Dorian, Hinter den Spiegeln

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viktorianischen Toten? Warum sollte ich gebrochen sein. Mein ganzes Leben habe ich standgehalten, denen die mich hassten. Warum sollte ich jetzt die Chance vertun, glorreicher zu sein als je zu vor? Warum ein Lachen vergeuden, das jetzt umso heller klänge? Warum vergessen, dass Seltenheit das ist, was der Kenner schätzt, und der seltene Genuss ist für die mit Geld unbezahlbar. Und hätte ich nicht jedes Recht das zu sagen, nach Sturz und Kerker, ohne das mir jemand ein hohes Ross verhalten könnte? Würde ich jetzt nicht leben, jenseits der blassen Lande der Heuchelei? Du hast gehört, dass ich Bosie getroffen habe. Rot oder blau, mon ami. Beides ist absolut valide Möglichkeiten, wie unser Treffen verlaufen ist. Kam ich zu ihm souverän, im Vollbesitz eines Selbst, oder demütigte ich mich vor einem hübschen Tyrannen, in dessen Herz nichts als Quecksilber fließt? Eine schwarze Perle im Domgewölbe der Tragödie? Oder etwas leichteres, Musselin aus einem Orient. Ich war nicht blind, als ich ihn traf. Und Bosie kannte mich, täuscht euch nicht, besser als viele. Und vielleicht jetzt, viel klarer als in den Nebeln des Ruhms, war das an mir zu sehen, was er an mir nicht bewundert hatte: sondern geliebt. Tatsache ist, keine süße Wiedervereinigung, und er gab mir auch kein saures Geld. Und ja, es war nicht schön. Tatsachen. Der rote und der blaue Brief, jeder wird dir ausmalen, was in Wahrheit zwischen ihm und mir sich zugetragen hat. Und was es war, was man an mir so lieben konnte. Was ich auch an den anderen liebte und ihnen das aufrichtige Gefühl gab, genau dafür liebeswert zu sein. Blau, Rot, ach, fast würde ich dir raten beide Briefe ungeöffnet zu lassen. Stelle dir vor, sie lägen bis zum Ende der physikalischen Welt in einer geschmackvollen Schatulle und beide sind solange wahr, als der Deckel nicht gelüftet wird. Der rote und der blaue Brief in einer verschlossenen Kassette scheint mir ein recht gelungenes Bild für den Mensch an sich zu sein, was denkst du? Du fragst dich sicher, ob du diesem meinem Zauber nicht einfach entgehen kannst, nicht einfach Klarheit bekommst, indem du auch den zweiten Brief öffnest. Denke noch einmal darüber nach, mein Freund, und ich stelle mir gerade dein Lächeln vor (das, eben weil es winzig ist wie das Vibrieren einer Blüte zwischen Sonnenstrahl und Schatten, so wundervoll ist, dass ich es mir auch gerne grundlos vor Augen rufe), das Lächeln, wenn du erkennst: den zweiten Brief zu öffnen, widerlegt den ersten nicht. Der zweite Brief, im Gegenteil, macht den ersten unbesiegbar. Und natürlich umgekehrt. Findest du das nun so unangemessen? Bei mir, der ich ein Ire war, der in England zu 101


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