? LS: Ein Bedürfnis, gesehen zu werden, wenn man sonst allein vor sich hinarbeitet. Interessant ist aber auch, wie viel wir nicht zeigen durften. Viele Unternehmen erlauben es heute nicht mehr, dass man bei ihnen filmt. Daher haben wir überproportional viele Einsendungen von Solo-Selbstständigen bekommen, wo es noch keine eigenen Marketingabteilungen gibt, die das verbieten. Ihre Filme laufen während der Futurale deutschlandweit in 25 Städten in den Kinos. Sie

DIE FUTURALE – EIN FILMFESTIVAL ZUR ZUKUNFT DER ARBEIT Mit Dokumentarfilmen rund um das Thema Arbeiten 4.0 tourt die Futurale noch bis Herbst 2016 durch Deutschland. Die Filme zeigen neue Beschäftigungsformen und innovative Lebensentwürfe (»Digitale Nomaden«, »Please subscribe«).Sie geben Einblicke in die Welt der Start-ups (»Silicon Wadi«, »Print the legend«). Sie zeigen den Arbeitsalltag in all seinen Facetten (»Deine Arbeit, dein Leben!«), beleuchten die Auswirkungen der Digitalisierung auf traditionelle Berufe (»Ik ben Alice«) und begleiten Unternehmen, die sich auf neue Wege begeben (»Mein wunderbarer Arbeitsplatz«). Nähere Informationen zu Filmen und Spielorten unter www.futurale-filmfestival.de.

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Kontext sind Grundlage für die Publikumsdiskussionen im Anschluss an die Vorführungen. Haben Sie eine Vorstellung, wie Ihre Filme auf das Publikum wirken sollen, welche Impulse die Filme geben sollen? LS: »Deine Arbeit, Dein Leben!« ist eine Reflexion über Arbeit aus der Perspektive der Menschen, die arbeiten. Ich hoffe, dass die Leute nach dem Film anfangen darüber zu reflektieren, was ihnen Arbeit bedeutet, welchen Stellenwert Arbeit für sie hat und was sie an ihrer Arbeit schätzen. TJ: Ich war bei vielen Diskussionen im Anschluss an meinen Film dabei. Eigentlich teilt sich das Publikum immer in zwei Hälften. Die einen regen sich über das auf, was sie gerade gesehen haben. Da ist meist viel Neid dabei. Die andere Hälfte möchte morgen in den Flieger steigen und einen Reiseblog aufmachen. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es noch die Familienväter. Die finden das super und würden es auch gerne machen, sagen aber, das geht doch gar nicht, spätestens mit Familie ist Schluss mit diesem Lebensstil. Klingt plausibel. TJ: Na ja, bei Schaustellern etwa wurde schon immer gereist, auch mit Kindern. Auf dem Weg nach München zur Futurale habe ich einen Menschen getroffen, der die Lehrerfortbildung für Schaustellerkinder organisiert. Der hat mir erklärt, wie das funktioniert mit Schaustellerkindern. Ja, man kann Kinder abmelden und dann reisen. Allerdings, wenn man es übertreibt, kann es schon mal sein, dass das Schulamt sich meldet. Es gibt mittlerweile auch spezielle Onlinebildungsangebote. Das Interessante ist die unterschiedliche gesellschaftliche Akzeptanz. Es ist anscheinend akzeptiert bei Leuten, bei denen es so sein muss. Nehmen Sie Diplomatenkinder. Die sind fünf Jahre in Japan, danach zehn Jahre in den Staaten. Jeder findet super, dass die drei Sprachen sprechen und weltweit Freunde haben. Aber wenn jemand auf die Idee kommt, ich nehme jetzt meine Kinder und gehe los, dann sagt man, das ist ja unverantwortlich.

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Was müssen Politik und Gesellschaft aus Ihrer Sicht tun, um die Zukunft der Arbeit zu gestalten? TJ: Wenn wir von Digitalisierung reden, werden wir auf der Futurale auch immer mit dem Problem der prekären Beschäftigungsverhältnisse konfrontiert. Als Pragmatiker muss ich sagen, dass sich die Entwicklung nicht aufhalten lässt. Und wenn Leute die Pizza nur noch per App kommen lassen und sich auf der Straße nicht mehr gegenseitig angucken, dann müssen wir unsere Kinder darauf vorbereiten, dass sie in diesem System bestehen können. Als Informatiker sage ich, Leute, beißt ins Holz und tut euch Markov-Ketten an. Bitte was? TJ: Markov-Ketten sind ein Begriff aus der theoretischen Informatik. Sie fordern mehr digitale Kompetenzen? Aber geht es nicht auch um soziale und Medienkompetenzen? Und gibt es bei dieser Entwicklung nicht auch Gestaltungsmöglichkeiten? TJ: Ja, lasst uns eine Welt bauen, in der alles, was keiner machen möchte, automatisiert abläuft, und lasst uns die Leute, die dann trotzdem noch arbeiten, gut bezahlen, bitte. LS: Ich glaube auch, dass man vor der Entwicklung keine Angst haben sollte. Als Gesellschaft sollten wir versuchen, die positiven Entwicklungen, die errungen wurden, wie etwa gewerkschaftliche Mitbestimmung oder Solidarität, in die neue Arbeitswelt mitzunehmen. Frau Schmid, Herr Jonischkat, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führten Hannes Schwarz, Tim Stoltenberg und Heike Zirden.

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Kontext

DIE KRAFT DES SONNTAGS WIEDERENTDECKEN Karl Kardinal Lehmann

Von Zeit zu Zeit gibt es eine ganz besonders auffallende Koalition, wenn nämlich Gewerkschaften und Kirchen Seite an Seite um den Erhalt von Fest- und Feiertagen kämpfen. Dabei sind die Interessen zunächst gewiss unterschiedlich, treffen sich jedoch am Ende im Widerstand gegen eine bis ins Privatleben reichende ökonomische Vereinnahmung des Menschen. In seiner kulturgeschichtlichen Herleitung beleuchtet der Autor den genuinen Sinn des Sonntags. Richtig verstanden und nicht zum »Wochenende« degradiert, vermag er die Gesellschaft zu stärken.

1 FRÜHE GESCHICHTE DES SABBATS/ SONNTAGS Zunächst fällt in der Kulturgeschichte der Arbeit eine immer wiederkehrende Unterbrechung auf, die den Menschen für kurze Zeit vom Arbeiten befreit. Bei allen inhaltlichen und narrativen Unterschieden ist ein Muster erkennbar: ein Zeitraum zwischen sechs und zehn Tagen, eine »Woche«, bis der Einschnitt dieses besonderen Tages der Ruhe eintritt. Revolutionen, die den Sonntag zeitlich und vor allem thematisch ganz anders bestimmen wollten, sind bald gescheitert.1 Die Frage erhebt sich, was wohl in der vielfältigen Erfahrung der Menschheit für einen solchen – meist arbeitsfreien – Tag spricht. Seine einzigartige und von allen anderen Tagen der Woche unterschiedene Bedeutung in der europäischen Kulturgeschichte erlangte der 1

Sonntag in der Verbindung mit dem jüdischen Sabbat und in der christlichen Überlieferung durch die Auferstehung Jesu Christi (Mt 28; Mk 16; Lk 24; Joh 20). Dies trug dem Sonntag sehr früh den Ehrentitel »Tag des Herrn« (Offb 1,10) ein und führte auch sehr früh dazu, dass die Gemeinde am Sonntag Gottesdienst feierte. Von der Schöpfung und ihrem Abschluss im Sabbat ergab sich die Aufforderung an den Menschen, den Sabbat als Ruhetag Gottes dadurch zu heiligen, dass die Menschen ihn ebenfalls als Ruhetag begehen. So heißt es bereits in den Zehn Geboten: »Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in

Vgl. z. B. für die Französische Revolution Maier (1991: S. 100–107; 1999; 2015).

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Kontext sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tage ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbat gesegnet und ihn für heilig erklärt.« (Ex 20,8-11). Eine modifizierte Begründung blickt auch auf den Auszug aus Ägypten zurück. Alle Lebewesen sollen ruhen können. »Achte auf den Sabbat: halte ihn heilig … Denk daran: als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm dort herausgeführt. Darum hat es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht, den Sabbat zu halten.« (Dtn 5, 12.15) Hier klingt eine stärkere soziale Dimension des Sabbat-Gebotes an. Jesus erklärte, er sei nicht gekommen, die Weisungen Gottes oder die Prophetenworte aufzulösen, sondern zu erfüllen (Mt 5,17). Es kam aber dennoch zu heftigen Konflikten mit den Schriftgelehrten (z. B. Mk 2,23–28: »Ährenraufen am Sabbat«), die Jesus mit dem berühmten Wort entscheidet, das für die Geschichte des Sabbats so wichtig wurde: »Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat. Deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.« (Mk 2,28). Die Heilighaltung des Sabbats wurde damit ausdrücklich in den Dienst des Menschen gestellt. Die ersten Christen stammten aus dem Judentum und begingen deshalb zunächst den Sabbat. Als das Christentum sich in alle Welt ausbreitete, wurde der auf den Sabbat folgende Tag, der Sonntag, zum wichtigsten Tag der christlichen Woche. Im zweiten Jahrhundert finden sich eindeutige Belege für einen christlichen Sonntagsgottesdienst. Seitdem gibt es auch zwischen Sabbat und Sonntag ein abwechslungsreiches Wechselspiel: Beide gehören eng zusammen, beide unterscheiden sich tiefgründig. Es ist bis heute nicht leicht, zu einer Einigung zu kommen.2 Unser Wort Sonntag hat eine sehr verwickelte Beziehung zur Verehrung eines Sonnengottes. Jedenfalls ist unsere Sprache von einer möglichen Anlehnung des Herrentages an den Sonnenkult mitgeprägt. Die Sonne hat etwas zu tun mit dem Licht des ersten Schöpfungstages, das Gott schafft (vgl. Gen 1,3). Es gibt ohnehin den engen Zusammenhang von Schöpfung und Sabbat/Sonntag. Das 2

Licht deutet auch auf den Glanz, der in der Auferstehung aufgeht. Jesus ist das »Licht der Welt« (Joh 8,12; 9,5; 12,46). Immer wieder musste das Missverständnis abgewehrt werden, die Christen würden die Sonne anbeten. Hier mag eine gute Gelegenheit sein, um auf die Beachtung des »Freitags« im Islam wenigstens kurz zurückzukommen. Die Wahl des Freitags erfolgte in deutlicher Absetzung von den wöchentlichen Feiertagen der Juden und der Christen. Der Islam betont bis heute den wesentlichen Unterschied zum Sabbat und zum Sonntag. Er kennt auch nicht zwingend am Freitag eine verordnete Arbeitsruhe, obgleich sie durch den westlichen Einfluss vielfach beachtet wird. Der Freitagsgottesdienst ist wesentlich durch die Predigt gekennzeichnet, die immer schon politische Akzente trug. So heißt es über den Freitag im Koran: »Ihr Gläubigen! Wenn am Freitag (wörtlich: am Tag der Versammlung) zum Gebet gerufen wird, dann wendet euch mit Eifer dem Gedenken Gottes zu und lasst das Kaufgeschäft (solange ruhen)! Das ist besser für euch, wenn (anders) ihr (richtig zu Gott) wisst. Doch wenn das Gebet zu Ende ist, dann geht eurer Wege und strebt danach, dass Gott euch Gunst erweist (indem ihr eurem Erwerb nachgeht)! Und gedenket Gottes ohne Unterlass! Vielleicht wird es euch wohlergehen.« (Sure 62, 9-10, Übersetzung von Rudi Paret) Ein formelles Gebot, den Freitag durch Ruhe zu heiligen (wie es beim Sabbat und beim Sonntag der Fall ist), kennt der Islam nicht, doch wird in vielen islamischen Ländern am Freitag nicht gearbeitet, Schulen und Geschäfte sind geschlossen.

2 ARBEITSRUHE UND GOTTESDIENSTBESUCH Man darf jedoch nicht dem Missverständnis erliegen, der Sonntag sei von Anfang an mit einer allgemeinen Arbeitsruhe verbunden gewesen. Erst Kaiser Konstantin I. erklärte im Jahr 321 den Sonntag zum allgemeinen Ruhetag aller Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner, an dem keine Arbeit (außer auf dem Feld) und kein Rechtsgeschäft (mit Ausnahme der Sklavenfreilassung) erfolgen durfte. Später wurden auch Gerichtsverhandlungen, Zirkusspiele, Theateraufführungen,

Vgl. umfassend Ebner u. a. (2003); Rüpke (2006); Rordorf (1972). In aller Kürze: Markschies (1997: S. 47–50).

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Kontext Tänze und Pferderennen verboten. Erst zu diesem Zeitpunkt rückten der Sonntag und der Sabbat durch die gemeinsame Bezeichnung einer Unterbrechung der Arbeit und das Arbeitsverbot nahe zusammen. So wurden auch die Inhalte des Sabbatverständnisses auf den Sonntag übertragen. Für die Christen war und blieb der Sonntag jedoch zuallererst durch die Feier des Gottesdienstes, das »Herrenmahl«, gekennzeichnet. Darum gehörten auch der »Herrentag« und das »Herrenmahl« (1 Kor 11,20) eng zusammen. So verbanden sich auch die Einhaltung der Arbeitsruhe und der Gottesdienstbesuch am Sonntag eng. Daraus entstand dann das Sonntagsgebot (vgl. Bärenz 1982). Die Reformation stärkte den Sonntag als Tag des Gottesdienstbesuchs und der Beschäftigung mit dem Wort Gottes. Luther wollte freilich keine Verschärfung gesetzlicher Vorschriften. Andere Reformatoren, wie Martin Bucer, verlangten in Anlehnung an die alttestamentlichen Sabbatgebote strenge Gesetze zur Wahrung der Arbeitsruhe, wie diese im Calvinismus, im Puritanismus und in der Entwicklung des Sonntagsverständnisses in England in der frühen Neuzeit, tatsächlich näher ausgeformt wurden. Das Bürgertum entfaltete vor allem im 19. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland eine eigene Sonntagskultur. Zu ihr gehörten eine besondere Betonung der Familiengemeinschaft sowie neben dem Kirchgang das Sonntagsessen, der Sonntagsspaziergang, aber auch der »Sonntags-Staat«, d. h. die feierliche Kleidung. Der Sonntag wurde der zur Idylle gesteigerte Inbegriff eines Familien- und Ruhetages. Sehr anschaulich zeigen dies beispielsweise die Bilder von Carl Spitzweg. In Spannung und Gegensatz dazu stehen die Veränderungen durch die von der Industrialisierung infrage gestellte Arbeitsruhe. Wir sehen jetzt einerseits das ökonomische Interesse der Unternehmer, die eine optimale Ausnutzung der Maschinen anstrebten, und andererseits eine zunehmende Ausdehnung der Sonntagsarbeit, die durch die wirtschaftliche Not der Arbeiter geradezu erzwungen wurde. Vor allem im Frühkapitalismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine durch keinen Ruhetag unterbrochene tägliche

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Karl Kardinal Lehmann Bischof von Mainz em. (1983– 2016), Dr. phil., Dr. theol. Dr. h. c. mult., Honorarprofessor der Universitäten Freiburg und Mainz, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (1987–2008).

Arbeitszeit verlangt. Diese Situation bewirkte die »Verelendung« ganzer Bevölkerungsteile in Form gravierender gesundheitlicher und sozialer Schäden. Im Zusammenhang der »sozialen« Frage wurde die Sonntagsfrage drängend, und die Sicht auf den Sonntag veränderte sich. Seine religiöse Bedeutung trat stark zurück, während die sozialen Funktionen größeres Interesse gewannen. Arbeitszeiten von bis zu 16 oder gar 18 Stunden an sechs oder sieben Wochentagen waren schließlich nicht selten. 1839 führte Preußen ein Verbot von Kinderarbeit am Sonntag ein (es betraf Kinder unter neun, später unter zwölf Jahren). 1887 stellten deutsche Umfragen fest, dass sonntags im Durchschnitt knapp 60 Prozent der Betriebe aus allen Wirtschaftszweigen (Großindustrie, Handwerk, Handel und Verkehr) ganz oder halbtags arbeiten ließen und dabei rund 42 Prozent der Beschäftigten eingesetzt wurden. Man muss sich dies vergegenwärtigen, um zu ermessen, was teilweise im 19. und umfassender noch im 20. Jahrhundert zum Schutz des Sonntags erreicht wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden staatliche Gesetze zum Schutz des Sonn-

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Kontext tags eingeführt, zum Beispiel in Preußen 1869, in der Schweiz 1877 und in Österreich 1885. In Deutschland wurden später der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage »der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung« geschützt (vgl. Art. 139 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG). Es ist aufschlussreich, dass die Verfassung hier ausnahmsweise den Zweck benennt, zu dem die Garantien bestehen. Hier geht es vor allem um Verfassungserwartungen. Die Verfassung macht sehr bewusst, dass es an den Bürgerinnen und Bürgern liegt, diese Garantien zu erfüllen. Der Staat kann von sich aus »seelische Erhebung« nicht bieten. Er kann mit seinen Machtmitteln nur die äußeren Rahmenbedingungen für die »Arbeitsruhe« gewähren.3 Die Heilighaltung des Sonntags liegt in den Händen der Bürgerinnen und Bürger.

3

BLEIBENDE GEFÄHRDUNG

Seit 1960 hat sich unter internationalem wirtschaftlichem Druck und wegen des sich weiter verändernden Freizeitverhaltens die Lage erneut verändert. Einer wachsenden Zahl von Industriezweigen wird kontinuierliche Sonntagsarbeit zugestanden. Sie nimmt vor allem im Dienstleistungsbereich rapide zu. In diesem Sinne wurde 1994 ein neues Arbeitszeitgesetz verabschiedet, das frühere Verordnungen von 1895 und 1938 aufhebt und nun in Generalklauseln die erlaubten und verbotenen industriellen und gewerblichen Tätigkeiten erfasst. Die zumeist von den Regierungspräsidenten erlaubten Ausnahmefälle werden kaum veröffentlicht. In den neueren Gesetzen sind in Deutschland mehrmals auch wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit und Beschäftigungssicherung als Kriterien aufgenommen. 1996 wurde das deutsche Ladenschlussgesetz stark liberalisiert. Der gesellschaftliche Konsens sowie die Rechtsprechung werden in diesen und in anderen Bereichen die Sonntags- und Feiertagsruhe schwächen. Gewerkschaften und Kirchen kämpfen in seltener Eintracht für den Erhalt des Sonntags und – freilich in unterschiedlicher Sicht des Samstags – des Wochenendes. Das heutige Freizeitangebot und der Tourismus haben eine weitere wichtige Veränderung bewirkt. Die Sonn- und Festtage drohen zum bloßen Wochenausklang im Sinne einer religiös, 3 4

kulturell und anthropologisch gänzlich unbestimmten Frist zu werden. So entleert, werden sie zum Anlass für neue Zwänge, von denen der Mensch nach der genuinen Auffassung des Sonntags an diesem Tag gerade befreit werden sollte. Sonntagsbräuche, festliche Kleidung und Sonntagsessen sind zum Teil aufgegeben worden. Die Sinngebung des Sonntags ist so in hohem Maß Privatsache geworden, freilich in einem von willkürlichen Normen umstellten Sinn. Manche sind dadurch überfordert und leiden unter einem dem Stress in der Arbeit vergleichbaren »Freizeitstress«, an »Wochenenddepression« und »Sonntagsneurose«. Ihre Fähigkeit zu Muße, Fest und Feier ist verkümmert. Das Wochenende wird von den Vorgaben der Vergnügungs- und Unterhaltungsindustrie, des Sport- und Freizeitbetriebs beherrscht. Diese können gewiss vielen zur Erholung, Unterhaltung und Entspannung verhelfen, weit weniger zur Sinngebung des Sonntags und des Lebens überhaupt. In diesem Zusammenhang ist ohne Zweifel auch der drastische Rückgang des Besuchs des Sonntagsgottesdienstes zu sehen, der nach verlässlichen religionssoziologischen Untersuchungen in vieler Hinsicht ein Gradmesser der Beteiligung am Leben der Kirchen ist. Hier wird deutlich, dass die religiöse, die kulturelle und anthropologische sowie die soziale Bedeutung des Sonntags eng verschränkt sind. Die gemeinsam verbrachte und geteilte Zeit stützt und erhält das Leben in größeren und kleineren Gemeinschaften. Der Lebenszusammenhang vor allem in überschaubaren Gemeinschaften wird dagegen gefährdet, wenn die notwendige Unterbrechung an unterschiedlichen Tagen stattfindet, sodass die Flexibilisierung der Arbeitszeit, die am Anfang meist nur in ihren Vorteilen gesehen wird, offenkundiger wird in den Folgen.

4 KORREKTIVES UND HEILSAMES POTENZIAL Der Sonntag hat auch die Aufgabe des Schutzes vor einer weitgehenden oder totalen Ökonomisierung des Menschen. In einer stark von Leistung geprägten Gesellschaft schafft gerade der Sonntag, wenn er richtig begangen wird, Abstand zu dem sich immer mehr beschleunigenden Wandel sowie dem Anpassungsdruck des Erwerbslebens. 4 Denn

Vgl. dazu Marré/Stüting (1990), darin bes. die Beiträge von Jörg Splett, Armin Pahlke und Reinhard Richardi mit wichtigen Dokumenten im Anhang. Auf die Debatte um die »Beschleunigung« der neueren Geschichte und die Notwendigkeit einer »Entschleunigung« kann ich hier nur hinweisen. Vgl. bspw. neben Koselleck (2003) Rosa (2005); zur theologischen Diskussion: Themenheft »Freizeit und Muße« der Theologisch-Praktischen Quartalschrift 163 (2015), Heft 3, darin auch Hartmut Rosa, »Über das rätselhafte Verschwinden der Muße«, S. 227–233.

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Kontext die Woche öffnet sich am Sonntag auf das Lebensganze hin, auf die Frage nach dem Woher und Wohin sowie dem Sinn des Lebens überhaupt. So ist der Sonntag eine Form, »Zustimmung zur Welt« (Josef Pieper) und zum Leben im Ganzen zu geben, sich des Lebenssinns zu vergewissern und sich für Transzendenz und Gott zu öffnen. Insofern ist die Feier des Sonntags ein Erfordernis der Menschenwürde, eine Auflehnung gegen die Vermarktung des Menschen und gegen seine Versklavung durch die Arbeitswelt. Als ein Tag der Gemeinschaft, der Kultur und der Pflege gesellschaftlicher Intimräume (Ehe und Familie, Freundschaften usw.) wirkt er Vereinsamung und Anonymität in der heutigen Gesellschaft entgegen. So ist er auch der Tag der Gottesverehrung, ja, die religiöse Herkunft und Struktur stützen und sichern den Sonntag in seiner wesentlichen Bedeutung. Ist der Sonntag ohne eine solche Verwurzelung in der Transzendenz zu retten? Ich lasse die Antwort offen. Diese wesentliche Bedeutung für die Gesellschaft kann der Sonntag allerdings nur dann gewinnen, wenn er grundsätzlich von allen gemeinsam gehalten wird. Selbstverständlich gibt es Arbeiten, die auch am Sonntag geleistet werden müssen. Sie sollten jedoch im Interesse aller auf jene Aufgaben beschränkt werden, die für das Gemeinwohl unbedingt erforderlich sind. Die Sorge um den Sonntag muss darum auch von den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, Kultur und Sport mitgetragen werden. Der Sonntag – übrigens ebenso wie der Sabbat – war freilich in seiner Geschichte immer wieder von einer schleichenden Erosion durch verschiedene Interessen gefährdet. Dabei gab es auch grundlegende Missverständnisse. Ein besonders bedauerlicher Bruch mit der Tradition war allerdings die Empfehlung der Internationalen Organisation für Standardisierung (ISO), einer Unterorganisation der UNO, ab 1.1.1970 den Sonntag als letzten Tag der Woche zu betrachten. Die Regelung wurde ab 1975 bindend auch in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt, wie man leicht an Fahrplänen aller Art ablesen kann. Im Neuen Testament ist der Sonntag der »erste Tag der Woche« (Mt 28,1). Vielleicht wird jetzt auch vor dem Hintergrund des biblischen Gebots die nicht nur religiöse, sondern auch anthropologische Bedeutung 5

des Schutzes des Sonntags erkennbar. Die Unterbrechung eines ständigen Arbeitsprozesses dient dazu, den Menschen den Zwängen eines Arbeitseinsatzes zu entreißen, der die körperlichen Kräfte bedenkenlos ausnützt, mitverantwortlich ist für gesundheitliche Schäden, Menschen geistig und psychisch in hohem Maße okkupiert und verantwortlich ist für die sozialen Folgen und Schäden. Der Sonntag als Pause und Unterbrechung des ständigen Arbeitszwangs ist schon menschlich eine Befreiung von den unvermeidlichen Nötigungen eines dauernden Einsatzes. Die Erholung, der Abstand vom Alltäglichen an den Sonntagen, den Fest- und Feiertagen erlauben eine solche Distanznahme: »Die Anspannung fällt ab. Die Stimmung hellt sich auf. Freude, Leichtigkeit, eine getragene oder eine ausgelassene Stimmung. Hier wird ein kleiner Erfolg, ein Abschied oder ein Wiedersehen gefeiert. Dort ein Namenstag, ein Jubiläum, ein Geburtstag. Feiern kann man sehr vieles. Manche Feiern versammeln eine Nation, andere Gläubige einer bestimmten Religion. – Wo Menschen leben, feiern sie. Sie feiern gemeinsam, mit anderen. Denn ganz alleine, nur für sich, kann man nicht feiern. Und wer feiert, tut nicht einfach nur etwas Besonderes. Er tut, was er im Alltag auch tut, in besonderer Weise. Das Alltägliche – Essen, Trinken, Sich-freuen, Miteinandersprechen, Singen – geschieht dann in einer festlichen oder feierlichen Form … Wer feiert, schöpft nicht einfach nur Kraft für den Alltag. Nicht der Sonntag dient dem Wochentag, sondern umgekehrt. Im Feiern zeigt sich jener Sinn, der auch das alltägliche Leben durchwaltet. Denn wer feiert, schaut zurück, erinnert sich und dankt für das, was war und was ist. – Die Feiernden schauen aber nach vorne und hoffen, dass es gut weitergeht. Zustimmung zum Leben, Freude im Leben auch dort, wo es schwer fällt, das ist der innere Sinn des Feierns. Wer feiert, sagt ›Ja‹. Eine gelungene Feier lässt die Zeit vergessen. Eine solche Feier ist nicht einfach Bild für gelungenes Menschsein, für Glück. In ihr glückt Menschsein. – Und doch verweist jede Feier auf mehr, auf ein anderes Glück. Denn jedes Fest kommt einmal zu einem Ende. Die Sehnsucht nach einem dauernden Glück, einem Feiern ohne Alltag bleibt. Daher ist das Feiern (nicht nur die Feier des Gottesdienstes) immer auch ein Stachel, der uns unruhig zurücklässt – und uns immer wieder feiern lässt.«5

olger Zaborowski (2015: S. 21 f.; vgl. auch S. 28 ff.; 38 ff.; 74 ff.; 96 ff.; 100; 101 f.; 142 ff.); Pieper (2007). Aus jüdischer Sicht immer noch eindrucksvoll H Heschel (1990); Haug/Warning (1989: S. 649–695).

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Kontext In diesem Sinne verbirgt der zunächst religiös motivierte Sonntag eine anthropologische Grundaussage und eine elementare Bedingung für geglücktes Menschsein. Darum haben die Kirchen immer wieder den Sonntag in seiner Unentbehrlichkeit und Unersetzbarkeit für den Menschen verteidigt und geschützt.6 Es gibt dafür stets neue Anlässe. Diese Herausforderungen müssen im

Horizont der Wandlungen unserer hochtechnisierten Arbeitswelt, aber auch der Mahnungen einer großen Tradition der Sonn- und Feiertage nicht nur in der Religions-, sondern auch in der Kulturgeschichte vor allem Europas bestanden werden. Resignation und Gleichgültigkeit sind nicht erlaubt.7

Hier können nur grundlegende Äußerungen genannt werden, wie die des Zweiten Vatikanischen Konzils (Liturgiekonstitution, Art. 102, 106; Enzyklika von Papst Johannes Paul II.) »Dies Domini« vom 31. Mai 1998 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 133, Bonn 1998) und die Gemeinsamen Ökumenischen Worte der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz: »Den Sonntag feiern« (1984), »Der Sonntag muss geschützt bleiben (1985), »Unsere Verantwortung für den Sonntag« (1989), Das Sozialhirtenwort für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (1997) und »Menschen brauchen den Sonntag« (1999); vgl. hierzu auch Lehmann (2003). Eine wertvolle Hilfe ist Wagner (2015). Im Zusammenhang des Aufrufs zur ökologischen Bewahrung der Schöpfung und besonders des Menschen vgl. auch Papst Franziskus, Laudato sí. Über die Sorge für das gemeinsame Haus (2015), Nr. 68, 71, 237, 243. 7 Dazu umfassend Osten (2004). 6

LITERATUR Bärenz, Reinhold (1982): Das Sonntagsgebot, München. Ebner, Martin/Fischer, Irmgard/Frey, Jörg/ Fuchs, Ottmar/Hamm, Bernd (Hrsg) (2003): Jahrbuch für biblische Theologie 18: Das Fest: Jenseits des Alltags, Neukirchen. Haug, Walter/Warning, Rainer (Hrsg.) (1989): Das Fest = Poetik und Hermeneutik XIV, München. Heschel, Abraham J. (1990): Der Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, Neukirchen. Koselleck, Reinhart (2003): Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. Lehmann, Karl (2003): Der Sonntag als gemeinsames Erbe und ökumenische Verpflichtung. Historisch-systematische und praktisch-pastorale Streiflichter, in: Walter, Peter/ Krämer, Klaus/Augustin, George (Hrsg.): Kirche in ökumenischer Perspektive. Kardinal Walter Kasper zum 70. Geburtstag, Freiburg/Br. 2003, S. 441–452. Maier, Hans (1991): Die kirchliche Zeitrechnung, Freiburg/Br. Ders. (1999): Welt ohne Christentum – was wäre anders?, Freiburg/Br. Ders. (2015): Über Rituale und Feste in einer nachreligiösen Gesellschaft, in: Beckmann-Zöller, Beate/Kaufmann, René (Hrsg.): Heimat und Fremde. Präsenz im Entzug (= Festschrift für Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz), Dresden, S. 243–252.

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Markschies, Christoph (1997): Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums, Frankfurt/M. Marré, Heiner/Stüting, Johannes (Hrsg.) (1990): Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche »Der Schutz der Sonn- und Feiertage«, Bd. 24, Münster. Osten, Manfred (2004): Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur, Frankfurt/M. Pieper, Josef (2007): Muße und Kult, Neuausgabe, München (zur Einführung Karl Lehmann, S. 13–42). Rordorf, Willy (1972): Sabbat und Sonntag in der Alten Kirche (= Traditio Christiana II), Zürich. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt/M. Rüpke, Jörg (2006): Zeit und Fest. Eine Kulturgeschichte des Kalenders, München. Wagner, Joachim (Hrsg.) (2015): Den Sonntag wiederentdecken. Eine ökumenische Herausforderung, Erlangen. Zaborowski, Holger (2015): Andächtig leben. Denkanstöße für den Alltag, Freiburg/Br.


6 ÜBERBLICK

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PAUSE

Frühstückspause in der Lkw-Werkstatt in einem städtischen Betrieb

Ein fotografischer Essay von Frank Schinski »Ein Projekt zum Thema Pause, und das in einer Gesellschaft, deren Arbeitsalltag immer mehr von Effizienz und Beschleunigung bestimmt wird? Ich war sofort begeistert, als mich eine Wochenzeitung vor einigen Jahren fragte, ob ich mir vorstellen könnte, Menschen während ihrer Pausen zu fotografieren. Mittlerweile führe ich die Serie locker fort.«

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Susanne und Hans Oberhauser aus Großgundertshausen, Hopfenbauer in dritter Generation, Bayern, Juli 2007, Deutschland

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Commerzbank, 35. Stock. V. l. n. r.: Bettina Storck, Sebastian Will und Ali Bicak während einer Kaffepause im 35. Stock des Commerzbanktowers in Frankfurt/M.

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Trockenbauer während der Frühstückspause, 10 Uhr, Juli 2011, Deutschland

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Dr. Stefan Franzke während eines Geschäftsessens mit Dr. Jin In Lee

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Seenotretter auf der Hermann Marwede, Station Helgoland, Juli 2007, Deutschland

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Prof. Dr. Frank Hildebrand, Oberarzt der Unfallchirurgischen Klinik der MHH in Hannover, Juli 2011, Deutschland

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Mitarbeiter der Firma Wilkhahn macht jeden Mittag genau elf Minuten Mittagsschlaf

Über den Fotografen Frank Schinski gehört zum Berliner Fotografenkollektiv »OSTKREUZ«. Er ist regelmäßig in Ausstellungen zu sehen und arbeitet für internationale Magazine und Wirtschaftsunternehmen. Er lebt und arbeitet in Hannover.

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ÜBER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN Thorben Albrecht ist beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Er ist dort zuständig für die Abteilungen für Grundsatzfragen, Arbeitsmarktpolitik, Personal, Haushalt und Organisation, für die Unterabteilung Europäische Union, europäische Beschäftigungs- und Sozialpolitik sowie für die Gruppe Europäische Fonds. Dr. Andreas Ammermüller arbeitet im Grundsatzreferat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zuvor forschte er am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zur Bildungsund Arbeitsmarktpolitik und promovierte an der Universität Maastricht. Michael Arnold ist Consultant bei DIW Econ, dem Beratungsunternehmen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Prof. Dr. Gerhard Bosch ist Seniorprofessor am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Seine international vergleichenden Forschungsthemen sind: Arbeitsmarkt, Arbeitszeit, Mindestlohn, industrielle Beziehungen, berufliche Bildung, soziale Ungleichheit und Wohlfahrtsstaat. Er hat die Bundesregierung, die Europäische Kommission, die ILO und die OECD u. a. in mehreren hochrangigen Kommissionen beraten. Er ist Mitglied des Beraterkreises »Arbeit 4.0« des Bundesarbeitsministeriums. Lena Hipp, Ph. D. ist Leiterin der Arbeitsgruppe »Arbeit und Fürsorge« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Sie wurde 2011 an der Cornell University (USA) promoviert. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Schnittstelle von Arbeitsmarkt, Familie und Sozialpolitik. Dr. Josephine Hofmann leitet seit zehn Jahren das Competence Center Business Performance Management und ist gleichzeitig stellvertretende Leiterin des Geschäftsfeldes Unternehmensentwicklung und Arbeitsgestaltung des Fraunhofer IAO. Ihre Schwerpunkte liegen u. a. auf den Themen »Arbeit 4.0« und »Flexible Arbeitskonzepte«. Seit vielen Jahren ist Frau Hofmann zudem als Dozentin und Lehrbeauftragte an der Universität Konstanz, der Hochschule der Medien in Konstanz sowie der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Ludwigsburg tätig.

Nina Hoppmann studierte Transnational Studies in London und arbeitet seit 2015 in der Kommunikationsagentur neues handeln. Zuvor hat sie im Goethe-Institut New York und im EU-Parlament Erfahrungen in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit gesammelt. Andreas Horst Diplomphysiker, arbeitet seit 1991 im BMAS und ist Referatsleiter »Grundsatzfragen des Arbeitsschutzes und Fachaufsicht über die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin«. Zu den Grundsatzfragen gehört auch die Umsetzung und Verbreitung von BGF und BGM. Leitung des aktuellen GDA-Arbeitsprogramms »Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung«. Dr. Marc Oliver Huber ist Referent im Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Grundsatzreferat für Sozial- und Gesellschaftspolitik. Er koordiniert für das BMAS die Aktivitäten der IT-Gipfel-Plattform »Digitale Arbeitswelt« und ihrer Arbeitsgruppen. Dr. Christina Klenner ist Referatsleiterin für Genderforschung und Gleichstellung im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Frauenerwerbstätigkeit, Arbeitszeiten und Gleichstellung von Frauen und Männern. Dr. Hannes Koppel ist promovierter Volkswirt und beschäftigt sich als Projektleiter bei der nextpractice GmbH mit Unternehmens- und Gesellschaftskulturanalysen. Zuvor arbeitete und forschte er am Max-Planck-Institut für Ökonomik in Jena sowie am Alfred-Weber-Institut für Wirtschaftswissenschaften der Universität Heidelberg im Bereich der Verhaltensökonomik und Finanzwissenschaften. Dr. Oliver Lauenstein ist Sozialpsychologe und hat in Politischer Psychologie promoviert. Er arbeitet als Referent in der Grundsatzabteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und befasst sich dort im Schwerpunkt mit Fragen der Gleichstellung, Vereinbarkeit und Arbeitszeit.

Karl Kardinal Lehmann Bischof von Mainz em. (1983–2016), Dr. phil., Dr. theol. Dr. h. c. mult., Honorarprofessor der Universitäten Freiburg und Mainz, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (1987–2008). Dr. Anselm Mattes ist Senior Consultant bei DIW Econ. Dr. Jana May-Schmidt ist Diplompsychologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und Referentin im BMAS-Referat »Grundsatzfragen des Arbeitsschutzes«. Schwerpunkte: psychische Belastungen, BGM und BGF, Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie. Benjamin Mikfeld ist Sozialwissenschaftler und Leiter der Abteilung »Grundsatzfragen des Sozialstaates, der Arbeitswelt und der sozialen Marktwirtschaft« im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Friederike Molitor ist Forschungsassistentin in der Arbeitsgruppe »Arbeit und Fürsorge« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Ihr Masterstudium der Soziologie schloss sie an der Freien Universität Berlin ab. Dr. Max Neufeind arbeitet in der Grundsatzabteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Nach einem Studium der Psychologie, Soziologie und Politischen Ökonomie forschte er am Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften der ETH Zürich. Dem Projektteam »Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt« der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin gehören an: Dr. Beate Beermann Leiterin des Fachbereichs 1 »Grundsatzfragen und Programme« der BAuA Dr. Birgit Köper stellvertretende wissenschaftliche Leiterin des Fachbereichs 1 »Grundsatzfragen und Programme« der BAuA Dr. Lars Adolph wissenschaftlicher Leiter des Fachbereichs 2 »Produkte und Arbeitssysteme« der BAuA apl. Prof. Dr. Martin Schütte wissenschaftlicher Leiter des Fachbereichs 3 »Arbeit und Gesundheit« der BAuA Dr. Armin Windel Direktor für Forschung und Entwicklung der BAuA


Sven Rahner arbeitet im Referat »Zukunftsgerechte Gestaltung der Arbeitswelt und Arbeitskräftesicherung« im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Er beschäftigt sich mit Grundsatzfragen der Zukunft der Arbeitswelt, insbesondere mit Fragen der Weiterbildung und Qualifizierung sowie der Fachkräftesicherung. Zuvor war er als Fachreferent für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im Deutschen Bundestag tätig. Sandra Reuse arbeitet im Referat »Arbeitspolitik und industrielle Beziehungen« im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Ihr besonderes Interesse gilt den Zusammenhängen technischen und gesellschaftlichen Wandels. Sie ist gelernte Computer- und Wissenschaftsjournalistin. Prof. Dr. Jutta Rump ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Internationales Personalmanagement und Organisationsentwicklung an der Hochschule Ludwigshafen. Daneben leitet sie das Institut für Beschäftigung und Employability, das den Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit auf personalwirtschaftliche, arbeitsmarktpolitische und beschäftigungsrelevante Fragestellungen legt. Annette Schicke ist Referentin in der Grundsatzabteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und beschäftigt sich dort u. a. mit Fragen der Arbeitszeitpolitik und flexiblen Arbeitszeitgestaltung. Sie hat Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Neuere Geschichte und Geografie studiert. Frank Schomburg ist Mitbegründer und Gesellschafter der nextpractice GmbH in Bremen. Nach dem Studium der Informatik war er in verschiedenen Industrieunternehmen als Projektleiter für produktionstechnische EDV-Systeme tätig. Heute beschäftigt er sich als Berater mit Analysen im Bereich der Markt-, Trend- und Gesellschaftsforschung, Großgruppenmoderationen, der Gestaltung von kulturellen Entwicklungsprozessen und der methodengestützten Strategieberatung. Prof. Dr. Gesine Schwan ist Politikwissenschaftlerin und Präsidentin der gemeinnützigen HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform. Von 1999 bis 2008 war sie Präsidentin der Europa-Universität Viadrina. 2004 und 2009 kandidierte sie für das Amt der Bundespräsidentin.

Hannes Schwarz ist Politikwissenschaftler und Leiter des »Leitungs- und Kommunikationsstabs« im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Julia Sprügel arbeitet bei der Kommunikationsagentur neues handeln in den Bereichen Konzeption, Text und Redaktion. Zuvor war sie als freie Journalistin für den Kölner Stadt-Anzeiger und verschiedene andere Print- und Onlinemedien tätig. Tim Stoltenberg hat in Erfurt Staatswissenschaften studiert und an der Viadrina einen Master of European Studies erworben. Er arbeitet als Referent im Referat »Öffentlichkeitsarbeit und Internet« im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Prof. Dr. Gert G. Wagner ist Vorstandsmitglied des DIW Berlin und Fellow am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er ist Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung und Mitglied im Sachverständigenrat für Verbraucherfragen. Gabriele Weinhold leitet das Referat »Finanzielle Grundsatzfragen der sozialen Marktwirtschaft, Steuern und Finanzen« im BMAS. Sie ist Juristin und hat einen Abschluss als Diplom-Verwaltungswirtin (FH) in der Fachrichtung Sozialversicherung. Berufliche Stationen vor dem BMAS waren u. a. die DRV-Bund, mehrere Finanzämter, die ZfA sowie das BMG. David Zapp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Beschäftigung und Employability der Hochschule Ludwigshafen. Zuvor war er im Workforce Management der Deutschen Börse AG in Frankfurt am Main beschäftigt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Trends der Arbeitswelt, Diversity Management sowie Fachkräftesicherung und Arbeitgeberattraktivität. Heike Zirden leitet das Grundsatzreferat für Gesellschaftsund Sozialpolitik im BMAS. Nach einem Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte arbeitete sie u. a. als Journalistin und konzipierte als Geschäftsbereichsleiterin der Aktion Mensch zahlreiche Kommunikations-, Aufklärungs-, Dialog-, Film- und Ausstellungsprojekte.



IMPRESSUM Herausgeber Bundesministerium für Arbeit und Soziales Abteilung Grundsatzfragen des Sozialstaats, der Arbeitswelt und der sozialen Marktwirtschaft Wilhelmstraße 49 10117 Berlin Internet: www.arbeitenviernull.de E-Mail: gsarbeitenviernull@bmas.bund.de Stand:

August 2016

Redaktion Andreas Ammermüller, Khaled Bouraki, Silvia Hennig, Sebastian Jarzebski, Paulo Kalkhake, Benjamin Mikfeld, Max Neufeind, Sandra Rauschenbach, Sven Rahner, Michael Schulze, Julia Sprügel, Heike Zirden.

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Mitarbeit an dieser Ausgabe (Text) Thorben Albrecht, Andreas Ammermüller, Michael Arnold, Andrea Augsten, Verena Bentele, Gerhard Bosch, Christoph Bornschein, Elke Eller, Monika Frech, Dieter Frey, Thomas Fischer, Sandra Güth, Lena Hipp, Josephine Hofmann, Nina Hoppmann, Andreas Horst, Marc Oliver Huber, Birgit Isenmann, Christina Klenner, Markus Köhler, Hannes Koppel, Oliver Lauenstein, Karl Kardinal Lehmann, Anselm Mattes, Jana May-Schmidt, Benjamin Mikfeld, Friederike Molitor, Max Neufeind, Sandra Ohly, Arndt Pechstein, Frank Piller, Julia ­Primavera, Sven Rahner, Sandra Reuse, Jutta Rump, Annette Schicke, Frank Schomburg, Hannes Schwarz, Julia Sprügel, Tim Stoltenberg, Gerd G. Wagner, Gabriele Weinhold, David Zapp, Heike Zirden. Mitarbeit an dieser Ausgabe (Bild) Jorg Hackemann/Shutterstock (Foto S. 206 u. l.), Helgi/photocase.de (Foto S. 206 o. l.), iStock.com/hanohiki (Foto S. 206 o. r.), Tim Jonischkat (Filmstills S. 203), Andreas Lukoschek (Fotos S. 166, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181), plainpicture/hartono (Foto S. 206 u. r.), Frank Schinski/OSTKREUZ (Fotos S. 4, 5, 6, 7, 8, 9,10, 11, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221), Luzia Schmid (Filmstills S. 202), Malwine Schomburg (Fotos S. 128, 131, 133, 135, 137, 139, 141), Barbara Stauss (Bildredaktion), Anja Stiehler (Illustrationen S. 38, 39, 98, 100, 102, 149, 153, 200, 201, 209), Fotos S. 183: Die Bildrechte liegen bei den porträtierten Autoren. Illustrationen »Wie entsteht das Neue?«: David Arts/ Shutterstock (Illustrationen S. 187, 188, 190, 191, 192, 193), Chief Crow Daria/Shutterstock (Illustrationen S. 185, 192), dapoomll/Shutterstock (Illustrationen S. 185), echo3005/Shutterstock (Illustrationen S. 183, 187, 188, 189, 190, 191, 194), hchjjl/Shutterstock (Illustration S. 182), MagicDogWorkshop/Shutterstock (Illustration S. 183), Orfeev/Shutterstock (Illustrationen S. 183, 184, 186, 188, 189, 190, 192), schab/Shutterstock (Illustration S. 186), Marina Sun/Shutterstock (Illustrationen S. 182), Martina Vaculikova/Shutterstock (Illustrationen S. 182) Wissenschaftliches Lektorat Annette Wunschel Korrektorat Ute Wendt Design BUTTERBERLIN, BUTTER. GmbH

Produktion (Koordination, Gestaltung, Satz) neues handeln GmbH Druck Bonifatius GmbH

Gedruckt auf säure-, holz- und chlorfreiem Papier, FSC-zertifiziert Wenn Sie aus dieser Publikation zitieren wollen, dann bitte mit genauer Angabe des Herausgebers, des Titels und des Stands der Veröffentlichung. Bitte senden Sie zusätzlich ein Belegexemplar an den Herausgeber. Diese Publikation wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales kostenlos herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlbewerbern oder Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Europa-, Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Unabhängig davon, wann, auf welchem Weg und in welcher Anzahl diese Publikation dem Empfänger zugegangen ist, darf sie auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme der ­Bundesregierung zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Außerdem ist diese kostenlose Publikation – gleichgültig wann, auf welchem Weg und in welcher Anzahl sie dem Empfänger zugegangen ist – nicht zum Weiterverkauf bestimmt.







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