SKIP

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Eine Collage

Entstanden im Rahmen des „Modellprojekts Theaterpädagogik“ In einer Stückfassung von Jennifer Fulton und Anna-Maria Schwindack


AN-GE-NOM-MEN SEIN AN-GE-NOM-MEN WERDEN AN-GE-NOM-MEN MAN WÜRDE

Ein Projekt, das vor über einem Jahr entstanden ist geht nun zu Ende. Es begann mit der Idee, gemeinsam mit Jugendlichen aus dem Kinderheim „Zur Tannenspitze“ in Friedrichsbrunn in Kooperation mit der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber in Halberstadt zum Thema „Heimat“ ein Stück zu erarbeiten. In der Anfangszeit des Projekts änderte sich die Situation aufgrund der politischen Ereignisse im Spätsommer des letzten Jahres grundlegend: Zu den deutschen Jugendlichen aus Friedrichsbrunn kamen fünf weitere junge Menschen aus Syrien in die Gruppe hinzu. Seit April wurde außerdem parallel mit einer zweiten Gruppe, sechs Jungen aus der Wohngruppe der Evangelischen Stiftung Neinstedt „Paca Domo“, angefangen zu proben. Beide Gruppen wurden dann im Endprobenprozess symbiotisch zusammengeführt.

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In dem Prozess der Stückentwicklung standen die Fragen danach, was Heimat eigentlich sei und auch, was deren unfreiwilliger Verlust bedeute, stark im Vordergrund. Schon aufgrund sprachlicher Barrieren war recht schnell klar, dass es ein Stück werden würde, das viel über Bildsprache arbeitet. Es wurde gefilmt, fotografiert und szenisch experimentiert. Als mit der Zeit die Hürde der Sprache kleiner wurde, entdeckten wir die Lyrik als geeignetes Mittel, um in prägnanter, extrem verdichteter Sprache Gefühlszustände und Atmosphären zu beschreiben. Sie zieht sich durch das gesamte Stück – die Texte Rainer Maria Rilkes waren dabei eine große Inspiration. „Gedanken über die Dauer des Exils“ von Bertolt Brecht und „Generation ohne Abschied“ von Wolfgang Borchert erinnern an eine andere Zeit und eine andere Generation – mit ihren Unterschieden, aber vor allem auch den Gemeinsamkeiten zu unserem Hier und Jetzt. Mit der assoziativen Verknüpfung der einzelnen Episoden der Inszenierung mit den vier Jahreszeiten – Sommer, Herbst, Winter, Frühling – fand die Musik des zeitgenössischen Komponisten Max Richter den Weg in unser Stück. Er arrangierte 2012 Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ neu und wurde zu unserem Soundtrack und musikalischen Leitfaden. Die intensive Arbeit aller Beteiligten an diesem Herzensprojekt ließ mit //SKIP eine außergewöhnliche Collage entstehen, die Zeugnis ablegt über einen besonderen Entstehungsprozess.

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WOLFGANG BORCHERT

GENERATION OHNE ABSCHIED


Wir sind die Generation ohne Bindung und ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist der Abgrund. Wir sind die Generation ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied. Unsere Sonne ist schmal, unsere Liebe grausam und unsere Jugend ist ohne Jugend. Und wir sind die Generation ohne Grenze, ohne Hemmung und Behütung - ausgestoßen aus dem Laufgitter des Kindseins in eine Welt, die die uns bereitet, die uns darum verachten. Aber sie gaben uns keinen Gott mit, der unser Herz hätte halten können, wenn die Winde dieser Welt es umwirbelten. So sind wir die Generation ohne Gott, denn wir sind die Generation ohne Bindung, ohne Vergangenheit, ohne Anerkennung. Und die Winde der Welt, die unsere Füße und unsere Herzen zu Umherwandelnden auf ihren heißbrennenden, mannshoch verschneiten Straßen gemacht haben, machten uns zu einer Generation ohne Abschied. Wir sind die Generation ohne Abschied. Wir können keinen Abschied leben, wir dürfen es nicht, denn unseren umherwandelnden Herzen geschehen auf den Irrfahrten unserer Füße unendliche Abschiede. […]

MUSIK MAX RICHTER: JOURNEY 3

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SUMMER 2


MONOLOG MUSIK MAX RICHTER: SUMMER 2 SZENE: SOMMER MEINES LEBENS MUSIK MAX RICHTER: H IN NEW ENGLAND INTERMEZZO MUSIK MAX RICHTER: THE TWINS (PRAGUE)

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RAINER MARIA RILKE

ICH BIN ZU HAUSE


Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum. Dort wo die Kinder schläfern, heiß vom Hetzen, dort wo die Alten sich zu Abend setzen, und Herde glühn und hellen ihren Raum. Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum. Dort wo die Abendglocken klar verlangen und Mädchen, vom Verhallenden befangen, sich müde stützen auf den Brunnensaum. Und eine Linde ist mein Lieblingsbaum; und alle Sommer, welche in ihr schweigen, rühren sich wieder in den tausend Zweigen und wachen wieder zwischen Tag und Traum.

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RAINER MARIA RILKE

DER SCHAUENDE


Ich sehe den Bäumen die Stürme an, die aus laugewordenen Tagen an meine ängstlichen Fenster schlagen, und höre die Fernen Dinge sagen, die ich nicht ohne Freund ertragen, nicht ohne Schwester lieben kann. Da geht der Sturm, ein Umgestalter, geht durch den Wald und durch die Zeit, und alles ist wie ohne Alter: die Landschaft, wie ein Vers im Psalter, ist Ernst und Wucht und Ewigkeit. Wie ist das klein, womit wir ringen, was mit uns ringt, wie ist das groß; ließen wir, ähnlicher den Dingen, uns so vom großen Sturm bezwingen, wir würden weit und namenlos. […]

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AUTUMN 2


MONOLOG MUSIK MAX RICHTER: AUTUMN 2 SZENE: FLUCHT OHNE ZUFLUCHT MUSIK MAX RICHTER: INFRA 2, JOURNEY 2, JOURNEY 5 INTERMEZZO MUSIK MAX RICHTER: JOURNEY 2

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RAINER MARIA RILKE

ABSCHIED


Wie hab ich das gefühlt was Abschied heißt. Wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnes grausames Etwas, das ein Schönverbundnes noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt. [...] Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen, ein leise Weiterwinkendes – , schon kaum erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum, von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.

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WINTER 2


MONOLOG MUSIK MAX RICHTER: WINTER 2 SZENE: DRAUSSEN VOR DER TÜR MUSIK MAX RICHTER: SHADOW JOURNAL, LAIKA’S JOURNEY INTERMEZZO MUSIK MAX RICHTER: SPACE 26 (EPICARDIUM)

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BERTOLT BRECHT

GEDANKEN ÜBER DIE DAUER DES EXILS


Schlage keinen Nagel in die Wand Wirf den Rock auf den Stuhl. Warum vorsorgen für vier Tage? Du kehrst morgen zurück. Lass den kleinen Baum ohne Wasser. Wozu noch einen Baum pflanzen? Bevor er so hoch wie eine Stufe ist Gehst du fort von hier. Zieh die Mütze ins Gesicht, wenn Leute vorbeigehn! Wozu in fremden Grammatiken blättern? Die Nachricht, die dich heimruft Ist in bekannter Sprache geschrieben. So wie der Kalk vom Gebälk blättert (Tue nichts dagegen!) Wird der Zaun der Gewalt zermorschen Der an der Grenze aufgerichtet ist Gegen die Gerechtigkeit. Sieh den Nagel in der Wand, den du eingeschlagen hast: Wann, glaubst du, wirst du zurückkehren? [...] 19


SPRING 0/1


INTERMEZZO MUSIK MAX RICHTER: VLADIMIR‘S BLUES SZENE: ES GEHT. ES GEHT WEITER. MUSIK MAX RICHTER: EMBERS MONOLOG MUSIK MAX RICHTER: SPRING 0

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RAINER MARIA RILKE

AUS EINEM APRIL


Wieder duftet der Wald. Es heben die schwebenden Lerchen mit sich den Himmel empor, der unseren Schultern schwer war; zwar sah man noch durch die Äste den Tag, wie er leer war,aber nach langen, regnenden Nachmittagen kommen die goldübersonnten neueren Stunden, vor denen flüchtend an fernen Häuserfronten alle die wunden Fenster furchtsam mit Flügeln schlagen. Dann wird es still. Sogar der Regen geht leiser über der Steine ruhig dunkelnden Glanz. Alle Geräusche ducken sich ganz in die glänzenden Knospen der Reiser.

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WOLFGANG BORCHERT

GENERATION OHNE ABSCHIED


[…] Wir sind eine Generation ohne Abschied, die sich davonstiehlt wie Diebe, weil sie Angst hat vor dem Schrei ihres Herzens. Wir sind eine Generation ohne Heimkehr, denn wir haben nichts zu dem wir heimkehren könnten, und wir haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre - so sind wir eine Generation ohne Abschied geworden und ohne Heimkehr. Aber wir sind eine Generation der Ankunft. Vielleicht sind wir eine neue Generation voller Ankunft auf einem neuen Stern, in einem neuen Leben. Voller Ankunft unter einer neuen Sonne, zu neuen Herzen. Vielleicht sind wir voller Ankunft zu einem neuen Lieben, zu einem neuen Lachen, zu einem neuen Gott. Wir sind eine Generation ohne Abschied, aber wir wissen, dass alle Ankunft uns gehört.

MUSIK MAX RICHTER: SPRING 0/1

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MITWIRKENDE


OBAYD 1998

ANNE 2000

WOLFGANG 2001

ABDALLA 1999

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ALI 2001

AJAY 2001

FITSUM 2000

MELISSA 2001


„HEIMAT IST NICHT NUR EIN WORT, ES HAT VIELE BEDEUTUNGEN, VIELE MEINUNGEN, VIELE GEFÜHLE.“ „ICH GLAUBE DARAN, DASS ALLES GUT WIRD.“ „THE COLOURS IN MY LAND ARE WONDERFUL, I WOULD SHOW YOU IF I COULD.“ „I’LL GO FORWARD.“ „GLAUBE, FAMILIE, HEIMAT“ „HEIMAT IST FÜR MICH, WO ICH AKZEPTIERT WERDE.“ „SNOW IS A CRAZY THING.“

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MUSTAFA 2000

ALEX 2003

AHMAD 1999

ALI 1998


MUSTAFÈ 1999

OMAR 1999

METASINOT 1999

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FÖRDERER


DIESES PROJEKT IST GEFÖRDERT DURCH

SPONSORING

GESTALTUNG

/

a

kreation & konzeption anselm schwindack

UNTERSTÜTZER

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BESONDERER DANK GILT


Thomas „Hahne“ Schmidt für die Geduld und Beherbergung in seinem Schnittstudio und für die Bereitstellung und Einrichtung der Technik während der Proben und Vorstellungen. Stefan Helmholz für die Möglichkeiten der Nutzung von Saal, Technik und weiteren Räumlichkeiten im Kulturzentrum Reichenstrasse e.V. Kerstin Dathe und Sia Niskios für die emotionale Unterstützung während der gesamten Projektlaufzeit. Anselm Schwindack für das großartige Layout und die Geduld in der Findungsphase. Anna-Maria Schwindack für einfach alles im gesamten Projektverlauf. Für die Kreativität, den Mut, für die Kraft und Zeit, die du investiert hast, um gemeinsam mit den Kids und mir voranzugehen. Für die Dramaturgie und den daraus resultierenden roten Faden. Du bist großartig Anna! Melissa, Anne, Ahmad, Abdalla, Ali K., Ali A., Wolfgang, Alex, Omar, Fitsum, Metasinot, Ajay, Mustafa, Mustafè, Obayd für die gemeinsame Zeit, für die Höhen und Tiefen, für das Lachen und Weinen, Streiten und Finden. Ich danke euch für die Chance, euch kennengelernt zu haben, mit euch zu gearbeitet und ein kleines Stück eurers Lebens begleitet zu haben. Ich bin sehr stolz auf euch!

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Kinderheim „Zur Tannenspitze“ Friedrichsbrunn, insbesondere Frau Käßler, Frau Halupnik und Frau Schuhmann für die Zusammenarbeit und das Vertrauen. Vielen Dank auch an das komplette Team des Kinderheims, an alle Betreuer_innen und Erzieher_innen des Hauses. Evangelische Stiftung Neinstedt, insbesondere Simone Koch und Knut Thielecke für die Zusammenarbeit und das Vertrauen. Vielen Dank auch an alle Mitarbeiter_innen der Wohngruppe Paca Domo der Evangelischen Stiftung Neinstedt und alle Bewohner. Anne Fuhrmann für die Koordinationstreffen, den Austausch und die organisatorische Möglichkeit in der ZaSt Außenstelle Aktionen anzubieten. Danke Anne! Konrad Eggebrecht für die musikalische Unterstützung bei Aktionen in und mit der ZaSt Außenstelle und der Nutzung des Studios BootsmannRecords. Meiner Familie, die mich mit Geduld gestärkt hat und mir immer unterstützend zur Seite stand. Ihr seid mein Fels in der Brandung. Ich liebe Euch! Die Projektleitung Jennifer Fulton

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TEAM


Jennifer Fulton ist Dozentin im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, vorrangig im Harzkreis. Seit August 2015 ist sie Theaterpädagogin beim Freien Theater THEATERLANDSCHAFFT e.V. und Leiterin des Projekts „An-ge-nom-men“ (Modellprojekt Theaterpädagogik). Mit Anna-Maria Schwindack hat sie das Projekt zur Collage //SKIP geformt. Anna-Maria Schwindack studiert seit 2015 Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig. Sie ist der „zusammenfassende“ Kopf des Projekts „Ange-nom-men“ und hat all die tausend Ideen und Eingebungen der Jugendlichen und der Projektleitung in eine Richtung gebracht, geformt und beeinflusst.

DIES IST EIN PROJEKT DES FREIEN THEATERS THEATERLANDSCHAFFT E.V.





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