Programmheft "Der Kirschgarten"

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Der Kir sch gar ten Komödie von Anton Tschechow Deutsch von Peter Urban



Sandro Šutalo, Lisa Natalie Arnold, Annalena Haering


Der Kirschgarten

von Anton Tschechow aus dem Russischen von Peter Urban Ranewskaja, Gutsbesitzerin Annett Kruschke Anja, ihre Tochter Katharina Brehl Warja, ihre Stieftochter Lisa Natalie Arnold Gajew, ihr Bruder Hagen Oechel Lopachin, Kaufmann Marius Bistritzky Trofimow, Student Marcel Jacqueline Gisdol Simeonow-Pischtschik, Gutsbesitzer Michael Dario Schütz* Epichodow, Kontorist Sandro Šutalo Dunjascha, Dienstmädchen Annalena Haering Firs, Diener Eva-Maria Keller Jascha, ein junger Diener Leonardo Lukanow* Live-Kamera Samuel Nerl *Studierende der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover Regie Jan Friedrich Bühne Alexandre Corazzola Kostüme Jan Friedrich Musik Nicki Frenking Dramaturgie Dirk Baumann Licht Oskar Bosman Regieassistenz Lina Gasenzer Bühnenbildassistenz Maria Walter Kostümassistenz Isabell Heinke Inspizienz Isolde Noll Soufflage Sabine Knierim, Camilla Colonna, Carla Schmelter, Sofie Althoff Regiehospitanz Sofie Althoff Ausstattungshospitanz Daniela Scheel


Technische Direktion Mario Schomberg Technische Leitung Andreas Lang Bühnenmeister Robert Dühr, Andy Hofmann, Joachim Kogel Leitung Beleuchtung Brigitta Hüttmann Leitung Ton Karl-Walter Heyer Tontechnik Jens Kilz, Sven Krause, Carl Robert Schauf Leitung Requisite Anne Schulz Requisite Dominik Hellwig, Andreas Lange, Victoria Seute-Schramm Leitung Werkstätten Harald Gunkel Leitung Schreinerei Burkhard Lange Leitung Schlosserei Hilmar Nöding Leitung Malsaal Fatma Aksöz ­Leitung ­Dekoration ­Christoph Tekautschitz Vorarbeiter Transport Dennis Beumler Leitung Haus- und Betriebstechnik Maren Engelhardt Leitung Maske Helga ­Hurler Maske Liane Buske, Antje Reichelt, Philine Reimann, Sabine Stüß Leitung Kostümabteilung Magali Gerberon Ankleiderin Michelle Drolshagen, Heike Kahl-Dung Gewandmeisterin Damen Sonja Huther ­Gewandmeister ­Herren Michael Lehmann Modistinnen Doris Eidenmüller, Carmen Köhler Schuhmachermeisterin Evelyn ­Allmeroth Premiere: 14. Mai 2022 → Schauspielhaus Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause Aufführungsrechte: Verlag der Autoren, Frankfurt am Main Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht erlaubt.


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Marius Bistritzky, Eva-Maria Keller, Annett Kruschke, Hagen Oechel, Katharina Brehl, Marcel Jacqueline Gisdol



Jan Friedrich Regisseur Jan Friedrich, geboren 1992 in Lutherstadt Eisleben, studierte Zeitgenössische Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und war Stipendiat des Literarischen Colloquium Berlin. Er arbeitet als Regisseur, Autor, Schauspieler, Bühnen- und Kostümbildner und Dramaturg. Als Regisseur arbeitete er u. a. am Staatstheater Mainz, Schauspiel Hannover, Volkstheater Wien, Theater Oberhausen, Schauspiel Dortmund, Jungen Nationaltheater Mannheim, dem Deutschen Theater Berlin sowie der Schauburg München. Seine Theaterstücke wurden am Schauspiel Hannover und am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt. Für seine Regiearbeiten wurde Jan Friedrich mehrfach ausgezeichnet: Mit der Mannheimer Inszenierung von Goethes Faust war Friedrich 2017 für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST nominiert, mit Frühlings Erwachen, das er an der Münchner Schauburg inszenierte, war er zum Festival „Augenblick mal! 2019“ nach Berlin eingeladen, seine Inszenierung von Hedda Gabler am Schauspiel Dortmund erhielt den Dortmunder Preis der Kritikerjury und seine Oberhausener Inszenierung von Bernarda Albas Haus den Günther-Büch-Nachwuchspreis.

Der Kirschgarten ist Jan Friedrichs erste Regiearbeit am Staatstheater Kassel, für die er zugleich das Kostümbild entwirft.


„Mit Missverständnissen hat es begonnen, mit Missverständnissen wird es enden – das ist nun mal das Schicksal meines Stückes.“ Dieses Urteil Anton Tschechows über sein letztes Stück Der Kirschgarten – geschrieben in einem Brief an seine Ehefrau, die Schauspielerin Olga Knipper – markiert den Schlusspunkt eines persönlichen Dramas. Tschechow hatte sich nach Erfolgen mit seinen Stücken Drei Schwestern und Die Möwe an Der Kirschgarten gemacht, mit der Absicht: „Das nächste Stück, das ich schreiben werden, wird unbedingt komisch, zumindest im Plan“ (1901). Bis zum Beginn der Niederschrift sollten aber noch einmal zwei Jahre vergehen. Bis heute ist umstritten, inwiefern Der Kirschgarten als Komödie gelten kann, im modernen Theaterverständnis ist er es nicht, in der Handhabung der Figuren und der Leichtigkeit der Sprache aber doch. Und das ist nur ein Punkt, der Tschechows letztes Stück so zeitlos sein lässt, dass es auch heute noch zu den am meisten gespielten Stücken auf den internationalen Theaterbühnen gehört. Tschechows Der Kirschgarten atmet den Geist einer Endzeit: Sie spiegelt sich im Zustand und Verlauf der Handlung

und ist womöglich auch beeinflusst durch seinen eigenen Gesundheitszustand – Tschechow war an Tuberkulose erkrankt. Um die Symptome zu lindern, sollte er die Zeit in gemäßigtem Klima verbringen, was dafür sorgte, dass er die kalten Winter anstatt bei seiner Frau in Moskau in Jalta verbrachte, auf der Krim. Die Gesundheit verzögerte zwar die Arbeit an Der Kirschgarten, hinderte Tschechow aber letztlich nicht daran, das Stück zu schreiben. Historisch betrachtet porträtiert das Stück eine Umbruchszeit: Nach Abschaffung der Leibeigenschaft suchen der ehemalige Landadel – repräsentiert durch die Titelfigur Ranjewskaja – aber auch die befreiten Leibeigenen – im Kirschgarten verkörpert durch Lopachin – nach ihren Plätzen in der liberalisierten Gesellschaft, in der Stände von wirtschaftlichen Parametern im Zuge der Industrialisierung abgelöst wurden. Die einen möchten die Verhältnisse bewahren, die anderen sie verändern. Lethargie trifft auf progressives Denken. Tschechow selbst stammte aus einer Familie


Annett Kruschke, Eva-Maria Keller, Katharina Brehl, Hagen Oechel, Sandro Šutalo, Marcel Jacqueline Gisdol, Lisa Natalie Arnold



ehemaliger Leibeigener. Er war ein Jahr alt, als Zar Alexander II. die Leibeigenschaft in Russland aufhob. Tschechow wusste also genau, was es bedeutet, einen Platz in den neuen Verhältnissen zu finden. Das Bewusstsein einer Umbruchszeit verbindet Der Kirschgarten mit der Gegenwart: Gerade heute herrscht ein Gefühl, dass wir uns in einer Zeit der Krisen befinden, in der die eine die andere ablöst, als selbstverständlich wahrgenommene Konstanten nicht mehr gelten, die Zeitläufte immer schneller zu gehen scheinen. Die globale Bewegung „Fridays for Future“ hat vor Augen geführt, wie wenig Zeit noch bleibt, um den globalen Klimawandel aufzuhalten und bestenfalls umzukehren. Die Bewegung bemängelt die Lethargie und den Stillstand in Politik und Gesellschaft, die im Angesicht der skizzierten bevorstehenden Katastrophe seltsam handlungsunfähig bleibt. Ihre Anklage gipfelte in Greta Thunbergs eindringlicher Rede auf der UN Climate Summit am 23. September 2019: „How dare you continue to look away and come here saying that you’re doing enough, when the politics and solutions needed are still nowhere in sight. / Wie könnt ihr es wagen wegzusehen und hierher zu kommen und zu behaupten, dass ihr genug tut, wenn die Politik und die Lösungen, die gebraucht

werden, immer noch nicht in Sicht sind?“ Ein globaler Weckruf?! Jan Friedrich, geboren 1992, interessiert sich für genau diesen Widerspruch: Wie positionieren wir uns als Gesellschaft im Angesicht der Katastrophe zwischen privaten Bedürfnissen und dem Wissen um ihre Auswirkungen? 2020 folgte die Covid-Pandemie, der die Menschheit zunächst begegnete wie dem Klimawandel: Mit der Hoffnung, dass es so schlimm nicht kommen werde – um eines Besseren belehrt zu werden. Am 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine – ein Krieg, der lange vorausgesehen worden war, und trotzdem hofften viele darauf, dass es nicht zum Äußersten kommen werde. Damit holt die Geschichte die Gegenwart ein, Der Kirschgarten spielt zwischen der Krim, der heutigen Ukraine und Moskau, die Zwangsversteigerung findet in Charkiw statt, einem der am meisten umkämpften Orte des Krieges. Dieser Krieg fügt Tschechows Der Kirschgarten eine weitere Bedeutungsebene hinzu, der auch Jan Friedrichs Inszenierung Rechnung trägt. Nicht wenige haben auch 2022 das Gefühl am Punkt einer Endzeit zu stehen: Das Gewohnte gilt nicht mehr, das Neue ist noch unbekannt. Was müssen, was können wir tun angesichts globaler Umbrüche? Wie können wir unseren Kirschgarten bewahren, wie ihn transformieren? Dirk Baumann


Leonardo Lukanow, Annalena Haering


Was wird jetzt aus der Freiheit? Eva von Redecker

Es gibt eine Alternative zur liberalen ungeselligen Gleichfreiheit. Sie beruht auf der Einsicht, dass wir nur gemeinsam frei sind. Vieles in unserer Vorstellungskraft sperrt sich gegen den Gedanken. Das liegt nicht nur an einem in der Konkurrenzgesellschaft teuer erworbenen Misstrauen. Es liegt auch daran, dass unser gängiges Vokabular Freiheit immer in räumlichen Kategorien präsentiert. Wir denken bei Freiheit zuerst an Bewegungsfreiheit. Der Freiheitsgrad ist der Spielraum, der möglichst weite Winkel, in dem das liberale Subjekt uneingeschränkt rotieren kann. Was aber wäre, wenn wir über Freiheit anders, nämlich zeitlich, nachdächten? Nicht nur: Wie weit kann ich jetzt gehen? Sondern auch: Wie wird sich mein Spielraum in Zukunft gestalten? In den Rahmen der Pandemiepolitik übersetzt, wird der Kontrast überdeutlich. Freiheit zu verzeitlichen hieße, nicht nur zu fragen, ob man jetzt ins Restaurant kann oder nicht, sondern auch: jetzt ins Restaurant oder in drei Monaten auch ins Rockkonzert? Schon an diesem simplen Beispiel sieht man, dass die Zeitfreiheit es unmöglich macht, die Dimension des Gemeinsamen auszublenden. Das mit dem Rockkonzert später

hängt natürlich davon ab, was die anderen machen. Aber das tut auch der Restaurantbesuch heute Abend. Jemand muss das Gemüse angebaut haben, und jemand wird den Abwasch machen. Meine Freiheit hat ihre Bedingungen immer außerhalb meiner selbst – zuallererst muss mich jemand geboren haben. Aus Sicht der gemeinsamen Freiheit, auf die schon der Hegelianer Marx hinauswollte, sind die anderen also nicht nur Grenze, sondern auch Quell meiner Freiheit. Wenn wir die räumliche Freiheitsvorstellung durch eine zeitliche ersetzen, lässt sich aber auch auf das ‚Zuhausebleiben‘ noch mal ein ganz neuer Blick werfen. Natürlich ist es als erzwungene Maßnahme eine Einschränkung, der gegenüber wir die Reisefreiheit favorisieren. Doch in einer Welt, in der viele Regionen unbewohnbar zu werden drohen, ist die Reisefreiheit ein schwacher Trost. Substanziell wäre das Versprechen von Bleibefreiheit: sich darauf verlassen zu können, dass ein Ort auch in Zukunft lebensfreundlich bliebe. Die Freiheit, nicht fliehen zu müssen, ist größer als die ebenfalls unverzichtbare, es zu dürfen. Und kein noch so gerechter Zuschnitt unserer jeweiligen Parzelle könnte erstere garantieren. Das kann nur wirkliche Zusammenarbeit, also


gemeinsame Freiheit. Wenn wir aufhören, unsere Freiheit isoliert abzuzirkeln, wird deutlich, wie voraussetzungsvoll ihre Wahrung ist. Nicht nur die anderen Menschen, sondern diese Erde und ihre Bewohnbarkeit bilden die Bedingung dafür, dass wir auch in Zukunft frei sein werden. Die zeitlich ausgedehnte Perspektive einzunehmen fällt uns auch deshalb so schwer, weil wir uns in einer Kultur des zeitlichen Analphabetismus eingerichtet haben. Wir sind nahezu ahnungslos über die Zeitspannen, in denen sich unsere Lebensgrundlagen formieren. Diese Ahnungslosigkeit schirmt uns von der Einsicht ab, welche Effekte unsere Handlungen über die Zeit hinweg haben werden. Welche Freiheitsspielräume sie öffnen und schließen werden. Und wessen. Dass es Unfreiheit bedeutet, in eine vom Artensterben entleerte Welt hineinzuwachsen, kann auch das zu Recht gepriesene jüngste Verfassungsgerichtsurteil nicht fassen. Es argumentiert zwar intertemporal und dehnt in interessanter Weise den liberalen Freiheitsgrundsatz der Einschränkungsminimierung aus: Als seien die Späteren auch schon da, wird festgestellt, dass es ungerecht wäre, wenn die zur Emissionsminimierung notwendigen Maßnahmen nicht schon jetzt, sondern erst später griffen. Sicher. Aber unsere Freiheit wird nicht von getroffenen

Maßnahmen geformt, sondern von unserer gesamten Umwelt. Ich weiß, dass das nicht alle so sehen, aber ich könnte mir keinen höheren Freiheitsgenuss vorstellen, als zu erleben, dass gemeinsam kluge und radikale Maßnahmen ergriffen würden, um den Reichtum der natürlichen Welt zu bewahren. Zu erleben, dass wir wirtschaftliche Gewohnheiten hinter uns lassen, in denen wir systematisch niedertrampeln, was doch eigentlich zukünftige Freiheitsbedingung aller ist: das Ökosystem der Erde. Vielleicht liegt in der zerbrochenen Gleichfreiheit eine Chance. Dass sie uns nämlich erlaubt, Bleibefreiheit und Weiterfreiheit in den Blick zu nehmen. Nicht: ‚Jetzt-gleichFreiheit‘, sondern: ‚gleiche Weiterfreiheit‘. Darum würde es sich zu streiten lohnen. Denn es sieht so aus, wenn man die Scherben aufhebt und als Linsen auf die Zukunft testet: Der eine Punkt, an dem die eigentumsversessene Seite des Liberalismus alles Licht bündelt, steht in Flammen. Aber wenn wir die gerechtigkeitsversessene Seite losgelöst von der Schranken-Geometrie auf den Horizont richten, zeigt sich da eine so dermaßen weite Welt, dass die anderen aufhören zu stören. Man braucht sie ganz dringend, um sich gemeinsam ans Feuerlöschen zu machen. Gesetzt, dass wir bleiben wollen.


Hagen Oechel, Annett Kruschke, Marius Bistritzky, Katharina Brehl, Michael Dario Schütz, Eva-Maria Keller



Schöne Vorstellung! Haben Sie Anregungen oder Feedback? Schreiben Sie uns: feedback-schauspiel@staatstheater-kassel.de Wir wollen diskriminierungskritisch arbeiten. Diese Arbeit verstehen wir als fortlaufenden Prozess. Quellen „Mit Missverständnissen hat es begonnen, mit Missverständnissen wird es enden – das ist nun mal das Schicksal meines Stückes.“ ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft von Dirk Baumann Eva von Redecker: Was wird jetzt aus der Freiheit? Auszug aus dem gleichnamigen Artikel in: Die Zeit 42, 14.10.2021, S. 53.

Wir danken belverde floristik & ambiente für die Premierenblumen. Impressum Probenfotos: Isabel Machado Rios, Probe am 6. Mai 2022 | Herausgeber: Staatstheater Kassel | Intendant: Florian Lutz | Geschäftsführender Direktor: Dr. Frank Depenheuer | Schauspieldirektorin: Patricia Nickel-Dönicke | Programmheft 14 | Spielzeit 2021/22 | Redaktion: Dirk Baumann | Gestaltung: Tina Jung | Auflage: 1000 Stück | Druck: Boxan Kassel | Änderungen vorbehalten



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