Staatsoper Unter den Linden Saison 2019/20

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Was bedeutet es, schamlos zu sein? Was wird als schamlos erachtet? Wie äußern sich Gefühle von Scham und Beschämung? Und was hat das mit uns und unserer neuen Saison zu tun? 47

Editorial

Scham und Schämen bedürfen des Bewusstseins der eigenen Persönlichkeit, zugleich aber auch eines Gegenübers. Vor sich selbst kann man sich schämen, mehr aber noch vor Anderen. Es macht das Wesen der Scham aus, dass sie einer Reaktion bedarf. Das Ich wird mit einem Du konfrontiert, dessen Erwartungen wiederum das eigene Verhalten beeinflussen, bewusst oder unbewusst. Festgefügte soziale Normen wirken, an denen sich das Denken und Handeln des Einzelnen orientieren – und wenn es den gesetzten Maßstäben nicht entspricht, kann allzu leicht ein Schamgefühl entstehen. Andererseits haben immer wieder kalkulierte Regelbrüche und wagemutiges Unbekümmertsein viele Entwicklungen vorangebracht, in Politik, Gesellschaft und Kultur. Die eigene Scham zu bekämpfen, mit einer gewissen Chuzpe schamlos zu sein, hat sich oft als vorteilhaft erwiesen. Wer ständig Angst vor der Blamage hat und die eigenen Schamgefühle wie einen Schutzpanzer vor sich her und um sich herum trägt, wird kaum jemals selbstsicher nach vorne schreiten. Schamlosigkeit ist etwas Ambivalentes, Schillerndes – sie ist wie die Scham weder einseitig positiv noch negativ, in jedem Falle aber herausfordernd, sowohl für die aktiv Handelnden als auch für die Beobachtenden. Im Musik­theater kann so etwas ganz unmittelbar erlebt werden. In vielerlei Weise sind die Sujets und Figuren unserer Premieren »schamlos« zu nennen. In immer neuen und anderen Konstellationen spielt Schamlosigkeit eine Rolle, etwa wenn es um das Brechen von Tabus, um das Überwinden von Skrupeln oder um das Ausschalten von


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