standpunkt magazin

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Poesie – Scheiß auf Kafka Norm – Generation der Angepassten

3,50 euro

Magazin für junge Denkkultur

Design – Kunst im Kollektiv Sound – Stoff im Kopf 2016.01


standpunkt Magazin für junge Denkkultur Editorial.

„Der neue standpunkt bietet 9 Quadratmeter journalistische Ausstellungsfläche, die zum Denken anregt.“

www.standpunktonline.com

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willkommen im neuen standpunkt! Ihr haltet ein Heft von 22cm Breite und 28cm Höhe in den Händen — tatsächlich präsentieren wir diesmal auf 144 Seiten einen dreidimensionalen Raum, der Platz für junges Denken schafft. 9qm Ausstellungsfläche für kulturelle und gesellschaftliche Themen — 9qm zum Kritisieren, Philosophieren und Entdecken. Unser Raum ist virtuell aber nicht zwangsläufig digital. Ein Bestand an Beiträgen und Stories bildet den Ausgangspunkt der neuen Ausgabe. Diesen haben wir interessante und weiterführende Reportagen, Interviews, persönliche Erfahrungsberichte, Bilder und Illustrationen von Gastautoren gegenübergestellt. Indem wir eigene Themen mit wertvollen „Leihgaben“ in einen neuen Kontext setzen, bieten wir Euch unterschiedliche Blickwinkel und Verknüpfungen an. Auf Facebook sortiert der Algorithmus und zeigt nur das, was dem User gefällt — wir sehen unsere Aufgabe gerade darin, Neues und Unerwartetes zu kuratieren. Wir verzichten dabei bewusst auf Rubriken, denn wir wollen keine Information in Schubladen vorsortieren und Euch Inhalte anbieten, die nur Meinungen bestätigen. Mit der Gegenüberstellung von scheinbar gegensätzlichen Themen schaffen wir eine Möglichkeit nachzudenken, zu überdenken, umzudenken oder querzudenken.

standpunkt

Liebe Besucherinnen, liebe Besucher,

Euer standpunkt-Team 3


s t a n d p u n k t A u s s t e l l u n g s r ä u m e

2 9m

www.standpunktonline.com www.facebook.com/standpunktonline

KULTUR

MUSIK

GESELLSCHAFT Das andere Kollektiv

10 Skandal im Opernhaus „Meine Hände leiden an Hyperak14 tivität!“

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Kreativ oder Chaotisch? 126 Wer war noch mal Horst? 112 42

6 Musik in alten Schubladen

132 Kunst ist langweilig!

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Mit dem Container an andere Ende der Welt?

Emotionale Körpermusik

„An jeder Milchkanne in Deutschl a n d . “ 32

Wirklich so verschieden?

Konstruktiv oder d e s t r u k t i v ? 52

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Museumsdämmerung

102 H e i m a t l o s : auf der Flucht Isoliert im 36 Paradies

76 58 E s l e b e d i e a l t e Markthalle!

18 „ D i e K l a s s i k ist tot!“

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Der Hass wohnt i n H e b r o n . 92

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„Die Bühne steht für Überraschung!“

Generation der Angepassten?

Stillstand fB re us e tt rz it ert! oder vergessen? 82

It always seem impossible until it‘s done!

Im Sauerstoffzelt 34 Stadtmenschen

117 Scheiß auf Kafka! 20 M u s i k — w i e Stoff im Kopf

Essen auf Rädern? b ä h h 62

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28 P o e s i e statt Album


Philipp Maiburg

„Auch vor düsterem Dubstep kann man Angst haben.“

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Neue Musik in alten Schubladen

Fotos: Robin Hartschen, THE DORF

DJ, Clubgänger, Chronist einer Szene, Vinyl-Liebhaber, Festivalorganisator — es gibt viele Prädikate, die Philipp Maiburg auszeichnen und zu einem wahren Musikexperten machen (auch wenn er sich selber nie als solchen bezeichnen würde). Geboren in Mönchengladbach, geprägt vom Club-Techno der 90er-Jahre, eigene Erfolge an den Turntables bedeutender Clubs und heute Initiator des Open Source Festivals und Marketingchef der Kultmarke Carhartt. Mit diesem Multiplayer mussten wir sprechen.

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Wo kaufst du Musik? Zum Beispiel bei A & O Schallplatten in Düsseldorf, ich kaufe nur Musik auf Vinyl. Ganz selten kaufe ich etwas als Download, denn beim Vinyl ist heute fast immer ein Download-Code dabei. Das macht mir das Leben einfacher. Gerne kaufe ich Musik auf Reisen in Second Hand Plattenläden oder in London an bestimmten Orten, die ich immer wieder besuche. Wo entdeckst du neue Musik? Das Meiste entdecke ich bei meiner täglichen Arbeit, weil es mit zu meinem Arbeitsinhalt gehört. Im Team bekommen wir viel neue Musik, dann aber meist als Download. Manchmal entdecke ich Neues im Radio, mein persönlicher Tipp: Klaus Fliehe, sonntagsabend auf 1Live. Meine Hauptquelle ist aber echt das Internet. Das war mal anders, früher habe ich mehr Musik im Plattenladen entdeckt. Heute entdecke ich im Internet und kaufe dann im Laden, was ich als gut empfinde. Wo würdest du gerne mal Musik hören? Auch so schwierig — der Sound im Berghain in Berlin ist toll! Es gibt noch einen Club, der einen unglaublichen Sound hat, das ist das Robert Johnson in Offenbach. Beide Orte sind ziemlich perfekt. Es gibt einen Bekannten von mir, der hat ein tolles Musikzimmer aus Holz, Büchern und Teppich. Dadrin hat er eine tolle Anlage stehen, das ist auch sehr schön. Und ansonsten sind bestimmte Räume, die eine eigene Akustik haben für ganz bestimmte Musiken gut und nicht für Musik, generell.

„Es ist höchste Zeit, in vielen Bereichen die Kategorisierung zu vergessen, damit etwas neues entstehen kann. Das U und das E sollten zeitgemäßer neu positioniert werden.“ — Philipp Maiburg

Hattest du denn so einen „Kick“ Moment auch schon mal bei klassischer Musik? Ja, es gibt ganz oft Momente wo ich dachte „Oh toll das erinnert mich an etwas aus der modernen Musik“. Es gab zum Beispiel mal Bolero, der wurde reininterpretiert von Ricardo Villalobos und Max Loderbauer, und dabei kam die Rhythmik von dem Original total raus, aber nie so ausformuliert, wie man vielleicht gedacht hätte, sondern ganz schlau. Besonders in Rhythmik und Harmonie findet man ganz viel aus der Klassik wieder in Pop oder im Elektronikbereich. Im Moment kann man erkennen, dass es eine Barriere zwischen jungen Leuten und klassischer Musik gibt. Kannst du dir vorstellen, woher diese Distanz kommt? Ich glaube, das Problem ist die Präsentationsart, also die Ansprache und der Ort und nicht das Thema. Mit Ansprache meine ich erst einmal: wer spricht mich an? Mit welcher Sprache; also die Wortwahl aber auch die Bildsprache, über welche Medien wird kommuniziert? Außerdem könnten viele junge Leute den Eindruck haben, dass die Erwachsenen lieber unter sich sein wollen. Aber richtig interessant wird es erst, wenn diese beiden Welten aufeinander treffen. Und von diesen Formaten sollte es eigentlich viel mehr geben, weil das auch gesellschaftlicher viel interessanter ist. Hast du schonmal Angst verspürt zu klassischer oder auch anderer Musik? Ja ich habe als Kind vor sehr lauter Wagner- und Bruckner-Musik Angst verspürt. Vielleicht nicht direkt Angst, aber die Angst davor, dass einem der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Diese Musik hat Kraft, gleichzeitig kann natürlich auch völlige Leichtigkeit versprüht werden. Angst kann man auch verspüren, wenn man das erste Mal ganz düsteren Dubstep hört.

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Wo hörst du Musik? Ich höre Musik sehr bewusst Zuhause, manchmal eher familienverträglich, manchmal aber auch ganz bewusst nicht. Ich höre Musik im Auto, dafür gibt es dann bestimmte Musikauswahlen. Und am Liebsten höre ich sie live im Club oder im Konzert. In Düsseldorf gibt es ein paar gute Musikorte, da gehe ich gerne hin. Zum Beispiel den Salon oder die Solobar, da weiß ich immer, dass dort gute Musik läuft.

Wenn wir über klassische Musik sprechen, ist die für dich irgendwie intellektuell? Ich hab das Gefühl, dass ist eine Fangfrage. Ich hab hohen Respekt vor Leuten, die das Vortragen eines klassischen Werkes sehr genau beurteilen können. Bei klassischer Musik fehlt mir persönlich diese Bewertungsmöglichkeit, die ich bei Bands oder DJ’s habe. Trotzdem kann mich klassische Musik total bewegen und ich finde es sehr erstaunlich, dass Musik, die Dekaden oder Jahrhunderte alt ist, immer noch so funktionieren kann. Ich persönlich bin immer auf der suche nach dem Neuen, das treibt mich an und kickt mich wirklich. Das sorgt aber nicht dafür, dass ich Klassik anders bewerte.

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Du fährst alleine auf eine einsame Insel. Welche drei Musikstücke nimmst du mit? Ouh, das ist echt eine schwierige Frage. Also „Steve Reich, Music for 18 Musicians“ auf jeden Fall. „Goldie Timeless“ — hm und jetzt nur noch eine? Das ist echt schwer! Ich höre so viel unterschiedliches! Und dass muss ja auch irgendwie passen. Wahrscheinlich würde ich noch etwas von Steely Dan mitnehmen, der bringt mich immer in sehr gute Stimmung.

Was ist U- und E-Musik? U- und E-Musik sind zwei Genregruppen, die vor allen Dingen von der GEMA aufgemacht werden, indem die Wertigkeit der Musik gestaffelt wird. Es ist höchste Zeit, in vielen Bereichen die Kategorisierung zu vergessen, damit etwas neues entstehen kann. Das U und das E sollten zeitgemäßer neu positioniert werden. Beim ClubbingClassic Musikfestival haben wir uns deshalb vorgenommen, das Ü zu kreieren. Also die Mischung aus U und E, ohne dass es mittelmäßig wird. Wie gut geht Clubmusik mit klassischer Musik zusammen? Sehr gut und sehr schlecht. Es ist nicht so, dass wir die Ersten sind, die diesen Versuch starten, aber immer wieder entscheiden der Abend, der Ort und die Leute darüber, ob es ein gelungenes oder gescheitertes Experiment

ist. Unsere Aufgabe ist, zu schauen, dass es so gut wie möglich enden kann. Letzten Endes bleibt es total spannend und dem Abend überlassen, der Tagesform der Musiker und die Empfänglichkeit der Besucher.

Hast du schon zwei Extreme kennengelernt, also entweder, dass die Leute total offen für etwas Neues waren oder eben auch etwas gescheitert ist, weil keiner Lust hatte, etwas neues auszuprobieren? Man braucht immer die Offenheit aller Beteiligten. Ein Orchestermusiker und ein DJ haben so ferne Lebenswelten, doch beide haben den gleich Antrieb: sie möchten sich musikalisch äußern. Am Ende muss man dann den richtigen Zugang gefunden haben und jedes Mal ist es ein neues Risiko. Ich habe schon alle Situationen erlebt. Entweder war nur einer der Beiden zufrieden oder beides hat einfach toll zusammengefunden. www.open-source-festival.de

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Paris, 29. Mai 1913. Mit Gelächter und einem Sturm der Entrüstung verspottet die Pariser Bourgeoisie im Théâtre des Champs-Élysées die Uraufführung des Balletts „Le Sacre du Printemps“, ein Werk des Komponisten Igor Stravinsky und des Choreografen Sergei Djagilew. Mit schroffen Rhythmen, abseits der herkömmlichen Harmonie und grotesken, wilden Tanzbewegungen, brechen die Künstler mit jahrhundertalten Normen und Sitten und eröffnen der Welt bis heute unbegrenzte Horizonte von schillernden Klangfarben und urwüchsigen Kräften des körperlichen Ausdrucks.

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29. Mai 1913 Théatre des Champs-Elyse Unglaublicher Lärm erfüllte am 29. Mai 1913 das Théatre des Champs-Elyses; es kam zu Handgreiflichkeiten, Ohrfeigen und Beleidigungen. Jean Cocteau war Augenzeuge und berichtete später über die Uraufführung des „Le Sacre du printemps“ (das Frühlingsopfer). „Das Publikum spielte die ihm zugedachte Rolle, es empörte sich sofort. Man lachte, spuckte, pfiff, ahmte Tierlaute nach. Der Lärm degenerierte zum Handgemenge. Stehend in ihrer Loge, mit verrutschtem Diadem, schwang die alte Gräfin de Pourtalès ihren Fächer und schrie, ganz rot im Gesicht: „Das ist das erste Mal seit sechzig Jahren, dass man es wagt, sich über mich lustig zu machen.“

Mehr: www.clubbingclassic.de

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Text: Laura Gerards-Iglesias F otografie : D e u t s c h e G r a m m o p h o n , Marie Staggat er Name ist ein Attribut an die Aufführung des „Sacre du Printemps“ vor 100 Jahren, das Herzstück dieser Aufnahme. Ihre von packendem Rhythmus und subtiler Erhabenheit geprägte Interpretation macht das Werk zeitlos, entfacht die 100 Jahre alte Energie auf ein Neues, weicht die Grenzen von Zeit und Raum auf. Die beiden Pianisten bezeichnen Strawinsky als „Körpermusik“, zu der getanzt werden muss und füllen mit ihrer Musik gleichzeitig den Saal der Berliner Philharmonie und den Underground-Club Boilerroom in Berlin. Wer sind diese beiden Künstler, die es schaffen, die Klassik in den Club zu bringen?

Alice Sara Ott betritt die Bühne. Wie immer barfüßig, mit einem verspieltem Lächeln auf den Lippen, erwartet man nicht, dass diese gleichzeitig kindlich-zerbrechliche und anmutig wirkende Frau mit solch einer mitreißenden Energie und überragenden Kraft dem Flügel eine Musik entlocken wird, die unter die Haut geht. Die 27-jährige deutsche Pianistin mit japanischen Wurzeln trat schon mit weltbekannten Orchestern, wie dem London Symphony Orchestra auf, gewann zahlreiche Preise, darunter einen Echo Klassik, und führte mit ihren Alben die iTunes Klassik Charts an. Entgegen dem Wunsch der Mutter begann Alice mit vier Jahren das Klavierspielen, ein Instrument, das sie vor allem als nonverbales Kommunikationsmedium so faszinierte. Weder in Deutschland noch in Japan als Einheimische aufgenommen, gab ihr das Klavier und die Bühne eine eigene Identität, ein Ort, wo ihre Herkunft nicht hinterfragt wurde. „Für mich ist die Musik die natürlichste und ehrlichste Sprache mit dem Publikum zu kommunizieren und es setzt mir im Gegensatz zur verbalen Linguistik keine Grenzen“, betont Alice. Das Klavierspielen als Ausdruck der eigenen Identität, der tiefsten Emotionen, ein Medium, um mit dem Zuhörer einen ebenbürtigen, ungeschminkten Dialog aufzubauen. Es ist diese fast naive Ehrlichkeit, was Alice von anderen Pianisten unterscheidet. Diese volle Hingabe an die Musik, das Sich-Fallenlassen und wieder auffangen, eine innige Übertragung ihrer Emotionen. Gerade deswegen wünscht sich die Pianistin ein Publikum, das sich vollkommen wohlfühlen kann, um sich ihrer Musik öffnen zu können. Nur so kann ein emotionaler Dialog zwischen Künstlerin und Publikum erschaffen werden. Das kann gleichermaßen im Frack oder in der Jeans passieren. Damit grenzt sich

Musik sowieso nicht vorhanden. Francesco verkörpert mit seiner Musik diese Grenzenlosigkeit, versprüht eine solche Energie und Freiheit mit der Musik, dass es für den Zuhörer plötzlich abstrus wirkt, diesen Kreislauf von Rhythmen und Melodien in eine bestimmte musikwissenschaftliche Form pressen zu wollen. „Musik ist immer da. Selbst in der Stille ist Musik“ beschreibt der 33-jährige Luxemburger, dessen Studium ihn bis an die Julliard School in New York führte. Mit 13 Jahren gab er erste Konzerte mit Eigenkompositionen, veröffentlichte schon mehr als 20 Alben und trat mit weltbekannten Orchestern auf. Ein Lebenslauf, der die Klassikwelt beeindruckt und der beste Voraussetzungen für eine Karriere als klassischer Pianist lieferte. Trotz alledem wählte Francesco den „Stravinsky-Weg“, experimentiert, provoziert mit seiner Musik, bricht mit allen Normen und lehnt es ab, sich an Regeln zu halten. Ein Pianist, der gleichzeitig für empörte Aufschreie und große Bewunderung in der Klassik- und Technowelt sorgt. Francesco holt Menschen in Konzertsäle, die noch nie was mit Klassik anfangen konn-

ten und begeistert Klassikfans für seine elektronischen Experimente, die von musikalischer Souveränität geprägt sind. Er erklärt eine Grenzenlosigkeit der Musik und bringt so Menschen zusammen, die sich sonst aus dem Weg gehen. Diese Freiheit, die sich der Pianist nimmt, stößt nicht immer auf Zustimmung, doch Unsicherheit gehört für ihn zu jedem Auftritt dazu: „Die Bühne steht für Freiheit und Überraschung“, so der Künstler, der neues wagt, provoziert und begeistert, der Grenzen aufweicht und neu verknüpft. Alice Sara Ott und Francesco Tristano – Ein Duo, das jugendhafte Unschuld gleichzeitig mit fesselnder Entschlossenheit ausstrahlt, das sich gegenseitig beibringt, zu grooven und zu walzen. Für Alice und Francesco liegt die Schönheit der Musik nicht in Harmonie und Gleichmäßigkeit, sondern in ihrer unmaskierten Ehrlichkeit. Ihr Spiel ist geprägt von Reibung und Verschmelzung, geleitet von innigsten Emotionen. Was sie mit Igor Stravinsky verbindet, ist vor allem eins: Die Musik als grenzenlose Freiheit wahrzunehmen.

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Revolutionäre in der Klassikszene

Alice von den Etiketten und Regeln der Klassikwelt ab, sieht die verkrampfte Stille während des Konzertes und eine vorgegebene Kleiderordnung als Hindernis, Musik richtig begreifen zu können. Alice Sara Ott wird von vielen Kritikern als große Künstlerin gefeiert. Was die Pianistin aber so einzigartig macht, ist ihr Anspruch an die Musiker und das Publikum: aufrichtig und ungeschminkt zu sein. Gemeinsam mit Alice tritt ein gutaussehender Mann mit wilden Locken, sinnlichen Lippen und eng geschnittener Kleidung mit einem fast trotzigen Selbstbewusstsein die Bühne, in dessen blauen Augen sich künstlerische Ernsthaftigkeit und Verschmitztheit zugleich wiederspiegeln. Sobald er als Pianist anfängt zu spielen oder als DJ anfängt aufzulegen, verschmilzt Francesco Tristano mit der Musik, wird eins mit den Rhythmen und Klängen aus Piano, E-Piano oder Synthesizer. Der Pianist, Komponist und DJ fühlt sich bei Barockmusik sowie bei Techno gleichermaßen zu Hause und scheut sich auch nicht davor, beides zu kombinieren. Epochale oder stilistische Grenzen sind nach seiner Meinung in der

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Sie haben deutsche und japanische Wurzeln. Welche typisch japanischen oder typisch deutschen Eigenschaften machen Sie bei sich aus? Alice // Puh, das kann ich selbst kaum objektiv beantworten. Und ich glaube auch nicht, dass ich meinen Charaktereigenschaften eine Nationalität geben möchte. Ich bin ein Weltenbummler, dessen Ecken und Kanten bei jeder Reise geformt und geschliffen werden.

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Alice // So sehr ich das Land auch liebe und schätze: ich bin sehr froh, dass ich nicht in Japan aufgewachsen bin. Ich mag Europa und in Deutschland lässt es sich in vielen Hinsichten gut leben.

Wann war es für Sie klar, professionelle Pianistin zu werden? Alice // Ich glaube, das Wort „professionell“ hat für mich nie eine Rolle gespielt. Ich habe mich an dem Tag, als ich mit drei Jahren ein Klavierrezital erlebte, die Musik als ultimatives Kommunikationsmedium entdeckt und seitdem gab es für mich nie einen anderen Berufswunsch. Ich hatte natürlich sehr viel Glück in meiner Ausbildung und meinem bisherigen Werdegang gehabt, nie an dem Punkt zu stehen, wo ich entscheiden musste, ob ich diesen Weg auch wirklich gehen kann. Wie setzen Sie sich mit der Intension eines Komponisten auseinander? Alice // Es ist wie eine Beziehung. Mal ist es Liebe, mal ein bisschen Hass und man versucht, alltägliche Hürden zu meistern. Auf den unzähligen Gastspielreisen haben Sie begonnen zu zeichnen. Ist das noch ein Relikt aus „Kindheitstagen“? Alice // Ich glaube, meine Hände leiden an Hyperaktivität. Ich muss stets irgendetwas mit meinen Fingern machen. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich mit dem Zeichnen angefangen habe, aber sobald ich einen Stift in die Finger kriege, male ich irgendetwas. Aber ich bin kein geduldiger Mensch. Alles muss schnell gehen. Deswegen wäre ich wahrscheinlich nie in der Lage, das Malen professionell zu erlernen und viel Zeit und Aufwand in ein Gemälde oder eine Zeichnung zu stecken.

Warum glauben Sie, besuchen weniger Menschen Ihres Alters klassische Konzerte? Alice // Naja, ich halte nicht viel von den Regeln und Etiketten, die sich den letzten zwei Jahrhunderten in klassischen Konzerthäusern festgesetzt haben. Man wird zur absoluten Ruhe verordnet, zum Nichtklatschen während Satzpausen (und wenn man doch klatscht, wird man belächelt, keine Ahnung vom Werk zu haben...) und auch hat sich in manchen Städten ein gewisser Dresscode etabliert. Somit hat die klassische Musik nicht nur den Stempel bekommen, nur etwas für Menschen mit Bildung ist sondern führt durch die Verkrampftheit, nur nicht den Künstler auf der Bühne zu stören, auch zu dem Hustkonzert in den Satzpausen, wo alle das Gefühl haben, dass dies der einzige Moment ist, an dem sie kurz nach Luft schnappen dürfen. Ich finde es schön, wenn man sich für einen Konzertabend fein machen und es

Sie gehört zu den unkonventionellsten Pianistinnen unserer Zeit und begeistert damit auch neue Zuhörergruppen. Alice Sara Ott hält nicht viel von den Regeln und Etiketten, die sich den letzten zwei Jahrhunderten in klassischen Konzerthäusern festgesetzt haben. Die „verordnete“ Ruhe führt zur Verkrampftheit und scheint die Zuhörer nur in den Satzpausen nach Luft schnappen zu lassen. Man muss sich absolut wohl fühlen, um sich der Musik öffnen zu können, meint Alice Sara Ott. Was für die weltbekannte Pianistin Musik bedeutet und wie sie es schafft, ihr Publikum dafür zu begeistern, verrät sie im Interview mit standpunkt.

Ich

glaube,

meine Hände an

leiden

Hyperaktivität!

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Was bedeutet es Ihnen, vor Publikum aufzutreten? Alice // Ohne das Publikum würde es keine Musik geben. Für mich ist die Musik die natürlichste und ehrlichste Sprache, mit dem Publikum zu kommunizieren und es setzt mir im Gegensatz zur verbalen Linguistik keine Grenzen. Dadurch, dass ich in zwei verschiedene Kulturen hineingeboren wurde und weder in Deutschland noch in Japan jemals als Einheimische behandelt worden bin, war es auch die Musik und die Bühne, die mir von früh auf eine Identität gab. Das war der einzige Ort, an dem ich nicht nach meiner Herkunft gefragt worden bin.

Würden Sie anders sein, wenn Sie nicht in Deutschland aufgewachsen wären?

Sie sind bekannt dafür spontan und neugierig zu sein. In der Klassik lassen Sie sich gerne auf neue Wege ein, die aber nicht mit Crossover-Projekten zu vergleichen sind. Wie ordnen Sie das Scandale-Programm mit Francesco Tristano ein? Alice // Ich mag es nicht so gerne, Projekte in eine Schublade zu stecken. Für mich gibt es nur einen Unterschied zwischen guter und schlechter Musik. Dieses Projekt mit Francesco ist eine Hommage an einen Mann, der mit seiner bunten Gruppe aus Tänzern, Musikern und Künstlern die Kunstwelt auf den Kopf gestellt hat: Sergey Diaghilev. Es ist Musik, die damals die Menschen provoziert, geschockt und entrüstet hat. Und die so unglaublich toll für zwei Klaviere von den Komponisten selber arrangiert worden ist.

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Frau Ott, Ihre Mutter war auch Pianistin und eigentlich dagegen, dass Sie das Klavierspielen lernen wollten. Wie haben Sie sich dagegen durchgesetzt? Alice // Ich fing an, mich für Puzzlespiele zu interessieren und am Anfang, als ich noch die 200- oder 300-Stück-Bilder zusammenstellte, waren alle glücklich mit meinem neuen Hobby. Als ich jedoch nach einer Weile anfing, mich zu langweilen und nach den 1000-Stück-Puzzlebildern und den 3D Puzzlen zu fragen, war mein Vater der Meinung, das wäre kein gesunder Zeitvertreib und überredete meine Mutter, mich endlich ans Klavier zu lassen.

F otografie : D e u t s c h e G r a m m o p h o n , M a r i e S t a g g a t

auch mit einem Dinner in einem schicken Restaurant verbinden möchte. Das ist für manche eine sehr schöne Tradition. Aber ich weiß auch, dass es Menschen gibt, die sich in Jeans und T-Shirts wohler fühlen. Und das genau ist mein Punkt. Man muss sich absolut wohl fühlen, um sich der Musik öffnen zu können. Und jeder hat da seine ganz eigene Art. Ich möchte mei-

nem Publikum nicht vorschreiben, wie es die Musik zu genießen hat, sondern dazu auffordern, es selbst herauszufinden. Ich selbst fühle mich barfuß am wohlsten und deswegen spiele ich alle meine Konzerte ohne Schuhe. Musik soll bewegen, begeistern, zum Nachdenken anregen und die Emotionen,

die dabei enstehen, sollen nicht unterdrückt werden. Man sollte nicht vergessen, dass das Publikum ein Teil der Musik ist. Wir Musiker leben von seinen Emotionen und Reaktionen. www.facebook.com/alicesaraott

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In der Klassik scheint das Publikum einen erwarteten Anspruch an ein Konzert zu haben. Kann man auf der Bühne als Künstler auch negative Gefühle wie die Enttäuschung oder Verunsicherung eines Publikums spüren und wie wirkt sich das auf Ihr Spiel aus? Francesco // Verunsicherung ist doch ein super Gefühl. Ich persönlich möchte nicht ins Konzert, um versichert zu werden – da bleibe ich zu hause und höre mir eine Aufnahme an, die ich eh schon auswendig kenne. Die Bühne steht für Freiheit und für Überraschung. Es gab auch aktuelle Konzerte, bei denen die Künstler schon ausgebuht wurden. Haben Sie auch schon einmal solch heftige Reaktionen erlebt? Francesco // Sie meinen, die Opernszenen, die es anhand freiwilliger Nacktheit und Vergewaltigungsszenen in die Schlagzeilen schaffen? Nein, so was habe ich persönlich noch nicht erlebt. Das Publikum soll man ja nie unterschätzen – das ist als Künstler unser größter Alliierter. Was nicht heißen soll, dass man es nicht herausfordern oder verunsichern soll. Mit Alice Sara Ott haben Sie ein gemeinsames Album aufgenommen, das sehr erfolgreich nicht nur in der Klassikszene besprochen wird. Sie haben sehr unterschiedliche musikalische Ausrichtungen. Wie haben Sie sich auf die Aufnahmen vorbereitet? Francesco // Alice und ich sind seit vielen Jahren befreundet. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann wir zusammen musizieren würden. Und Sacre war das Stück, das uns zum Konzept der Platte gebracht hat: Scandale. Die Proben liefen eher reibungslos, obwohl es ein paar kritische Momente gab. Alice musste lernen, in meinem Soft Shell Groove zu loopen, und ich in Ravel’s La Valse zu walzen. Innerhalb einer Woche spielen Sie in der Philharmonie und treten vorher im Boiler Room auf. Wie fühlen sich die Kontraste zwischen den Besuchern der Veranstaltungen an? Francesco // Diese Kontraste sind inzwischen zur Notwendigkeit geworden. Die ständige Abwechslung ist zuständig für mein eigenes Interesse, für die Frische in meinem musikalischen Schaffen.

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Gibt es Schnittmengen von Zuhörern Ihrer klassischen und elektronischen Konzerte? Francesco // Aber sicher doch. Wie gesagt: Das Publikum ist zu Allem fähig. Man muss es halt nur überzeugend rüberbringen. Was muss ein Musikstück für Sie haben, damit es Sie interessiert? Francesco // Polyphonie, Rhythmus, Basso Continuo. Sie verarbeiten ja viele klassische Themen in Ihren DJ Sets. Ist das größtenteils Improvisation oder sind die Sets durchkomponiert? Francesco // Ich habe noch nie ein klassisches Thema in einem meiner Live-Sets verarbeitet. Ich arbeite mit Klaviersamples eigener Produktion. Improvisation spielt eine große Rolle, aber die ganzen Samples müssen ja auch programmiert und gesequenced werden.

Wie schätzen Sie die Herausforderung in Mönchengladbach beim ClubbingClassic Festivalabend am 26. September ein, vor einem Publikum zu spielen, das aus klassischen Konzertliebhabern und aus jungen Clubgängern besteht und nicht gerade in Berlin lebt? Francesco // Ich freue mich riesig auf Mönchengladbach! Das ist nicht zweitwertig im Vergleich zu Berlin. Das ist ein neues Publikum für mich, und ich werde alles geben. In Berlin spiele ich viel öfter.

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Der Titel Ihrer CD „Scandale“ bezieht sich auf die Uraufführung von Strawinskys
„Le Sacre Printemps“, als es zu Tumulten unter den Zuschauern kam. Sind ähnliche Reaktionen auch heute noch denkbar? Francesco // Kaum. Man ist ja kaum noch schockiert. Nipplegate, Pussy Riot, das sind Provokationen, Anekdoten. Aber Stravinsky’s Sacre du Printemps, das war halt eine richtige Tabula Rasa – da hat Stravinsky einen Strich durch 500 Jahre westliche Musikgeschichte gezogen, neue Maßstäbe gesetzt.

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Mit welcher Art elektronischer Musik sind Sie aufgewachsen? Francesco // Pink Floyd, Jean-Michel Jarre, Kraftwerk, Tangerine Dream – das war noch zu Hause. Später, als ich in New York gezogen bin, Carl Craig, Jeff Mills und auch Minimal Techno aus Berlin und Köln.

Francesco Tristano, Sie gelten als Grenzgänger zwischen moderner elektronischer Musik und der Klassik. Was hat Sie dazu inspiriert, Ihr Klavierspiel mit der Technik elektronischer Musik zu verknüpfen? Francesco // Grenzgänger wäre ich nur, wenn ich diese sogenannten Grenzen wahrnehmen würde – die sind allerdings in der Musik nicht vorhanden. Was meine Art, hybride Musik zu machen angeht, kann ich nur sagen: ich bin Pianist und produziere elektronische Musik. Alles weitere sollte eigentlich die Musik selbst ausdrücken. F otografie : D e u t s c h e G r a m m o p h o n , M a r i a S t a g g a r t

Die Bühne steht für Freiheit und für Überraschung!

Wie bereiten Sie sich auf Ihr individuelles Publikum vor? Francesco // Das ist ja eigentlich immer anders. Ich kann mich eigentlich nicht auf ein bestimmtes Publikum konzentrieren, sondern auf eine bestimmtes Konzertsituation (Halle, Temperatur, Klavier, Luftfeuchtigkeit usw.) und dann alles geben – egal für welches Publikum. www.facebook.com/francescotristano

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Betrachtet man die Entwicklung der Publikumszusammensetzung der klassischen Musik, werden seit circa 15 Jahren zwei Trends deutlich: der Markt wird stetig älter. Und er wird kleiner.

Leiser Abgesang auf ein Genre standpunkt j u n g e d e n k k u lt u r

Dieser Meinung ist auch der Pianist und DJ Francesco Tristano: „Seit 100 Jahren wiederholen wir die altbekannten Werke immer wieder. “

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„Die Klassik ist tot!“

Junge werden kaum erreich Als Gründe gegen einen Besuch führen die Befragten neben zu wenig Zeit (37 Prozent) und zu hohen Kosten (35 Prozent) an,

dass ihnen das Interesse an Konzerten fehlt (35 Prozent). Besonders junge Menschen erreichen die Konzerthäuser nicht: 45 Prozent der Unter-30-Jährigen nehmen deren Werbung nicht wahr – im Gegensatz zu 16 Prozent der Befragten über 60 Jahren. 25 Prozent der Jungen finden die Atmosphäre in Konzerthäusern elitär. 18 Prozent von ihnen stören sich an unverständlichen Inhalten. »Es wird für den Musikbetrieb in Zukunft verstärkt darauf ankommen, wie die Inhalte aufbereitet und präsentiert werden«, folgert Kai Michael Hartig, Leiter des Bereichs Kultur der Körber-Stiftung. »Eine wachsende Rolle spielen charismatische und glaubwürdige Vermittlerpersönlichkeiten, die es verstehen, Schwellenängste abzubauen, Begeisterung auch für komplexe Inhalte zu wecken und für das offene, neugierige Wahrnehmen zu werben.« Ihr Publikum altere schneller als der Durchschnittsbürger und sterbe schlichtweg aus. Das Ritual des Konzerts komme aus der Mode. Wenn Mittel für kulturelle Bildung gekürzt werden, fehlen Konzerthäusern die Anknüpfungspunkte für ihr Programm. Sie vermeiden das Risiko und beschränken sich zunehmend auf wenige rentable, populäre Klassiker, beschreibt Hartig. »Der Konzertbetrieb der Zukunft braucht aber eine Vielfalt alter und neuer Musik – gerade auch, um neues Publikum anzusprechen. Und sie brauchen Türöffner.«

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FOTO: MAX ZDUNEK

Ein Blick in die Entwicklungsgeschichte des Konzertwesens zeigt, dass mit veränderten Darbietungsformen der Krise auf dem klassischen Konzertmarkt entgegengesteuert werden kann. Das heißt: Man muss das Konzert verändern, um es zu erhalten. Denn die Krise der klassischen Musik ist keine Krise der Musik, sondern eine ihrer Aufführungskultur. Die Tonhalle Düsseldorf hat das Problem erkannt. Mit Veranstaltungsreihen in der “Jungen Tonhalle” wie 3-2-1 IGNITION, Big Bang und JSO & Tonfrequenz aktiviert sie den Nachwuchs ihres Publikums. Tatsächlich hat sich der Konzertbetrieb seit dem 19. Jahrhundert nicht erneuert. Noch immer treten Solistinnen im Abendkleid, Dirigenten im Frack auf. Das Publikum muss 90 Minuten still sitzen, schweigen, zuhören und niemals zwischen den Akten klatschen. Raus- und reingehen, stehen, liegen, essen, trinken, lachen oder sogar mitsingen sind undenkbar – egal ob im Jahr 1900 oder 2015. Applaus am Schluss – es ist ein viel zu enges Korsett für Erfolg in der Moderne. Es ist kein Problem der Musik, sondern ihrer Darbietungsweise und die Lösung könnte relativ einfach sein: Nicht nur Kleinkinderkonzerte oder Konzerte für Alte, sondern nur eine vielfältige Konzertlandschaft kann klassische Konzert wieder attraktiv machen. Im letzten Jahr hat jeder vierte Über-60-Jährige ein klassisches Konzert besucht, aber nur jeder Zehnte zwischen 18 und 29 Jahren. Das zeigt eine aktuelle Forsa Umfrage der Körber Stiftung.

standpunkt

as Konzert verliert als ästhetische und als soziale Institution an Bedeutung. Was liegt der Entscheidung für oder gegen einen Konzertbesuch zugrunde? Und warum entscheidet man sich als junger Mensch immer seltener für die „ernste“ Musik?

Vielen Konzertbesuchern fällt es schwer, mit komplexen Werken umzugehen, musikalische Eindrücke in Worte zu fassen und sich darüber auszutauschen. »Musikvermittler sind gefragt, die Denkbilder schaffen, zum Hinhören verführen und damit den Konzertbe-suchern neue Erlebnisräume eröffnen«. 19


TEXT: Anne Ott I llustration : L i n u s B a h u n

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Musik.

Wie Stoff im Kopf 20

Weil es positive Stimmungen sind, die von Musik ausgelöst werden? Klar, die meiste Musik, die uns umgibt, ist angenehm und aktivierend, sozusagen Happy-Musik. Es gibt aber auch Musik, die uns interessiert, obwohl sie unangenehm ist. Schneller Trash-Metal, wo nicht gesungen wird, sondern gegrunzt, wird auch gehört, nur nicht so häufig. Warum nicht? Vielleicht muss man einfach ein bisschen vorsichtig sein mit der negativen Musik. Weil sie stärker wirkt, braucht man weniger, wie bei einem starken Arzneimittel.

Man braucht also für jede Stimmung eine Musik? Genau so ist es. Menschen suchen Musik vor allem danach aus, in welcher Stimmung sie sowieso schon sind. Wir hören also traurige Musik, weil wir traurig sind. Frohe Musik, wenn wir glücklich sind. Es geht also nicht, dass ich mir mit fröhlicher Musik eine Art Schub gebe? Die Erfahrung der Musiktherapie sagt: Das geht nur sehr begrenzt. Man kann Traurigkeit schon ein bisschen ausgleichen, wenn man schöne, beruhigende Musik hört. Wenn man aber ein Kontrastprogramm versucht, kann das ins Auge gehen: Stellen Sie sich vor, jemand ist gestorben und ich höre „Heute haun wir auf die Pauke“ von Tony Marschall. Das wird mich noch weiter in die Depression treiben. Oft verstärkt man negative Stimmungen ja auch ganz bewusst: Mein Freund hat mich verlassen und höre ich auch noch die ganze Zeit tieftraurige Musik. Was hat das für einen Sinn? Es muss einen Lustgewinn geben, dass

ich z.B. auf Beerdigungen auch noch Musik höre, die meinen Zustand noch mehr ins Traurige schiebt. Die Musik und der Schmerz werden zu einer sehr intensiven Erfahrung. Das kann helfen, die Situation zu bewältigen. Gibt es auch einen Punkt, an dem die traurige Musik zu viel wird? Jeder muss selber wissen, was er durchs Hören verursachen will. Grundsätzlich gilt, dass Musik in einem emotionalen Gedächtnisteil gespeichert wird, zusammen mit unseren Erfahrungen. Eine bestimmte Musik, die wir in einer melancholischen Phase gehört haben, wird uns auch später vermutlich wieder an diese Phase erinnern. Bei meinem Schwiegervater ist es so, dass er seit dem Krieg keine laute Musik mit großem Orchester mehr hören kann. Das erinnert ihn an einen Granatenbeschuss, den er erlebt hat. Das zeigt, wie tief Musik und Erinnerungen verknüpft sind. Manchmal sind es natürlich auch schöne Erinnerungen, die mit der Musik hochkommen: an die erste Tanzstunde, an eine Person, die man mag.

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Professor Kopiez, Sie untersuchen, wann Musikhören bei Menschen Gefühle auslöst. Warum interessiert Sie das? Die meisten Menschen hören Musik vor allem deshalb so gerne, weil sie Stimmungen verändern oder Stimmungen erzeugen kann. Jedenfalls ist das bei Popmusik so.

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Warum löst das Hören von Musik bei uns manchmal so starke Gefühle aus, dass wir eine Gänsehaut bekommen oder einen Kloß im Hals? Diese Frage untersucht ein Team von Musikpsychologen von der Universität Hannover. In ihrem Labor spielen die Forscher Testpersonen unterschiedliche Musik vor: Melancholische Schnulzen, brasilianischen Bossa Nova, klassische Konzerte und harte Gitarrenmusik. Beim Hören sind die Versuchspersonen mit mehreren Elektroden an ein EKG angeschlossen, das misst, wie schnell das Herz schlägt. Wenn die Hörer bei der Musik eine Gänsehaut bekommen, drücken sie einen Knopf. So erfahren die Forscher, welche Musik starke Gefühle auslöst.

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Also Nostalgie? Ja, Musik hat eine stark nostalgische Komponente, weil man sich mit dem Hören eines bestimmten Stückes in die eigene Jugend katapultieren kann, als säße man in einer Zeitmaschine.

Wieso fühlt man sich durch Musik zu einer Gruppe gehörig? Das geht vermutlich auf die Frühgeschichte der Menschen zurück. In der Steinzeit haben Menschen zusammen ums Feuer getanzt, zusammen Musik gemacht. Das hat das Gemeinschaftsgefühl gestärkt. Und dieses starke Gefühl war auch noch ein Überlebensvorteil für die Gruppe der Steinzeitmenschen, weil sie zusammen einfach stärker war. Dass Menschen sich durch Musik zusammengehörig fühlen, erklärt auch die Attraktivität des Chorsingens, des gemeinsamen Musik Machens. Und des Tanzens. Welche Musik ist denn so überwältigend, dass man eine Gänsehaut davon bekommt? Das ist individuell. Die Stimme von Christina Aguilera berührt den einen, dem anderen treibt eine Arie von Mozart einen Schauer über den

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Dieser Beitrag erschien 2006 erstmals im fluter. (Bundeszentrale für politische Bildung/bpb).

Was kann man tun, um den eigenen Musikgeschmack weiterzuentwickeln? Na ja, das Gehirn ist lebenslang lernfähig. Es scheint vor allem in den USA so zu sein, dass Menschen mit höherem Bildungsniveau und stärkeren ökonomischen Möglichkeiten auch einen sehr breiten Musikgeschmack entwickeln, „musikalische Allesfresser“ werden: Sie gehen in die Oper, aber auch ins Musical, hören Popmusik und Jazz. In Deutschland herrscht dagegen Spezialistentum: Verschiedene Gruppen hören verschiedene Musik und verfeinern innerhalb der Sparte ihren Geschmack. Wenn ich mich für eine bestimmte Musik interessiere, heißt das gleichzeitig: Ich gehöre zur Gruppe der Hip-Hop-Fans, der Jazz-Freaks, der Opernanhänger.

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Wie kann man das so genau sagen? Es gibt eine „Generationsabhängigkeit“ des Geschmacks. Das heißt: Die Lieder, die auf den ersten Plätzen der Charts waren, als ich im Alter von 23,5 Jahre alt war, sind möglicherweise die, die mich im Erwachsenenalter immer noch am meisten interessieren. Wenn man das zu Ende denkt, heißt das: Die Seniorenmusik des Jahres 2050 wird nicht mehr der Musikantenstadel sein, sondern Robbie Williams.

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Heißt das, dass man lebenslänglich die Musik seiner Jugend dudelt, oder kann man es schaffen, offen für neue Musikrichtungen zu sein? Die Forschung hat mehrere Zeitfenster gefunden, in der eine Offenheit für Musik besteht. Im Kindergarten ist man noch empfänglich für alle möglichen Musikstile der Welt. Man spricht von "Offenohrigkeit". Dieses Fenster schließt sich spätestens mit dem Ende der Grundschule. Das zweite Zeitfenster ist die Pubertät. Und ein drittes liegt angeblich bei 23,5 Jahren.

Rücken. Wichtig ist, dass man eine positive Einstellung zur Musikrichtung hat. Und es erhöht die Sensibilität, wenn man das Stück schon mehrmals gehört hat. Unterscheiden sich Menschen auch darin, wie stark Musik auf sie wirkt? Natürlich. Es gibt Menschen, die fast unempfänglich für Musik sind. Sie brauchen starke Eindrücke, um irgendein Gefühl zu erleben. Leute, die Extremsport machen, schnelle Autos fahren und, wenn überhaupt, dann schnelle und laute Musik mögen. Ganz anders sind diejenigen Leute, die generell sensibler auf Reize reagieren, verträumter und ruhiger sind - sie bekommen bei Musik eher Gänsehaut, berichten in unseren Experimenten von stärkeren Gefühlen. Sensible Seelen reagieren stärker auf Musik? Genau. Außerdem Personen, die sich selbst sehr stark

für alles belohnen müssen, was sie geschafft haben. Man nennt die „belohnungsabhängig“. Diese Menschen reagieren auf die angenehmen Gefühle, die Musik auslösen kann. Sie regen mit Melodien ihr Belohnungssystem an wie andere mit Schokolade. Musik belohnt uns also? Ja. Sie aktiviert das Lustzentrum im Gehirn. Wenn man sich anschaut, welche Teile vom Gehirn beim Musikhören aktiv sind: Es ist immer das Belohnungssystem mitbeteiligt, also eine Gehirnregion, die auch dann aktiviert ist, wenn wir hübsche Personen sehen, Sex haben oder Drogen nehmen. Ist Musik auch eine Droge? Wenn man es so sieht, ja. Allerdings eine völlig unbedenkliche.

Mehr davon –––––––––– www.music-psychology.de

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2008 hat Paul Frick die Zusammenarbeit mit den zwei weiteren Namensgebern des Projekts, Daniel Brandt und Jan Brauer, begonnen, an einer Synthese aus Jazz und Techno zu tüffteln. Dabei handelte es sich aber nicht um synthetischen Techno, sondern eine körperliche Clubmusik, die bis auf einen Moog-Synthesizer ohne maschinelle Unterstützung auskommt. Der Groove von Brandt Brauer Frick ist ‚Neue Musik‘ mit intellektuellem Anspruch. Brandt Brauer Frick stehen für die vielleicht aufregendste Verbindung von klassischem Instrumentarium und Clubmusik. Das Verwischen von Grenzen, auch der selbst gesetzten, ist ihr Markenzeichen geworden und hat ihnen erlaubt, weltweit in den unterschiedlichsten Szenen zu agieren.

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„Emotionale Körpermusik aus Berlin“

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Wie fangt Ihr an, wenn Ihr Tracks entwickelt oder besser komponiert? Wir gehen zu dritt ins Studio und arbeiten eigentlich einfach drauf los. Im Grunde genommen ist es eine Jam-Session – wir probieren uns ein wenig aus und warten auf den Moment, dass sozusagen etwas Besonderes passiert. Welche Kriterien oder Maßstäbe habt Ihr bei der Auswahl von Stücken, die Ihr für Eure Tracks bearbeitet? Jan Brauer // Wir sind da sehr offen. Meist kriegen wir eine Anfrage, wir hören uns das Stück gemeinsam an und schauen dann, ob uns dazu etwas Passendes einfällt. Unsere Intention ist es, das Stück tanztauglich zu machen und daraus einen Dancefloor-Track zu kreieren.

Bei Eurer Musik treffen mehrere Stile aufeinander: Dancefloor und Klassik, handgespielte und sequenzierte Musik, akustische Instrumente und synthetische Sounds, E-Musik und Clubkultur: Wie geht Ihr mit diesen Gegensätzen und dem unterschiedlichen Publikum um? Jan Brauer // Bei unserer Musik versuchen wir schon immer, erst einmal die Gegensätze aufeinander loszulassen und auszuprobieren. Irgendwann haben wir dann gespürt, dass das Publikum da Bock drauf hat. Plötzlich haben wir dann viele Gigs gespielt. Wir sind nachts im Techno-Club aufgetreten, haben aber genauso abends um 9 Uhr im Konzertsaal gespielt. In beiden Locations spielen wir die gleiche Musik und in beiden Locations kommt es gleich gut an – eben auf eine andere Weise. Im Club ballern wir richtig durch und im Konzertsaal gehen wir es etwas leise an.

Habt Ihr den Eindruck, dass die elektronische Musik derzeit eine größere Bedeutung bei jungen Künstlern erlangt als andere Musikstile? Jan Brauer // Den Eindruck habe ich nicht. Elektronische Musik ist schon so lange da. Seit den 80er Jahren ist Musik meistens elektronisch. Für mich persönlich ist elektronische Musik auch kein Stil, sondern eine technische Abgrenzung. Hier gibt es keine klare Definition – alles Mögliche ist elektronisch: Sei es HipHop, House, Pop, Mainstream oder auch Dub Step. Wie würdet ihr Euren Stil beschreiben? Jan Brauer // Wir haben unseren ganz eigenen Stil. Und „emotionale Körpermusik“ beschreibt diesen am Besten.

Habt Ihr zu Dritt immer das gleiche Ziel oder die gleiche Vision von einem Musikstück vor Augen oder wie arbeitet Ihr zusammen? Jan Brauer // Das ist mal so, mal so. Zum Glück ticken wir zu dritt relativ gleich. Wenn wir zu Brandt Brauer Frick entwickeln ihre musikalische Vision durch eine Vielzahl an Projekten weiter. Regelmäßig fertigen sie Remixe für andere Künstler an. Mit dem Pianisten Francesco Tristano treffen sie für ganz oder halb improvisierte Auftritte zusammen.

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„Bei unserer Musik versuchen wir schon immer, erst einmal die Gegensätze aufeinander loszulassen und auszuprobieren. Irgendwann haben wir dann gespürt, dass das Publikum da Bock drauf hat.“

I nter v iew : S i m o n e K r a k a u F otografie : N i c o S t i n g h e & P a r k B e n n e t t

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Brandt Brauer Frick

Brandt Brauer Frick entwickeln ihre musikalische Vision durch eine Vielzahl an Projekten weiter. Regelmäßig fertigen sie Remixe für andere Künstler an. Mit dem Pianisten Francesco Tristano treffen sie für ganz oder halb improvisierte Auftritte zusammen, wie zum Beispiel beim ClubbingClassic Musikfestival in Mönchengladbach.

www.facebook.com/BrandtBrauerFrick

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und kann seinen Duft schon erahnen.

stehe ich auf der Straße,wartend

des Spätsommers aufzieht,

und wenn die beruhigende Nacht

Er gibt alles ohne zu verlangen

Alles Alte, alles Schlechte ist erfroren und tot.

ist nur noch das Neue da.

Und wenn er dahin schmilzt,

Er erschafft das Absolute, die Schönheit.

stillen Mantel vergräbt.

und alles unter seinem schweren,

der die Rettung bringt

Das warten auf den reinen Krieger

Das warten auf den Schnee.

Poesie: Denise Maria Heckel Fotos: Dominik Rau, Jana Otto

an das satte Grün kehrt zurück.

Alles verbrennt und die Erinnerung

und falle auf heißen Beton.

Ich ziehe mich nach oben

die mir zeigen wo das Licht einfällt.

tatsächlich Fäden wie Freunde tanzen,

und manchmal sehe ich

Vorsichtig öffne ich die Augen

und dort stecken bleibt.

Zähe Masse die in meine Ohren läuft

kalte Wasser in dumpfe Stille ab.

und ich sinke durch das

Die Enttäuschung hüllt mich ein,

Es ist nicht was ich mir erhofft habe.


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Sie schweigen.

aus den alten Augen lesen.

kein Hinweis lässt sich

aus ihren steinernen Lippen,

Doch kein Wort dringt

vorbei ziehen sahen.

als sie dich an anderen Tagen

mir eine Kleinigkeit von dir,

und hoffe sie erzählen

die ich finde

Ich setze mich zu den Statuen

Meere voneinander entfernt.

Doch sind wir Welten,

und jede Berührung besiegelt es.

wie ein geheimes Versprechen

Jedes Wort klingt

worauf ich je gewartet habe.

Die Umarmung ist alles

und wacht über mein Sein.

hängt dieser Kranz an der Madonnen Figur

in das Dunkel kriecht,

und ein dünner Suchstrahl

sich wieder ein Stück öffnen sollte

Und wenn die Tür zu meinem Herzen

wahrer Schönheit in sich trägt.

zu Füßen lege Blüten von

dass der Kranz den ich meiner Erinnerung

Aber ich möchte glauben,

Aber wer weiß das schon so genau.

Und manchmal ist es das auch.

ein Teil davon die Wahrheit war.

Manchmal hofft man, dass

außer die Reflexion des Schauspiels.

bleibt nichts zurück

Wenn die Freuden vorbei sind,


Jupiter Jones

Wo ordnet sich Jupiter Jones musikalisch ein? Das ist leider eine sehr schwierige Frage, weil man die nicht so richtig beantworten kann. Es ist ein sehr breites musikalisches Spektrum vom Singer-Songwriter über Pop, Rock bis Punk-Rock. Deshalb fällt es super schwer, das irgendwie einzuordnen. Es gibt auf jeden Fall keinen Begriff dafür. Wir möchten uns da auch irgendwie nicht eingrenzen oder in eine Schublande stecken lassen, wenn ich Bock auf Rock habe, mache ich das einfach. Unsere Band hat keine Grenze.

Hast du musikalische Vorbilder? Nein, eigentlich nicht. Also ich bewundere Menschen oder Bands, die in ihrem Leben was auf die Beine gestellt haben. Ich hab das nicht, dass ich genauso sein möchte wie der und der. Aber ich mag Herbert Grönemeyer total. Ich weiß, eigentlich mega uncool, aber das ist einfach ein Mensch, der viel tolle Musik gemacht hat, die bewegt und noch heute im Topmusikgeschäft unterwegs ist. Oder die Ärzte sind auch super. Ich hab Rotz und Wasser geheult, als die sich 1989 aufgelöst haben. Ich hab einfach Riesenrespekt davor, was diese Menschen geleistet haben.

Ihr seid als Band ziemlich erfolgreich. Gab es in eurer Karriere auch mal Tiefpunkte? Oh ja – jede Menge. 2006 war ein ganz großer Tiefpunkt unserer Band, weil wir keine Plattenfirma hatten und wir eben auf Suche waren. Dann hatten wir noch ein externes Management, das ist alles irgendwie vor die Wand gefahren und wir haben halt einfach vor der Produktion der 2. Platte so einen Moment gehabt, wo wir überlegt haben, die Band aufzulösen. Und natürlich gerade damals, als uns Nicholas gesagt hat, dass er nicht mehr Teil dieser Band sein möchte. Das war glaub’ ich der größte Tiefpunkt, den wir bisher hatten.

Was macht dich im Leben wirklich glücklich? Niemanden sehen. Ich bin eigentlich ein Menschenfeind, das ist jetzt nicht böse gemeint, aber ich hab halt mit so vielen Menschen zutun, da bin ich einfach so unendlich froh, wenn ich mit meinem Hund in der Natur bin, mit niemanden um mich herum. Das sind Momente, da bin ich einfach glücklich, wenn einfach Stille ist und ich nicht performen oder mich unterhalten muss. In so Momenten komme ich zur Ruhe. Natürlich mag ich auch Leben sehr; auf der Bühne, mit den Fans und mit dem Trubel, aber wenn man das immer hat, braucht man einen für sich perfekten Ausgleich. Und das ist für mich Stille, Ruhe und einfach weg.

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I nter v iew : L i n d a B a h u n , S e a n L e v e y F oto : S v e n S i n d t

Ihr habt euch nach dem Detektiv Jupiter Jones – im deutschen Justus Jonas – von ‘Die drei ???’ benannt. Wie kam es? Wir sind alle große “Drei ???”-Fans. Ich höre heute noch beim Autofahren „Drei ???“ statt Musik. Ich weiß noch, dass ich früher bei meiner Oma die allerersten Folgen auf ihrem alten Plattenspieler gehört habe. Als wir dann einen Namen gesucht haben, hat einer von uns den Jupiter Jones in die Runde geworfen. Wir fanden den alle cool und es hört sich ja auch echt geil an. (lacht)

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“Wir haben in jeder Milchkanne Deutschlands gespielt, aber MG war noch nicht dabei!”

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Jupiter Jones wollen sich nicht so richtig zwischen Punk, Rock und den übrigen Schubladen einordnen lassen. Ihr Rezept scheint zu wirken. Aus dem vielfältigen Reigen der Rockbands in Deutschland stechen nur einige wenige hervor. Dazu gehören unbedingt Jupiter Jones. Seit über zehn Jahren macht die nach dem Anführer der drei Fragezeichen benannte Band Musik; und mit ihrem bereits fünften Studioalbum „Das Gegenteil von Allem“, welches seit der vergangenen Woche veröffentlicht ist, stiegen die vier Jungs aus der Eifel so erfolgreich wie nie zuvor in die Charts ein. Standpunkt sprach mit dem Gitarristen Sascha Eigner.

Bei welchen eurer Lieder bekommst du die beste Laune? Das ändert sich eigentlich von Auftritt zu Auftritt. Im Moment ist mein Lieblingssong „Hey Menetekel“, weil das eben eine Dampfwalze ist, die von vorne bis hinten einfach so durch geht. Es gibt kein Hoch oder Tief. Es ist einfach ne mega musikalische Dampfwalze. Außerdem mag ich die Aussage sehr gerne. Aber es kann auch sein, dass es in drei Wochen ein anderer Song ist. Das ganze Interview: http://standpunktonline.com/?p=1472

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standpunkt j u n g e d e n k k u lt u r

Ab wann war euch denn klar, dass die Musik ein zentraler Bestandteil eures Lebens sein wird? Johannes // Das war mehr oder weniger ein schleichender Prozess, denn die Musik war schon immer sehr gegenwärtig bei uns, auch in der Familie. Wir haben als kleine Kinder schon die Beatles mit unseren Eltern gehört und da es bei uns im Dorf so wenige Angebote gab, brauchten wir eine Abwechslung zum Alltag. Wir haben auch früh Triangel- und Klavierunterricht genommen, also schon in der frühsten Kindheit! (lacht) Niko // Ja, wie Johannes schon gesagt hat, es war ein schleichender Prozess. Aber unser großer Traum war es schon immer, von der Musik leben zu können und das ist dann tatsächlich irgendwann auch in Erfüllung gegangen. Heutzutage ist das leider gar nicht mehr selbstverständlich. Johannes // Stimmt. Trotzdem wollen wir bescheiden bleiben und uns zurückziehen, wenn wir wollen. Unseren Proberaum haben wir deshalb auch immer noch auf dem Land.

Gab es einen musikalischen Wendepunkt in Eurer Karriere? Johannes // Den musikalischen Wendepunkt gab es mit der Vorgängerband ‚Hoerstuaz“ vor den Madsen. 2003 bis 2004 kam es dann zum Crossover. Bis dahin hat Sebastian auch viel gerappt, aber seitdem waren die Songs, die Sebastian geschrieben hat, schon Madsen-Songs. Ab dort wurde uns auch klar, dass wir uns außerdem einen neuen Namen einfallen lassen müssen, weil die Songs sich so verändert haben, dass der Name nicht mehr zu dem passt, was wir besingen. Das war eigentlich so der einzige musikalische Wendepunkt in unserer Karriere. Niko // Auf jeden Fall!

Auf Eurem Album „Wo es beginnt“ finden sich zum ersten Mal in Songs wie „Baut wieder auf“ oder „Generation im Arsch“ auch politische Themen wieder. Wie kam es dazu? Niko // Naja, man hat als eine Band von unserer Größe und einer gewissen Zuhörerschaft – ich will nicht sagen eine Vorbildfunktion – aber man hat schon eine gewisse Aufmerksamkeit und das, so finden wir zumindest, verpflichtet uns, gewisse Sachen klar zu stellen, zum Beispiel politisch. Dazu gehört, dass man sich für manche Dinge einsetzen muss, die man so nicht stehen lassen kann, zum Beispiel Atommüll sowie das Engagement gegen Rechtsextremismus, dazu sind wir verpflichtet! Seht Ihr Euch jetzt in einer Vorbildfunktion? Johannes // Wir wollen kein Vorbild sein. In diese Ecke wollen wir uns nicht drängen lassen. Ich denke, niemand muss ein Vorbild sein, wenn er es nicht sein will, nur muss man, wenn man die Aufmerksamkeit hat, entsprechend reagieren. Niko // Es ist ja auch selbstverständlich, dass die Leute wissen wo wir stehen, wenn wir in der Öffentlichkeit sind. Für uns ist es auch selbstverständlich zu sagen, dass Rechtsextremismus scheiße ist und Nazis Arschlöcher sind. Johannes // Es ist schlimm genug, dass man darauf überhaupt noch aufmerksam machen muss. Niko // Aber wir gehen da auch nicht hin mit hochgehaltener Flagge und sagen: „Ihr müsst jetzt so und so denken.“ Das ist nicht unsere Art. Aber wir wollen, dass die Leute wissen, was wir denken und wo wir stehen.

„Wenn wir kaputt sind, gehen wir ein paar Minuten ins Sauerstoffzelt“ I nter v iew : L i n d a B a h u n , M a r c F e g e r FOTOS: Madsen

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Wie nah seht Ihr Euch am Lebensgefühl Eurer Fans, die sich ja größtenteils aus Schülern und Studenten zusammensetzt? Johannes // Oh, die Frage ist gut, da muss ich erst einmal nachdenken. Eine solche Frage wurde uns noch nicht gestellt. Niko // Also, wir versuchen auf jeden Fall, so nahe an unseren Fans dran zu sein, wie es geht. Wir versuchen auch, nach den Konzerten zu unseren Fans zu gehen. Mit der Zeit kommt es auch, dass man die Leute, die fast jedes Mal unsere Konzerte besuchen, persönlich kennt. Da ist es auch interessant, sich mit den Menschen zu unterhalten. Johannes // Wir versuchen möglichst viel Kontakt zu dem Publikum zu halten, zumindest zu denen, die regelmäßig unsere Konzerte besuchen. Man muss auch sagen, dass sich unser Publikum aus verschiedenen Gruppen zusammensetzt. Da gibt es die Jugendlichen, aber auch Rentner und Kinder sind oft auf unseren Konzerten und deswegen ist es sehr schwer zu sagen, wie nahe wir an dem Lebensgefühl unserer Fans dran sind. Niko // Aber es ist ja so, dass Musik verbindet. Unsere Fans lieben unsere Musik genau wie wir – also wie verbundener kann man noch sein?

Eure Mischung ist schon manchmal ziemlich gegensätzlich. Laute Töne und Geballer trifft auf Ballade – wie passt das für Euch zusammen? Niko // Ich würde es langweilig finden, wenn immer nur dieselben Stücke gespielt werden würden. Wenn wir ein Konzert von 75 Minuten geben, können wir nicht die ganze Zeit Vollgas geben. Ich meine, wir sind alle über 30. Das schaffen wir einfach nicht mehr und deswegen brauchen wir ab und zu einfach mal ein paar ruhige Stellen. Wenn wir dann kaputt sind, gehen wir eben ein paar Minuten in das Sauerstoffzelt und dann geht das schon wieder. Seit 2009, als Michael Jackson starb, haben wir sein Sauerstoffzelt bekommen.

Wie seht Ihr diese Generation aus Eurer Sicht? Niko // Wir sind ohne Internet aufgewachsen. Jetzt ist das Internet überall, ich denke, das ist das Gefährliche an dieser Generation, weil viele Jugendliche das glauben, was im Internet steht. Ihr guckt auf Facebook, Twitter, Wikipedia und was da steht stimmt und wird ernst genommen, das ist eine gefährliche Sache. Johannes: Die Gefahr ist zumindest da, aber ich betrachte das Ganze recht interessiert. Wir wissen halt nur, wie es auch ohne ist. Wir sind früher einfach zu einem Freund hin und haben gefragt, ob er Zeit hat. Heute ist das anders, da schreibt man ganz unpersönlich eine SMS und gut ist es. Ich finde es schade und bedauere es, dass nicht jeder miterleben kann, wie wir auch ohne das Internet zurecht kommen. Das ganze Interview: www.standpunktonline.com/?p=1424

Mad sen

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Gibt es musikalische Vorbilder für Euch? Johannes // Viele – in unseren Kindertagen waren das ganz klar die Beatles. Ich mache das jetzt alles einmal an der Plattensammlung unserer Eltern aus. Als wir dann das erste Mal mit sechs oder sieben Jahren das CD-Regal durchforsteten, kam ganz schnell ACDC auf. Niko // Genau – und in den 90ern kamen dann auch Nirvana. Also alles, was so in die Punkrichtung geht waren so unsere Vorbilder.

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Madsen ist ja schon fast eine Familiensaga. Ihr seid im Wendland an der Elbe aufgewachsen. Wie habt ihr Eure Jugend verbracht? Niko // Schön auf dem Dorf. Wir sind richtige Dorfkinder. Es war eine schöne Jugend, du kannst als Kind durch das Dorf laufen, ohne dass sich jemand Sorgen macht, weil jeder weiß, wenn er einmal weg ist, dann ist er irgendwo bei den Nachbarn, die werden sich dann schon melden. Ganz einfach – man hat eine schöne, naturnahe Jugend.

Die Jungs von Madsen spielen Indie-Rock und stammen aus dem Wendland an der Elbe, das eher für die Castortransporte nach Gorleben bekannt ist. Drei der fünf Mitglieder sind Geschwister und ihre Band existiert seit 2004 unter dem Namen Madsen. Mit ihrer Debutsingle “Die Perfektion” eroberten sie 2005 nicht nur die Charts, sondern auch die Herzen tausender Fans.

„Für uns ist es auch selbstverständlich zu sagen, dass Rechtsextremismus scheiße ist und Nazis Arschlöcher sind!“ 35


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Der Umgang mit behinderten Menschen und das Selbstverständnis im Zusammenleben mit ihnen sagt viel aus, über die Entwicklung und den wirklichen Fortschritt einer Gesellschaft. Auf der Reise nach Moskau hat sie das Standpunkt-Team sie nicht getroffen: Menschen mit

Behinderungen. In großen Städten trifft man sie selten, in der Regel leben sie in ländlichen Gegenden, von ihren Familien getrennt und in Heimen versteckt – Menschen mit Behinderungen werden in Russland ausgegrenzt. Die kasachische Fotografin Anastasia Rudenko lebt

selbst in Russland. Für die Fotostrecke „Paradise“ hat sie das Leben behinderter Menschen in einem kleinen Dorf namens Elatma porträtiert. Ihre Bilder zeigen eine Parallelwelt, von der viele Russen keine Ahnung haben oder auch nicht haben wollen.

Isoliert im Paradies F otografie : A n a s t a s i a R u d e n k o

standpunkt

standpunkt

Wie geht eine Gesellschaft mit ihren schwächsten und schutzbedürftigsten Mitgliedern um? Werden sie integriert und wertgeschätzt oder isoliert und weggesperrt?

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Die vesteckte Gesellschaft?

Fast 30 Prozent aller Kinder mit Behinderung in Russland leben in staatlichen Waisenhäusern, wo sie unter Umständen Gewalt erfahren und vernachlässigt werden, so Human Rights Watch in einem veröffentlichten Bericht.

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Rund 300 Kilometer östlich von Moskau liegt das Dorf Elatma. Hier wurden im Zweiten Weltkrieg mehrere Waisenhäuser gebaut und heute sind dort behinderte Menschen jeden Alters untergebracht. Isoliert vom gesellschaftlichen Leben verbringen die meisten ihr ganzes Leben dort. „Paradise“ zeigt alles andere als das

schöne Landleben, denn das Leben von Menschen mit Handicap in Russland ist menschenrechtsverletzend. Die scheinbar romantischen und melancholischen Fotografien berühren mehr als eine dramatische Kameraperspektive oder schockierende Motive bewegen könnten.

Text: Erstveröffentlichung: www.fluter.de H erausgeber : B u n d e s z e n t r a l e f ü r p o l i t i s c h e B i l d u n g

In ihrer Fotostrecke „Paradise“ porträtiert die Fotografin Anastasia Rudenko das Leben behinderter Menschen in einem kleinen Dorf namens Elatma. Viele Behinderte in Russland leben auf dem Land, in Heimen und von ihren Familien getrennt.

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standpunkt j u n g e d e n k k u lt u r

standpunkt

www.vimeo.com/67517991 www.worldpressphoto.org/people/anastasia-rudenko

Der Bericht von Human Rights Watch zeigt auf, dass viele behinderte Kinder und Jugendliche in staatlichen Waisenhäusern Opfer von schwerem Missbrauch und Vernachlässigung durch das Personal wurden. In Interviews berichteten einige Kinder, vom Personal des Waisenhauses geschlagen, mit Betäubungsmitteln ruhig gestellt worden und für eine bestimmte Zeit sogar in psychiatrische Kliniken gebracht worden zu sein. Die Kinder sollten damit kontrolliert und bestraft werden.

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Anastasia Rudenko wurde 1982 in Süd-Kasachstan geboren und zog im Alter von 12 mit ihren Eltern nach Russland. Sie studierte Mathematik aus Überzeugung aber fühlte sich gleichzeitig zur Kunst hingezogen. Seit 2008 arbeitet sie als freischaffende Fotografin und ist auf diesem Gebiet mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet worden.

2015 Gewinner des Canon Female Photojournalist Auszeichnung 2014 Osteuropa-Stipendium für Studium an der Salzburg Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst 2013 und 2014 2013 Gewinner des Wettbewerbs „Junge Fotografen Russlands 2013“, Stipendium für Studium an der Danish School of Media and Journalism 2013 Finalist des INTERNATIONAL Fotografie-Wettbewerb 2013: globalen Welt - durch die Linse der Menschenrechte 2012 Für die 19. Joop Swart Masterclass, World Press Photo 2012 ausgewählt 2011 Shortlist Finalist in der Magnum Expression Award 2011, Als Nachwuchstalente für die Reportage ausgewählt von Getty Images 2011

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Text: Mark Offermann F otos : P a u l a V o l l m e r , L i n u s B a h u n

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Die ausführlichen Reportagen auf: www.standpunktonline.com/standpunkt-in-russland/

Viel wird über die “russische Seele” spekuliert, aber Russland lässt sich nicht in einem typischen Bild wiederfinden. Es scheint zwischen Moderne und den Widersprüchen der eigenen Geschichte.

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Die Reise nach Moskau und die unterschiedlichen Begegnungen und Interviews vor Ort wurden durch den Journalistennachwuchspreis von DER SPIEGEL ermöglicht.

Die Moskauer Lomonossow-Universität gilt als akademisches Aushängeschild des Landes. Erbaut noch zu Zeiten des stalinistischen Terror-Regimes, ist sie heute die größte universitäre Einrichtung des Landes. In einem beschaulichen Raum, der kaum mit Fenstern versehen ist, treffen sich die Studenten der Journalistischen Fakultät. Die Gruppe ist kleiner, als man das von einigen Seminarkursen deutscher Universitäten kennt, jeder von Ihnen zeigt sich kommunikationsfreudig und interessiert. Im Rahmen des freien, russisch-deutschen Instituts für Publizistik (FRDIP) gehören Praktika im deutschsprachigen Raum zum festen Bestandteil des Studiums. Entsprechend groß ist das Interesse an Deutschland, seiner Kultur, der Politik und den Menschen. Hier wird ein offener Umgang gepflegt, durch reflektierende Erfahrungen aus dem Ausland wissen sie über die russische Mentalität viel zu erzählen. „Wir sind alle ein bisschen zurückhaltend. In Deutschland lächeln die Menschen einander an. Das ist hier nicht so. Enge Beziehungen brauchen in Russland Zeit, “ berichtet Anastasia Arinushkina. In Teilen von Russlands unruhiger Hauptstadt spiegelt sich das sehr vereinfachte Bild des distanzierten Russen wider. Die Straßen sind gefüllt von Menschen, die zielstrebig ihren Weg verfolgen. Auch abseits der Stoßzeiten ist es noch voll in den Metrostationen, Menschenmassen bewegen sich in klaren Linien aneinander vorbei. Geradezu beängstigend präzise verfolgen Berufstätige, junge Leute und Stadtbürger einen scheinbar vorgezeichneten Weg. Zeit für Gespräche und Plaudereien bleibt dabei fast nie. Das dies jedoch nur eine Sichtweise ist, wird in den Gesprächen mit den aufgeschlossenen Studenten schnell deutlich. „Wichtig ist, dass man ehrlich bleibt. Wenn man schlecht gelaunt ist, dann muss man es auch zeigen können. In anderen Ländern ist es wichtiger, sich korrekt zu verhalten.“ Internationalität und Weltoffenheit – das sind Begriffe, die typisch sind für eine junge Generation in Russland, die ganz anders lebt als noch zu den Zeiten ihrer Eltern. Anders vielleicht schon als zu Zeiten ihrer zehn Jahre älteren Verwandten. Denn die Umbrüche der 1980er Jahre haben Spuren hinterlassen. Eine Politik der Transparenz wurde abgelöst durch den Zerfall des kommunistischen Systems, ein Übergang zu demokratischen Strukturen war auch verbunden mit der Notwendigkeit neuer Strukturen und Werte. Daraus ergeben sich Widersprüche, die bei einem Blick auf die heutige Generation greifbar wird. Ein schwieriges Thema ist die berufliche Zukunft. Zu einer journalistischen Karriere in Russland gibt es unter den Teilnehmern ganz unterschiedliche Meinungen. Nicht jeder von ihnen möchte später auch als Journalist arbeiten. Genaue Pläne gibt es oft nicht. Alina Ryazanova ist da fast eine Ausnahme. Sie würde gerne viel recherchieren und verstehen, wie die Hintergründe sind. Trotzdem fühle sie sich nicht immer wohl dabei. „Ich habe an einer Geschichte zu einer Kirche in

Generation der Angepassten? standpunkt

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Die Jugend in Russland ist differenzierter als das die Außensicht des Staates vermuten lässt. In einem Land, das zerrissen scheint, zwischen Moderne und den Widersprüchen der eigenen Geschichte, wird deutlich: Die postsowjetische Generation ist nur schwer zu greifen. Eine unterschiedliche Prägung wird bestimmt durch Alter und Wohnort, schon zehn Jahre Unterschied können Welten ausmachen. Das Ergebnis ist ein Mosaik unterschiedlichster Facetten.

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das nicht zu sein. Die Annexion der Krim wird im Zuge einer Museumsführung besprochen, die insgesamt wie eine Lehrstunde russischer Siegesgeschichte daher kommt. Argumente zur Lage der Ukraine ähneln sich in nahezu deckgleicher Form mit den Positionen der russischen Regierung. Die jungen Aktivisten verkörpern ein Spektrum nationalpatriotischer Tendenzen, dessen gesellschaftliche Relevanz nur schwer einschätzbar ist. Auf der anderen Seite würden sich in Umfragen nur wenige Jugendliche überhaupt als

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Zwei Fotos, ein Gegensatz: Der jüngste Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow ist ein wichtiges Thema bei der unabhängigen Zeitung Nowaja Gaseta (oben), im Duma-Parlament spricht man nicht gerne über die Rolle der Opposition (unten).

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meinem Stadtteil gearbeitet. Aber ich habe keine Hilfe bekommen und ich hatte Angst, weil die Leute mich gefragt haben: Warum machst du das? Es ist schwierig. Ich denke, jetzt möchte ich mehr mit Design machen.“ Tatsächlich trauen sich nicht viele Zeitungen in Russland zu einer wirklich unabhängigen Berichterstattung. Eine der wenigen ist Nowaja Gaseta, erst kürzlich musste die Redaktion ihre Printausgabe einstellen, da die Konkurrenz zu den staatlich gestützten Medien zu groß ist. Ihre Unabhängigkeit wollen die Verantwortlichen jedoch nicht aufgeben. „Informationen, die man hat, sollte man nicht verstecken“, betont Nadeschda Prusenkowa, sie ist Sprecherin der auch international anerkannten Tageszeitung. „Es ist kein Geheimnis, dass viele Studenten zu den Demonstrationen für Putin gehen müssen, da sie, wenn sie nicht hingehen, keine Noten bekommen“, so die Redakteurin weiter. Es sind Worte, die einen ungläubig machen, angesichts der Erfahrungen im Universitätsumfeld der Metropole. Dennoch offenbart ein Blick auf die inneren Zustände des Landes, dass es Widrigkeiten gibt, gegen die eine junge Generation nur schwer ankämpfen kann. Im Zuge eines patriotischen Erziehungsprogramms hatte Wladimir Putin zur Jahrtausendwende eine Verordnung erlassen, nach der die positiven Merkmale der russischen Geschichte wieder deutlicher in den Vordergrund gestellt werden müssten. Geschichtslehrbücher wurden umgeschrieben, eine Vermittlung patriotischer Gefühle steht jedoch nicht erst seit der Ära Putin im Zentrum der staatlichen Politik. Während in Bezug auf die Universitäten eine stärkere Westorientierung aktiv unterstütz wird, vermittelt sich im Erziehungsprogramm ein rückständiger Geist, der sich auf Werte wie Tradition und Vaterlandsliebe bezieht. Meinungsvielfalt ist Mangelware, abseits der großen Städte ist es noch schwieriger, sich kritisch fundiert über politische Inhalte zu informieren. Im Zentralmuseum des „Großen Vaterländischen Krieges“ (Anm. d. Red.: russische Bezeichnung für

den Zeiten Weltkrieg) findet sich die Transformation traditioneller Vergangenheitselemente in seiner konzentrierten Form wider. Der Zweite Weltkrieg ist im erinnerungskulturellen Gedächtnis der Nation 70 Jahre nach seinem Ende noch immer fest verankert. Die sowjetische Gesellschaft hatte im Kampf gegen das faschistische Nazi-Deutschland die meisten Kriegsopfer aller beteiligten Nationen zu verzeichnen. In den Ausstellungsräumen werden mit viel Pathos und visuellen Untermalungen die größten Schlachten bis zur Eroberung Berlins durch die Rote Armee nachgezeichnet. Zahlreiche Bilder und nachgestellte Tonaufnahmen zielen darauf ab, den Besucher möglichst direkt in die dargestellte Kriegssituation zu versetzen. Belegbare Dokumente für die teilweise heroische Darstellung einzelner Heldentaten findet man dagegen deutlich seltener. Eine Gruppe der jungen Anti-Maidan Bewegung hatte diesen Ort ausgewählt, um sich zum gemeinsamen Gespräch zu treffen. Ein Zufall scheint

politisch bezeichnen. Dennis Volkov, Meinungsforscher am unabhängigen Lewada-Institut ergänzt: „Es gibt eine breite Zustimmung für die Regierung, auch unter den Jugendlichen. Gerade in Krisensituationen steigen diese Werte noch an. Ich erkläre mir das durch fehlendes, politisches Interesse.“ Scheinbares Engagement, wie das der Anti-Maidan Bewegung, existiert meist nur unter dem Deckmantel staatlicher Interessen. Trotz aller überalterten Normen, die eine russische Gesellschaft noch heute prägen,

begegnet man einer internationalisierten Jugend, die sich kontinuierlich von den Lebensbedingungen ihrer Eltern emanzipiert. Gleichzeitig sind Vergangenheitsbezug und Kennzeichen einer orientierungslosen Haltung die möglichen Folgen einer ideologischen Findungsphase, die seit dem Zerfall der Sowjetunion noch immer nicht abgeschlossen scheint.

Fotos: 1. Im Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Kriegs (Anm. d. Red.: russische Bezeichnung für den Zweiten Weltkrieg) treffen wir eine Gruppe der Anti-Maidan Bewegung. Hier trifft man auf nationale Töne und eine Rhetorik, die sich stark anlehnt an die Ukraine-Positionen der Regierung. 2. Die Duma-Abgeordnete Aljona Arschinowa verkörpert einen Politikertypus, der auf höchster Regierungsebene als beispielhaft gilt. Zielstrebig, modebewusst und karierreorientiert. Politische Inhalte scheinen eher Instrument als persönliches Anliegen. 3. Das Lewada-Zentrum für Meinungsforschung ist international anerkannt – die unabhängige Arbeit mit Umfragedaten hat lange Tradition. Konflikte mit der Regierung bleiben da nicht aus. Quellenverweise www.welt.de/politik/deutschland/article144746782/Putin-draengt-russische-Unis-Richtung-Deutschland.html www.zeit.de/2001/31/Zurueck_zu_Gott_und_Vaterland/seite-2

4. Sechs Fotos für sechs Redakteure: Bei der Novaja Gaseta erinnert man an die Todesfälle der letzten zehn Jahre – viele davon bis heute unaufgeklärt.

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Fotos: Paula Vollmer, Linus Bahun

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Olga Ivanova, 22 Jahre, St. Petersburg „Die Jugend des modernen Russlands hat sich ganz schön verändert und in St. Petersburg merkt man das besonders stark. Alles wird europäischer, zum Beispiel auch das Studium. Das Ausbildungssystem Russlands war immer weltberühmt dafür, in kurzer Zeit enorm viel Grundwissen zu vermitteln. Der Vorteil des heutigen Studiums ist: Es gibt eine größere Offenheit und Bandbreite. Das heißt zum Beispiel, jeder Student kann praktisch im Ausland studieren und Erfahrungen sammeln, was früher überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Gleichzeitig ist das Studium immer noch sehr genau und anspruchsvoll, so dass wir schon mit 23 Jahren gut ausgebildet sind. Die Konkurrenz aber ist groß auf dem Arbeitsmarkt und immer wichtiger wird, an welcher Universität du studiert hast, ihr Ruf und Prestige entscheiden über deine Chancen.“

Olga ist Studentin an der Staatlichen Universität in St. Petersburg. Mit einem Stipendium studiert sie dort Volkswirtschaft. Im Augenblick nimmt sie an einem Austauschprogramm der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin teil.

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Veronika ist in Moskau geboren und hat dort auch studiert. Obwohl ihr Vater dagegen war, ist sie Journalistin geworden, weil sie die Entwicklung Russlands fördern will. Seit Herbst 2006 arbeitet sie erfolgreich als Chefredakteurin der Moskauer Bezirkszeitung Kolomenskije Versty. Zurzeit hat sie ein Stipendium der Freien Universität Berlin und arbeitet in der Redaktion der tageszeitung (taz).

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Veronika Weinstein, 24 Jahre, Moskau „Wir haben Glück, dass wir in dieser Zeit in Russland leben. Unser Land ist jetzt auf der Suche nach einem neuen Entwicklungsweg. Dabei ist sehr wichtig, dass eben die neue junge Generation, zu der ich gehöre, als die Hoffnung und die Zukunft des Landes betrachtet wird. Ich meine damit, dass wir zurzeit viele Möglichkeiten haben. Man kann ein eigenes Geschäft gründen und zwar relativ früh im Vergleich zu Deutschland, wo die meisten jungen Leute bis zum 30. Geburtstag immer noch Studenten sind. Für uns ist es ganz normal, wenn ein junger Mann oder eine junge Frau mit 25 schon Karriere gemacht hat. Es herrscht ein Prinzip: ‚Hast du viel vor und strebst danach, bist schlau und manchmal vielleicht sogar ein wenig frech, dann bitte schön, alle Türen stehen dir offen. „Ich habe viele Bekannte in Moskau und in Russland, die nach diesem Prinzip handeln. Ich sage nicht, dass es immer leicht fällt. Ganz im Gegenteil. Es gibt genug Schwierigkeiten. Niemand in Russland ist beispielsweise sozial gut versichert. Aber wichtig ist es zu wissen, wenn du etwas machst, ist das nicht für umsonst.“

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Karina Klimenko, 23 Jahre, Tscheljabinsk „Was sich enorm verändert hat, ist die Tatsache, wie viele Jugendliche heute ‚digitalisert‘ sind. Durchschnittliche Jugendliche haben heute einen USB-Stick-Player um den Hals, Handy, Palm oder Laptop, immer häufiger auch mit W-LAN. Darin dann ein ganzes Kommunikationsset mit ICQ oder Mail-Agent, Software für IP-Telefonie, Livejournal-Adresse und so weiter. Schon sind Lehrer gezwungen, Handys vor der Klassentür einzusammeln, weil die Smartphones für Prüfungen und Tests benutzt werden. Das geht schon bei den Zehnjährigen los! Handys und Computer sind seit ungefähr sechs Jahren in Russland Teil des Alltags – und so wird auch das Internet in Russland immer wichtiger. Das heißt: Unser Leben wird immer schneller – und das riesige Land wird dadurch vielleicht manchmal ein wenig kleiner.“

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Karina ist ausgebildete Internet-Journalistin. Sie schreibt schon seit drei Jahren als freie Journalistin für verschiedene Online-Magazine. Das Netz ist für sie die Zukunft des Journalismus: Dort gibt es mehr Freiheiten und Möglichkeiten, sich selber zu verwirklichen.

Zitate aus: www.fluter.de/de/russland Zoya Afanasyeva

Vladislav Vytovtov, 22 Jahre, Taganrog „Ich finde, russische Jugendliche sind immer noch sehr stark vom russischen Traditionalismus geprägt und deswegen bis heute noch nicht offen bei Fragen wie Homosexualität oder Kiffen. Darüber spricht man einfach nicht – und das heißt eigentlich: So etwas tut man nicht. Dabei ist doch bekannt, dass verbotene Früchte immer süß sind. Aber die Erziehung ist in Russland sehr strikt. Der Anstand ist sehr wichtig, es gibt viele Tabu-Themen und man soll halt der Norm folgen. Ich selbst denke auch, dass es eine fixe Idee ist, sich immer so frei zu fühlen, alles zu tun. In Berlin liegen oft hunderte nackte Leute einfach in den Parks herum. Sie entblößen und präsentieren sich. Ich finde, die Leute verlieren dadurch ihre eigene Intimität, eigene Originalität, wie die Tiere im Zoo. Für Russland wünsche ich mir so etwas nicht.“

Vlad ist in Taganrog geboren. Taganrog liegt in der Nähe von Rostov-am-Dom, wo er studiert hat. Heute arbeitet er als freier Journalist und Dolmetscher in Taganrog. Das Wichtigste, findet Vlad, ist es, seine eigenen Gedanken und Meinungen zu haben.

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цифровой Ihre Kollektion „цифровой“, was soviel bedeutet wie „digital“, spielt mit Elementen des russischen Konstruktivismus und modernen Medienbausteinen: eine Verbindung der alten Tage mit dem Heutigen. Grafische Patterns und selbst kreierte geometrische Prints bilden den Ausgangspunkt ihrer Serie und spiegeln eine überladene, desorientierte und digitalisierte Gesellschaft wider. Den Grundgedanken des Konstruktivismus reaktiviert sie durch eine neue, unverstaubte Perspektive. Inspiriert wurde Fredi Baus insbesondere durch die Werke der russischen Künstlerin Warawara Siepanova.

www.fredibaus.wix.com/fredibaus

F otografie : M a g d a l e n a P e r a l t a W i d o w I llustration : F r e d i B a u s

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Fredi Baus studierte bis 2014 an der internationalen Kunsthochschule für Mode in Berlin. Anschließend ging sie nach Italien, um neue Inspirationen und Erfahrungen zu sammeln.

Kunst diente diente als als Kunst Informationsträger Informationsträger für Menschen. Menschen. für

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Der russische

Es braucht schon Mut, etwas Gemustertes anzuziehen und man darf dabei nicht kleinkariert sein. Wer sich so kleidet, liebt die Auffälligkeit und das Anderssein: ganz unumwunden - eben ohne Schnörkel.

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Groß im Trend sind derzeit in den Bereichen Design und Architektur die Klassiker der alten Bauhaus-Schule. Jetzt ist neben dem Bauhaus auch der Konstruktivismus wieder da. In der Mode kommt er in Form vieler grafischen Muster zurück. Diese sind angelehnt an die Bilder der russischen Avantgarde. Farbige Muster aus Linien und Kreisen finden sich auf Herrenhemden von Givenchy, große weiße Kreise auf Mänteln von Kenzo, Quadrate und Dreiecke bei Valentino. Sogar bei Lacoste werden Kollektionen mit großen grafischen Mustern bedacht.

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Der Stil konzentriert sich auf geometrische Grundformen und widersetzt sich symbolhaft allen historisch gewachsenen Formen. Naturalistische Nachbildungen wurden von den Künstlern des Konstruktivismus strikt abgelehnt.

Konstruktivismus.

Der Konstruktivismus als Begriff aus der Kunst bezeichnet eine streng gegenstandslose Stilrichtung Anfang des 20. Jahrhunderts und geht auf Kasimir Malewitsch zurück.

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Ein Trend, der zunehmend Fahrt aufnimmt. Derzeit entdecken viele Städte die gute, alte Markthalle als Ort wieder, an dem Leben, Essen und Lebensmitteleinkauf eine attraktive Melange eingehen. Damit, so hoffen viele Stadtvermarkter und Wirtschaftsförderer, könnten die Stadtzentren ihr besonderes Profil und regionale Stärken hervorheben, um ihr Überleben in Zeiten des boomenden Online-Handels zu sichern. Doch ob Markthalle, riesiger Speise-Tempel oder Gourmet-Insel im Supermarkt, sie sind alle Ausdruck desselben Phänomens - Die Verbindung von Gastronomie und Handel ist ein mächtiger Trend. Architekturstudenten der RTWH Aachen zeigen in einem Entwurf, wie eine Markthalle am Carlsplatz in Zukunft aussehen könnte. „Entwerfen Sie eine Markthalle für den Carlsplatz“ hieß die Aufgabe, die sechs Studierende für ein Semesterprojekt in Architektur bearbeiten mussten. Dabei sollten die Studenten zeigen, dass sie kreativ mit den örtlichen Vorgaben wie z.B. mit dem bereits seit Jahrzehnten bestehende traditionellen Wochenmarkt umgehen. Bevor es an die Umsetzung einer Idee für eine Markthalle ging analysierten die Studenten die Umgebung und die Bebauung, das Licht, die Aussicht aber auch wie sich die Menschen an diesem Ort bewegen und welches Sortiment dort angeboten wird. Diese grundlegenden Voraussetzungen verarbeitete jeder in ersten Einzelentwürfen. Die aussichtsreichsten Ideen wurden nach einer gemeinsamen Teamauswahl mit jeweils zwei Verantwortlichen besetzt, die mit einem Raumprogramm die Vorschläge weiter vertieften. Dabei wurden für die endgültige Ent-

scheidung Vor- und Nachteile, Ästhetik und Funktion sowie terminliche Umsetzungsmöglichkeiten der Entwürfe abgewogen. Recherchiert hat die Gruppe mit Fachliteratur und sich auch im Internet z.B. über Pinterest von architektonischen Vorbildern inspirieren lassen. Nach der Erarbeitung des Vorentwurfes ging es an die Planung der Tragwerkskonstruktion und damit auch an die Entscheidung des Materials. Darauf folgte die Festlegung auf eine Fassade und letztlich die Ausarbeitung der vollständigen Werkpläne inklusive der nötigen Gebäudetechnik zur Belüftung, Beheizung und Sanitärnutzung. Der gesamte Prozess verläuft fließend und entwickelt sich während der Planung kontinuierlich weiter, was auch das Verwerfen oder Verändern einer Entscheidung bedeuten kann. So erinnert sich Sabine: „Bei der Bearbeitung der Details kann sich aber nochmal alles ändern. Man muss gegebenenfalls noch einmal einen Schritt zurück gehen, wenn man etwas entwickelt und dann merkt, dass es nicht passt.“ Die Bespielung der Markthalle ist vom Studententeam auch für Ausstellungen oder kleinere Events vorgesehen. Für Konzerte wäre die Halle mit ihren großen Glasflächen aus akustischen Gründen weniger geeignet. Natürlich begrenzen gerade rechtliche Bauvorgaben die architektonische Freiheit. Brandschutz, Barrierefreiheit, Wärmedämmung

Markthalle

Wie wäre es mit einer Safran-Fischsuppe mit Jakobsmuscheln, Edelfischen und einer Gemüse-Julienne für 15,90 Euro? Oder Rote-Beete-Lachs an Wasabi-Mousse und Mangochutney für 19,90 Euro? Wir sind, wohlgemerkt, nicht in einem Edelrestaurant, sondern in einer Markthalle.

Renaissance

Eine

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Die Architekten:

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und Energieeffizienz sind nur einige Beispiele, die bei der Planung mit den bestehenden Verordnungen abgeglichen werden müssen und Kreativität bei der ästhetischen Umsetzung verlangen. Sicherlich gibt es bei dem Modell für die Markthalle noch Optimierungsbedarf in Bezug auf die Anwendung und Umsetzung baurechtlicher Vorgaben, aber es handelt sich in diesem Fall ja noch um ein fiktives Projekt. Vier Monate Zeit hatten die sechs Studierenden für diese Aufgabenstellung und mussten sich dabei auch mit den Herausforderungen der Kommunikation und dem Austausch im Team stellen. Dank moderner Kommunikationsmittel und dem gemeinsam nutzbaren Arbeitsraum konnte das Projekt ohne große Schwierigkeiten innerhalb des gesetzten Zeitrahmens fertiggestellt werden – auch wenn sich das Team gerne noch länger mit der Perfektionierung der Idee beschäftigt hätte. Selbst wenn die Aufgabenstellung fiktiv ist, so muss das Modell Markthalle nicht Utopie sein, denn Interesse könnte es schon bei Stadtplanern und Architekturbüros wecken.

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Leonie Dreiser Sabine Hesse Susanne-Xiaochen Cui Jonas Kempin Kristin Schöning Luisa van Bökel

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Auf Festivals zelebrieren sie den neuen Food-Kult, der für bewusste, gesunde und regional geprägte Ernährung steht.

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Street Food ist für die meisten Deutschen vor allem der kleine Snack auf die Hand zwischendurch, ein Döner in der Mittagspause oder die Brezel beim Einkaufsbummel. Gerade wird Deutschland von einem der leckersten Trends der letzten Jahre noch erfasst: Street Food Märkte. Sich in schönem Ambiente entspannt durch die Geschmäcker der Welt zu snacken, klingt doch ganz vielversprechend, oder?

„Du bist, was du isst“ ist da auf einmal ganz wörtlich gemeint. Bestimmte Lebensmittel, aber auch deren Kauf und Zubereitung dienen dazu, eine Haltung einzunehmen und sich selbst zu definieren. Dem Hipster seine veganen Cookies, dem Nerd seine Pizza und dem Körperfetischist seine grünen Smoothies. Oft kann das Essen eines Menschen dabei helfen, zu verstehen, welche Idee jemand von Schönheit, Gesundheit und Glück hat. Gleichzeitig werden die Produktion und die Verarbeitung von Nahrungsmitteln oft industrialisiert: Alles soll immer in jeder beliebigen Menge verfügbar sein. Das Ergebnis sind größengenormte Gurken, Lebensmittelskandale und Tiere, die im Schlachthof unter der Konsumlust der Massen leiden müssen. In Rückbesinnung auf einen natürlicheren Geschmack, verantwortungsvolleren Genuss und ein Gefühl von Natur und Nähe begeistern sich immer mehr Menschen für gute Produkte, die von smarten Köchinnen und Köchen zubereitet und genießbar gemacht werden.

Guten Appetit!

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Fotos: Karla Vollmer

Olfaktorische Feuerwerke am Gaumen stehen im Zentrum dieser Bewegung, die von Mönchengladbach bis Kapstadt immer mehr Anhänger findet — und zugegebener Maßen die Hipster der Städte und Länder magisch anzieht. Da wird der vegane Cookie ganz schnell gegen ein selbstgebrautes Bier und eine regionale Bio-Wurstspezialität ausgetauscht.

standp u nkt

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Essen und trinken muss jeder: Grundbedürfnisse von Lebewesen, die gestillt werden müssen. Essen gehört zur menschlichen Kultur. In Gesellschaften, in denen Nahrung im Überfluss vorhanden ist und man den Luxus hat, zu wählen, was man isst, wird Essen zum Lifestyle.

Foodmarket statt Restaurant

Kapstadt/Südafrika 33° 55’ S, 18° 25’ O Foodmarkets mit landwirtschaftlichen Produkten aus der Region sind nicht nur im Gourmet-Mekka Kapstadt angesagt. Auch hier bieten Foodmarkets die beste Voraussetzung für einen wunderbar entspannten – und vor allem schmackhaften – Tag mit Freunden in netter Atmosphäre.

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Max

SCHWERIN

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Momente aus der Hektik der Großstadt, fotografische Begegnungen mit fremden Menschen, Unvoreingenommenes, das Pure, das Unerwartete – das ist es, was Max Schwerin mit seinen Bildern festhalten möchte. Er versucht dies in Situationen, Gesichtsausdrücken und Geschichten wiederzugeben. Selbstverständlich analaog, denn er nutzt den Prozess im Labor auch als Entwicklungsphase, die der Zeitlosigkeit gerecht wird und dem Motiv den entsprechenden Wert gibt. Auch die Vorbereitung auf das Motiv, bevor man ganz bewusst die Entscheidung zum Auslösen trifft, setzt das Wissen um die Wirkung der bildne-

rischen Mittel wie Komposition, Perspektive und Kontraste voraus. Severin Koller, Bruce Gilden und Henri Cartier Bresson haben ihn in seiner Streetphotografie besonders inspiriert. Max Schwerin ist 26 Jahre alt und hat vor seinem Fotografiestudium in Berlin, Kultur- und Medienwissenschaften studiert. Zu Berlin hat er eine ganz besondere Beziehung. Sie ist für ihn eine Stadt, die trotz ihrer Größe und Anonymität eine gewisse Intimimtät und Vertraulichkeit zulässt. Seine Bilder aus und über Berlin bleiben zeitlos, denn sie konservieren Momente.

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Der Wahlberliner Max gibt der anonymisierten Großstadt ein Gesicht. Unverfälscht, ehrlich und direkt aus dem Alltag der urbanisierten Gesellschaft. Der Betrachter bekommt einen Spiegel der Gesellschaft vorgehalten.

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S c h w e r i n

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www.schwerinable.tumblr.com

Der radikale Wandel in der Berufsund Arbeitswelt hat auch in den letzen Jahren die alten Klassenund Sozialschichten aufgelöst. Eine neue urbane Bevölkerungsschicht mit unterschiedlichen Milieus und Lebensstilen entwickelt sich.

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Die Qualität der städtischen Urbanität hängt von der Verbreitung des allgemeinen Bildungs- und Ausbildungsniveaus, der Prozess der Individualisierung und den Grad der Entwicklung zur Informations- und Kommunikationsgesellschaft ab. Auch veränderte Haushalts- und Familienstrukturen prägen eine städtische Gesellschaft. Die gestiegenen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und die zunehmende Mobilität der Menschen und weitere Faktoren führen dazu, dass traditionelle Verhaltensmuster der bürgerlichen Lebens- und Arbeitswelt einem grundlegenden Wandel unterworfen sind. Eine zu beobachtende Veränderung ist dabei, der immer größer werdende Abstand zwischen Arm und Reich.

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Niklas Egberts erzählt von seinen Erfahrungen.

Die Entstehung des Gedankens hinter der Humboldt Reise lässt sich bis in unsere Einführungswoche zurück verfolgen. In einem Vortrag warf der damalige Universitätspräsident Stephan A. Jansen die Frage auf, wie man Krisen angemessen erforschen könne. Eher beiläufig wurde die Idee einer mobilen Universität erwähnt, die aus dezentralen und mobilen Laboren besteht. Diese Labore könnten dann, zum Beispiel in Form von Containern, um die Welt reisen und eine Krise noch während ihres Ausbruchs vor Ort erforschen.

Ende

Ein Blick zurück auf eine ungewöhnliches Experiment: Kann man Kunst und Kultur exportieren?

Das Fehlen jeglicher Erfahrungswerte war Herausforderung und Chance zugleich. Einerseits hatten wir einen großen Freiraum bei der Entwicklung des Formats, andererseits mussten wir oft mit Unklarheiten kämpfen. Am Ende konnten wir unser Vorhaben jedoch tatsächlich in die Tat umsetzen. Dafür danken wir dem Vertrauen und der Unterstützung durch unsere Universität und unseren weiteren Förderern. Der Abschied von Deutschland im Februar fiel uns aufgrund der Kälte und des für den Bodensee typischen Nebels nicht schwer. Da in Südafrika und Deutschland die Jahreszeiten verkehrt herum sind, erwartete uns in Kapstadt das angenehme Ende des heißen Sommers. Auch wenn es sich hier oft wie im Paradies anfühlt, war das schöne Wetter keinesfalls der Grund, warum wir uns für Südafrika entschieden haben. Es sind die komplizierte Vergangenheit und Gegenwart des Landes, die Südafrika und insbesondere Kapstadt attraktiv für eine Forschungsreise machen. Auch wenn das Ende der Apartheid dieses Jahr sein fünfzehnjähriges Jubiläum feiert, ist Segregation nach wie vor im Alltag präsent. Zwischen Arm und Reich gibt es eine riesige Kluft, die sich in Hautfarbe und räumlicher Trennung wiederspiegelt.

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Mit dem Container

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Unser Team besteht aus Kultur-, Kommunikationsund Wirtschaftswissenschaftlern. Dementsprechend vielfältig sind auch die von uns in den Forschungsprojekten bearbeiteten Fragen. Die Themen reichen von ‚Volunteer-Tourism‘ bis zum Investitionsverhalten in Sozial- Unternehmen, von Gangs in den Townships Kapstadts bis zum Lernverhalten in Organisationen. Diese Projekte sind einerseits angebunden an Lehrstühle in Friedrichshafen und andererseits an verschiedene Unternehmen und NGO’s in Kapstadt.

Wir waren von dieser Vorstellung fasziniert und haben bald angefangen, eigene Pläne zu schmieden und uns über mögliche Ziele auszutauschen.

der Welt

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Die Kapstädter werden jedoch nicht nur angesprochen, sondern auch mit einbezogen. Der Container schafft Möglichkeiten zur Partizipation und fragt nach alternativen Strategien zur Gestaltung von öffentlichem Raum.

Mit der Einführung des 4-jährigen Bachelors an der ZU wurde das sogenannte Humboldt-Jahr ins Curriculum eingeführt. In diesem Zeitraum haben Studierende die Möglichkeit, sich fachlich zu vertiefen oder eigene Forschungsprojekte umzusetzen. Für uns war von Anfang an klar, dass wir diese Gelegenheit für unsere Container-Reise nutzen wollten. Allerdings sind wir Teil der ersten Kohorte des neuen verlängerten Bachelors, und so hat vor uns noch nie jemand das Humboldt Jahr studiert.

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ans andere

Unser Container kam auf dem Schiff nach und wurde dann im Stadtzentrum Kapstadts installiert. Für drei Monate stand er zwischen dem College of Cape Town und der Stadtbibliothek und war dort Labor, Bühne, Werkstatt und Wohnzimmer. Der Container ist der interne Knotenpunkt zwischen unseren Forschungsprojekten und die externe Schnittstelle zur Zivilgesellschaft.

Die Humboldt Journey ist eine Forschungsreise von 7 Studierenden der Zeppelin Universität und einem ungewöhnlichen Begleiter: ein blauer Industriecontainer. Im Frühling 2014 sind sie nach Südafrika geflogen, um dort für vier Monate in Kapstadt gemeinsam zu forschen, zu arbeiten und zu leben.

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„Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die derjenigen Leute, welche sich die Welt nie angeschaut haben.“ — Alexander von Humboldt was das Einhalten von Uhrzeiten angeht, wird hier nicht so umgegangen, wie wir es aus Deutschland gewohnt waren. Es ist keine große Sache, wenn jemand mal eine Stunde zu spät oder gar nicht kommt. Spricht man mit den Kapstädtern darüber, hört man bloß den Spruch „T.I.A. – this is Africa“. Mit der Zeit haben wir gelernt, darüber zu lachen und vorsichtiger mit Verbindlichkeit umzugehen. In der ersten Woche haben wir einen Rundgang durch sämtliche Klassen gemacht und unser Projekt vorgestellt. Während den Pausen standen wir mit unseren Infosäulen draußen. Die Reaktion der Studenten war anfangs sehr gemischt. Viele konnten überhaupt nicht glauben, dass wirklich ein Container vor dem College aufgestellt wird. Andere sprudelten sofort von eigenen Ideen für Nutzungsmöglichkeiten.

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Die Ideen der Studenten haben wir in unserer ‚Containter-Your- Idea‘ Box gesammelt und gemeinsam mit ihnen Pläne entwickelt, wie diese später im Container umgesetzt werden können. Dabei herausgekommen sind zum Beispiel eine Sitzecke mit Kissen und Sofa, ein urbaner Garten und eine offene Bühne mit Mikrofon für Gesang, Rap und Tanz. Trotz der Unterstützung durch das College gestaltete sich die Ankunft des Containers schwieriger als gedacht. Kunst im öffentlichen Raum hat es in Kapstadt nicht einfach, denn es müssen eine Vielzahl an Erlaubnissen durch die Stadt eingeholt werden. Die verschiedenen Abteilungen des bürokratischen Apparats müssen Installation, Bemalung und Veranstaltungen am Container separat absegnen. Die Zuständigkeiten sind oft unklar und der ganze Vorgang braucht eine lange Bearbeitungszeit. Und so kam wie es kommen musste: Der Container erreicht den Hafen Kapstadts und darf nicht aufgestellt werden. Mehrere Wochen haben wir mit Telefonaten, Emails, Besuchen und dem Sammeln von Unterschriften verbracht – und wurden hingehalten, abgewimmelt und ignoriert.

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Kapstadt erhielt für das Jahr 2014 den Titel World Design Capital. Dieser Titel wird alle zwei Jahre von der International Association of Industrial Design vergeben. Im Rahmen dieses Jahres finden in Kapstadt viele verschiedene kleinere und größere Design Projekte statt und es wird ein internationales Publikum angezogen. Für unser Projekt hat das einen guten Nährboden geschaffen, denn wir konnten viele Kontakte knüpfen und mit anderen Projekte-Machern zusammenarbeiten. Wir haben uns mit dem College of Cape Town zusammengeschlossen und gemeinsam an der Aktivierung des ‚Corridors‘, der Fläche zwischen College und Bibliothek, gearbeitet. Nach unserer Ankunft begannen wir sofort damit, uns mit den Lokalitäten vertraut zu machen, die Studenten und Dozenten des Colleges kennenzulernen und ins kreative Milieu Kapstadts einzutauchen. In Kapstadt gibt es eine Vielzahl an offenen Veranstaltungen und Diskussionsrunden. Dort konnten wir viele Kontakte zu den offenen und zugänglichen Kapstädtern knüpfen. Allerdings hatten wir auch mit ihrer Unverbindlichkeit zu kämpfen, denn mit Verabredungen, insbesondere

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Wer von den noblen Stränden der Westküste in die Townships der Cape Flats fährt, kann kaum glauben, dass er sich in der gleichen Stadt befindet.

Als der Termin unser ersten großen Veranstaltung immer näher rückte, und wir uns immer noch nicht sicher waren, ob wir den Container überhaupt irgendwo aufstellen konnten, wurde uns klar, dass wir mehr Druck machen und die regulären Kanäle überspringen mussten. Wir besuchten die Stadtverwaltung ein weiteres Mal und warteten so lange, bis wir den Zuständigen gefunden und ihn überzeugt haben, unseren Antrag abzusegnen. Wir haben daraus gelernt, dass solche Entscheidungen in Kapstadt informell viel schneller getroffen werden können und ein Gesicht viel mehr bewirkt als ein Formular.

Lomographie Capetown: Karla Vollmer

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Neben den Workshops haben wir den Container unter der Woche so gut wie jeden Tag geöffnet. Es wurde gearbeitet, gelesen, geschrieben und mit den Passanten und Studenten gewerkelt. Im Innenraum gibt es eine große Tafelwand, auf der Ideen gesammelt und Skizzen gemacht werden können. Die Stadtbibliothek hat uns dabei geholfen, eine selbstverantwortliche Leihbibliothek einuzurichten, unseren ‚book-swap‘. Die Regeln sind einfach: Jeder kann sich ein neues Buch mitnehmen, solange es gegen ein altes getauscht wird. Leider war das Interesse an den Büchern jedoch nicht allzu groß und so stehen die meisten Bücher immer noch dort. Eine Gruppe von ehemaligen Studenten des Colleges hat mit einer NGO zusammen ihr Projekt durchgeführt, in dem Profilbilder geschossen wurden, um einem wohltätigen Zweck Gesicht zu verleihen.

Am letzten Workshop zum Thema Sprache gab es ein German – Xhosa Speed Dating, in denen die Teilnehmer sich gegenseitig Zungenbrecher, Tipps zum Flirten und Schimpfwörter beigebracht haben. Xhosa ist eine der indigenen afrikanischen Sprachen, welche Klick-laute und Schnalzen beinhaltet.

Im Mai wird der Container nach Deutschland zurück verschifft und dort zunächst einmal auf dem Campus der Zeppelin Universität in Friedrichshafen zu sehen sein. Im Oktober stellen wir unsere Reise im Rahmen des Seekult Festivals vor. Wer digital mehr über die Humbodlt Reise erfahren will, kann unseren Blog auf www. humboldtjourney.com besuchen oder uns auf facebook, twitter, und instagram unter dem Namen Humboldt Journey verfolgen.

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Nah am College verbringt eine Gruppe von Obdachlosen regelmäßig ihre Zeit.

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Nah am College verbringt eine Gruppe von Obdachlosen regelmäßig ihre Zeit. Sie haben das Container-Projekt von Anfang an mitbekommen und uns des öfteren beim Auf- und Abbauen geholfen. Einige waren freundlich und zugänglich, andere aggressiv und feindselig. Die Annäherungsversuche wurden von den Mitarbeitern des Colleges misstrauisch beäugt und wir wurden gewarnt: „Don’t get too familiar with them.“ Das Zusammenleben mit den Obdachlosen war nicht immer einfach, aber es ging die meiste Zeit gut. Mit der Wahl

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Jene Themen wurden auf unterschiedlichen Ebenen bearbeitet. So haben wir einerseits Künstler eingeladen, die Außenflächen des Containers zu bemalen und zu besprühen. Andererseits gab es Impulsvorträge von Unternehmern und Experten, welche eine Diskussion mit dem Publikum anregten. Der Container selbst hat seine Türen geöffnet und bot Zugang zu weiteren, kleinen interaktiven Elementen. So wurde zum Beispiel gemeinsam mit dem Urban-Gardening Start-Up Foodpods unser urbaner Garten bepflanzt. Am ersten Workshop malte ein Gruppe lokaler Künstler, das CORE-Collective, eine Infografik an den Container, welche unterschiedliche Transportmöglichkeiten illustrierte. In dieser Infografik wurden Freiräume gelassen, in welchen das Publikum mit Marken und Sprühdosen Inhalte ergänzen und kritisieren konnte.

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Am Container haben wir insgesamt drei Workshops veranstaltet. Der erste Workshop widmete sich dem Thema ‚Transport‘, im zweiten wurde ‚Home‘ behandelt und der letzte Workshop drehte sich um ‚Language‘. Die Workshops haben wichtige Abschnitte im Projektablauf verdeutlicht, schließlich bilden sie den thematischen Fokus.

des Themas ‚Home‘ für den zweiten Workshop haben wir diese Gruppe bewusst angesprochen. In der offenen Diskussionsrunde ging es ziemlich laut und emotional zu. Das gegenseitige sich zu Wort kommen lassen hat nicht funktioniert, stattdessen wurde geschrien und geweint. Wir waren alle ziemlich angespannt, insbesondere, weil einige der Teilnehmer stark berauscht waren. Der Konflikt hat sich zum Glück mit ein wenig Hilfe von außen wieder entschärft und am Ende lagen sich zwei der streitenden Männer in den Armen und haben lallend ein Lied gesungen. Uns wurde klar, wie viel es diesen Menschen bedeutet, ein bisschen Aufmerksamkeit und Gehör zu bekommen.

Als der Container schließlich landete, konnten wir es alle kaum glauben. Doch es ging sofort an die Arbeit, denn am nächsten Tag fand unser erster Workshop statt, und dafür musste noch einiges gemalt, geschliffen und gebastelt werden.

Im nächsten Jahr wird sich der Container wieder auf Humboldt Reise begeben, allerdings mit einem neuen Team und einem neuen Ziel. Wir sind jetzt schon gespannt und wünschen viel Glück! www.standpunktonline.com/?p=894 Ein Interview mit dem Team findet Ihr auf Seite 76. 73


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„Aus unserem gewöhnlichen Container ist ein Artefakt geworden, das die Humboldt Journey nach Kapstadt konserviert und somit ein Stück Kapstadt und unsere Erfahrungen zurück nach Friedrichshafen bringt.“

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Der Container als Symbol für Globalisierung, Standardisierung und Mobilität wird zum temporären Raum am anderen Ende unserer Welt.

„Für uns ist der Container eine provisorische Intervention. Er ist eine Plattform, die uns dazu zwingt, unsere eigene Komfortzone zu verlassen und mit den Kapstädtern in Kontakt zu treten. Er fungiert als Eisbrecher in einer Gesellschaft und Umwelt, in der wir fremd sind.“ 75


Einfach ausprobieren

„It always seems impossible until it’s done.“ — Nelson Mandela

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Forschens aufeinander eingespielt ist. Selbst bei den eigenen Rezepten zeigt sich die Experimentierfreudigkeit und Kreativität der vier noch in Kapstadt verbliebenen Studenten, die den Rücktransport “ihres” Containers abwickeln und die erste Humboldt Reise erfolgreich beendet haben.

Fast alltäglich mutet das gemeinsame Essen in der WG Küche von Studenten der Zeppelin Universität an – wäre es nicht in Kapstadt und würde es bei dem Tischgespräch nicht um ein Experiment gehen, das gerade erfolgreich zu Ende gebracht wird. standpunkt konnte dabei mit ihnen über ein fantastisches Projekt und ihre außergewöhnliche Forschungsarbeit sprechen. Die Vorbereitungen zu dem gemeinsamen Essen in ihrem WG Haus in Kapstadt zeigen schon, wie sehr das Team der Studenten nach Monaten des Zusammenlebens, Arbeitens und

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standpunkt: Ihr habt einen gewöhnlichen blauen Schiffscontainer nach Kapstadt geschifft und dort zu einem mobilen, SozialLabor umgebaut. Wie kommt man auf so eine Idee? Niklas: Wir haben seit dem Beginn unseres ersten Semesters am Projekt Humboldt Journey gearbeitet. Inspiration war damals ein Vortrag vom Unipräsidenten. Er sprach von einer mobilen Universität, die Krisen vor Ort anstatt aus akademischer Distanz erforscht. Mit dem Konzept des ‚undergradute research’, Forschungsprojekten noch vor dem ersten Abschluss, konnten wir im Zeppelin Jahr

Gab es noch einen weiteren Grund, einen Container als Wegbegleiter auszusuchen? Per: Zuerst einmal hat uns der Container als Symbol für Globalisierung, Standardisierung und eine zunehmende Mobilität in unserer Welt fasziniert. Er ermöglicht es, uns temporär einen Raum mit nach Kapstadt zu bringen, der sich leicht verändern, anpassen und logistisch fast überall hin transportieren lässt. Der Container wurde für drei Monate durch unsere Workshops, Events und unsere täglichen Interaktionen mit Kapstadt gestaltet und hat ein völlig neues Gesicht über diesen Zeitraum erhalten. Aus unserem gewöhnlichen Container ist ein Artefakt geworden, das die Humboldt Journey nach Kapstadt konserviert und somit ein Stück Kapstadt und unsere Erfahrungen zurück nach Friedrichshafen bringt. So wie wir mit uns und dem Container vor drei Monaten ein Stück Friedrichshafen/Deutschland nach Kapstadt gebracht haben. Was wolltet ihr mit dem Container als mobiles und soziales Labor erreichen? Per: Für uns ist der Container eine provisorische Intervention. Er ist eine Plattform, die uns dazu zwingt, unsere eigene Komfortzone zu verlassen und mit den Kapstädtern in Kontakt zu treten. Er fungiert als Eisbrecher in einer Gesellschaft und Umwelt, in der wir fremd sind. Mich persönlich hat es fasziniert, wie der Container Menschen angezogen und neugierig gemacht hat. Dabei haben wir eine riesige Spannweite von Kapstädtern kennengelernt. Von Obdachlosen und Schülern des Colleges, die sich immer in diesem Raum aufhalten, hin zu Kapstadts Künstlerszene und unterschiedlichster Gestalten dazwischen. Damit hat der Container uns Einblicke in das Leben von den verschiedensten Menschen gegeben,

Euer Container wurde auf dem Platz vor dem City Campus des College of Cape Town in Kapstadt aufgestellt. Wie reagierten die Besucher? Per: Ja, unser Container stand mitten im öffentlichen Raum vor dem College of Cape Town. Dieser Platz war für uns perfekt, da er eine Art Korridor ist, der je nach Tageszeit entweder von Obdachlosen, Studenten oder Geschäftsleuten bespielt wird und somit ziemlich facettenreich ist. Die „Besucher“ haben vor allem sehr neugierig reagiert und sofort mit dem Ausfragen nach Inhalt, Sinn und Zweck des Containers angefangen. Erst nach und nach haben viele realisiert, dass sie nicht als Besucher gesehen werden und Reaktionen von ihnen erwartet werden. Viel mehr wurden sie Teil des Projektes und waren zur Partizipation aufgefordert. Für manche bestand diese aus 5 Minuten Smalltalk, andere haben sich den Raum zu eigen gemacht und z.B. ihr Fotografieprojekt kurzerhand in den Container verlegt. Für mich ist das auch eines der Wunder dieses Containers, dass er sowohl für uns als auch für alle Beteiligten nach und nach eine völlig individuelle Bedeutung bekommen hat. Auch bedingt durch unsere Forschung wurde der Container etwa für Eva zu einem Ort, der Atmosphäre in einem öffentlichen Raum verändern kann. Mich hat er hingegen mit Leuten ins Gespräch gebracht und so ermöglicht, Erkenntnisse über die Selbstbetrachtung von Kapstädtern zu erlangen, ohne dabei das formelle Setting eines Interviews zu haben, welches doch immer wieder Leute davor abschreckt Klartext zu reden. Für manche College Schüler wurde er und wir hingegen ein Teil ihres täglicher Lebens und ich war wirklich überrascht, wie viel Bedeutung dieser Container in ihren Leben in so kurzer Zeit eingenommen hat.

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Mehr Fotos: www.standpunktonline. com/?p=1000

Per: An unserer Zeppelin Universität in Friedrichshafen haben wir derzeit einen gesamten Campus bestehend aus Containern. Unser Präsident Herr Jansen hat den Bau des Containercampus damals bei der Eröffnungsrede unseres ersten Semesters vor beinahe drei Jahren angekündigt. Dabei fiel der Satz: “So einen Container kann man schließlich überall hinstellen, sogar auf ein Forschungsschiff.” Dieser Satz ist in unseren Köpfen hängen geblieben und hat den entscheidenen Impuls für dieses verrückte Projekt gegeben.

die uns ansonsten nie begegnet wären. Wir hatten zu Anfang die Idee, zu untersuchen, inwiefern man Partizipation im öffentlichen Raum gestalten kann. Der Container sollte dabei die Schnittstelle sein, in welcher wir durch künstlerische Aktionen dieser Frage nachgehen. Mit der Zeit hat der Container aber an Eigendynamik gewonnen, die uns im Prozess dazu veranlasst hat, von unserer ursprünglichen “Containerfrage” Abstand zu nehmen.

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Per, Alma, Eva und Catarina in ihrer WG Küche in Kapstadt

erste Erfahrungen machen. Diese Art der akademischen Bildung ist wie ‚beim Rennen Laufen lernen’. Es ist zwar anstrengend und überfordernd, aber es lohnt sich. Das Humboldt Jahr, ein Bestandteil des Curriculums unseres Studiengangs, war für uns dann eine günstige Gelegenheit, unsere Pläne umzusetzen.

Niklas: Von begeistert bis skeptisch war alles dabei. Polarisiert waren die Reaktionen insbesondere bei den Obdachlosen. Einige von ihnen haben auf den ersten Blick sehr positiv reagiert und versucht, uns bei kleineren Aufgaben zu helfen. Andere waren extrem aggressiv und nicht weit von körperlichen Angriffen entfernt. Es gibt ein starkes Bewusstsein für die Problematik der Rolle des helfenden, weltverbessernden, weißen Europäers. Davon haben die Kapstäder schon genug. 77


Welche Herausforderungen waren die größten? Per: Persönlich würde ich sagen, dass es die größte Herausforderung war, über einen Zeitraum von fast drei Jahren an dem Gedanken festzuhalten, einen Container an einen anderen Ort der Welt zu verschiffen. An der Idee haben wir während unseres Studiums gearbeitet und bis zuletzt hatten wir keine Garantie, dass es nicht doch noch an formellen, akademischen oder sonstigen Hindernissen scheitert. Natürlich kommen dann noch Probleme hinzu wie z.B. die Erlaubnis der Kapstädter Behörden zu bekommen, einen Container mitten in der Stadt abzuladen und dort Events stattfinden zu lassen. Eine große Herausforderung war es auch, ein kultuelles Verständnis für die hiesigen Umgangsregeln in der Kommunikation zu entwickeln. Aber dass wir dieses Projekt zu siebt gestartet und auch zusammen zu Ende gebracht haben, ist für mich die größte Herausforderung, die wir gemeistert haben. Niklas: Einerseits empfand ich die Bürokratie in Südafrika als sehr große Herausforderung. Hier wurden wir immer wieder vertröstet und hingehalten. Am Ende hat persönlich Druck machen und informelle Kanäle nutzen geholfen. Eine zweite große Herausforderung war die interne Kommunikation vor dem eigentlichen Antritt der Reise. Der Großteil des Teams befand sich im Auslandssemester. So waren wir in Israel, Taiwan, Columbien, Deutschland und Argentinien verstreut und hatten dementsprechend mit verschiedenen Zeitzonen zu kämpfen. Wir haben uns regelmäßig zum skypen getroffen, mindestens einmal die Woche. Auch wenn das bedeutet hat, mal um 4 Uhr morgens aufzustehen.

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Und nach dem Abschluss zieht es Euch ins Kulturmanagement? Per: Ob einer von uns im Kulturmanagement landet, würde mich auch mal interessieren. Ich bezweifel es aber. Vielleicht unsere Container Innenbereichkünstlerin Alma, sie hat eine Menge künstlerisches Engagement in den Container gesteckt. Diese Projekterfahrung ist für uns alle eine Bereicherung gewesen, ganz unabhängig davon, was der Einzelne studiert. Das ist halt das Schöne an dem interdisziplinären Ansatz unserer Uni. Vor allem haben wir gelernt, dass man im Team das Unmögliche möglich machen kann. Um es mit Nelson Mandelas Worten zu beschreiben: „It always seems impossible until its done.“

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Wie ist Euer Container eigentlich ausgestattet? Per: Angekommen ist ein fast nackter Container mit einem Büro und einem Lagerbereich. Mittlerweile ist er zu einem richtig gemütlichen kleinem Zuhause geworden mit Sofas aus Paletten und einer Bibliothek. Außerdem haben wir eine Prozesswand, eine Fotoausstellung und jede Menge kleine Veränderungen, die im Laufe des Projekts entstanden sind. Nicht zu vergessen, dass wir unserem Container mit Künstlern von Kapstadt bis Berlin einen einzigartigen Look verliehen haben.

Was macht Ihr als Wirtschaft- und Kulturwissenschaftsstudenten denn, wenn Ihr nicht gerade Container verschifft? Per: Das Interessante an unserer Gruppe ist, dass wir abgesehen vom Container völlig unterschiedliche Interessensbereiche haben. Alma hat ihren Sommer mit einem Praktikum im Vatikansmuseum in Rom verplant, Nora schreibt gerade ihre Bachelor-Arbeit fertig und Daniel und ich werden versuchen, akademisch wieder mit den anderen gleichzuziehen. Ich bin mir sicher, dass es Catharina, Eva und Niklas bestimmt auch nicht langweilig wird.

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Das Interessante an unserer Gruppe ist, dass wir völlig unterschiedliche Interessensbereiche haben.

Und was passiert dann mit Eurem Container? Niklas: Der Container wird im Rahmen des Seekult! Festivals im Oktober in Friedrichshafen zu sehen und zu erleben sein. Man kann ihn auch schon vorher auf einem der Campus der ZU begutachten. Im nächsten Jahr geht es für den Container dann erneut auf Humboldt Reise, wohin ist allerdings noch unklar. Per: Da der Container mittlerweile so etwas wie unser Baby geworden ist, setzten wir natürlich darauf, dass er sich schon bald wieder mit einer neuen, hochmotivierten Humboldt Journey Gruppe von neuem auf eine Reise in die Ungewissheit begibt. Natürlich ist es schön zu sagen, dass wir die Einzigen sind, die so etwas bisher gemacht haben. Viel schöner wäre es für uns jedoch, wenn wir in Zukunft sagen könnten, wir waren die Ersten, die diese Reise unternommen haben. Das Interview mit Per Braig und Niklas Egberts organisierte Karla Vollmer. Humboldt goes Südafrika: zwar nicht im echten Leben; sein Entdeckergeist erfüllt nun aber Studenten der ZU.

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Völkerverständigung Ein Erfahrungsbericht

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nser Europa befindet sich derzeit in einer Krise, nicht die übliche Finanzkrise, sondern in einer Vertrauenskrise. Angesichts der für lebenslanges Lernen und interkulturellen Austausch spezialisieren sich EU-Programme wie z.B. Comenius für Schulen, Erasmus für Hochschulen, Leonardo da Vinci für die Berufsbildung und Grundtvig für die Erwachsenenbildung. Das Kernziel des Comenius-Programms ist die Mobilität und die Zusammenarbeit Jugendlicher aus verschiedenen Schulstufen und Schulformen innerhalb Europas zu fördern. Abgehend davon lassen sich noch viele weitere Ziele erkennen. Alle Ziele helfen den Jugendlichen und tragen zum Erwerb von Fähigkeiten und Kompetenzen bei, die für die persönliche Entfaltung wichtig sind und die Beschäftigungschancen in Zukunft erhöhen.

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Jedoch brauchte es für die Umsetzung seiner Ideen eine geraume Zeit, da erst in der heutigen Zeit eine Möglichkeit besteht, diese durch die multimediale Entwicklung in die Bildungspraxis zu überführen. Alle Länder, welche unter die 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union fallen, als auch Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (Island, Lichtenstein, Norwegen, Schweiz) können sich für das Programm bewerben. Außerdem hat auch die Türkei, welche bereits ein Beitrittskandidat zur EU ist, die Möglichkeit. Comenius at Gesamtschule Hardt The german school Gesamtschule Hardt, which is located in Mönchengladbach signed in in 2010 for the first time to be part of the Comenius-project. They started with two partner schools, one from Lyon (France) and one from London (Great Britain). The long-time-project, which takes a period of two years, is processed under a every year changing topic by the stundent groups from the different countries. During those two years the students present the intermediate results of their work at workshops, which lasts about one week in each country. Therefore they not only get the chance to visit all countries, moreover they get to know the other participants from the different countries. This is also achieved by living in their families for the time, the workshop is. Each participant is there-

fore a host for the foreign students. In 2010 the topic was „Debating European Issues“ specified on Nuclear Energy, Inmigration and Social Security Systems. The project ended in 2012 with a „Model European Parliament Debate“ in Brussels EU Parliament Building as a highlight. In 2013 the school decided to apply for the project once again, due to the success. This time together with three other schools, a spanish from Talaverade la Reina, a polish from Warsaw and the french from Lyon. In the school year 2013/2014 the participants of the project course started under the motto „From passive consumer to active player“. Within this topic there was the question for every team: „How to transform the places in which we live?“ Thus, the task for the students was fixed: Re-design your town! The conditions should be as real as possible even though it is fictional. Therefore the first step was finding the perfect spot to work on. The german participants from year 12 have choosen the Joint Headquarters, short JHQ, as a transformation-place. This was clever, because the British army, which used to live there, had to move out in 2013. Therefore the plot of land with about 4.13 qkm was empty. Their first ideas of redisigning this big area were presented in Talavera de la Reina during a workshop. There they also heard about the other ideas for the first time. Within a second meeting in Lyon in may 2014, international groups worked together on a little advertising film to present their projects. The time inbetween was used to continue the work, which includes talks with politicians, creating sketches and plans and for sure preparing for the workshop in Warsaw. While summer was coming, and the end of the school year was right there, the german participants changed. The new year 12 took over the project and went to Warsaw in october 2014. The time in Warsaw was used to prepare for the final presentation in Germany. As a final event every nation came together in Mönchengladbach in january 2015. In the castle of Rheydt every team presented their final results in front of a jury which consisted of Eva Spott (actress), Ralf Eggen (Visual communication), Prof. Nicolas Beucker (public & social design) and Hans Wilhelm Reiners (mayor of Mönchengladbach). Winning was possible in four categories: best moderation, best media, best concept and best idea. In the end every nation won a category and the german team got the prize for the best concept.

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Text: Carlotta Fassbender

„Alles soll wo immer möglich den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar dem Gesicht, was hörbar dem Gehör, was riechbar dem Geruch, was fühlbar dem Tastsinn. Und wenn etwas durch verschiedene Sinne gleichzeitig aufgenommen werden kann, soll es den verschiedenen zugleich vorgesetzt werden. Und weil die Sinne die treusten Sachverwalter des Gedächtnisses sind, so wird diese Veranschaulichung der Dinge bewirken, dass jeder das, was er weiß, auch behält.“

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Globalisierung wird für junge Menschen die Bedeutung Europas für ihre Zukunft immer wichtiger. Um das Verständnis und Engagement junger Menschen für ein gemeinsames Europa zu wecken und ihnen Perspektiven aufzuzeigen, muss schon frühzeitig die Kommunikation unter den Jugendlichen verschiedener Länder gefördert werden. Immer mehr Schulen führen aus diesem Grunde internationale Projekte durch, die Offenheit und Verständnis für andere Gesellschaften und Kulturen bei ihren Schülern wecken.

Auf diese Ziele spielte auch schon der Namensgeber dieses Programms an. In seinem Werk „Große Didaktik. Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren“ (Didactica magna) schrieb der Philosoph und Pädagoge Johann Amos Comenius:

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The German Concept Unter realen Bedingungen haben Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Hardt nicht nur einen englischen PUB auf dem ehemaligen britische Militärgelände, dem JHQ, geplant, sondern gleichzeitig auch ein Gesamtkonzept zur Steigerung des Naherholungs- und Freizeitwertes der Stadt Mönchengladbach mit entwickelt.

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he starting situation was the empty JHQ with its 4.13 qkm. A former military base in the western district of Mönchengladbach. It was an independent district with about 10,000 inhabitants in its heyday and 2,000 buildings, including schools, churches, theaters, tennis and football courts and a shopping centre. After it was closed down in 2013 the responsibility for this giant area was unclear. There was an overgrowing of the area and a decay of buildings. Therefore it seemed that all that British heritage will soon be forgotten. So to remind people of that heritage the suggestion was building a British pub in the JHQ area, which in Germany is known as a typical British institution. The British culture would be preserved and apart from that a recreation area would be created including the identification with place and past. To reduce costs the idea was to preserve some of the old buildings by recycling and converting them. In this way they do not have to be demolished. The next step which had to be taken, was finding the perfect spot in the area itself. The site must be an ideal location which can easily be seen and reached. Its size must be limited so that it is possible to realize the project with a reasonable amount of money. It must be interesting to a large number of people who do not live in the neighbourhood. Finally it must be attractive to young and old so that the pub is competitiv enough. The choosen place was a former riding hall with stables and an old office. Those buildings lead to the idea to not only build a pub, moreover a theme pub, including bed&breakfast and an event hall. Therefore the stables build the bedrooms, which create a warm and comfortable atmosphere. The riding hall turns into an event hall and the restored office in a pub. British food and Drinks will be offered and it should also offer some kind of anglophile cultural programme ranging from pub games and music events, films in english possibly to sport activities on a nearby sportsfield. In addition a big outdoor area is attractive to families. The indoor area is supposed to be a bit smaller, therefore it is cosy just with a handful of tables and a small lounge.

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Office

PUB B&B

Reithalle

Eventsaal

Stallung

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Das alte Office könnte ein attraktiver Pub mit Erinnerung an die britische Tradition werden.

Die Reithalle mit der erhaltenswerten Dachkonstruktion würde zur einr Eventhalle umgebaut werden und könnte für tradtionionelle Feste und sportliche Veranstaltungen genutzt werden. Die ehemaligen Stallungen würden in ihrer Aufteilung in ein extravagantes B&B umgestaltet werden.

F otos : S v e n j a S c h l e i

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*Diese Annahme vertritt die deutsche UNESCO-Kommission (Hrsg.: Lernfähigkeit: unser verborgener Reichtum UNESCO-Bericht zur Bildung für das 21. Jahrhundert, Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand 1997, S.80)

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Ethnozentrismus In diesem Stadium befindet sich in der Regel jeder Lernende am Anfang, da es ein natürliches und selbstverständliches Verhalten des Menschen ist. Man stellt sich mit der eigenen Religion und den Besonderheiten der eigenen Volksgruppe, wie zum Beispiel die Hautfarbe, vorerst über die, der anderen Völker. Dies bildet dann eine Bewertungsgrundlage, die jedoch vorwiegend emotional verläuft. Dieses Stadium gilt es zu überwinden, um ein Verständnis für andere Kulturenzu erlangen.

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„Wenn Menschen an lohnenswerten Projekten zusammenarbeiten, die sie ihrer normalen Routine entreißen, werden oft die Unterschiede oder sogar Konflikte zwischen ihnen schwächer und verschwinden manchmal sogar ganz. Menschen ziehen eine neue Identität aus solchen Projekten, so dass bisweilen die Eigenheit der einzelnen zurücktreten und die Gemeinsamkeit wichtiger als die Unterschiede werden.“*

Interkulturelles Lernen Die Fremdsprachenförderung ist zwar ein bedeutender Teil des interkulturellen Lernens, jedoch längst nicht alles. Innerhalb des interkulturellen Lernens gibt es verschiedene Stadien, die zu beachten sind:

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Text: Carlotta Fassbender

Während des gesamten Projektes war Englisch die Hauptkommunikationssprache, demnach wurden auch die einzelnen Ideen der verschiedenen Länder auf Englisch präsentiert. Dies hat vor allem den Grund, dass Englisch eine Weltsprache ist. Da mehrere Nationen beteiligt sind, ist es von besonderer Bedeutung, dass sich jede Nation gleichermaßen integriert und involviert fühlt und das wird nur erreicht, wenn alle die gleichen Vorraussetzungen haben - die englische Sprache. Außerdem trägt die Fremdsprachenförderung auch wieder zu den Hauptzielen des Programms bei.

Aufmerksamkeit und Bewusstwerdung für Fremdes Dieses Stadium ist erreicht, wenn der Ethnozentrismus überwunden wurde und man der fremden Kultur ohne Ablehnung begegnen kann. Die emotionale Wahrnehmung tritt dabei in den Hintergrund und wird durch eine objektive Wahrnehmung ersetzt. Verständnis für die Fremde Kultur Hier beginnt der Lernende zu realisieren, dass die fremde Kultur eine eigene Identität hat, welche nicht mit der des eigenen Volkes übereinstimmen muss.

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Warschau ist eine Stadt voller Gegensätze. Historische Kulissen treffen auf die Modernität einer 1,7-Millionen-Metropole. Jung und erzkonservativ, alt und neu, grau und glänzend, sozialistisch und futuristisch, funktional und kreativ sind die spannenden Kontraste.

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Selektive Aneignung Die selektive Aneignung bildet das letzte Stadium. Wenn dieses erreicht ist kann man von einem erfolgreichen interkulturellen Lernen sprechen. Der Lernende fängt an die fremde Kultur als Bereicherung für das eigene kulturelle Denken und Handeln anzusehen. Diesen langwierigen und komplexen Prozess in eine normale Unterrichtsreihe einzubringen, gestaltet sich dann eher schwierig. Bei dieser Komplexität stellt man sich vor allem die Frage wo und wie man am Besten anfängt. Für einen guten Anfang können internationale Projekte sorgen. Denn gerade die Projektarbeit ist ein wichtiger Bestandteil des interkulturellen Lernens. Alle verfolgen das gleiche Ziel, somit wird ein Gefühl von Gemeinsamkeit erschaffen. Das ist besonders wichtig, denn wenn man es geschafft hat die Gemeinsamkeiten zu sehen, wurden die Unterschiede bereits in den Hintergrund gestellt. Somit werden die verschiedenen Stadien nahezu von alleine durchlebt.

www.jugendfuereuropa.de www.wirtschaftslexikon.gabler.de www.erasmusplus.de www.gesamtschule-hardt.de

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Bewerten und Beurteilen Erst in diesem Stadium wird bewertet. Jedoch sollte man hier auch von der emotionalen Beurteilung Abstand halten. Wichtig ist es, sowohl die Schwächen der anderen Kultur zu erkennen, als aber auch die Stärken. Diese gilt es dann mit der eigenen Kultur zu vergleichen. Vorausgesetzt ist, dass man sich der eigenen Kultur bewusst ist, denn nur so ist es möglich andere Kulturen beurteilen zu können.

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Akzeptieren und Respektieren der fremden Kultur Dieser Schritt ist besonders wichtig für ein erfolgreiches interkulturelles Lernen. Die fremde Kultur wird akzeptiert ohne sie zu bewerten.

Kommentar der Autorin: Die Frage, ob interkulturelles Lernen mit Hilfe von internationalen Projekten förderlich ist, ist meiner Meinung nach ganz klar mit ja zu beantworten. Dennoch sehe ich auch noch einen Verbesserungsbedarf, denn bisher gibt es nur wenige Möglichkeiten des interkulturellen Lernens und demnach auch wenige Erfahrungen. Ich selbst habe an dem Comenius-Programm der Gesamtschule Hardt teilgenommen und kann sagen, dass ich viele Vorteile und positive Erfahrungen daraus gezogen habe, jedoch wurde auch deutlich, dass nicht alle Nationen auf der gleichen Entwicklungsstufe sind. So wurde beispielsweise in den einen Ländern mehr Englisch unterrichtet und in den anderen weniger, was teilweise die Zusammenarbeit erschwerte. Aber auch daraus ist zu lernen, denn mit Geduld und Kreativität können dann auch solche Differenzen überwunden werden. Der wichtigste Aspekt des interkulturellen Lernens ist meiner Meinung nach jedoch nicht die schulische Zusammenarbeit, sondern viel mehr die private. Denn besonders bei der Freizeitgestaltung während eines internationalen Austauschprogramms wachsen die Jugendlichen zusammen, denn im Endeffekt sind alle Jugendliche gleich und vertreten gemeinsame Interessen, egal welcher Nationalität sie angehören. Und darauf kommt es schließlich an - Gemeinsamkeiten zu finden.

Vorteile Wie schon die UNESCO-Kommission betont, ziehen Menschen eine neue Identität aus internationalen Projekten. Diese Entwicklung ist vor allem als ein großer Vorteil anzusehen. Die Projektteilnehmer gewinnen an Kompetenzen und Erfahrungen, welche viel zu ihrer eigenen Persönlichkeit beitragen werden. Sie werden offener und toleranter anderen Kulturen gegenüber und können mehr Verständnis für Unterschiede aufbringen. Diese Kompetenzen bereichern aber nicht nur die Persönlichkeit, sondern bringen den Jugendlichen vor allem im späteren Berufsleben schon einige Vorteile, denn ein tolerantes und offenes Weltbild ist in einer sich immer mehr globalisierenden Welt, stets erwünscht.

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Der Hass wohnt j u n g e d e n k k u lt u r

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F oto & T E X T : A n d r e a T h o m a s , J u l i a K l u t t i g

EinE StADt ALS SinnBiLD EinES MAcHtKAMpFES iM HEiLiGEn LAnD Menschenleere Straßen, verlassene Häuser und patrouillierende Soldaten. Kaum zu glauben, dass hier einmal blühendes Leben herrschte. Durch die stillen Gassen der Geisterstadt führen ehemalige Soldaten der israelischen Armee. »Breaking the silence« kämpft vehement für Frieden – ohne jegliche Waffengewalt und zum Ärger ihres Heimatlandes.

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S eit etwa zehn Minuten dreht der Junge auf dem Fahrrad monoton seine Kreise. Die Kipa auf dem Kopf manifestiert seine Zugehörigkeit zum Judentum. Im Visier von vier auf ihn gerichteten Kameras und bewacht von einem Soldaten mit Maschinengewehr im Anschlag, der auf dem maroden Dach Position bezogen hat, verbringt er seine Freizeit, hier zwischen den bröckelnden Fassaden der seit langem unbewohnten Häuser in der Geisterstadt Hebron. Auf der Straße patrouillieren schwer bewaffnete Soldaten. Plötzlich erschüttert ein lauter Knall die trügerische Stille. Dann ein zweiter, ein dritter. „Keine Angst, das sind nur Einschläge von Granaten“, meint Avner Gvaryahu lakonisch. Alltag in Hebron.

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werde ich wohl niemals vergessen.

Und plötzlich hat der Begriff Krieg für uns ein lebendiges Gesicht bekommen. Der Einunddreißigjährige arbeitet seit 2004 für die Organisation „Breaking the silence“. Seinen Dienst bei der israelischen Armee hatte er damals gerade beendet. Eine Zeit voller traumatischer Erfahrungen, die zum Umdenken und zur Wende in seinem Leben führen sollte, lag hinter ihm. „Es war eines Nachts, wir langweilten uns wie so oft. Da kam uns die spontane Idee, Fußball zu schauen. Aber wir hatten keinen Fernseher. Ohne weiter zu überlegen, drangen wir in das nächste Haus einer palästinensischen Familie ein. Es war bereits weit nach Mitternacht“, schildert er sein Schlüsselerlebnis. „Um Ruhe zu haben, sperrten wir die

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Diese Todesangst, die in jenem Moment aus deren Augen sprach,

Leute einfach in ein Zimmer ein. Mann, Frau und fünf kleine Kinder. Diese Todesangst, die in jenem Moment aus deren Augen sprach, werde ich wohl niemals vergessen.“ Er macht eine kurze Pause, ehe er mit ernstem Gesicht fortfährt: „Plötzlich habe ich mich gefragt, was wir hier eigentlich tun und stellte mir vor, wie ich selbst an deren Stelle diese Situation empfunden hätte. Ich begriff, dass unser Weg nicht der richtige ist, um Frieden zu schaffen“. Jetzt setzt sich der Vater einer kleinen Tochter aktiv dafür ein, dass auch die anderen Menschen das begreifen. Deshalb führt er Gruppen wie die unsrige an eine der Nahtstellen der Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern, nach Hebron. Die Leute sollen sich 95


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im Affekt. Dieses grauenhafte Massaker gilt als beispielhafter Akt für den Machtkampf zwischen Israelis und Palästinensern um das Heilige Land, der bis heute anhält. Wer die Leidtragenden dieser immer wieder eskalierenden Gewalt sind, soll diese Tour durch Hebron eindrucksvoll vermitteln. Wir erkunden auf der Al-Shuhada-Straße, der ehemals wichtigsten Haupt- und Durchgangsstraße, die sogenannte Geisterstadt. Alles Leben scheint aus dieser früher pulsierenden Verkehrsader gewichen zu sein. Bedrückend, leblos, unheimlich. Keine lärmenden Kinder, die sich im Spiel streiten, die lachen oder weinen. Keine Leute, die von der Arbeit oder vom Einkaufen kommen. Keine Autos. Aus weiter Ferne ruft der Muezzin zum Gebet. Ein Soldat lehnt, gelangweilt an seiner Zigarette ziehend, an der seit Jahren verschlossenen rostigen Tür eines ehemaligen Ladens. Zwei weitere gesellen sich zu ihm, um unter der kleinen schmutzig grünlich-braunen Überdachung, von der die Farbe blättert, Schatten zu finden. Hier wurden früher türkische Spezialitäten angeboten. So steht es, heute kaum noch lesbar, auf dem grauen Blechschild. Die käfigartig vergitterten Fenster darüber sollten die Bewohner des Hauses vor Steinwürfen radikaler Siedler schützen. Doch das ist lange her. Seit dem Hebron-Abkommen von 1998 ist Hebron in eine palästinensisch kontrollierte Zone H1 und eine israelisch kontrollierte H2 geteilt, wozu auch dieses Gebiet gehört. Hier leben etwa 700 religiöse jüdische Siedler im Schutze starker Armeeeinheiten. Sie können sich frei bewegen. Dagegen dürfen die etwa 30 000 Palästinenser diese Straße nicht beziehungsweise nur mit ausdrücklicher Genehmigung des israelischen Militärs benutzen. Das führt zu extremen Span-

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selbst ein Bild von der aktuellen Situation machen, es dokumentieren und das Gesehene an die Öffentlichkeit bringen. Egal auf welche Weise. Die Welt muss aufmerksam gemacht werden auf das Unrecht, was hier geschieht. Gvaryahu beginnt seine Tour bei einem Grabstein am Eingang zur 1968 gegründeten israelischen Siedlung Kirjat Arba, wo religiöse Juden ihrem Stammvater Abraham an dessen Geburtsstätte nahe sein wollen. Inwieweit es Recht oder Unrecht ist, hier im palästinensischen Autonomiegebiet ihre Häuser zu errichten, das stand und steht für sie nicht zur Debatte. Für sie zählt nur der Glaube, den sie aktiv praktizieren. Auf der Grabplatte liegen ein paar Kieselsteine. Das ist jüdischer Brauch. Der Guide übersetzt, was in hebräischen Lettern auf der sandsteinfarbenen Platte steht: „Hier ruht Doktor Baruch Kappel Goldstein. Ohne Fehl und Tadel opferte er sich für sein Volk, die Thora und das Land Israel. Möge Gott diesen Gerechten segnen, sein Blut rächen und seiner Seele ewige Ruhe geben. Als Märtyrer Gottes wurde er am 14. Adar, Purim, im Jahre 5754 (1994) getötet.“ Von den einen als Held und Idol frenetisch gefeiert, von den anderen als Massenmörder zutiefst gehasst, ist Goldstein zum Inbegriff eines fundamentalistischen Fanatikers für die Idee eines Groß-Israels geworden. Es war am 25. Februar 1994, als sich in den Morgenstunden des Ramadans gläubige Moslems vor der Abraham Moschee im Zentrum Hebrons zum Gebet versammelten. Auch Goldstein, der Jude, ist dort. Plötzlich hebt er seine Waffe und eröffnet kaltblütig das Feuer, bis die letzte Patrone leer ist. 29 Menschen sterben im Kugelhagel. Männer, Frauen und Kinder. Unschuldige. Er selbst wird von den Angehörigen der Opfer erschlagen. Aus Wut und Rache,

Alles Leben scheint aus dieser früher pulsierenden Verkehrsader gewichen zu sein. Bedrückend, leblos, unheimlich.

nungen. Geschäfte mussten geschlossen werden. Auf Machtmissbrauch beruhende Schikanen, Willkür, Terror und tätliche Übergriffe gehören für sie zum Alltag. An einer Mauer steht „Gased the Arabs!“ Wasser und Gas werden rationiert, von Israel zugeteilt. Dreimal so viel wie ihre ungeliebten Nachbarn müssen die Palästinenser dafür bezahlen. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit von etwa 70 Prozent für viele unmöglich. An manchen Tagen gibt es gar kein fließendes Wasser. Stacheldrahtverhaue, Checkpoints und Betonmauern lähmen das gesamte Leben in diesem Viertel. Rechtlos sind sie geworden, die Araber. Rechtlos im eigenem Land. Ihr Frust, ihre angestaute Wut sind angesichts dieser Ohnmacht Keimzelle für Aggressionen. Irgendwann explodieren diese wie ein Pulverfass. Auch

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davon weiß der Tourguide zu berichten. Er deutet auf ein Bild, was so demonstrativ wie plakativ an einer der verschlossenen Türen klebt. Ein jüdisches Ehepaar, ermordet von Palästinensern. Er macht keinen Hehl daraus, dass es immer wieder zu Gewaltakten kommt. Auf beiden Seiten. Gvaryahu zeigt ein Foto aus dem Jahre 1998. Damals herrschte an diesem Ort noch geschäftiges Treiben. Der pulsierende Markt fungierte als Herz der Stadt. Heute stehen die Häuser leer und sind dem Verfall preisgegeben. Nur ein paar vereinzelte jüdische Familien leben noch hier. Ein am Straßenrand ruhender Hund hebt schläfrig den Kopf. Im Vergleich zu seiner Umgebung wirkt er relativ gepflegt. Die Sonne verleiht dem hellbraunen Fell einen matten Glanz. Ohne Argwohn nimmt er mit halb geschlossenen

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Neugierig beobachten sie die Fremden. Zumeist misstrauisch.

Augen die drei uniformierten Posten, die näherkommen, wahr. Ein gepanzertes Armeefahrzeug rollt langsam über den Asphalt. Links ab führt eine holprige Straße bergauf, raus aus der gesperrten Zone, in ein Wohngebiet der Palästinenser. Blasse Kindergesichter hinter Stacheldraht. Neugierig beobachten sie die Fremden. Zumeist misstrauisch. Doch manche lächeln schüchtern oder winken. Ein Dreijähriger, auf einem kaputten Spielzeugauto sitzend, müht sich, den Berg hinabzurollen, was auf nur zwei Rädern nicht so recht gelingen will. Er schiebt sich vorbei an den drei Soldatinnen, welche am Straßenrand im Schatten eines Baumes ihr Mittagsmahl halten. Sie werfen sich in Pose, lächeln, als die Kamera auf sie gerichtet wird. Völlig unbefangen kommen sie mit uns ins Gespräch. Eine von ihnen ist Rachel Goldsmith. Die Neunzehnjährige spricht ein wenig Deutsch. Ihre Großeltern lebten, bevor sie nach Israel auswanderten, in München. Seit etwas mehr als drei Monaten ist sie hier stationiert. Die Frage, ob sie sich nichts Besseres vorstellen könne, als hier in Hebron zu patrouillieren, scheint sie nicht zu verstehen. Vielleicht will sie es auch gar nicht. Stattdessen beißt sie beherzt in ihren Apfel. Das Maschinengewehr liegt auf ihren ausgestreckten Beinen. „Jedes Mädchen hat bei uns ihre Wehrpflicht zu leisten. 21 Monate. Das ist ganz normal.“ Sie hat eine andere Definition von Normalität als wir, denn sie ist in einem Land aufgewachsen, wo nichts normal ist. Plötzlich verlischt das Lächeln auf ihrem Gesicht. „Zwei meiner Freundinnen kamen bei einem Anschlag ums Leben. 2006 in Tel Aviv, meiner Heimatstadt. Eine war 12 Jahre, die andere gerade neun. Sie hatten sich in einem Imbiss etwas zu essen holen wollen, als ein Jihad-Selbstmörder seinen Sprengstoffgurt zündete. Zehn Tote.“ Sie schweigt, starrt geradeaus. Mit solchen und ähnlichen Anschlägen muss man in Israel rechnen. Immer und überall. Deshalb sieht sie ihren Dienst in der Armee als etwas Normales. Man müsse sich

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verteidigen, schützen im eigenem Land. Jeder habe ein Recht auf diesen Schutz. Und darum sei sie hier in Hebron als eine der etwa siebenhundert Soldaten, welche für die Sicherheit der jüdischen Siedler Verantwortung tragen. Für etwa die gleiche Anzahl an Menschen. Natürlich will sie Frieden. Nichts mehr als das. Wenn ihr Dienst in der Armee vorbei ist, wird sie studieren. Medizin in Haifa. Als Ärztin anderen helfen, das ist ihr Ziel. Sie nimmt ihre Waffe wieder auf und schlendert mit ihren beiden Kameradinnen den Berg hinunter. Auch Nir Baram, den wir später in einem Restaurant in Jaffo treffen, hofft auf eine friedliche Zukunft. Baram, 1976 in Jerusalem geboren, arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Lektor. So wie die Leute von „Breaking the silence“ setzt auch er sich aktiv für die Gleichberechtigung der Palästinenser und für Frieden in Israel ein. Einige seiner Bücher, wie „Gute Leute“ und „Der Wiederträumer“, wurden mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. Er vergleicht Israel mit einem neuen selbst errichteten jüdischen Ghetto mit Mauern und allem, was dazu gehört. Er sieht sich als Patriot für eine multiethnische sowie multikulturelle israelische Gesellschaft, in der auch religiöse Belange respektiert werden. Er glaubt fest an seine Vision von einem inklusiven israelischen Staat, der niemanden ausschließt, wo die Juden nicht die Leitkultur verkörpern. Er plädiert für eine offene israelische Gesellschaft, in der keiner vor dem Anderen Angst haben muss. Und er will sich weiter einsetzen für eine wirkliche Demokratie in Israel. Er weiß, dass immer mehr junge Israelis ähnlich denken wir er. Auch wenn er fest daran glaubt, dass seine Vision irgendwann einmal Wirklichkeit wird, ist ihm bewusst, wie weit man von einer friedlichen Lösung des Konfliktes noch entfernt ist.

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1. das unerlaubte und heimliche Verlassen eines Landes, Ortes | 2. das Ausweichen aus einer als unangenehm empfundenen oder nicht zu bewältigenden [Lebens]situation — aus: DUDEN

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Flucht die

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Millionen Menschen machen sich jedes Jahr auf den Weg, sie fliehen aus ihrer Heimat, weil sie um ihr Leben fürchten müssen oder für sich und ihre Familie im eigenen Land keine Perspektive sehen. Es sind Männer, Frauen, Kinder. Flucht hat viele Gesichter, einzelne kennen wir — sie sind uns sehr präsent: eines ist das der Schülerin Reem, die Bundeskanzlerin Angela Merkel fragte, warum sie vielleicht nicht in Deutschland bleiben und hier zur Schule gehen könne. Ein anderes Gesicht ist das von Efe Efehosa, der seine Heimat Ghana verließ und in Deutschland erlebt, wie lange es dauert bis ein Flüchtling anerkannt wird und arbeiten darf. Jede Flucht ist eine Geschichte, die von Angst, Not und Mut handelt. Flucht bedeutet Gefahr, die in der Heimat beginnt und sich auf dem langen Weg ans Ziel schrecklich steigern kann — die Geschichten und Biografien der vielen tausend Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertranken, werden nie alle erzählt werden. Vielleicht lassen die Gefahren, auf die sich Menschen bei ihrer Flucht einlassen erahnen, wie verzweifelt sie sein müssen. Massenflüchte sind kein neues Phänomen: Nach dem zweiten Weltkrieg wurden 14 Millionen Deutscher aus ihrer Heimat vertrieben — noch heute können Großeltern, die den langen Weg, der oft nach Deutschland führte, von den Leiden und Strapazen dieser Flucht berichten. Wer flieht hat Rechte. Artikel 14 der Menschenrechte legt fest „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“. Diese Recht ist in Deutschland im Grundgesetz verankert. Flucht polarisiert. In Deutschland, aber auch in der gesamten Europäischen Union. In einem Spannungsfeld aus osteuropäischen Regierungen, die wieder Grenzzäune in Europa aufstellen, Deutschen, die Flüchtlingsheime anzünden, einer selten großen Hilfsbereitschaft vieler Bürger und einer Politik, die träge auf die neue Herausforderungen reagiert, schauen wir vielen hunderttausend Menschen entgegen, die Europa und vielleicht Deutschland zum Ziel ihrer Flucht gemacht haben.

Soll Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen? — Müssen wir Angst vor einer erneuten Flüchtlingswelle haben? Sind Flüchtlinge vom Balkan anders, als jene aus Syrien? Diese und viele andere Fragen von Medien beantworten zu lassen ist bequem. Auf diesen Seiten zeigt standpunkt eine Kollage von Zahlen, Fakten und Zitaten, die Fragen stellt und zum Nachdenken und Nachfragen auffordern.

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159.927 a

ge nträ

Konkret.

Irak 86,7% Afghanistan Syrien 88,8%

64.539

40,9%

Eritrea

2012

1.300 tsd.

Mehr Todesfälle als Geburten

21,5%

800 tsd. Menschen, die in Deutschland sterben

Irak 5,4% Afghanistan 5,2%

Islam 63%

5,9%

1970

2008

Übrige 12%

1950 Christentum 25%

Kosovo 15% Serbien Albanien Wo kommen Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragen, her? (1. Halbjahr 2015)

Menschen, die in Deutschland geboren werden

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Anteil der Menschen, die 2015 in Deutschkand als Flüchtling oder asylsuchend anerkannt werden.

Syrien 15,3%

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77%

Aus welchen Ländern werden die meisten Flüchtlinge anerkannt? (1. Halbjahr 2015)

36,7%

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standp u nkt

standpunkt

Asyl

and schl

1. Hälfte 2015

t esam

Quelle, wenn nicht anders angegeben: BAMF 2015.

Welche Religion haben Asylbewerber in Deutschland (2014)? 105


14 Mio.

Deutsche wurden zwischen 1944 und 1950 aus ihrer Heimat vertrieben.

50% der Asylbewerber in Deutschland waren 2014 unter 25 Jahre alt.

fluter 2015

Arbeitslosigkeit in ... (Eurostat, Sept. 2014) standpunkt

Robert Bosch Stiftung 2014

Menschen sind weltweit auf der Flucht

50.000.000

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Deutschland 4,7% Großbritanien 5,4% Frankreich 10,5% Spanien 22,7%

66,6% Geschlechterverteilung der Asylbewerber 2014.

33,4%

66% der Deutschen können sich vorstellen, Asylsuchende persönlich zu unterstützen.

„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ — Artikel 16a (1), Grundgesetz Bundesrepublik Deutschland.

Robert Bosch Stiftung 2014

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Efe Efehosa:

Interview: Sean Levey Foto: Linus Bahun

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Doch als Jugendlicher in Deutschland hat man keinerlei Vorstellung davon, wie es sein muss, zu fliehen, sein Leben und seinen gewohnten Alltag zurückzulassen und in ein fremdes Land zu kommen. Wie fühlt es sich an ausgeschlossen und mit Vorurteilen der übelsten Art konfrontiert zu werden?

Unser Autor Sean Levey sprach mit Efe Efehosa (39), der 2013 aus Kumasi (Ghana) nach Deutschland kam.

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Efe Efehosa ist 39 Jahre alt und flüchtete 2013 von Kumasi in Ghana nach Deutschland. Ich sprach mit ihm über sein Leben in Mönchengladbach.

Kamst du direkt nach Mönchengladbach? Efe: Nein, ich war in mehreren Stationen in Deutschland. Als Erstes kam ich nach Bremen, dann nach Dortmund, danach nach Neuss, weiter nach Herne und zu guter Letzt nach Mönchengladbach! Arbeitest du? Ja, aber nur ehrenamtlich. Das ist auch momentan das größte Problem. Ich arbeite beim Volksverein, was mir Spaß macht. Es ist besser, als nur Zuhause zu sitzen! Ich habe zwar ein Jobangebot, aber der Prozess ist zu langsam. Was ist der Unterschied zwischen Kumasi und Mönchengladbach? Kumasi hat mit zirka 2,7 Millionen mehr als acht Mal so viele Einwohner als Mönchengladbach. Wenn man nun diese Zahl mit der Fläche Kumasis vergleicht, wird einem bewusst, dass dort viel zu viele Menschen leben. Generell mag ich es jedoch nicht, Städte miteinander zu vergleichen. Meiner Meinung nach ist jede Stadt einzigartig. Mönchengladbach ist wie eine Stadt, aber auch nicht wie eine Stadt. Mönchengladbach ist ein Ort zum Entspannen. Hier ist es nicht laut, es ist nicht hektisch. Viele Menschen sind nett, ein paar natürlich nicht. Doch im Großen und Ganzen ist Mönchengladbach ein cooler Ort mit coolen Menschen.

War es anfangs schwer, Anschluss und Freunde zu finden? Jeder Anfang ist schwer. Das erste halbe Jahr musste ich erstmal die Umwelt verstehen, in der ich nun war, wie überhaupt alles hier funktioniert. Ich musste mich erstmal einleben und alles verstehen. Dazu kam diese Angst. Mit wem soll ich reden? Wem soll ich morgens Hallo sagen? Wie sage ich überhaupt Hallo?! Natürlich war die Sprache anfangs auch ein Problem. Doch nach und nach verstand ich ein bisschen Deutsch und fand Freunde, sodass ich mich dazu entschlossen habe, mehr zu lernen. Ich gehe zurzeit zur Volkshochschule und lerne Deutsch. Was sind deine persönlichen Interessen? Ich habe viele Interessen! Ich treffe gerne andere Menschen und führe gerne intellektuelle Konversation. Ich höre Menschen gerne zu, höre mir gerne ihre Geschichten an. Ich helfe Menschen gerne! Ich bin ein absoluter Musikliebhaber und ich schaue gerne Filme. Viele Leute denken, dass ich keine sozialen Kontakte hätte, da ich die meiste Zeit drinnen bin, doch das stimmt nicht! Ich gehe auch gerne feiern! (lacht) Hast du noch Familie in Ghana? Ja, meine Eltern und meinen Bruder.

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Schon seit Anfang 2014 ist klar, dass es die meisten Weltflüchtlinge seit dem zweiten Weltkrieg geben wird. Die meisten fliehen vor Krieg, religiösen Auseinandersetzungen und politischen Machenschaften.

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„Ich habe einen großen Traum.“

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I am a thought leader thinking for change Efe Efehosa

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is my hobby“

Foto: Dominik Rau

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so schnell verlassen werde. Wenn es jedoch woanders die Möglichkeit gäbe, produktiver und effektiver zu sein, dann könnte ich die Stadt verlassen. Trotzdem denke ich, dass Mönchengladbach momentan das Beste für mich ist. Außerdem habe ich hier gute Freunde gefunden und gute Freunde will man ja auch nicht einfach so verlassen (lacht). Was sind deine Pläne für die Zukunft? Was möchtest du erreichen? Hast du einen großen Traum? Ja, ich habe einen großen Traum. Ich möchte alles sein, was ich bin. Ich möchte alles im Leben geben und der Mensch sein, der ich bin. „Mach alles, was du kannst“ – das ist meine Philosophie. Wenn ich 80 bin, möchte ich mir ehrlich sagen können: Ich hatte Erfolg. Ich bin zufrieden mit mir selbst und meinem Leben. Ich habe es geschafft. Natürlich setze ich mir auch Ziele. Ich möchte weiter zur Schule gehen und Deutsch lernen. Leider ist das momentan nicht möglich, da das Deutsche Gesetz irgendwelche Gründe dagegen aufweist. Doch ich wünschte, dass es eine Rücksichtnahme auf gebildete Flüchtlinge gäbe. Denn es gib viele schlaue und gebildete Flüchtlinge, die lernen wollen, aber nicht dürfen. Ständiger Stillstand frustriert und genau das ist das Problem. Viele wollen produktiv sein und etwas für das Land und die Gesellschaft tun, aber bekommen keine Chance dazu. Ich würde mich auch zu dieser Gruppe zählen.

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überlassen. Die deutsche Kultur unterscheidet sich sehr von der Kultur, in der ich aufgewachsen bin. Es wäre jedoch falsch zu sagen, dass ich die deutsche Kultur nicht mag, da ich vieles einfach noch nicht verstehe! Viele Dinge bin ich einfach nicht gewöhnt und kommen mir komisch vor. Was denn zum Beispiel? Ich habe die Erfahrung gesammelt, dass es für einen Deutschen sehr schwierig ist, nett zu einem zu sein (lacht). Sehr viele denken leider nur an sich selber und wollen von anderen nicht belästigt werden. Das ist bei uns anders. Bei uns ist man offener und netter zu anderen Menschen. Ich kenne ein paar Deutsche, die genauso sind. Einfach netterer zu Fremden. Ich wünsche mir, dass viel mehr Leute so wären. Außerdem gibt es immer noch das Problem der Hautfarbe. Für mich ist das ein großes Problem, da ich es einfach nicht verstehe. Viele Leute müssen verstehen, dass die Hautfarbe kein Problem darstellt. Es ist egal ob schwarz, weiß, grün oder blau… Jeder Mensch ist gleich und verdient dieselben Rechte! Ich wünschte, dass mehr Leute so denken würden. Doch es wird sehr, sehr lange dauern, bis das jeder verstanden hat. Jedoch würde ich nicht sagen, dass es falsch ist so zu urteilen. Denn Menschen sind Individuen, alle sind unterschiedlich. Möchtest du in Mönchengladbach bleiben? Ich bin sehr abenteuerlustig (lacht) Ich denke nicht, dass ich Mönchengladbach

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Warum bist du nach Deutschland gekommen? Ich verließ Kumasi aus politischen Gründen. Mein Vater ist eine sehr strikte, politische Person und ich kam damit nicht zurecht. Es wurde gefährlich und ich musste mich von meiner Familie fern halten. Es war schwer für mich, doch es musste leider so sein. Hast du auch Kontakt mit Menschen aus deinem Land oder nur mit Deutschen? Ich habe auch Kontakt mit Menschen aus Ghana, doch ebenso mit vielen aus Deutschland. Ich versuche weniger Zeit mit den Menschen aus meinem Land zu verbringen, da ich eine globale Person bin und auch gerne verschiedenen Menschen mit verschiedenen Kulturen kennenlerne. Mir ist es sehr wichtig, Kontakt mit vielen Leuten zu haben und mein Netzwerk zu erweitern. Manchmal ist es etwas schwierig und auch peinlich, doch das ist mir egal. Ich denke, dass genau das das Problem vieler ist. Viele möchten nicht den ersten Schritt machen und auf eine Person zugehen. Aber man muss es versuchen. Wie findest du die deutsche Kultur und war es schwer, diese zu lernen? Was ist der Unterschied zwischen deiner und der deutschen Kultur? Es ist nichts falsch mit der deutschen Kultur (lacht). Jedes Land hat seine ganz eigene Kultur. Das ist nunmal so, daran kann man nichts ändern. Wie einem diese Kultur gefällt, ist ja jedem selbst

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Ist hier der richtige Ort für ein Festival?

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?

Anfang Es ist gerade mal sieben Jahre her, da hat man sich nicht nur über diesen eigenwilligen Namen HORST gewundert, sondern auch über die Idee “draußen&umsonst” gestaunt. Der Name für ein Festival war schon spektakulär, aber dass ein Festival dieser Größenordnung ehrenamtlich und ohne marktwirtschaftlichen Anspruch auf die Beine gestellt werden konnte, war für Mönchengladbach revolutionär.

Foto: Paula Vollmer

Erfolg Die Festivalverantwortlichen hatten es geschafft, dass die Stadt Mönchengladbach nicht nur mit seinem Fußballverein in Verbindung gebracht wird, sondern durch HORST auch eine ganz besondere kulturelle Wahrnehmung über die Stadtgrenzen hinaus erreicht hat. 112

„Es sollte hier nicht nur ein Festival geben, sondern fünf oder zehn!“ — Ulla Heinrich

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Ihr habt ja nicht nur organisatorisch, sondern auch künstlerisch viel Geschick bewiesen. Was bedeutet für Euch als Kulturmenschen und Kuratoren „Ende“? Ende bedeutet für uns immer auch Anfang — das ist total wichtig. Wir werden das HORST in dieser Form nicht fortführen, aber als Ehrenamts-Feaks machen wir mit andere Projekten schon jetzt weiter. Keiner von uns kann stillstehen. Der HORST-Verein bleibt sowieso bestehen und damit bleiben auch Projekte wie das potpourri Festival. Und gerade weil der große Leuchtturm „HORST Festival“ jetzt weg ist, könnte die restliche Arbeit auch noch deutlicher sichtbar werden. Jetzt ist wieder Luft da für viele kleinere Sachen. Man hätte das Festival ja auch an eine jüngere Generation weitergeben können. Warum habt ihr Euch dagegen entschieden? Darüber haben wir nachgedacht. Am Anfang dachten wir sogar, dass die Teams vom potpourri für das HORST Festival nachwachsen. Aber das potpourri steht total für sich! Es ist keine Schulung, die auf HORST vorbereitet. potpourri ist ein eigenes Produkt mit einer eigenen Identität. Und: HORST lebt vom Booking. Das steht und fällt mit den Personen. Unser Geschmack, über den man streiten kann, hat das Festival mitbestimmt und sowas kann man nicht weitergeben. Noch viel wichtiger ist aber: Wer soll dieses Risiko von 200.000 Euro tragen? Sollen zwanzigjährige Jungendliche dieses Risiko tragen? Nein, das geht einfach nicht, das kann man nicht bringen.

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Können wir darüber sprechen ,wir Ihr Horst gegründet habt? Das war vor fünf Jahren… Ja, eigentlich vor sieben Jahren. Sorry, vor sieben Jahren. Wie war Gladbach da und welche Stimmung lag in der Luft als Ihr HORST gegründet habt? Ich bin in Gladbach angekommen und habe angefangen, Kulturpädagogik zu studieren. Damals dachte ich: was ist denn hier los? Ich konnte nicht nur nichts unternehmen sondern es gab auch ganz wenig gleichgesinnte Leute. Obwohl ich so einen kreativen Studiengang studierte. Die Leute waren irgendwie lahm. Erst später habe ich dann einzelne Leute kennengelernt, die kreativ und engagiert waren, zum Beispiel Oliver Leonards. Als wir uns angefreundet hatten, ging es recht schnell: Oliver hatte den Impuls und ich saß bei der Studierendenvertretung im Vorstand. Er kannte die Leute aus der Kreativ-Wirtschaft (das war damals total neu), ich war nah an den Studenten und anderen Leuten, die Lust hatten, neue Sachen zu machen. Wir hatten das Gefühl, zusammen können wir total viel bewegen. Leute zu finden, die dabei mitmachen, war gar nicht schwer. Die Stimmung war mega gut! Wir waren aber auch unsicher. Wir mussten mit den ganzen alten Gladbachern, die selber nichts gemacht haben, aber uns direkt kritisiert haben, klarkommen. Da mussten wir gegen viele Widerstände bestehen. Da entstanden dann so Geschichte wie die mit dem Zaun. Erzähl, wie geht die Geschichte mit dem Zaun? „Umsonst und draußen“ hatte früher keinen Zaun. Das war vom Gefühl her total schön! Aber heute geht das bei Events nicht mehr, das muss eingezäunt werden. Da mussten wir uns gegen eine alte Fraktion beweisen, was nicht immer so leicht war. Damals wart ihr alle um 20 Jahre alt und hattet ein Budget von 20.000 Euro. Heute sind es 200.000 Euro. Wie hat sich das entwickelt? Hat man Veränderungen gespürt? Was das Geld angeht: wir haben es immer knapp geschafft auf null zu

Ist Gladbach überhaupt der richtige Ort für ein Festival? Wir haben überlegt, ob Köln und Düsseldorf Festivals nicht viel besser können. Überhaupt nicht! Köln und Düsseldorf müssen total für sich stehen und Gladbach eben auch. Früher sind alle dahin gefahren, um etwas zu erleben — zurecht, denn hier gab es ja nichts. Aber genau darum muss man ja hier etwas machen. Und es gibt hier so viele tolle Menschen, die etwas starten wollen. Auf dem HORST hat man es gesehen! Es sollte hier nicht nur ein Festival geben, sondern fünf oder zehn! Wann habt ihr gemerkt, dass etwas schief läuft? Oli hat es gut formuliert; wir waren da nicht ehrlich zu uns. Seit etwa zwei Jahren merken wir: wir sind überlastet, persönlich und privat. Aber weil wir befreundet sind, wollte niemand den anderen hängen lassen. Darum haben wir Jahr für Jahr die Arschbacken zusammengekniffen und gesagt: Jetzt ziehen wir es nochmal durch. Aber vor diesem Festival haben einzelne im Team gesagt: „Es geht nicht mehr. Ich kann das nicht mehr realisieren.“ Ich nehme mich selber da nicht aus. Ich bin selbstständig und beim HORST geht einfach Zeit drauf, in der ich kein Geld verdienen kann. Und weil es so viel Zeit ist, habe ich am Ende nichts mehr zu essen. Das geht so nicht. Final war es wie ein Durchatmen. Hatte HORST eigentlich eine Krankheit oder war das Aus von HORST nur ein Symptom der Krankheit, die die Stadt Mönchengladbach hat? Prinzipiell muss man ja sagen: es läuft total viel gut! Ich sehe viele engagierte Leute, die zusammenarbeiten. Das war früher nicht so. Man hat sich eher argwöhnisch angeguckt und dadurch ist nichts Gutes entstanden. Heute sind alle miteinander vernetzt, ehrenamtlich wird viel Basis-Kulturarbeit gemacht. Super! Was es aber zu kritisieren gilt: die Politik und auch die Gesellschaften der Stadt müssen dieser Arbeit mit Wertschätzung begegnen. Ein feuchter Händedruck reicht da nicht aus. Man muss gar nicht immer über Geld sprechen,

H

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eine erfolgsgeschichte .

Der Verein, der hinter dem HORST Festival steckt, hat sich nämlich zur Aufgabe gemacht, Musik und Kultur in der umliegenden Region aufzufrischen und aufzumischen. Immer angetrieben von der großen Lust, nachhaltige Veränderung zu initiieren und etwas Großartiges bieten zu können, was Mönchengladbach bis dahin noch nicht gesehen hatte, wurde die Idee eines Festivals und des Vereins geboren. —

Anfang Im Sommer 2008 kamen viele kreative

Köpfe mit Oliver Leonards zusammen, die alle Lust hatten HORST, zur Welt zu bringen. Bereits ein Jahr später fand das Umsonst & Draußen Open-Air das erste Mal mitten in Mönchengladbach mit Hilfe des AStA der Hochschule Niederrhein statt. —

Verein Im Herbst 2009 wurde der HORST Mu-

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Vor zwei Wochen lag ich in Kroatien am Strand und plötzlich hörte ich die Breaking-NEWS: „Horst macht Schluss!“ Warum macht Ihr meinen Urlaub kaputt? Ulla Heinrich: Ah, das tut mir natürlich total leid. (lacht) Das Ende fürs Horst haben wir schon vor dem Festival 2014 beschlossen. Vor zwei Wochen sind wir dann damit an die Öffentlichkeit gegangen. Der Grund ist, dass wir diese Qualität von Event und Kultur auf diesem Niveau als Ehrenamtler nicht mehr leisten können. Also persönliche Gründe.

kommen, egal wie groß das Budget war. Die Stimmung über die Jahre … das war nicht immer einfach. Wir sind sehr diskursorientiert. Bei uns wurde ALLES diskutiert. Alles, was ihr auf dem Festival als Ergebnis gesehen habt hatte bei uns endlose Diskussionsschleifen. Wir sind alle sehr unterschiedlich. Aber genau das hat das HORST zu dem gemacht, was es ist. Was ich erst im Nachhinein gemerkt habe: wir haben uns unheimlich professionalisiert. Obwohl wir nie Zeit für Reflexion hatten und immer überlastet waren, haben wir uns zu Professionals entwickelt. Das heißt auch, das wir Geld verdienen müssen. Dafür steht HORST aber nicht.

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Als das Ende des HORST Festivals verkündet wurde, war das ein Schock für viele Gladbacher. Warum dieses Ende? Kurz nachdem die Meldung die Runde machte, sprach Linus Bahun für standpunkt mit Ulla Heinrich, der Vorsitzenden des HORST Vereins, über ein erleichterndes Ende , die Chancen für ein Comeback und Probleme der Stadt Mönchengladbach.

sik- und Kulturförderung e.V. gegründet. Das Herzblut der Initiatoren fließt aber nicht nur in Großveranstaltungen, sondern eben auch in kleinere Projekte und Ideen (HORST sessions oder Potpourri), mit denen kulturelle Abwechslung zu überwiegend kommerziellen Freizeitangebot in der Umgebung geschaffen werden und gleichzeitig die lokale und regionale Musik- und Kulturszene zu fördern. —

Ende 2014 gab es den tränenreichen Abschied vom HORST. Dazu trafen wir Ulla Heinrich im Gespräch...

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Man könnte ja sagen, dass Horst als Festival ein Experiment war. Wie ist das Ergebnis? Da denke ich oft drüber nach. Wir fragen uns oft: was wollen die Leute? Und ich glaube, die ordinären Mönchengladbacher haben sich total entwickelt. Sie haben eine Offenheit für Kultur entwickelt und lassen sich eher auf Neues ein. Das sieht man auch an städtischen Veranstaltungen wie Nachtaktiv. Da sind ganz viele Leute aktiv — und zwar nicht nur die üblichen Kulturschaffenden. Und genau das ist unser Ziel: viele Leute erreichen, ohne Mainstream zu werden. Was wäre eigentlich, wenn Krefeld sagt: Hier ist Euer Budget, wir wollen HORST in Krefeld. Wie sehr ist HORST an Gladbach gebunden? HORST ist total an Gladbach gebunden. HORST ist in Gladbach geboren und gehört an den Platz der Republik. Wir hatten ja durchaus Angebote, was das angeht. Aber trotz vieler Unannehmlichkeiten, die dieser Ort mit sich bringt, wollten wir im Herzen von MG bleiben. Für alle erreichbar. HORST woanders wird’s nicht geben.

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Was müsste passieren, damit wir HORST zurück bekommen? Prinzipiell ist HORST erstmal abgeschlossen, aber wenn man so etwas in der Art nochmal machen möchte, bräuchte es eine Form, die dafür sorgt, dass das finanzielle Risiko nicht an einzelnen Privatpersonen hängt. Es müsste eine gemeinsame Veranstaltung sein, wo das Risiko von vielen getragen wird. Eine Vision bitte: Wie geht es nach Horst weiter? Was klar ist: alle planen gerade unterschiedliche Konzerte. Da wird ganz viel stattfinden. Der Verein bleibt bestehen, vielleicht auch mit neuer Unterstützung. Das potpourri festival soll auf jeden Fall erhalten bleiben. Und meine größte Vision: vielleicht kommen ja Leute, die jetzt vom Ende des HORST geschockt sind, in den Verein und starten mit uns ganz neue Sachen. Die könnten wir mit unserem Know-How unterstützen. Vielen, vielen Dank für das Gespräch.

potpourri

schreibt die Geschichte mit anderen Vorzeichen weiter.

Scheiß auf Kafka

Text: Linda Bahun F otos : M a x Z d u n e k Ihr umfangreichen Instrumentarium aus Casio-Keyboards, Gitarren, Bass, Percussion, Drums, Glockenspiel und Steeldrum ist beeindruckend und die Grooves dazu sind tanzbar. Ihre Texte entstehen teilweise aus Alltagserfahrungen oder durch Kritik an Dingen oder Menschen. standpunkt traf die Band beim potpourri Festival, nach einer Massage (die hatten sie nach einer gewonnen Wette mit dem potpourri-Team gewonnen) und vor ihrem Auftritt. Die Stimmung war dementsprechend entspannt, als wir auf der Bierzeltgarnitur im Presseraum Platz nahmen und bei Salzstangen und Chips ein ziemlich unterhaltendes Gespräch führten. Dass die Band, die mittlerweile auf ihren Touren echt viele Zuhörer begrüßt, auch in Gladbach bei einem Jugendfestival Halt macht, spricht nicht nur für ihre Leidenschaft zur Musik, sondern auch für ihre Sympathie. www.potpourrifestival.de

Eigentlich kalkulieren sie den Erfolg ihrer Band nicht und darum gehen sie mit ihrer Bekanntheit und mit ihrem Haltbarkeitsdatum auch ziemlich entspannt um („Wenn es terminlich passt spielen wir eigentlich Alles.“). Sie finden es schon cool, wie es gerade abgeht, aber vordergründig ist ihnen ist der Spaß an der Musik wichtiger. Sie wollen, dass ihre Musik echt bleibt und nicht synthetisch – eben mit richtigen Menschen und richtigen Instrumenten. Die meisten Instrumente sind irgendwie zusammengesammelt, aus der Schule oder noch irgendwo verstaut. Die Meisten sind aus der Oper oder von Freunden. Für die Wenigsten haben sie eigentlich etwas bezahlt. Mit „zufälligen Kombination von Wörtern auf Zetteln“ entstanden ziemlich … na, ja sagen wir ‚individuelle Texte‘. Die Grooves dazu sind absolut tanzbar und Steel-Drums und Regenbogenachttästlern und daneben natürlich Schlagzeug, Bass und Gitarre.

Es geht bei „Sushi“ einfach darum, wie nervig es ist, wenn Leute ihr Essen auf Facebook posten. Es gibt keine Hintergedanken bei ihren Texten und daher sind auch keine riesigen Assoziationen nötig. Genauso ist auch der Bandname entstanden. Der musste und ist schon oft geändert worden. Bei der Suche nach dem aktuellen Namen konnte man sich zwischen zwei skurillen Namen nicht entscheiden und klebte sie kurzerhand auf zwei Fressnäpfe. Dann musste ein Kater herhalten und sich entscheiden. Das Fressen in dem Futternapf mit dem „Vom wegen Lisbeth“-Schild musste einfach leckerer gewesen sein, denn diesen wählte er aus und entschied damit den Bandnamen. Und das war halt der Name von Roberts Oma: Lisbeth. Eigendlich klingt ihre facebook-Beschreibung schon wie ihre Musik: abstrakt, humorvoll und eben anders – auf jeden Fall so gut gelaunt wie wir sie auch kennengelernt haben: eben echt! www.youtube.com/vonwegenlisbeth1

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„Ich glaube die ordinären Mönchengladbacher haben sich total entwickelt. Sie haben eine Offenheit für Kultur entwickelt und lassen sich eher auf Neues ein.“ — Ulla Heinrich

Jetzt gibt es ja diese Online-Petition. Dürfen wir hoffen? Berührt Euch das? Klar berührt uns das, wir kennen die Leute dahinter ja auch! Das sind zum Teil Fans, zum Teil Helfer. Wir finden das total schön. In Gladbach sollte es viel mehr Petitionen geben. Mal gucken.

... so beginnt die ausführliche Beschreibung der Indie Pop Band „Von Wegen Lisbeth“ auf ihrer FacebookSeite. Sie verbreitet mit ihren Auftritten und ihrer Musik jede Menge gute Laune und mittlerweile schwärmen zahlreiche Fans im ganzen Land von der Band mit dem einprägsamen Namen und den skurilen Songtexten. Selber kommentieren sie ihren eigenen Namen lachend auch als sinnlosen Scheiß.

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Wertschätzung — kannst du das noch konkretisieren? Wünscht ihr Euch mehr finanzielle Hilfe? Klar. HORST ist vorbei, aber für alle anderen wünsche ich mir, dass Geld umgeschichtet wird und dass es mehr praktische Hilfe gibt: Es wäre gut, sich einfach mal auf die Fahne zu schreiben: Wie Projekte — zum Beispiel das potpourri — finanziert werden, ist nicht nur das Problem der freien Szene, sondern wir machen das auch zu unserem Problem. Das Kulturbüro der Stadt Mönchengladbach unterstützt hier definitiv schon wo es kann. Gerade viele kulturpädagogische Projekte wurden durch diese gute Zusammenarbeit in der Stadt auf den Weg gebracht. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre es eine zusätzliche Stabsstelle “freie Szene”, die vielleicht eine Verbindung zwischen Kulturarbeit und Stadtmarketing herstellt und die sich ausschließlich mit solchen Fragen beschäftigen kann. Das wäre toll und das gibt es in anderen Städten ja auch.

Nachdem das Aus verkündet war, gab es da etwas, was Euch besonders berührt hat? Alles! Man muss vielleicht wissen, dass wir die interne Regelung hatten, dass wir es allen internen Mitarbeitern gesagt haben, von denen wir dachten: Okay, die können mit der Message umgehen. Jeder hat also seine Teams gebrieft. Und die Stimmung war — ich kriege sofort wieder Gänsehaut — einfach unvorstellbar, total elektrisierend. Etwa 300 Leute wussten: Das ist das letzte mal. Man hat während des Events ständig Leute gesehen, die irgendwie geweint haben. Da haben wir ganz viele bewegende Geschichten gehört. Ansonsten waren wir schon ziemlich viel Hate gewöhnt; davon haben wir aber gar nicht so viel erfahren. Das Feedback war verständnisvoll. Und so wie Silke immer sagt: HORST ist eigentlich die längste Beziehung, die wir alle hatten.

Von wegen Lisbeth.

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aber Unterstützung ist einfach wichtig! HORST Festival, Magarethen-Garten, Ladenlokal, Klaus- und Greta-Markt — das wird in allen Broschüren total gerne genannt. Dennoch gibt es dann ein Defizit zwischen Anerkennung und der Art und Weise, wie man es für sich benutzt. Das muss man mal so offen sagen.

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Das Event-, DJ-, Kreativund Design KUNSTGESCHWISTER 118

Kunstgeschwister sind nicht nur Veranstalter und Booking Agentur, sie sind ein Gemeinschaftsprojekt aus DJs, Künstlern und Architekten. Kunstgeschwister ist ein Event-, DJ-, Kreativ- und Design-Kollektiv. Die Idee und Leidenschaft, selber Events zu gestalten und zu veranstalten, hatten die Brüder Timo und Mike Kucksdorf schon in ihrer Jugend. Off-Locations wie stillgelegte Fabriken, kontrastreiche Räume oder unerwartete Orte in der Architektur oder Natur haben die beiden schon immer zu neuen Eventideen inspiriert und gereizt. Mit Neugierde und Begeisterung sammelten sie professionelle Erfahrungen auf internationalen Festivals. Sie beobachten insbesondere die Planung- und Backsagearbeit und ließen sich inspirieren von Zeitströmungen und Entwicklungen im Musik- und Kunstbereich. Dabei fasziniert sie bis heute die logistische Herausforderung, die hinter einer Eventplanung steht. Das Zusammenspiel von Parteien und Partner an so einem Projekt beherrschen sie heute mit Erfolg, denn ihre Stärke ist das Teamplaying. Ihr Ziel ist, mit allen Beteiligten ein gemeinsames Ziel zu verfolgen und für jeden zufriedenstellend zu erreichen. Trotz ihrer Professionalität haben sie nie den Respekt vor den Projekten und deren Planung verloren. Verantwortung gegenüber den Geschäftspartnern und dem Erfolgserlebnis mit dem Team steht für die beiden Brüder an oberster Stelle. Anfang 2007 haben sie die erste Party in einem Hotel veranstaltet. Die Zweite folgte in einem alten Wasserturm in Dülken. Danach zogen Timo und Mike von Dülken nach Düsseldorf und haben jeden Dienstag die Anaconda Bar in der Altstadt bespielt und sind 2008 mit den monatlichen Events Kunstgeschwister in einen Club nach Mönchengladbach gezogen. Das Ziel, etwas Eigenes zu machen, hat sich dann im Laufe der Zeit ergeben. Dass daraus mehr geworden ist, was unabhängig von Mönchengladbach begeisterte Fans anzieht, liegt daran, dass das

Kollektiv

» Standpunkt im Gespräch mit Mike und Timo Kucksdorf «

Team um Kunstgeschwister auch projektorientiert, kreativ und spontan denkt. Für sie ist ein Eventkonzept nicht statisch und zielgerichtet. Es entwickelt sich im Prozess und lässt keine kreative Begegnung oder Inspiration aus, wenn sie für die Veranstaltung Innovation und Zeitgeist über den Mainstream hinaus bedeutet. Die regelmäßigen Veranstaltung, das Ruinen-Picknick, sowie das Hell & Dunkel Open Air und jetzt das Day&Night, zeigen den experimentelle und künstlerischen Anspruch, ohne in der Umsetzung auf den höchsten professionellen Anspruch zu verzichten. Es gibt bei Kunstgeschwister nicht für alles ein Konzept, denn vieles passiert aus der Entscheidung der Gruppe heraus. So veranstalten die Kunstgeschwister monatlich ihre Kunstgeschwister Events im Mönchengladbacher Raum38. Dort ist die „Homebase“ der Familie und dabei haben ihre geladenen Künstler wie z.B. Thyladomid, 2insicht. und Ade Kanon immer einen festen Platz. Bei ihrem Bookings achten sie immer auf eine gesunde Mischung aus bekannten Künstlern, Newcomern oder auch innovativen Projekten, ohne ihre klare Linie zu verlieren. Kunst spielt auch eine große Rolle. Abgesehen von der Musik als Kunst kombinieren sie diese mit Fotografie, Mode oder anderem. In allem bleiben sie dabei ihrem Konzept treu, ohne sich jedoch einzuschränken.

j u n g e d e n k k u lt u r

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Die beiden „Kunstgeschwister“ Mike und Timo Kucksdorf veranstalten seit einigen Jahren nicht nur erfolgreiche, sondern ganz besondere Events in und um Mönchengladbach.

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F otografie : K u n s t g e s c h w i s t e r

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Über… die Entstehung

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Über… al e und neue

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Kunstgeschwister steht somit für: Freundschaft, Familie, Zusammenhalt, aber auch für einen gemeinsame Weg und kreativen Austausch.

Werte

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Die technischen Möglichkeiten bieten heute viel mehr Kids schon früh die Option, sich nicht nur als User, sondern selber als Musiker oder DJ zu versuchen. Das bringt klare Vorteile mit sich, aber natürlich auch Nachteile. Wir sind selber noch mit Platten bei den Eltern aufgewachsen und finden es klasse, die alten Werte zu erhalten, können aber auch diejenigen verstehen, die sie vehement verteidigen. Wir gehören zu der Generation, die beides kennt, selber mehr Berührungspunkte im Job mit den neuen Medien und technischen Gegebenheiten haben und sind somit sehr offen für Beides. Das allgemeine Interesse ist durch die Zugänglichkeit für „Jedermann“ natürlich gestiegen und der DJ ist heute der Fußballstar von gestern. Dadurch ist es noch schwieriger geworden gutes zu filtern, denn jeder Hobby DJ oder Produzent veröffentlicht heute was auf Portalen wie Beatport und Co, ist auf einmal Label Chef oder halt DJ von Beruf. Für uns und viele andere verwässert dadurch auch unsere so starkgeprägte und hart aufgebaute Subkultur und damit verbundenen Genre. Durch den EDM und kommerziellen Hype der „elektronischen“ Musik wird vieles in einen Topf geworfen. Das ist am Ende extrem schade, denn unsere oder auch andere Untergenre dieser Kultur haben sehr starke Alleinstellungsmerkmale, die ganz klar erhalten und geschützt werden müssen. Unser Musikgenre hat aktuell für die breite Masse keine Trennung mehr. Auf der anderen Seite freut uns aber jedes Mal zusehen wie extrem sich gerade die junge Generation mit den Nischen befasst, aktiv folgt und man dem Anspruch dennoch gerecht werden muss und natürlich auch für sich selber will.

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Wir zwei sind leibliche Brüder, in unserem Kollektiv sind wir das aber irgendwie alle. „Von Freunden, für Freunde“ – das ist das Motto unserer Events. Der brüderliche oder familiäre Umgang miteinander ist uns wichtig und das übertragen wir auch auf unsere Events und Gäste. Es ist so’n Familiending. Umso schöner, nun zu sehen, was sich daraus entwickelt hat. Es war immer unser Wunsch, mit Freunden und „Bro´s“ gemeinsame Sache zu machen, sich aber nicht auf die Füße zu treten und dennoch die gleiche Leidenschaft und Ziele zu verfolgen. Klar – auch bei uns knallt es mal. Aber auch das ist wichtig. Es ist nicht immer einfach, Beruf und Privates zu trennen. Ich glaube, ich spreche da für jeden, der beruflich im Eventgeschäft, Nachtleben oder der Gastronomie unterwegs ist. Es gibt bei uns ganz klar eine Trennung, dennoch vermischen sich alltägOhne Struktur kann es liche Dinge, Interessensgespräche oder man schnell sehr hart werden trifft Menschen in privaten Situationen, die man sonst nur aus der Nacht kennt. Das ist soweit aber kein Problem. Schwieriger ist es natürlich, wenn man ein Event hat oder wie einige andere einen wöchentlich – zwei oder dreimal geöffneten Club. In der Woche kümmert man sich um ganz normale Büroaufgaben, Rechnungen und organisatorische Dinge. Freitags starten dann alle ins Wochenende, bei uns fängt dann erst der richtige Job an. Wenn man sich da selber keine Grenzen setzt, Freiheiten einräumt und auch eine Struktur aufbaut, kann das ganz schnell sehr hart werden. Das mussten wir auch lernen oder sind noch immer dabei. So ganz los lassen kann man dann doch noch nicht. Für größere Projekte gibt es auch immer jemanden aus dem Team, der das Event von A – Z kennt, genauso wie wir, und das Team mit leitet. Das geht auch nicht anders. Bastian von 2insicht ist z.B. beim „Hell / Dunkel“ Festival immer so tief involviert und auch als Projektmanager verantwortlich. Simon Holt ist vor sechs Monaten für ein Langzeitpraktikum zu uns gekommen, hat durch seine Studiumsarbeit das „Big Food – Street Kitchen Festival“ als Projekt mit betreut und aufgebaut. Er wird nach seinem Auslandssemester voraussichtlich auch intensiver oder sogar fest der Agentur beitreten. Dennoch machen wir sehr viel selber, packen mit an und sind immer die ersten und auch die letzten auf unseren Events.

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ber… das Team

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Am Anfang war es „nur“ der Name für unsere ersten Events und unsere Agentur. Natürlich sollte der auch eine Geschichte erzählen. Wir haben uns schon weit vor den ersten Events 2007 mit dem Thema beschäftigt, aber mehr aus der Sicht des Gastes. Damals waren Dokumentationen über Festivals oder Musiker, Bands und die Menschen dahinter, extrem spannend und sind es noch heute. „Behind the scenes“ Material hat uns genauso interessiert wie der Konzertbericht an sich. Als wir dann selber angefangen haben, größere Events und Konzerte auch im Ausland zu besuchen und live einen Blick hinter die Kulissen werfen konnten, wurde das Thema immer präsenter. Es war nie unser direkter Plan, irgendwann eine Eventagentur zu gründen, Promoter oder Booker zu werden. Daraus ist erst mit der Zeit mehr geworden. Irgendwann haben wir dann unsere ersten Partys in einem Hotel, einem alten Wasserturm und irgendwann jeden Dienstag in der Anaconda Bar in Düsseldorf veranstaltet. So fing alles an...

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Harald Schaack und das

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Foto für den richtigen Moment.

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die Videoproduktion.

Für alle Bewegbildproduktion wie unsere Trailer, After Movies, One Takesoder Recap Filme, Artist Dokus oder auch unsere 5YK Tour Dokumentation ist Henry Bigalke verantwortlich. Henry haben wir ebenfalls 2011 das erste Mal kennengelernt, aber zu dem Zeitpunkt herrschte noch Unwissenheit auf beiden Seiten zu dem, was noch folgen sollte. Wir lernten uns alle besser kennen, er war einfach drin in der Gruppe. Ich erinnere mich noch so gut daran, wie krass es am Anfang war und wir uns alle immer gemeinsam bei einem Essen oder im Büro weggeschmissen haben, denn Henry war so schnell so vertraut und in der Gruppe, aber teilweise so ruhig und zurückhaltend. Auf einmal sagte dann wieder einer: ‚Ach krass, bist du schon die ganze Zeit hier Henry?‘ Laut gelacht haben wir alle zusammen. Jetzt rückblickend fällt einem dann auf, warum es so war. Es ging einfach so schnell wie bei keinem Zweiten, was das Vertrauen angeht. Henry ist so herzlich wie er groß ist, ein richtiger Bro eben. 2012 hat er dann direkt unser „Hell / Dunkel“ Festival After Movie gedreht und geschnitten. Es war natürlich extrem wichtig für uns, man hat nur den einen Versuch für die nächsten 12 Monate, aber er hat es einfach gemacht und rausgehauen. Nach vielen gemeinsamen Projekten, aber auch verdammt starken eigenen Arbeiten mit Bigalke für Global Player und große Brands hat er gemerkt, dass es doch steiler und schneller geht mit seinen Arbeiten. Vor kurzem ist Henry „leider“ nach Hamburg gezogen, was uns nicht wirklich aufhält. Gemeinsam verfolgen wir alles weiter und unterstützen uns gegenseitig. Henry abeitet neben seinen eignen Projekten nun noch für einen der besten Fotografen und Videografen, sowie Selbstvermarkter, die sich in unserem Bereich der Musikindustrie und darüber hinaus bewegen. Auch hier sind wir extrem gespannt, was noch alles kommt, denn eins ist bei beiden sicher: Schaack & Bigalke werdet ihr noch öfters hören!

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Mediencrew.

Künstler wie Ade Kanon und 2insicht. sind quasi seit der ersten Stunde an dabei und haben die Events musikalisch stark geprägt. Thyladomid kam etwas später zu uns, erst als regelmäßiger Gast, dann hat er uns persönlich angesprochen und es hat harmoniert. Mick Benjamins kam Anfang 2012 zu uns. Wir hatten schon vorher Kontakt, doch jeder Zugang wird mit einer Party besiegelt und die hatten wir mit Mick im April 2012 – Jonas Mantey war Großartige Nacht! Weitere Holländer im Bunde sind Roberto Calzetta & Twin damals erst 15 Jahre alt. Soul. Die Jungs aus Maastricht haben wir ganz klassisch zu einem Booking eingeladen und im Verlauf des Abends bzw. der Nacht hat man sich halt sehr gut verstanden und ausgetauscht. Die Jungs sind sehr ruhige Persönlichkeiten, aber als Live Act mittlerweile sehr sicher und ausdrucksstark. Dieser Gegensatz passte recht schnell bei uns und aus dem Booking wurde eine feste Zusammenarbeit. Iris Menza ist zeitlich gesehen das jüngste Mitglied. Wir sind sehr froh mit ihr mal wieder eine Schwester in der Familie zu haben, vor allem eine mit dem musikalischen Können. Sie ist quasi der weibliche Bro. Es haben uns ja auch mit der Zeit schon echt tolle Künstler verlassen müssen, die ihren Weg weiter nach oben gemacht haben. Auf Jonas wurden wir damals durch Thyladomid aufmerksam gemacht. Er stand mit ihm im Austausch und meinte irgendwann im Büro zu uns wir sollen uns mal seine Sachen anhören. Recht lange haben wir das dann auch erstmal nur verfolgt. Irgendwann haben wir ihn angeschrieben und gefragt ob er Interesse an einem Austausch hätte. Das ging wirklich Monate so, bis wir ihn dann zu uns nach Düsseldorf eingeladen haben um sich persönlich kennen zu lernen. Von da an war die Basis gesetzt und man hat sich nach und nach allem angenähert. Was uns bestimmt auch noch mal auf einer anderen Ebene mit Jonas verbindet, ist das er damals erst 15 Jahre alt war. Wir sind mit allem bewusst recht langsam gestartet nach außen, doch bei uns gab es direkt die Taufe auf dem „Hell /Dunkel“ Festival, was wirklich super geklappt hat. Er wurde immer von einem von uns oder unserem Team auf größere Gigs oder ins Ausland begleitet. Das war am Anfang zugleich lustig, aber auch besorgniserregend für uns und seine Eltern. Aber wir haben da gemeinsam mit Jonas einen Weg gefunden, geschaut das wir oft gemeinsame Events haben und uns sehen.

Henry Bigalke und

er… besondere Erinnerungen.

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R u in e npicknick nachtundheimat.de haraldschaack.com facebook.com/bigalkebewegtbild

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Künstler.

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Übe … die

Das Meiste, was ihr hier zu dem Interview an Bildern findet, kommt von einem wirklich guten Freund und sehr begabten Fotografen: Harald Schaack. Harry haben wir auch durch Zufall kennengelernt, er hat 2011 noch für einen Medienpartner von uns gearbeitet und auf dem Hell / Dunkel Festival Fotos gemacht. Seine Bilder waren schon damals immer anders, seine Bildsprache frecher, gewagter, einfach ein ganz eigener Blickwinkel. Wir sagen immer, dass er es schafft, diesen Moment festzuhalten, wenn die bunten Lichter erlöschen und die Menschen gerade nach dem 2 Minuten Arme hoch, ununterbrochen schreien und sich auf die Finger beißen. Man schaut es sich einfach gerne an. Mittlerweile haben das auch andere erkannt. Er hat sich einen Platz erarbeitet, der ihm mehr als zusteht und seine Arbeiten für namenhafte Marken zollen ihm den gebührenden Respekt. Harry begleitet uns jetzt dokumentarisch seit fünf Jahren. Er war mit uns auf Tour, hat die Künstler einzeln begleitet bei Gigs, ist für einzelne Pressebilder der Künstler verantwortlich und steht uns begleitend bei jedem wichtigen Event zur Seite. Wir sind gespannt ob nach seiner ersten Ausstellung damals im Raum38 bald was Neues folgen wird. Genug Arbeiten hat er definitiv und unveröffentlichtes Material ebenfalls.

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Ein Event am Rhein zwischen Düsseldorf & Neuss unter einer Brückenruine. Von Freunden für Freunde gemacht, ohne kommerzielles Ziel eben „Umsonst & Draußen“. Wir haben dort im Sommer wie auch Winter wirklich besondere Momente erlebt. Keine Regeln, keine Grenzen. Nur eine Bitte: Achtet die Natur! Wenn man sich am Ende über die Lautsprecher bei allen bedankt und um Mithilfe beim Säubern der Fläche gebeten hat, dann Müllbeutel verteilt hat und auf einmal sah, dass hunderte Menschen anfangen, ihren oder den Müll von anderen wegzuräumen. Das war immer ein besonderes Ereignis und starkes Gefühl von Gemeinsamkeit und Zusammenhalt. Einmalig!

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Rh e in e n e r gi e

Mit unserem Freund und Partner Dani (102 Club) haben wir nach der zweiten gemeinsamen After Show zum „Hell &Dunkel“ Festival beschlossen auch noch darüber hinaus zusammen ein Projekt zu starten. Wir haben die MS Rheinenergie gechartert und sind mit über 1.500 Gästen, Freunden und unseren Teams von Düsseldorf aus auf dem Rhein nach Köln und wieder zurück gefahren. Die Momente unter den Brücken sind etwas ganz Besonderes. Wer schon mal dabei war, kann es nachvollziehen.

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» In Mönchengladbach sind wir zu 95 Prozent auf positive Resonanz gestoßen. «

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Über… este Bindun

tief ging die Fahrt mit uns und diesem Event. Am Ende hat es uns aber auch geprägt wie kein zweites. Den Moment, wenn man Armin Arm mit seinem Bruder auf der Bühne steht, mit seinem Team und Familie feiert, der letzte Song gespielt wird und die Menge vor der Bühne mit dir noch einmal alles gibt. Dieser eine kurze Moment packt dich so sehr und lässt dich einfach nicht mehr los. Es ist immer der Höhepunkt des Jahres.

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j u n g e d e n k k u lt u r

Unsere monatlichen „Kunstgeschwister“-Events veranstalten wir in unserem Wohnzimmer, dem Raum38. Wir pflegen seit Jahren einen regelmäßigen Austausch mit bestimmten Clubs oder Veranstaltern. Daher gibt es auch immer wieder Events in Städten wie Berlin, Hamburg, Amsterdam oder Istanbul, zu denen wir kooperieren. Wir arbeiten aktuell daran, das „Hell & Dunkel“ Festival als Winter Event umzusetzen, leider hatten wir hier zuletzt mehrfach Probleme mit einem passenden Termin. Auch unsere Kooperationen oder auch eigenen Events in den Niederlanden und Belgien werden voran treiben und ausbauen. An dem Festival in Istanbul arbeiten wir aktuell, darauf freuen wir uns sehr.

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R E C EN S S V P E A R H WiR EUCH!

www.kunstgeschwister.de

2016 wird wiede r i e n i g e s p as s i e r e n

j u n g e d e n k k u lt u r

Mit dem „Kunstgeschwister Open Air“ konnten wir in Mönchengladbach endlich eine Freiluftveranstaltung umsetzen, die wir gerne schon ein oder zwei Jahre früher gestartet hätten, doch damals waren die Voraussetzungen etwas anders. Mit der Stadt arbeiten wir mittlerweile sehr eng und sehr offen zusammen. Das wünscht man sich wirklich nur halb so positiv in anderen Städten oder Kommunen. Herausforderung war für uns zuerst das sensible Thema „Spielplatz und Party“ für einen Tag zusammen zu bringen. Verschiedene Gründe sprechen dagegen, ein Open Air Event teilweise auf und direkt neben einem Wasserspielplatz zu veranstalten, das war uns auch bewusst. Doch nachdem wir während des Aufbaus der ersten Produktion mit Eltern, Anwohnern und Besuchern des Spielplatzes oder Park gesprochen hatten und erklären konnten, was wir dort machen, sind wir zu 95% auf positive Resonanz gestoßen. Wir hatten somit gedacht, die schwerste Hürde hätten wir gemeistert, doch beim zweiten Event wurden wir etwas enttäuscht. Wir haben vom Berliner Watergate Club zwei Künstler nach MG eingeladen und alles vom Gelände her so gebaut und platziert wie beim ersten Mal. Das wussten sich aber auch viele Besucher und sogar teilweise reguläre Gäste zunutze zu machen. 300 bis 400 Menschen versammelten sich gegenüber des Eventgeländes auf dem Fuße des Berges (Monte Clamotte) und hatten somit uneingeschränkte Sicht auf unsere Bühne und natürlich auch musikalische Darbietung. Als wir persönlich mal den Berg abgegangen sind, so viele bekannte Gesichter gesehen haben, waren wir etwas enttäuscht. Wir haben kurzfristig dann unser Event im August überhaupt nicht erst kommuniziert, werden im September das Closing veranstalten, doch mit kleinen Abwandlungen der Fläche. Rückblickend haben wir noch nicht alles erreicht, auf keinen Fall. Jedes Jahr passiert etwas Neues, es gibt neue Hürden, es kommen neue Projekte dazu oder aber auch man verschiebt die Prioritäten etwas. Daher denken wir, dass es immer ein laufender Prozess bleiben wird. Es ist ja gerade in unserem Bereich nichts wirklich kalkulierbar. Wir sehen für uns auf jeden Fall täglich neue Aufgaben bei bestehenden Produktionen oder unseren Events, ebenfalls wollen wir für das eine Event noch mehr machen um den Gästen etwas zu bieten und das andere setzt dann mal durch verschiedene Umstände ein Jahr aus. Wir sind zufrieden mit dem was wir bis jetzt geschafft haben, aber ausgetobt haben wir uns noch lange nicht.

standp u nkt

standpunkt

Das Festival ist im Gesamten eine Herzensangelegenheit. Vom Umfang und Aufwand her ist es mit eine der zeitlich wie aber auch emotional größten Produktionen von uns. In den letzten Jahren hatten wir wirklich viel Stress mit dem Austragungsort und einigen bürokratischen Hürden. Der Name „Hell& Dunkel“ steht wie „Kunstgeschwister“ in erster Linie für die Verbindung von uns beiden, hat aber auch darüber hinaus einen Sinn. Sonnige wie wolkige Tage, gute wie weniger gute Zeiten, hoch und auch

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standpunkt j u n g e d e n k k u lt u r

Sie sollen auf den gesicherten Ergebnissen von Wissenschaft, Technik und Erfahrung basieren und auf die * FĂśrderung optimaler Vorteile fĂźr die Gesellschaft abzielen. Die Festlegungen werden mit * Konsens erstellt und von einer anerkannten Institution angenommen.

standpunkt

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Jenseits der

kreativ oder chaotisch?

* Normung bezeichnet die Formulierung, Herausgabe und Anwendung von * Regeln, Leitlinien oder Merkmalen durch eine anerkannte Organisation und deren Normengremien.

E ine A useinandersetzung mit der N orm F otografie & I llustration : P a u l a V o l l m e r

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*Eignung von Produ kten, Prozessen und Di enstleistungen für ihre n geplanten Zweck verbesser t

*technische und kom munikative Zusammen arbeit erleichtert.

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*der Austausch von Waren und Dienstleistun gen gefördert und die

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standpunkt

Damit werden di

standpunkt

Normung kommt vor allem zur Anwendung, wenn gleichartige oder ähnliche Gegenstände in vielen unterschiedlichen Zusammenhängen an verschiedenen Orten von verschiedenen Personenkreisen gebraucht werden. *Durch die Aufstellung und Einführung von Festlegungen für die wiederkehrende Anwendung werden innerhalb des Interessentenkreises national wie international Vereinheitlichungen geschaffen.

* Normen // Kreativ

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* * * * *

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Auch das Ziel der gegenseitigen Verständigung wird durch die Festlegung von einer gemeinsamen Kommunikation unterstützt.

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Mit der Normung können weitere Ziele verbunden sein wie Rationalisierung, Verminderung der Vielfalt, Kompatibilität, Gebrauchstauglichkeit Sicherheit.

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In Deutschland werden Museen immer mehr und mehr nach ihrer Besucherzahlen bewertet und können sich nicht mehr auf staaatliche Unterstützung verlassen. Daher müssen neue Finanzierungsmöglichkeiten und starke Sponsoren gesucht werden. Vorteile haben dabei die Museen mit Werken von „Altmeistern“, die weltweite Publikumsmagnete sind, denn durch ihre wertvollen Leihgaben an große Museen und Ausstellungshäuser in der ganzen Welt können sie starke internationale Beziehungen aufbauen. Viele kleinere, regionale Museen sind aber von der Schließung bedroht, wenn sie sich nicht rechtzeitig um ihr zukünftiges Profil und Image kümmern. Denn sie müssen in Zukunft mit sogenannten Pop-up-Museen oder Blockbusterausstellungen und Ausstellungsprojekte, die sich mit Crowdfounding und Bürgerbeteiligung finanzieren konkurrieren. Diese gewinnen auch immer mehr an Popularität, weil sie unkonventionelle Kunstvermittlung bieten und die Kunst vom musealen Sockel holen.

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Warum eigentlich nicht?

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Museen? Viele laufen weg, wenn sie das Wort nur hören. Ins Museum geht man einmal mit der Schule, danach nie wieder.

Die Konsequenz liegt nahe, dass man ein Museum mit Management- und Marketing-Instrumentarien wie ein Unternehmen führen muss, um es auch für Zukunft wirtschaftlich erfolgreich aufzustellen. Aber passt Kunst und Kommerz überhaupt zusammen?

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reale Erlebnisse

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Kritische Stimmen sprechen von einer Popularisierung der Museumslandschaft, denn schön ist, was gefällt. Aber muss Kunst gefallen? Museen sind schon lange nicht mehr nur Archivierungsanstalten, die sammeln und bewahren. Aber das Museum darf auch nicht nur Bekanntes D as ausstellen, was der Besucher schon kennt. sind gut Es hat auch einen Bildungsanspruch zu erfüllen. In einer vernetzten und digieA uss talisierten Welt wird Lernen und Bildung anders vermittelt als in den verich te gangenen Jahren. n fü rd Wissen ist leichter zugänglich. Daher ist es auch wichtig, dass Muie Zu seen über neue Konzepte zur Vermittlung von Kunst nachdenken. Der Einsatz von modernen Technologien ist heute bereits selbstverständlich beim Museumsbesuch. Denn die Besucher wollen keinen Experten, der ihnen die Ausstellung in einer einseitigen Sichtweise und Vermittlungsart erklärt, sondern sie wollen teilhaben und mit„In diskutieren. Das Museum der Zukunft ist ein Raum, ein er in dem Fragen gestellt und mitdiskutiert werden darf – und zwar ohne Vorwissen, Staunen oder Ehrfurcht. „Museen wandeln sich von Tempeln des ehrfürchtigen Staunens zu interaktiven Orten der Kommunikation.“

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langweilig zum Schlafen weiße Wände Null-Bock alte Bilder SonntagsAusflug

Laut Studien wächst die Zahl der Museumsbesuche nicht nur in Deutschland – weltweit scheint Kultur zu boomen. Woran liegt das?

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Kunst? Überschätzt. Museum? Braucht keiner. Andy Warhol, Joseph Beuys und Gerhard Richter? Versteht sowiso nur die Elite. Oder?

standpunkt j u n g e d e n k k u lt u r

standpunkt: Können Sie sich noch an Ihren ersten Kontakt mit Kunst erinnern? Susanne Titz: Vielleicht nicht direkt an den ersten Kontakt, aber zumindest an sehr intensive Momente. Ich war bei den frühen Ereignissen in der Neuen Galerie in Aachen dabei und dort habe ich mich schon als Kind für Objekte von Andy Warhol oder Duane Hanson begeistert. Ich war damals vielleicht sechs und meine Eltern stifteten mich dazu an, zu diesen Ausstellungen zu gehen. Damit wir das nicht blöd fanden, haben unsere Eltern ganz schöne Überrumplungstaktiken erfunden: Wir durften uns zum Beispiel kostümieren oder haben Geld verdient, indem wir Skulptur gespielt und dabei die Hand aufgehalten haben. Das waren ganz frühe Eindrücke, die mir zeigten, dass Kunst immer etwas Gesellschaftliches ist.

Braucht man heute eigentlich noch Kunst? Wir haben Facebook, Instagram und dort kann ich permanent Kunst konsumieren. Wofür Kunst? Und wofür ein Museum? Ich denke, dass wir genau das diskutieren müssen. Und ich denke auch, dass es da ganz unterschiedliche Haltungen zu gibt. In den Sozialen Medien sehe ich, dass sich viele Menschen immer mehr privatisieren und auf sich selbst fixieren. Dabei verengt sich die Wahrnehmung der Welt und das kann dazu führen, dass das Interesse an dem was außerhalb passiert, massiv sinkt.

Können Sie mir sagen, was gute Kunst ist? Es gibt Objekte, die eine ganz neue Anschauung produzieren. Und das sind nicht immer die Sachen, die einem beim ersten Anblick besonders schön, schrecklich oder intensiv erscheinen. Das können auch Objekte sein, die wie „ein bisschen zu wenig“ wirken. Ein Beispiel dafür sind die Fotos von Wolfgang Tillmans: In diesen Aufnahmen habe ich so sehr meine eigene Generation wiedererkannt, dass es mir als „zu wenig“ er-

Ich bin also eher nicht drin, anders als viele meiner Freunde, die sehr viel über die sozialen Medien kommunizieren. Ich hätte keine Lust, jeden Tag ein Bild auszusuchen, das ich dann mit anderen Leuten teile, nur um zu zeigen, dass ich kommuniziere. Soziale Netzwerke können wie Tamagotchis sein: Ich muss sie füttern, wenn ich sie nicht füttere, krepieren sie. Doch ich bin auch neugierig auf diese Medien, weil ich überlege, ob da etwas ist, was ich selber noch für mich

schien. Später habe ich gemerkt, wie intensiv sie sind. Mir wurde klar, dass sie einen Sprung in eine andere Wahrnehmung ermöglichen.

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I nter v iew : L i n u s L u k a B a h u n

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standp u nkt

standpunkt sprach mit Susanne Titz, der Leiterin des Museum Abteiberg, über Kunst, unterforderte junge Menschen, Tischtennis im Museum und Designermöbel in Hipsterwohnungen.

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„Die Gegenwartskunst war immer etwas, das einen gewissen Kreis interessiert und begeistert hat — diese „Elite“ geht dann Sonntags ins Museum.“ — Susanne Titz

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Kann ein 16jähriger eigentlich einen Beuys verstehen? In der Musik könnte man ja sagen: „Klassik ist intellektuell, die versteht man nur mit Hintergrundwissen“. Wie ist das mit der Kunst? Ich glaube, man braucht immer einen bestimmten Hintergrund, wenn man Kunst verstehen will. Wir können uns zum Beispiel historische Altäre und Sarkophage aus dem Mittelalter anschauen und schön finden. Die Menschen damals konnten diese Sachen schön oder hässlich finden, sie wussten aber auch, wer die Typen auf diesen Objekten waren und sie wussten auch, welche symbolische Bedeutung die Blumen hatten, das heißt, sie verstanden diese Werke viel tiefer. Das alles ist intellektuelles Wissen. Gleichzeitig brauche ich den Anschluss, den persönlichen Zugang. Da haben wir dann ein neues Problem: denn das Revolu-

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Museen, so könnte man meinen, haben heute ein Image-Problem: Was soll man einem Schüler sagen, der einmal mit der Schule im Museum war, sich dort die ganze Zeit gelangweilt hat und immer ermahnt wurde, wenn er zu nah an den Bildern stand? Diese ersten Erfahrungen sind immer ganz prägend, das erlebe ich hier auch bei Schulklassen. Dabei können auch Überraschungen passieren. Ich habe hier einmal eine Führung gemacht, weil eine Kollegin krank wurde, da wurde mir nur gesagt, dass gleich eine Kindergruppe kommen würde. Ich habe mir also Gedanken gemacht, überlegt, was ich denen zutrauen kann, was ich erzähle und was wir machen könnten. Als die Gruppe dann da war, habe ich die ersten zehn Minuten über das Museum, mich und die Kunst gesprochen. Da hat ein Junge aufgezeigt und gesagt: „Wir sind in der zweiten Klasse, wir waren schon zweimal hier, Sie müssen nicht von vorne anfangen.“ Das war so klasse! Ab da haben wir uns einfach über die Kunst unterhalten, und das war ganz wunderbar. Im Idealfall betreiben also die Kinder und Jugendlichen hier ihre eigene Aktivität. Was glauben Sie, welche Themen kommen bei jungen Leuten an, welche Ausstellungsthemen können Sie denen verkaufen? Ich mache da ganz unterschiedliche Erfahrungen: Es gibt Ausstellungen und Objekte, die eine ganz erstaunliche Reaktion hervorrufen, weil sie vielleicht etwas Spirituelles haben oder weil sie draußen stattfinden. Das Festival, das wir mit dem Step-Jugendzentrum im Garten auf dieser Bühne machen, die aussieht wie ein riesiger Röhrenfernseher; das funktioniert. Oder der Mantel für die Jonas-Skulpur im Jonas Park: Der bewegt Erwachsene und Jugendliche. Sie setzen sich mit den Inhalten auseinander, fragen nach und machen sich ihr eigenes Bild. Im Gespräch merken wir dann manchmal, wie unterfordert junge

Es gibt seit längerem einen intensiven Design-Trend — jeder will ein Apple-Produkt haben, alle wollen gestalten, die Design-Hochschulen haben Hochkonjunktur. Eigentlich müsste es in diesem Umfeld auch Museen profitieren, oder?

Ich möchte noch kurz über Mönchengladbach mit Ihnen sprechen. In einem Buch des Promi-Kurators Hans Ulrich Obrist wird das Museum Abteiberg in einer Linie mit dem MoMA in New York und dem Stedelijk in Amsterdam genannt. Früher ist hier ganz viel passiert, von diesem ursprünglichen Glamour bekommt man heute nicht mehr so viel mit. Erstens war die Gegenwartskunst immer etwas, das einen gewissen Kreis in der Stadt interessiert und begeistert hat — diese „Elite“ geht dann Sonntags ins Museum. Andere Menschen interessiert das weniger. Das ist nicht nur in Mönchengladbach so, sondern überall. Aber woran Obrist erinnert, ist die Tatsache, dass hier das anfing, was wir heute Kulturindustrie nennen und was man im Guggenheim Museum in Bilbao und im MoMA in New York heute noch vorfinden: Das Museum als Einflussgröße und Leitmedium. Und wenn Obrist darauf zurückverweist, wie es hier in Mönchengladbach war, zeigt das, dass die heute weltbekannten Künstlerinnen und Künstler in den 1960er und 70er Jahren eben nicht in New York oder Bilbao sondern in Aachen, Wuppertal und Mönchengladbach ihre wichtigen ersten Auftritte hatten. Große Künstler haben hier Kunstgeschichte geschrieben. Das ist bei Gerhard Richter besonders auffällig: Hier im Alten Museum, dem heutigen BIS in der Bismarckstraße, zeigte er 1975 eine wichtige Ausstellung, die nur aus grauen Leinwänden bestand. Das war trüb. Das war im Grunde ‚garnix’. Und bis heute wird

„Zur Zeit entsteht eine gute Kulturszene gerade im Mix aus Institutionen und selbstbewusster freier Szene. Viele junge Menschen ziehen zur Zeit in die Stadt, sie bringen neue Einflüsse mit.“ — Susanne Titz Zum einen beobachten wir, dass es so viele Museumsbesucher gibt wie nie zuvor. Gleichzeitig spielt die Ästhetisierung, diese Lust auf Ästhetik und der Spaß daran, sich selber und seine Umwelt sensibler zu gestalten, eine immer größere Rolle. Damit gewinnt die Kultur an Bedeutung. Das Museum Abteiberg ist da gewissermaßen Trendsetter gewesen: Alles hier wurde von einem Menschen gestaltet: Regal, Tisch, Haus. Das ganze Gebäude wurde auf eine Lebens- und Wohnästhetik ausgerichtet. Was wir heute in den Hipster-Wohnungen finden, wird hier seit den 60er Jahren gepflegt.

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Würden Sie sagen Ihr Museum ist eher ein Kraftwerk oder eher ein Archiv? Kraftwerk ist natürlich ein guter Begriff, weil er zeigt, wie das Museum hier in Mönchengladbach zu einem international wichtigen Museum geworden ist. Wie in den Museen in Hannover in den 1920er Jahren – wo der Begriff Kraftwerk damals benutzt wurde – oder in Amsterdam in den 1950er Jahren, gab es hier ganz starke Energien, die Gegenwartskunst zu vermitteln und sie in die Öffentlichkeit zu bringen — um sie dann zu archivieren. Davon profitieren wir heute, weil wir Werke von Gerhard Richter, Sigmar Polke und Andy Warhol haben. Diese Kunst haben wir, weil die Künstler hier ihre frühen Ausstellungen hatten. Kraftwerk und Archiv haben etwas miteinander zu tun. Inzwischen wird das Museum Abteiberg bestimmt stärker als Archiv wahrgenommen, weil man so viele Künstler jetzt schon als die „Kapazitäten des 20. Jahrhunderts“ sieht. Das führt dazu, dass wir die Menschen für die heutige Gegenwartskunst wachrütteln müssen, für das Neue und Unbekannte, von dem da vielleicht heute gedacht wird:„Oh Gott, das ist jetzt aber echt keine Kunst mehr“.

tionsklavier von Joseph Beuys steht hier in der Vitrine. Unten im Museum können Sie seine Armenhaus-Tür sehen, das ist die echte Tür eines Armenhauses, durch die die Ärmsten der Armen gegangen sind. Dort hat Beuys Aktionen gemacht. Jetzt steht die Tür da unten im Museum und wenn ich davorstehe, ist sie so sehr Kunstobjekt, wie es nur irgendwie geht. Wir wollen den Besuchern zeigen, dass sie nicht immer die Reliquie war, die sie heute ist.

Wenn man nach New York ins MoMA schaut, wirken die Besucher weniger auf Scheu. Am Eingang bekommt jeder Besucher ein iPhone in die Hand gedrückt, man kann Fotos machen und sie mit seinen Freunden teilen. Jeder gestaltet sein Erlebnis mit dem Werkzeug Smartphone mit. Warum gibt es das hier noch nicht? Also Fotos ohne Blitz und Stativ kann man ja bei uns schon immer machen — und diese jetzt schicken und verteilen. Wir machen es selbst nur begrenzt, weil wir ein extrem kleines Team sind und es zeitlich kaum schaffen. Inklusive Hausmeister sind wir zehn Menschen, die das gesamte Museum betreuen, Leihanfragen, konservatorische Planung, Ausstellungsprogramm und, ganz wichtig, die Finanzierung des Programms: Anträge, Fördergelder. Und es stellen sich uns Aufgaben, die es früher einfach noch nicht gab. Dazu gehört die Breite der Vermittlung; das können wir allerdings nur leisten, wenn wir es schaffen, Andere einzubeziehen: Wir brauchen Schulen und Energien von außen, sonst kann es nur schwer gelingen. So könnte man zum Beispiel auch zusammen mit Schülern neuartige Internetseiten produzieren und andere Verknüpfungen herstellen.

Ob aber die Ästhetisierung des Alltags und das Museum immer so Hand in Hand gehen, ist fraglich. Die Suche nach Neuem, auch neuer Ästhetik, findet ja unterschiedlich radikal und parallel in vielen Gebieten statt, zum Beispiel in der Musik.

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entdecken werde. Das Gute am Museum ist, dass ich sicher sein kann, dort etwas zu erleben, das über das Persönliche und Gewohnte hinausgeht. Die Frage ist, ob Museen als reale, physische Orte nicht genau deshalb wieder an Attraktivität gewinnen. Oder ob man demnächst andere Orte hat.

Betrachter zum Teil sind, wie viel gerade sie potentiell erkennen und wissen.

hier viel Kunst gezeigt, die genau das versucht: nicht einfach zu gefallen, sondern eher ‚Anti-Kunst’ zu sein, nicht „schön“ sein zu wollen, sondern die Wahrnehmung weiterzutreiben. Ich denke, dass wir an das 20. Jahrhundert anschließen können, denn manche damalige Museumsvision ist so aktuell wie heute. Legendär der damalige Unterschied zwischen Willem Sandberg in Amsterdam und Johannes Cladders in Mönchengladbach: Sandberg eröffnete das Stedelijk Museum neu, machte einen Anbau mit Café und wünschte sich das Museum als einen „öffentlichen Ort“, an dem man auch Tischtennis spielen sollte. Cladders, der Kollege in Mön137


Wie ist es um die Kultur in Mönchengladbach bestellt? In Eicken und Waldhausen tut sich viel, bekommen Sie davon etwas mit? Klar. Und wir haben ein Interesse daran, dass das urbane Leben in Mönchengladbach interessanter wird; viele Menschen wollen etwas verändern. Es gab den Masterplan und die Initiative im Waldhaus. Ich habe den Eindruck, dass

Wo sehen Sie die Zukunft der Institution Museum? Es gibt Aspekte in der Museumskultur, die wir nicht vorhersehen können, genau so wie in den Medien. Instantviewing, Google-Brille — wie das sich entwickelt, kann man kaum antizipieren. Aber mit den Museen ist es wie mit den Kirchen und Palästen: sie bleiben attraktiv. Bedeutung und Erscheinung verändern sich sicherlich. Aber merkwürdigerweise mögen wir die alten Institutionen sogar mehr als zuvor, vielleicht weil sie uns eine Heterogenität der Gegenwart vermitteln. Mich interessiert die Wahrnehmung des Jetzt als Zusammenspiel aus Gegenwart und Vergangenem. Als wir uns früher ‚2001’ vorgestellt haben, war diese Vorstellung klinisch, kalt und sie fand auf dem Mond statt. Wir dachten, Städte wären nicht mehr da und die Ernährung findet über Pillen statt. Heute bin ich sicher: das wird nie kommen. Und wohin wir uns von hier aus entwickeln, ist schwer absehbar. Vielen Dank für das Gespräch.

Die Kunsthistorikerin Elke Backes aus Mönchengladbach hat für Standpunkt die Ausrichtungsmöglichkeiten von Museen in der Zukunft kurz und übersichtlich kategorisiert. Wie kann man Kunst erleben?

KUNST ERLEBEN! Text: Elke Backes

Das Museum als Eventplattform ist bemüht, der Schnelllebigkeit der medialen Welt standzuhalten und Vermittlungsformate zu entwickeln, die der Alltagserfahrung des modernen Menschen angepasst werden. Interaktive Ausstellungsarchitekturen, Audio-Guides oder in neuester Zeit auch speziell für das Museum entwickelte Apps ergänzen die zuvor dargestellten klassischen Methoden der Wissensvermittlung.

Das Museum als Kunsttempel

bleibt seinem elitären Ruf und damit seiner Zielgruppe treu. Die Werke werden innerhalb der Ausstellungen nach Stilen, Schulen sowie Epochen sortiert und in die Kategorien der kunsthistorischen Forschung eingeordnet. Der Bildungsauftrag wird dahingehend verstanden, mittels Saal- und Objekttexten, sowie in Besucherführungen und Katalogtexten die Forschungsergebnisse im Sprachniveau des Kunsthistorikers an den Besucher weiterzugeben. Bei der Lektüre solcher Texte und dem anschließenden Versuch, die dargestellten Erkenntnisse nachempfinden zu wollen, stellt sich oft ein Gefühl der Verzweiflung ein.

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Wie gehen Sie mit Besuchern um, die Ihnen Sätze wie „das kann ich auch“ an den Kopf werfen? Entstehen Konflikte zwischen dem, was der Ur-Gladbacher versteht und dem Selbstanspruch des Museums? Wir unterhalten uns mit den Besuchern darüber. Am ersten Sonntag im Monat ist der Eintritt immer frei, da kann man dann an einer Führung teilnehmen und auch Fragen stellen oder Dinge loswerden, die einen interessieren. Diese Unterhaltungen sind wichtig, weil man dabei gemeinsam erfährt: Ok, das kann ich vielleicht wirklich auch malen — aber nur, weil mich ein Yves Klein irgendwann mal darauf gebracht hat, dass sein Blau eine schöne Farbe ist. Und das macht natürlich einen Unterschied.

wir alle ein ähnliches oder gemeinsames Interesse haben und das führt dazu, dass die freie Szene stärker und selbstbewusster wird. Zur Zeit entsteht eine gute Kulturszene gerade im Mix aus Institutionen und selbstbewusster freier Szene. Viele junge Menschen ziehen zur Zeit in die Stadt, sie bringen neue Einflüsse mit. Das ist sehr gut für das Museum. So bekommen wir ein breites und spannendes Publikum.

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chengladbach, sagte daraufhin: “Ne! Da kann man sich doch nicht konzentrieren. Das ist nicht gut für’s Tischtennis spielen und nicht gut für die Kunst.“ Ich versuche, mich immer wieder daran zu erinnern, dass Sandberg und Cladders Museen als Orte für die Stadt und für die Bürger sahen. Übrigens: Bisher haben wir hier am Museum zwar noch immer kein Café, das ändert sich aber bald. Und das wird die Bedeutung des Museums im urbanen Leben von Mönchengladbach bestimmt unterstützen.

Das Museum der Nachdenklichkeit

Wo sehen Sie die Zukunft der Institution Museum? 138

setzt eine gänzlich neue Interpretation des Bildungsauftrages voraus. Anstelle der Wissensvermittlung reproduzierter kunstwissenschaftlicher Erkenntnisse wurde hier ein Modell entwickelt, das die Motivation zum eigenen Erkenntnisgewinn innerhalb der Kunstbetrachtung hervorzurufen beabsichtigt. Entgegen eines Vermittlungsformats, das sich medialer technischer Hilfsmittel bedient, erfolgt in diesem Museum eine radikale Grenzziehung zwischen Alltag und Museumsbesuch. Als Voraussetzung wird dort eine Welt jenseits der Zeichen und Symbole geschaffen, um einen Bruch der Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten des Besuchers hervorrufen. Erreicht wird eine solche radikale Grenzziehung mit dem Verzicht von Objektbeschilderungen und Wandtexten. Der Besucher wird auf diese Art und Weise zu einer eigenen Auseinandersetzung mit Kunst und somit zu seiner eigenen freien Interpretation herausgefordert. Ein nachvollziehbares Ausstellungskonzept sowie ein kompetentes, die Besucher begleitendes Fachpersonal begleitet dieses Format. Kolumba, das Kunstmuseum des Erzbistums Köln (es nennt sich selbst „das Museum der Nachdenklichkeit“), folgt konsequent dieser Vermittlungsform. 139


Der Test.

Wie gut konntest du dich im Museum orientieren?

Das ideale Museum muss seine Inhalte und Kunst vermitteln und mit dem Besucher in einen Dialog treten. standpunkt hat es sich zur Aufgabe gemacht, Museen insbesondere hinsichtlich der Kriterien zu untersuchen, die gerade für die Ansprache von Jugendlichen wichtig sind.

Wie begeistert war ich von der Architektur?

Abteiberg Kolumba Ludwig

Abteiberg Kolumba Ludwig

Abteiberg Kolumba Ludwig

Abteiberg Kolumba Ludwig

Wie gut war die Vermittlung mit Führung?

Wie war die Atmosphäre?

Die Mehrzahl der jungen Besucher begründeten ihr Desinteresse an Museumsbesuchen mit dem Gefühl, dass man eine Kunstausstellung nur mit Vorwissen oder intellektuellem Hintergrund besuchen könne. Sicher sein konnten die Museumstester von standpunkt nach den ersten drei Museumstests jedoch, dass sie mit manchen Vorurteilen ihrer Altersgenossen im Gespräch aufräumen konnten. Museen wie das Kolumba in Köln zeigen beispielhaft, dass sich Jugendliche für Museen begeistern können, wenn mutige Kuratoren mit unkonventionellen Ausstellungskonzepten Raum für Austausch schaffen und die Verbindung zur Gegenwart herstellen.

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Abteiberg Kolumba Ludwig

Mit den Museumstestern hat standpunkt bisher drei Museen besucht und unter die Lupe genommen. Im Test: das Kolumba (Köln), das Museum Ludwig (Köln) und das Museum Abteiberg (Mönchengladbach).

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Entgegen dem allgemeinen Trend der multimedialen Erlebbarkeit, äußerten die jungen Ausstellungsbesucher gerade in diesem Punkt eine Überreizung und wünschten sich mehr analoge Kommunikation – Raum für „echte“ Erlebnisse jenseits digitaler Welten. Wichtiger als detaillreiche Werkbeschreibungen und Deutungen war für alle Befragten das lockere Gespräch und der Austausch in der Gruppe im Anschluss an ihren Besuch. Schnell stand fest: Nicht ernst genommen fühlen sich alle Jugendlichen, wenn Museumspädagogen oder Kunstlehrer versuchen, mittels pädagogischer „Maßnahmen“ Kunstwerke spielerisch zu vermitteln.

Wie gut war die Vermittlung ohne Führung?

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Dazu haben die Museumstester von standpunkt Schulklassen unterschiedlicher Jahrgangstufen und Bildungsniveaus auf ihren Exkursionen begleitet. Sie haben ihnen Fragebögen zur Beobachtung an die Hand gegeben und im Anschluss an ihren Museumsbesuch mit ihnen gesprochen. Die Jugendlichen konnten sich bei ihren Rundgängen selber für die Art der Vermittlung entscheiden. Viele lehnten einen Audioguide wegen der zusätzlichen Kosten ab und entschieden sich auch gegen eine persönliche Führung, um mehr Freiraum für eigene Wahrnehmung ohne schulische „Belehrung“ in der Freizeit zu haben. Im Gespräch mit den Schülergruppen wurde deutlich, dass das wichtigste Kriterium für ihren Aufenthalt im Museum eine gute Atmosphäre sei. Diese machten sie an der Wertschätzung und dem Umgang des Personals mit ihnen fest. Auch die Architektur mit der Möglichkeit Möchte ich wieder kommen? der Raumerfahrung und die Orientierung waren mit entscheidend für die Stimmung. standpunkt

Museums —tester

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Das echte Erleben gehört dazu. www.museumstester.de

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Text: Ivana Baumann Fotos: www.beliya.de

Das Hamburger Sozialunternehmen beliya startet eine Crowdfunding-Kampagne, mit deren Erlös die Renovierung einer Schule in Namibia unterstützt werden soll. Das Unternehmen steht für nachhaltige Designer-Produkte, mit denen Kindern in Entwicklungsländern der Besuch von Schulen und somit ein besseres Leben ermöglicht wird. Im vergangenen Jahr erhielt das junge Unternehmen den HAMMA Award für ihr Social Marketing und konnte sich im Mai diesen Jahres über die gesponsorte Werbekampagne GOOD COUTURE freuen. Für die beliya-Gründerinnen Andrea Noelle und Annika Busse ist diese Crowdfunding-Kampagne ein großer Schritt., denn sie wollen mindestens 15.000 Euro sammeln, das ist das Minimum, welches für die Renovierung des Schulgebäudes notwendig ist. Mit Erreichen der Fundingschwelle finanzieren sie die Innenausstattung. Ihr Ziel sind 30.000 Euro, da sie den Schulkindern damit zusätzlich noch neue Tafeln, Tische und Stühle ermöglichen könnten. Das Duo von beliya setzt bei ihrem Crowdfunding außerdem auf das Prinzip des Rewardfunding – das heißt, jede/r die/der fundet, bekommt als Gegenleistung eines ihrer Produkte: Je nach Investment gibt es etwa eine Dankeschön-Karte (für 9€), eone neue beliya NICE Handtasche (für 79€), die stylische CHANCE Tasche in beige (für 299€) bis hin zu 90 GOOD COUTURE Stofftaschen als Geschenk für Kunden oder Mitarbeiter (für 899€).

Schulessen Kinder können mit leerem Magen nicht lernen. Daher ermöglicht der Kauf einer DREAM Umhängetasche, dass ein Schulkind 1 Jahr warme Mahlzeiten in der Schule bekommt.

Schulbücher Mit Büchern Lesen und Schreiben lernen: Damit jedes unserer Schulkinder lernen kann, finanzieren Sie mit dem Kauf eines JOY Shoppers und einer WISH Handtasche die Schulbücher für 1 Jahr.

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Luxus und sozial - passt das? Andrea Noelle und Annika Busse beweisen mit ihrem Sozialunternehmen beliya, dass sich Luxus und soziale Verantwortung nicht ausschließen müssen.

be good be beautiful Schulgebühren In Entwicklungsländern fehlt vielen Eltern das Geld für die Schulgebühren ihrer Kinder. Mit dem Kauf der HOPE Weekender Tasche finanzieren Sie diese Gebühren für 1 Schuljahr.

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Nach dem Motto “be good be beautiful“ kreiert beliya Designer-Handtaschen mit gutem Zweck. Jeder Kauf einer Charity Tasche ermöglicht einem Kind in Entwicklungsländern den Schulbesuch für ein Jahr. Zum Beispiel finanziert die WISH Handtasche die Schulbücher für ein Jahr. An jeder Tasche hängt der Name des unterstützten Kindes, das man auf der beliya Website kennenlernen kann. Alle Taschen und Accessoires werden aus edlen Upcycling-Materialien hergestellt: Retouren aus der Sofa-Produktion und Überschüssen aus Designer-Kollektionen.

Schuluniform Kindern fehlt in Entwicklungsländern oft Kleidung. Die Kleinen wachsen schnell aus ihren Sachen heraus. Mit der LOVE oder SMILE Clutch kaufen Sie 1 Kind für ein Schuljahr die Uniform. Schulbus In ländlichen Regionen sind Schulen oft viele Kilometer weit vom Zuhause entfernt. Mit dem Kauf einer TRUST Handytasche helfen Sie, dass ein Kind 1 Jahr sicher zur Schule kommt. Projekte Mit dem FUTURE Schlüsselanhänger leisten Sie einen wertvollen Beitrag z.B. zum Bau eines Brunnens, unterstützen den Bau neuer Schulgebäude oder finanzieren einem Kind einen Rollstuhl. 143


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Das Smartphone ist das Schweizer Taschenmesser des Stadtmenschen. Es dient zur Kommunikation und Dokumentation: die Post heiĂ&#x;t heute E-Mail und aus Polaroid wird Instagram. Hier zeigen wir eine Schau von Architektur-Snapshots unserer Redakteure mit Favorit-Charakter. www.instagram.com/standpunkt_mag

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Das sagen andere über den letzten standpunkt.

Impressum standpunkt. Magazin für junge Denkkultur Ausgabe 2. Erscheinung — 2016.01 Auflage 1.000 Redaktionsleitung (v.i.S.d.P.): Linus Luka Bahun Mark Offermann Dominik Rau Dorothée Vollmer

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DER SPIEGEL Begründung der Jury aus der Laudatio 2014

über standpunkt: standpunkt ist ein werbefreies Gesellschafts- und Kulturmagazin, das von unabhängigen jungen Kreativen und Schreibern ins Leben gerufen wurde, um eine Plattform für kulturellen und gesellschaftlichen Austausch in ihrer Generation zu schaffen. standpunkt vernetzt Beiträge eigener Autoren mit Gastbeiträgen von interessierten Schülerinnen und Schülern sowie Studentinnen und Studenten.

standpunkt arbeitet nicht gewinnorientiert und ist angewiesen auf die Unterstützung von Fördervereinen und Unternehmen. ausgezeichnet von: Der Spiegel Die Zeit Junge Presse Jugendpresse Deutschland BDZV RSGV www.standpunktonline.com

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Der Vorjahressieger ruht sich dabei nicht auf alten Lorbeeren aus, sondern erfand ein komplett neues Layoutkonzept, oder besser gesagt gleich zwei, denn die Heftteile unterscheiden sich auch in ihren typografischen Auszeichnungen. Der erste Heftteil „Mittelpunkt“ setzt dabei auf den Überschriften-Klassiker Helvetica, der aber durch mutig gesperrte Vorspänne wieder in die Neuzeit geholt wird, und nutzt einen konsequent durchgezogenen dreispaltigen Blocksatz. Zudem gibt es einen pastelltonigen Farbcode und selbsterstellte Icons die dem Leser Orientierung in den jeweiligen Rubriken bieten. Schön ist auch die Verbindung von Fotografie und eigens erstellten Illustrationen in diesem Heftteil. Der zweite Heftteil „Standpunkt“ präsentiert sich als „mediales Testgelände“ und auch in Sachen Gestaltung probiert man sich mehr aus. Mit derselben Grundschrift, wie im ersten Heftteil, erinnern hier die Überschriften, vollfarbigen Hintergründe und feintypografischen Elemente eher an hochpreisige Reiseund Modemagazine. Der Flattersatz variiert von zwei zu drei Spalten und die gestalterisch eingesetzten Spaltenlinien, sowie die subtilen Auszeichnungen innerhalb der Texte, lassen einen immer wieder neugierig auf die Seiten schauen. Und auch in diesem Teil gibt es eine Menge sehr gut gemachter und bedachter Illustrationen, bei denen man fast vergessen könnte, dass es sich hier (noch) um eine Schülerzeitung handelt. http://goo.gl/3TB1wp

Mitarbeit Linda Bahun Ivana Baumann Carlotta Fassbender Sean Levey Nikolas Proksch Maren Prüfer Paula Vollmer Max Zdunek Herzlichen Dank Fredi Baus Per Braig Niklas Egberts Alexander Falk Marc Feger Laura Gerards-Iglesias Denise Maria Heckel Eva Hunger Simone Krakau Julia Kluttig Mike Kucksdorf THE DORF, Düsseldorf Svenja Schlei Max Schwerin Karla Vollmer Maren Wagemanns impress media Silberdruck Förderverein der GE Hardt standpunkt Magazin GE Hardt, Vossenbäumchen 50 41169 Mönchengladbach www.standpunktonline.com redaktion@standpunktonline.com

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standpunkt kennt keine Grenzen: keine regionalen, keine medialen.

Erschreckend gut kommt der „Standpunkt“ einem entgegen, so dass man sich fast schon Sorgen macht, wie die Redaktion es schafft, zusätzlich zu ihrem Engagement dort noch zur Schule zu gehen. Format und Umfang sucht in diesem Wettbewerb seinesgleichen, und dem nicht genug, überzeugt uns dieses Mal auch die Idee des Wendeheftes und die dadurch entstehende Trennung von Schülerzeitung und Kulturmagazin.

Artdirektion Linus Luka Bahun kontakt@linuslukabahun.de Dominik Rau rau.dominik.138@gmail.com Dorothée Vollmer vollmer@standpunktonline.com


www.standpunktonline.com


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