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Schön und weit Was das einsame Wandern mit einem macht
Schön
Text — LENZ KOPPELSTÄTTER Fotos — DIETMAR DENGER
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Der Dolorama-Weg führt von der Rodenecker und Lüsner Alm an den schönsten Gipfeln der Dolomiten vorbei bis nach Lajen. Vier Tage unterwegs, hoch oben über der Zivilisation: Was das mit einem macht
und

weit
„Es gibt Gedanken fürs Freie und Gedanken fürs Haus. Meine Gedanken sollen wie die wilden Äpfel eine Kost sein für Wanderer.“
Diese Worte des ehemaligen Bleistiftfabrikanten und späteren Schriftstellers und Naturphilosophen Henry David Thoreau, der im 19. Jahrhundert lebte, begleiten mich im Kopf, während ich höher steige. Es ist früh am Morgen, hellblauer Himmel, milchig-blasses Weiß am Horizont, erste zarte Sonnenstrahlen, die das Dolomitengestein der fernen Gipfel erleuchten, aber noch zu schwach sind, den Tau auf den saftigen Wiesen zu trocknen. Kühe stehen in Gruppen, gemächlich kauend, beieinander. Sie blicken scheinbar unbeeindruckt auf die Schönheit, die sie umgibt. Alpendohlen krächzen, die Glocken der Kühe bimmeln. Mehr Idylle geht nicht.
Ich bin unterwegs auf dem Weitwanderweg „Dolorama“, mitten in Südtirol. Er führt von der Rodenecker und Lüsner Alm an den schönsten Gipfeln der Dolomiten vorbei bis nach Lajen. Weitwandern: vier Tage. Ganze 61 Kilometer. Hoch oben über der Zivilisation. Was macht das mit einem, was macht das mit mir? Warum sucht der Mensch das? Was mache ich hier?
Stille. Kein Zivilisationsrauschen. Nur der Sound der Natur. Es ist, als hörte ich in mich hinein. Einatmen, ausatmen, Schweiß, das Knirschen der Steine unter den Sohlen der Bergschuhe. Als ich losging, hatte mich der Alltagswahnsinn noch fest in seinen Fängen. Der Kopf: voll mit Gedanken. Die Termine von gestern, jene von nächster Woche, die letzte leidige Arbeitsdiskussion, die hohe Stromrechnung, die beunruhigenden Zeitungsschlagzeilen. Schritt für Schritt drängt das anstrengende Bergaufgehen den Alltag hinweg. Die Schönheit der Natur, die mich umgibt, lässt das Leben da unten nach zwei, drei Stunden völlig verschwinden. Das geht ganz plötzlich – auf einmal: alles weg. Und ebenso plötzlich da: ein ungeahntes Glücksgefühl. Es packt einen richtig! Die Beine, die gerade eben noch so schwer waren, die Waden, die geschmerzt haben, alles ist jetzt ganz leicht, alles ist so, als ob man fliegen könnte, über den Kiesweg hinweg, zwischen den Bäumen hindurch. Die Sinne: ganz da. Die Almwiesen, das staubige Gestein. Wie ein Teil von mir. Ich schmecke, rieche, höre sie intensiv.

Vier Tage. 61 Kilometer. Was macht das mit einem? Warum sucht der Mensch das?
Über die Täler hinweg reicht der Blick bis zu den Dolomiten.
Der Weg ist gut ausgeschildert. Almhütten und Bänke laden zur Rast ein.

Nach dem Aufstieg geht es jetzt eben den Bergrücken entlang, bald fast wie in Trance. Aha, das ist es also, von dem die Weitwanderer reden, schwärmen. Meine Gedanken drehen sich nur noch um Großes und Ganzes. Um Schönes. Alles wirkt klar. Alles wird gut. Ist gut.
Wie kleine, dunkle Farbtupfer auf einem Naturaquarell tauchen immer wieder Almhütten im saftigen Grün auf, ich kehre ein, irgendwo, „ratsche“ ein bisschen – wie wir Südtiroler sagen, wenn wir Smalltalk betreiben – mit der Hüttenwirtin. Viel wird aber nicht geredet hier oben. Viel muss nicht geredet werden, da wo es schön ist. Ein Blick reicht, ein Nicken, ein Brummen. Ein Lächeln. Weiter geht’s. Die blühenden Almlandschaften verschwinden hinter mir, vor mir ragen nun, scheinbar zum Greifen nah, die schroffen Dolomitenfelsen auf, die bleichen Berge, wie sie seit jeher genannt werden, diese beindruckenden, bizarren Gesteinsformationen. Das Dolomiten UNESCO Welterbe. Man kann den Blick fast nicht mehr abwenden. Es bewegt einen.
Klein fühlt man sich plötzlich, hier, inmitten der Berge – und doch so stark. So lebendig. So, das ist es also, das Leben, das, was das Leben wirklich ausmacht. Man fühlt sich beinahe unwichtig – und das fühlt sich gut an. Manchmal blitzen sie wieder auf, die Alltagsprobleme. Wenn das Handy bei der Rast aus dem Rucksack fällt. Drei Anrufe in Abwesenheit, zwei WhatsApp-Nachrichten: Handy aus. Und ganz unten hinein in den Rucksack, unter die Windjacke. Weiterwandern. Alles, was gestern noch, vor Stunden noch, ein großes Pro-

Welterbe
Das UNESCO Welterbe gilt als „Nobelpreis für Naturgüter“. Einzigartigkeit, Außergewöhnlichkeit und universelle Bedeutung sind Voraussetzung.
blem war, ist jetzt nichts. Das Leben ordnet sich klar im Kopf. Man freut sich auf den nächsten Schritt, den Abend, die Knödel auf einer der Hütten, das Bett, das Frösteln, die warme Decke, den tiefen, erschöpften Schlaf, die Bergkälte am nächsten Morgen, die ersten Schritte, die klare Luft, das Aufgehen der Sonne. Man freut sich sogar darauf – noch nicht so bald, aber doch irgendwann – anzukommen, wieder hinunterzugehen, zurückzukehren in die Zivilisation. In den Alltag, den man nach so einer Tour, zumindest für ein paar Tage, mit einem Lächeln erträgt. Die Termine, die Arbeitsdiskussionen, die Stromrechnung, die Zeitungsschlagzeilen: alles nicht so schlimm, solange die Erinnerung an die Berge, das Glück, das alles, noch in einem lodert. Weil man ja da oben war, weit weg, der Natur ganz nah. Weil einem das Kraft gegeben hat, neue Lebenslust und Energie. Weil es das braucht, das In-der-NaturSein. Weil dieses Bedürfnis tief in uns drinsteckt. Oftmals ohne es zu wissen.
Ich stehe da, mit Blick auf den mächtigen Peitlerkofel und auf die Spitzen der Geisler, nehme den Rucksack von den Schultern. Packe einen Apfel aus. Ich bin kein großer Apfelesser: Unten im Tal esse ich kaum einmal einen. Jetzt habe ich nichts anderes mehr dabei. Ich beiße hinein, schmecke das saftige Fruchtfleisch, voller zufriedener Erschöpfung. Und ich habe das Gefühl, den besten Apfel meines Lebens zu essen. Ein Satz von Henry David Thoreau, dem klugen amerikanischen Wanderphilosophen, geht mir nicht aus dem Kopf. „Ich will ein Wort für die Natur einlegen, für vollkommene Freiheit und Wildheit im Gegensatz zu bloß bürgerlicher Freiheit und zu Kultur; ich will den Menschen als Bewohner oder Stück und Teil der Natur betrachten.“ Recht hat er.
Weitere Infos zum Dolorama-Weg inkl. Übernachtungsmöglichkeiten:
www.suedtirol.info/ dolorama
Ersehntes Etappenziel: die Schlüterhütte unterhalb des Peitlerkofels mit Blick auf die Geislergruppe.


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Auf einen Blick: der Dolorama-Weg
In vier Tagesetappen führt der Dolorama-Weg auf unschwierigen Forst- und Wanderwegen von der Rodenecker und Lüsner Alm über den Maurerberg und das Würzjoch, vorbei am Peitlerkofel und an den Aferer und Villnösser Geislern bis ins Dorf Lajen oberhalb von Klausen. Anstelle einer Viertagestour lassen sich auch nur die einzelnen Teilabschnitte begehen; die Zu- und Abstiege sind ebenso wie Start- und Zielpunkt auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Einkehren kann man in zahlreichen Hütten entlang des Weges, für Übernachtungen empfiehlt sich das Reservieren im Voraus.
www.suedtirol.info/dolorama

Länge: 61 Kilometer Gesamtgehzeit: rund 20 Stunden Startpunkt: Parkplatz Zumis, Rodeneck Zielpunkt: Lajen Dorf Aufstieg: 2 356 Höhenmeter Abstieg: 3 004 Höhenmeter Schwierigkeit: •••
Die Wegabschnitte
1. Etappe:
Parkplatz Zumis auf der Rodenecker und Lüsner Alm bis Maurerberghütte (6–7 Stunden Gehzeit)
2. Etappe:
Maurerberghütte bis Schlüterhütte (rund 5 Stunden)
3. Etappe:
Schlüterhütte bis Schutzhütte Raschötz (rund 5 Stunden)
4. Etappe:
Schutzhütte Raschötz bis Lajen (rund 3 Stunden)