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Weil Arbeit integriert
WEIL ARBEIT INTEGRIERT
Fehlende Facharbeiter hinterlassen eine klaffende Lücke in der verbliebenen europäischen Textilproduktion. Dass irgendwann wieder inländische Arbeiter an Nähmaschinen, Strickmaschinen und Produktionsbändern stehen, ist ein so unrealistisches Schäferidyll, dass nicht mal die dreistesten Rechten wagen, es zu zeichnen. Fakt ist: Diese Arbeitsplätze hat kein Ausländer einem Inländer weggenommen, sie werden von inländischen Arbeitskräften schlicht nicht mehr ergriffen – und dazu musste nicht erst eine Gen Z auf den Plan treten. Schon die erste Gastarbeiterwelle hat auf einem Bedarf basiert. Dass diese Generation an Facharbeitern jetzt ins Rentenalter kommt, stellt Textilbetriebe in Europa erneut vor eine große Herausforderung. Weil Willkommenskultur zum Schimpfwort geworden ist, kämpfen Unternehmen besonders hart darum, ihre wichtigen Facharbeiter zu bekommen und zu halten. Dass Arbeit der beste Weg der Integration ist, mögen zwar alle Statistiken beweisen – politisches Anliegen scheint aber derzeit weder die Unterstützung der Betriebe noch die dauerhafte Eingliederung ausländischer Fachkräfte. Hut ab vor jenen, die es dennoch tun.
RITA IN PALMA „DAS MUSS EINFACH KLAPPEN“
Ann-Kathrin Carstensen leistet mit ihrem Schmucklabel Rita in Palma und dem Verein Von Meisterhand e.V. Integrationsarbeit der besonderen Art: Im tiefsten Neukölln verwandelt sie mit ihrem Team feinste Knüpftechniken in Couture. Text: Martina Müllner-Seybold. Fotos: Rita in Palma
Rita in Palma ist nicht einfach nur das nächste Label von einer Jungdesignern. Sie haben für Ihr Engagement im Rahmen des Wettbewerbs Startsocial sogar den Sonderpreis für Integrationsarbeit der deutschen Bundeskanzlerin gewonnen. Wie kam es dazu?
Ich habe relativ rasch nach Abschluss meines Modedesignstudiums 2011 gewusst, dass ich mit Rita in Palma das Kunsthandwerk, das Teil der türkischen Kultur ist, sichtbar und wertvoll machen will. Bis ich mein erstes Team zusammen hatte, musste ich viel Überzeugungsarbeit leisten, mich tief auf die türkische Kultur einlassen und auch das meine beitragen – ich habe zum Beispiel einen Türkischkurs gemacht. Das war eine lehrreiche Zeit, ich musste mich erst mal selbst integrieren.
Ein Start-up in der Mode und einen sozialen Verein gründen – das klingt nach viel Arbeit …
Das ist es, bis heute, denn über viele Jahre habe ich das als One-Woman-Show geschultert, ehe ich Unterstützung von

einer privaten Spenderin in Form einer Teilzeitkraft bekommen habe. Weil ich manchmal einfach zu lange auf der Ausländerbehörde gesessen habe, hab ich wohl auch das eine oder andere Collier weniger verkauft. Es ist ein ständiges Abwägen und meine To-do-Liste ist unendlich. Aber das muss einfach klappen, schon allein wegen meiner Frauen. Deutschland hat sich nie für diese Frauen interessiert, die mit den Gastarbeitern mitkamen, sie haben Kinder großgezogen, die meistens hervorragend integriert sind und tolle Berufe haben – aber genau diese Mütter verlieren jetzt, wenn die Kinder aus dem Haus sind, das Bleiberecht. Der Gesetzgeber sagt, natürlich sehr verknappt: Wenn du Sozialleistungen beziehst, am Arbeitsmarkt als unvermittelbar giltst und kein Deutsch sprichst, musst du gehen.
Doch die Arbeit bei Rita in Palma und Von Meisterhand e.V. ist so viel mehr als nur ein Rettungsanker für diese Frauen.
Ja, sie kommen hierher, sie tauschen sich aus, sie lernen dabei Deutsch und es ist ganz klassisches Empowerment. Meine türkischen Häkelköniginnen, wie ich sie nenne, bilden mittlerweile im Verein auch Frauen aus anderen Herkunftsländern aus, derzeit aus Syrien, dem Libanon, Pakistan und dem Kosovo. Die Arbeit gibt ihnen und ihrem Handwerk Würde und Wert. Das ist mir ein besonderes Anliegen, denn häufig haben die weiblichen Kulturtechniken ja keinen monetären Wert. Schuster, Taschner, die klassischen Männerberufe, diese Leistungen finden monetäre Anerkennung, aber dass eine kunstvolle Häkelspitze oder unsere mit Perlen gehäkelten Ac
Statt Aussteuer Couture häkeln: Das Schmucklabel Rita in Palma und der Verein Von Meisterhand e.V. setzen das traditionelle Kunsthandwerk türkischer Frauen in einen modischen Kontext.

Eine Kämpferin: Ann-Kathrin Carstensen steckt unglaublich viel Energie in ihr Herzensprojekt und leistet damit wichtige Integrationsarbeit.
cessoires einen ebensolchen Wert haben, muss erst verankert werden. Ein Collier, das in 40 Stunden Handarbeit hergestellt wurde, darf auch teuer sein!
Mittlerweile lehren die Frauen, die von Anfang an dabei sind, auch anderen Frauen das Kunsthandwerk.
Ein Meilenstein, den unser Verein geschafft hat. Ich habe tatsächlich das Ziel, hier in Neukölln eine Couture-Werkstatt von Weltruhm aufzubauen, die für große Modehäuser arbeitet. Denn diese Frauen sind begnadet begabt, das ist ein einzigartiger Schatz. Der Verein und das Label beschäftigen heute 13 Frauen, wir achten sehr darauf, dass die Arbeit hier zu den Lebensverhältnissen der Frauen passt. Wenn eine Frau noch sechs Kinder zu versorgen hat, schafft sie eben nur fünf Colliers im Monat. Das wichtigste ist, dass die Frauen für ihre Arbeit respektiert werden – von uns, von ihren Familien, vom Staat und von unseren Kunden. www.ritainpalma.com
VAUDE „WIR BRAUCHEN EIN EINWANDERUNGSGESETZ, DAS DEN TATSÄCHLICHEN BEDARF BERÜCKSICHTIGT“
Der Outdooranbieter Vaude setzt weltweit ökologische und soziale Standards. Am Firmensitz im süddeutschen Tettnang beschäftigt das Familienunternehmen rund 500 Mitarbeiter. Für Geschäftsführerin Antje von Dewitz haben umweltfreundliche Produkte aus fairer Herstellung genauso hohen Stellenwert wie das Wohl der Mitarbeiter. Seit 2016 hat Vaude elf Festanstellungen, einen Ausbildungsplatz und zahlreiche Praktika an Geflüchtete Menschen vergeben und setzt sich konsequent politisch für ein Bleiberecht von Geflüchteten in Arbeit und Ausbildung ein. Text: Kay Alexander Plonka. Foto: Vaude
Als Mitglied der Initiative der deutschen Wirtschaft „Wir-zusammen“ und dem Netzwerk „Unternehmen integrieren Flüchtlinge“ haben Sie sich mit 120 anderen Unternehmen vernetzt. Außerdem haben Sie die Unternehmerinitiative „Bleiberecht durch Arbeit“ zusammen mit der Brauerei Härle gegründet, der sich inzwischen über 150 Unternehmen aus ganz Deutschland angeschlossen haben. Wie lauten ihre Forderungen für ein neues Einwanderungsgesetz und für die Umsetzung des Eckpunktepapiers der Bundesregierung zur Schaffung eines Bleiberechts für integrierte und erwerbstätige Geflüchtete?
Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, das nicht nur für Fachkräfte nach Definition der deutschen dualen Ausbildungsberufe oder Universitätsabschlüsse, sondern auch die in der Wirtschaft tatsächlich benötigten Berufsbilder wie beispielsweise Arbeiter in Fertigungen, LKW-Fahrer, Staplerfahrer, Reinigungskräfte, Pflegekräfte etc. berücksichtigt, die in der Regel angelernt werden und keine qualifizierte Ausbildung haben oder benötigen.

Antje von Dewitz hat mit Vaude den LEA Mittelstandspreis 2017 für soziale Verantwortung vom Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg erhalten und wurde mit dem Demografie Exzellenz Award 2017 in der Kategorie „fremd & heimisch“ für das Engagement für geflüchtete Menschen ausgezeichnet.
Wir brauchen ein Bleiberecht für angelernte geflüchtete Arbeitskräfte, die mit hohem Aufwand bereits in den Arbeitsmarkt integriert wurden und einen wertvollen Beitrag im deutschen Mittelstand leisten, die es möglich machen, dass Produkte und Dienstleistungen in Deutschland hergestellt und erbracht werden. Der Gesetzesentwurf zur Beschäftigungsduldung reicht nicht aus, er berücksichtigt Menschen, die seit zwölf Monaten in einer Duldung sind. Viele geflüch-

„Unsere geflüchte- ten Mitarbeiter sind eine Bereicherung für das Unterneh- men“, sagt Antje von Dewitz.
tete Mitarbeiter, die 2015/16 nach Deutschland gekommen sind, befinden sich aber noch in der Gestattung oder erst seit kurzem in der Duldung.
Welchen wirtschaftlichen Schaden hätten Abschiebung der geflüchteten Mitarbeiter und wie groß ist der Bedarf an Arbeitskräften?
Wenn wir die Kollegen, die bei uns in der Manufaktur arbeiten, verlieren würden, rechnen wir mit einem Produktions- und Umsatzausfall von 250.000 Euro. Und wir sind bei weitem kein Einzelfall. Zahlreiche Unternehmen aus ganz
Deutschland berichten von den teilweise sogar existenziellen
Bedrohungen durch den Verlust von Mitarbeitenden.
Auch beim Bedarf an Arbeitskräften sind wir kein Einzelfall.
Unternehmen aller Größen und aus verschiedenen Branchen, wie u. a. Produktion, Logistik, Gastronomie, Pflege, können ihr bestehendes Geschäft heute schon kaum noch bedienen, da ihnen LKW-Fahrer, Staplerfahrer, Reinigungskräfte,
Arbeiter in Fertigungen, Pflegekräfte etc. fehlen. Für weiteres
Wachstum werden weitere Arbeitskräfte benötigt.
Als Beispiel die Region Bodensee/Oberschwaben, wo wir unseren Firmensitz haben: Über 60 Prozent der Unternehmen haben Probleme bei der Stellenbesetzung, denn mit 2,5
Prozent Arbeitslosenquote herrscht Vollbeschäftigung. Im
IHK Konjunkturbericht Herbst 2018 steht: „Gut jedes dritte
Wie schwer fällt es euch, geeignete Fachkräfte zu finden?
Vorarlberg ist eine Region mit langer Textilgeschichte, aber von den vielen Betrieben, die es hier einmal gab, sind wir unter den letzten Verbliebenen. Unseren Kunden ist das Made in Austria genauso wichtig wie uns, also werden wir daran festhalten, aber es wird zunehmend komplexer, Mitarbeiter, die in Pension gehen, zu ersetzen. Die Textilschule vor Ort hat die Ausbildung für die produzierenden Berufe eingestellt, es werden jetzt nur noch Ingenieure, Textilmanager sowie Vermarktung und Design unterrichtet. Weil es auch keine entsprechende Nachfrage mehr gab, die jungen Leute wollten diese Berufe offensichtlich nicht mehr ergreifen.
Helfen ausländische Arbeiter, diese Lücke zu füllen?
Ja, Vorarlberg hat schon von der ersten Gastarbeiterwelle in den 1970er-Jahren profitiert, denn diese handwerklichen Berufe brauchen extremes Geschick. Unsere Näherinnen sind mit herkömmlichen Näherinnen nicht zu vergleichen, denn Strick und Jersey zu nähen, ist viel komplizierter und braucht Fingerspitzengefühl. So haben zum Beispiel viele türkischstämmige Frauen tolle Arbeit bei uns geleistet, für diese Mitarbeiterinnen war es auch optimal, dass es meist Teilzeitstellen sind. Aber diese Generation erreicht jetzt das Pensionsalter.
Ihr beschäftigt jetzt auch Flüchtlinge …
Ja, wir haben zwei syrische und einen afghanischen Mitarbeiter im Betrieb. Das ist eine neue Erfahrung für uns, weil bisher vorwiegend Frauen diese Arbeit ausgeführt haben. Unternehmen hofft auf Fachkräfte aus dem Ausland, jedes fünfte bemüht sich um die Einstellung Geflüchteter. Gut jedes zehnte Unternehmen gibt allerdings auch an, dass wegen des Fachkräftemangels Tätigkeiten ins Ausland verlagert werden sollen oder die Produktion beziehungsweise der Service eingeschränkt oder zumindest nicht ausgeweitet werden.“
Sie sagen, die Wirtschaft kann langfristig enorm davon profitieren, wenn wir gemeinsam dazu beitragen, dass Geflüchtete eine Perspektive erhalten. Wie funktioniert Integration bei Vaude in der Praxis?
Integration in den Arbeitsmarkt ist kein Spaziergang. Sie ist mühsam, kostet viel Zeit, Engagement und häufig auch Nerven. Es gilt, mangelnde Deutschkenntnisse zu überwinden, bei der Suche nach einer Wohnung und beim Weg durch den Behördendschungel Hilfe zu leisten. Integration gelingt nur dann, wenn sich viele Menschen im Unternehmen mit großem Einsatz dafür engagieren. Aber es lohnt sich und bietet auch einen Mehrwert für alle Beteiligten. Das zeigt sich bei uns deutlich und darauf sind wir echt stolz. Unsere geflüchteten Mitarbeiter haben sich zu vollwertigen, hoch engagierten und motivierten Mitarbeitern und vor allem auch zu wertgeschätzten Kollegen entwickelt. Sie sind eine Bereicherung für das Unternehmen und bei uns nicht mehr wegzudenken.
PHIL PETTER „WIR GEHÖREN ZU DEN LETZTEN VERBLIEBENEN“
Das österreichische Stricklabel Phil Petter produziert in Dornbirn – was für Kunden ein schlagendes Argument ist, ist für Geschäftsführerin Anja Grabherr-Petter eine Herausforderung: Als einer der letzten verbliebenen Textilbetriebe fällt es zunehmend schwer, Facharbeiter zu finden. Text: Martina Müllner-Seybold. Foto: Phil Petter
www.unternehmer-initiative.com, www.vaude.com
Anja Grabherr-Petter bezeichnet die Per- sonalsuche als große Herausforderung.

Wir arbeiten intensiv mit der Caritas zusammen, die diese Menschen vermittelt und uns auch berät, was Aufenthaltsgenehmigung und Status der Flüchtlinge betrifft, das ist ja sehr komplex. Unser Personaler muss heute extrem fit in vielen verschiedenen Disziplinen sein.
Habt ihr Hoffnung, dass diese Arbeiter dauerhaft bei euch bleiben?
Sobald die Region, aus der unser afghanischer Mitarbeiter stammt, als sicher gilt, muss er wieder zurück – und ich gehe nicht davon aus, dass man das derzeit abwenden kann. www.philpetter.com
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MENSCHEN ENTWICKELN ENTWICKELN Ist jeder Mitarbeiter High Potential? Aus jedem Menschen das Beste herauskitzeln. Fordern und fördern, entwickeln und schulen. Und dann die Leine lang genug lassen, dass MENSCHEN Freiheit und Bindung in einem modernen Verhältnis stehen.