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Von der Ukraine nach Muhen –Freud und Leid nahe beieinander

Ein Erfahrungsbericht von Caterina Berner

Das informaktiv zeichnet ein authentisches Bild der Gemeinde Muhen. Hierzu zählen wir den zum Produktionszeitpunkt des Magazins weiterhin existenten Kriegszustand in der Ukraine –und die daraus entstehenden gesellschaftlichen Folgen, welche bis ins friedliche Muhen ragen. Dieser Beitrag soll denn auch einen Einblick in eine (andere) Lebensrealität ermöglichen.

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Vorneweg: Dieser Erfahrungsbericht entstand als Gastgeberin einer ukrainischen Familie. Er gibt meine persönlichen Eindrücke wieder. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Beitrags beherbergte ich die zweite Familie bei uns zu Hause.

Seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und den darauffolgenden Kämpfen im Osten des Landes herrschen bereits seit einigen Jahren instabile Verhältnisse in der Ukraine. Im Februar 2022 dann die endgültige Eskalation: In der Nacht des 24. Februars greifen Putins Truppen erste Gebiete und Städte in der Ukraine an. Das Resultat: Aus dem einstigen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wird ein Krieg mitten in Europa.

Fassungslos und schockiert sitzen wir vor dem Fernseher oder hören täglich im Radio mit. Die Bilder der überfüllten Auffangstationen stimmten uns nachdenklich. Als dann ein Aufruf von der Flüchtlingshilfe erfolgt, melden wir uns sofort. Zunächst hatten wir einen sehr aufwen - digen bürokratischen Aufwand zu bewältigen: Listen ausfüllen, Fotos der Unterkunft schicken und weitere Daten aufbereiten. Dann ging erst mal nichts mehr …

April, Ferienzeit. Vom 11. bis 18. wollten wir in die Ferien. Noch am Anreisetag kam das Telefon vom Staatssekretariat für Migration (SEM), respektive vom Bundesasylzentrum in Basel, dass wir umgehend eine vierköpfige Familie abholen sollen. Es folgten der sofortige Abbruch der Ferien und drei Stunden Fahrt nach Basel. Im Asylzentrum herrscht Chaos, niemand will so recht Bescheid wissen. Wir stehen am Schalter, niemand kommt. Nach einer Stunde erwische ich dann endlich jemanden und man händigt mir ein Formular aus, das ich unterschreiben muss. Dass da mein Namen falsch geschrieben steht, wird ignoriert. Als nächstes zeigt man mir nur schnell die Familie mit Hund und sagt gestresst in etwa: «Die mitnehmen und sofort fahren – wir schliessen in fünf Minuten».

Völlig überrumpelt fahren wir los. Die Familie spricht ausschliesslich Russisch und ich – naja – mit Händen und Füssen. Glücklicherweise stellt sich bald heraus, dass der Sohn ein paar Brocken Englisch kann. In Muhen angekommen, merken die Familienmitglieder, dass sie gar nicht mehr in Basel sind. Sie waren der Meinung, eine Unterkunft in der Stadt zu erhalten. An das Landleben gewöhnen sie sich dann auch die nächsten drei Monate nicht …

Doch vorerst Tag 2: Die Familie bringt den Wunsch an, umplatziert zu werden. Ich versuche erfolglos, jemanden unter der mir angegebenen Telefonnummer zu erreichen – vergebens, da nimmt keiner ab. Schliesslich entscheiden sie sich, zu bleiben. Der zur Verfügung gestellte Platz wurde geschätzt.

Die folgenden Tage sind wir am Springen: Anmelden bei der Gemeinde, beim Migrationsamt Aarau und bei der Schule. Erledigen diverser Pendenzen. Einkaufen von Kleidern, Lebensmitteln, Medikamenten und Vielem mehr. Organisieren, organisieren, organisieren.

An dieser Stelle sei der Gemeindeverwaltung in Muhen nochmals herzlich gedankt. Hier lief alles perfekt, zuvorkommend und vorbildlich. Die Kommunikation zwischen der Gastfamilie und unserer Familie gestaltet sich als schwierig. Wir installieren Übersetzungs-Apps, um die Verständigung zu verbessern, ja überhaupt zu ermöglichen.

Und so beherbergen wir nun die Eltern und ihre beiden Söhne, 11- und 16-jährig, aus der Mitte der Ukraine. Die ersten Tage sind einfach. Wir haben einen regen Austausch über die Unterschiede zwischen der Ukraine und der Schweiz, über den Krieg und die Sorgen um die Verwandten, die aber nicht nur in der Ukraine waren, sondern auch in Russland und Armenien. Die Telefone laufen den ganzen Tag heiss, man erkundigt sich wie es allen geht.

Zwei Monate später: Ernüchterung. Auf beiden Seiten. Obschon wir Vieles unternommen haben, um ein Zuhause zu bieten, in dem es an nichts fehlt, schafften wir es nicht. Von Missverständnissen aber auch von falschen Erwartungen geprägt, wird die gemeinsame Zeit allmählich strapaziert: Hier spielen Themen wie die Arbeitssuche ohne Deutschkenntnisse oder Geld- und Sachforderungen hinein.

Als die kostenlosen Zugfahrten enden, wird es für uns richtig schlimm. Ich muss der ukrainischen Familie erklären, dass ich die verlangten GA nicht bezahlen und auch kein Auto kaufen kann. Die Zugfahrten nutzen sie, um dreimal die Woche irgendwohin zu fahren, um kostenlose Lebensmittel zu holen. Die Adressen erhalten sie über ein Netzwerk. Von diesen «Einkäufen» habe ich jede Woche zwei bis drei Müllsäcke voll. Man mag das Essen nicht. Es an uns weiterzugeben, ist kein Thema und mir ist es peinlich zu fragen. Anfänglich kochen wir noch für alle zusammen. Schnell stellt sich jedoch heraus, dass die Geschmäcker unterschiedlich sind. Am liebsten keine Schweizer Küche (einzige Ausnahme ist Käsefondue) und nur gegrilltes Fleisch. Wir kaufen dann das ein, was sie mögen – und ich muss wirklich sagen, dass der aus Armenien stammende Artur tatsächlich wunderbare Grillspiesse zubereitet.

Zurück zum Geschehen. Armine verfällt in Depressionen. Da helfen auch unsere Ausflüge mit der Familie nicht mehr. Sie stellt bloss noch Forderungen, unter anderem eine (moderne) Vierzimmerwohnung. Geld ist jeden Tag das Thema. Fast mantramässig wird wiederholt, dass man nicht in die Schweiz gekommen wäre, wenn man gewusst hätte, wie schlecht man hier von den Behörden behandelt wird und wie wenig Geld man erhält. Es fallen Aussagen, dass die Schweiz korrupt sei und man dies nicht weiter akzeptieren werde. Bei allem Verständnis und hoher Empathie macht uns dies nachdenklich und traurig. Papa Artur und die zwei Söhne Eric und Edgar sind damit komplett überfordert. Engagement, Geduld, Toleranz – auch unsere Familie stösst oft an Grenzen. An Pfingsten ist dann plötzlich die ganze Familie weg. Die Schule fragt mich, wo der Sohn bleibt und ich erhalte dann von Armine den Bescheid, sie seien bei Verwandten in Deutschland. Sie sei da krank geworden und nun hätten sie kein Geld für die Heimreise. Dem Wunsch, die Familie mit dem Auto in Bonn abzuholen, können wir nicht nachkommen. Schliesslich reisen sie zwei Tage später mit dem Zug zurück nach Muhen.

Und die Behörden? Erst nach elf Wochen erhalten wir einen Übersetzer von Caritas. Alex, einen netten Ukrainer, der schon 18 Jahre glücklich in der Schweiz lebt. Er wundert sich, dass die Familie russisch statt ukrainisch redet. Er hört sich zwei Stunden lang alles geduldig an. Dann sagt er zu mir, er könne mir nicht alles übersetzen, aber er denke, dass er und ich das Problem nicht lösen können. Er hoffe, dass man in der Gemeinde eine Lösung finde.

Und da ist Muhen einfach wieder fantastisch. Es wird eine Fünfzimmerwohnung organisiert und von der Müheler Flüchtlingshilfe möbliert. Eine Gruppe mit unglaublichem Engagement. Das Migrationsamt organisiert den Umzug. Wir freuen uns für die Familie. Morgens um zehn Uhr bezieht sie die Wohnung – bereits am Nachmittag reisen sie zurück in die Ukraine. Wir sind sprachlos. Ehrlich? Ich denke mir, das mache ich nie wieder …

Es kommt anders: Eine Woche später erhalten wir eine Nachricht von Inna. Sie kommt aus Kiew und lebt mit ihrer 14-jährigen Tochter Veronika seit vier Monaten in Muhen. Jetzt sind ihr Mann Vadim und dessen Eltern Alexandra und Gregori aus Kiew angereist. Sie benötigen dringend einen Platz. Als wir hören, dass die Mutter jeden zweiten Tag Dialyse braucht und der Vater herzkrank ist, fassen wir uns nochmals ans Herz – und nehmen sie auf. Und jetzt?

Allerbeste Erfahrung! Auch mit den Behörden, dem Migrationsamt. Alles läuft gut. Am 24. August feiern wir über den Mittag im Kirchensaal den ukrainischen Nationalfeiertag – mit Borschtsch, Golubzi und Paskabrot mit Salz als Zeichen des herzlichen Willkommens. So schön!

Die Eltern können beide zum Arzt in Muhen. Wir haben es friedlich im Haus und sind glücklich, nun gute Erfahrungen machen zu dürfen. Wir kochen gegenseitig, aber nur ab und zu und alle geniessen ihren Freiraum.

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