Staatsballett Berlin Magazin

Page 1

Ausgabe 11 – Spielzeit 2017/2018

STAATSBALLETT BERLIN

Intendant Nacho Duato


TANZNOTIZEN

NEUES AUS DER C OMPAGNIE

Beim Staatsballett Berlin geht es im Frühling um die Liebe. Im April feiert „Romeo und Julia“ Premiere. Was bedeutet dieses Stück für die Tänzerinnen und Tänzer (S. 4), und wie bebildert es der Wiener Fotograf Lukas ­Gansterer (S. 6)? Dirigent Paul Connelly lässt durch die Vereinigung von Choreo­graphie und Komposition starke Emotionen entstehen (S. 8). Und Intendant Nacho Duato erzählt, woran sein Herz in Berlin hängt (S. 11).

DON QUIXOTE KREATIV GELÖST Manchmal wird ein Unglück zur Inspirationsquelle: Am Heiligabend 2017 kam es infolge eines Wassereinbruchs zu einem Ausfall der Bühnen- und Lichttechnik der Deutschen Oper Berlin. Choreograph Víctor Ullate und sein Team, Eduardo Lao (Einstudierung), Roberta Guidi di Bagno (Ausstattung) und Marco Filibeck (Licht), mussten sich etwas einfallen lassen. Innerhalb kürzester Zeit entwickelten sie aus den Elementen, die sie knapp eineinhalb Jahre lang detailliert geplant und gebaut hatten, ein angepasstes Bühnenbild. Herausgekommen ist ein Abend mit Temperament und „chispa“, eine Art Fluidum, etwas Elegantes, das mit den Augen ausgedrückt wird, etwas originär Spanisches. Schöner lässt sich das Ergebnis wohl kaum beschreiben, von dem die Premierengäste begeistert waren, ohne dass ihnen überhaupt ein Unterschied aufgefallen wäre. Wieder zu sehen am 04. und 15. März, 22. und 27. April, 04. Mai, 17. Juni und 02. Juli 2018 in der Deutschen Oper Berlin.

SPITZENZAHL

1.200

Paar Spitzenschuhe werden beim Staatsballett Berlin pro Saison zertanzt. Die Schuhe bekommen die Tänzerinnen vom Staatsballett gestellt, je nach Position im Ensemble haben sie unterschiedlich viele zur Verfügung: Eine Solotänzerin erhält beispielsweise zehn Paar pro Monat. Allein zwei Paar Spitzen­schuhe benötigt eine Hauptdarstellerin pro Aufführung – ein Paar für den ersten Akt und ein weiteres für den zweiten. Schnell sind die Sohlen überdehnt, trotz eines harten Leinen-Leim-Gemischs. Bevor die Tänzerinnen in die Schuhe schlüpfen, bearbeiten sie diese individuell. Es werden Bänder angenäht, Stellen gepolstert oder Teile herausgeschnitten. Im Durchschnitt dauert die Bearbeitung eines Paares circa eine Stunde.

Iana Salenko als Kitri, die weibliche Hauptpartie in „Don Quixote“. Dass nicht alles so glatt geht wie erwartet, musste sie während der letzten Proben in der Deutschen Oper Berlin erfahren.

FERIENKURS GENERATIONEN IN BEWEGUNG BALLETT-UNIVERSITÄT ÜBER DAS SCHWEBEN Wie lässt sich die akademische Tanzwissenschaft mit der Praxis des Staatsballetts Berlin verbinden? Die Ballett-Universität versucht dies seit 2011 in Form eines „Studienprojektes“ für Zuschauer. Es umfasst neben Einführungen vor den Ballettvorstellungen auch offene Vortragsabende, in denen ­Wissenschaftler die Historie und Philosophie des Tanzes beleuchten. Am­ 10. April 2018 referiert Mariama Diagne (FU Berlin) über „Choreographien des Schwebens – vom Barocktanz bis Pina Bausch“. Anhand visueller Beispiele aus ­ Barocktanz, Ballett und Tanztheater präsentiert sie künstlerische ­Mittel zu Ästhetiken des Schwebens. Für dieses Projekt arbeitet das Staatsballett ­mit dem Institut für Tanzwissenschaft der Freien Universität Berlin zusammen. Los geht es um 19.00 Uhr im Foyer de la Danse des Staats­ balletts. Anmeldung unter ­ballettuniversitaet@staatsballett-berlin.de

Für den Bühnentanz gilt das Überwinden der Schwerkraft als ästhetisches Grundprinzip. „Giselle“, hier mit Polina Semionova, war eine der ersten ­Produktionen, in denen dies durch den Tanz in Spitzenschuhen erprobt wurde.

Szene aus „Erde“ von Nacho Duato: Der dichte Nebel nimmt den Tänzern sinnbildlich die Luft zum Atmen. Das Stück thematisiert die Umweltzerstörung, ausgelöst durch den Menschen.

Wer inspiriert vom Zuschauen eigene Choreographien entwickeln möchte, hat in den Oster­ferien die einmalige Gelegenheit dazu. Unter dem Titel „Generationen in Bewegung“ findet in den Schulferien ein generationenübergreifender Ferienkurs von „Tanz ist KLASSE!“ statt. Großeltern, Eltern und Kinder ab 12 Jahren können an drei Workshoptagen teilnehmen und neue tänzerische Perspektiven entdecken. Der Ferienkurs läuft vom 05. bis 07. April 2018 täglich von 13.00 bis 16.00 Uhr in den Sälen des Staatsballetts in der Deutschen Oper Berlin. Pro Person kostet die Teilnahme 60 Euro, inklusive einer kleinen Verpflegung. Anmeldung direkt bei „Tanz ist KLASSE!“, per E-Mail an ­contact@tanz-ist-klasse.de oder telefonisch unter 030/34 384 166.

Titelfoto: Yan Revazov (Ksenia Ovsyanick in „Romeo und Julia“), Fotos diese Seite: Fernando Marcos (Bild­ mitte, „Erde“), Yan Revazov (Ballett-Universität), Fernando Marcos („Don Quixote“)

02 I 03


Was macht die jahrhundertealte Liebesgeschichte von ­Romeo und Julia bis heute zu einem Publikumsmagneten? Cameron Hunter: Die Liebe verbindet Menschen über alle Generationen und Grenzen hinweg. Jeden von uns beschäftigt sie auf die eine oder andere Weise: Die einen haben sie schon gefunden, die anderen sehnen sich nach Liebe und träumen von ihr. Aber es sind auch immer Enttäuschungen, Widerstände und Entsagungen im Spiel. Ksenia Ovsyanick: Ich denke, dass die äußeren Widerstände, die Romeo und Julia überwinden müssen, gesellschaftlich konstruiert sind. So wie bis heute häufig die Religion, Nationalität, das Geschlecht oder Einkommen als Argumente herhalten müssen, um eine Beziehung für unmöglich zu erklären. Das macht das Stück umso relevanter. In ihrer Liebe wachsen Romeo und ­Julia über sich hinaus und entlarven dadurch das vermeintlich Unmögliche als Lüge. Polina Semionova: Vermutlich berührt uns dieses Stück auch deshalb, weil es von bedingungslosen Gefühlen zweier unerfahrener junger Liebender erzählt, die sogar bereit sind, sich dafür zu töten. Julia ist schließlich erst 14 und Romeo 17 Jahre jung. „Romeo und Julia“ ist auf den Spielplänen von Ballettcompagnien weltweit zu finden. Was ist das Besondere an der Inszenierung von Nacho Duato? Semionova: Seine Inszenierung fühlt sich sehr intensiv und echt an. Gerade bei diesem Stück mit vielen Pas de deux ist es sehr wichtig, dem Gegenüber vertrauen zu können – und auf den Partner zu hören. Gentian Doda, der Erste Ballettmeister des Staatsballetts, sagte mir einmal: Beim Tanzen solle man dem Partner immer so sensibel begegnen, als hätte man ein weiches Material vor sich; auf keinen Fall so, als sei der andere hart, mit Ecken und Kanten, sonst würde man nur aneinanderstoßen, statt sich gemeinsam weiterzuentwickeln. Ovsyanick: Das stimmt. Bei Duatos Choreographien sind instinktive Berührungen und Gesten wichtiger als vorgegebene präzise Positionen. Hunter: Ich empfinde es auch so, dass die Arbeit mit ihm in besonderem Maße von Tänzern verlangt, bei ihren eigenen Gefühlen zu bleiben. Für mich bedeutet das: Um als

Romeo nicht ins Klischeehafte abzurutschen, muss ich mir diese außergewöhnliche Liebe zu Julia emotional so stark zu eigen machen, dass auf der Bühne eine Intensität entsteht, der sich niemand entziehen kann. Was bedeutet es für Sie, derart starke Emotionen vermitteln zu müssen? Semionova: Eigentlich geht es beim Ballett immer um starke Gefühle: Mal ist man gemein und niederträchtig, mal unschuldig oder exzentrisch. Hier tötest Du, da liebst Du: Auf der Bühne ist alles möglich! Zum Glück kommt ja noch die Musik dazu, die die Emotionen verstärkt. Ovsyanick: Es ist keinesfalls leicht, die starken Gefühle, die Julia für Romeo hegt, tänzerisch auszudrücken. ­Andererseits gibt es noch Steigerungen. Die Medea zu verkörpern, die ihre eigenen Kinder tötet, ist zum ­Beispiel ungleich schwieriger: Da komme ich an meine Grenzen und muss sehr tief in mir graben, um deren Motive glaubhaft auf der Bühne vermitteln zu können. Und welche Rolle spielt es für die Interpretation, dass Sie die Julia in der Vergangenheit bereits getanzt haben? Semionova: Ich beginne bei jeder Inszenierung an einem gedanklichen Nullpunkt, um mir einen neuen ­ Raum zu eröffnen. Schließlich verändere auch ich mich über die Jahre und bleibe nicht derselbe Mensch, der ich einmal war. Und da ich auf der Bühne stets vermeide, nur eine Figur zu spielen, entwickelt sich jede meiner Julias gewissermaßen zu einer anderen, neuen ­Person. Je häufiger ich eine Rolle tanze, desto klarer wird mir auch, wie wenig ich über sie Bescheid weiß (lacht). Herr Hunter, Sie übernehmen als Gruppentänzer am Staatsballett Berlin zum ersten Mal eine Titelrolle. Wie ergeht es Ihnen als Romeo-Novize? Sind Sie sehr nervös? Hunter: Ja und nein! Ich kann auf einige erfolgreiche Auftritte zurückblicken und habe aus Misserfolgen ­gelernt. Ich erinnere mich noch an eine „Nussknacker“-­ Aufführung vor vier Jahren, in der ich mehrfach gestürzt bin und nur noch dachte: Jetzt ist meine Karriere vorbei. Erst mit der Zeit wurde mir klar: Man kann das überstehen, das Leben geht weiter! Seitdem habe ich die große Angst verloren, auch wenn ich großen Respekt vor der Rolle des Romeo habe. Was mich mit ihm verbindet, ist meine Naivität, man könnte auch Unwissenheit sagen (lacht). Vermutlich ist es das, was Nacho Duato auf die Idee brachte, mir diese Rolle zu geben. Allerdings ist es mein erster Solo-Part, und ich hoffe, viel von den anderen lernen zu können, um keine Fehler zu machen.

Cameron Hunter (Mitte) gibt in der Rolle des Romeo sein Solo-Debüt am Staatsballett Berlin. Ksenia Ovsyanick (links) und Polina Semionova (rechts) tanzen in der Besetzung der Julia. Nach den Proben in der Staatsoper Unter den Linden trafen sich die drei im Apollo­saal zu einem Gespräch über emotionale Inszenierungen und Anfänger­fehler im Ballett.

Ovsyanick: Im Ballett gibt es keine Fehler. Zum Glück entdeckt man im Tanz immer wieder neue Gefühle, ­sodass man mit der Zeit zu mehr Tiefe im Ausdruck gelangt. Wenn man dann an vergangene Inszenierungen zurückdenkt, zeigt sich erst mit zeitlichem Abstand, wie sehr man damals eine Anfängerin war. Semionova: Zu Deiner Beruhigung, Cameron: Dich als Romeo zu besetzen, beweist, was für ein außerge­ wöhnlich gutes Auge Nacho Duato bei der Auswahl von ­Tänzerinnen und Tänzern hat. Und das nicht nur, was die äußeren Merkmale und Qualitäten betrifft!

Foto: Holger Talinski

INTENSITÄT UND UNSCHULD

IM GESPRÄCH

In Nacho Duatos „Romeo und Julia“ trifft ein Gruppentänzer in der männlichen Titelrolle auf erfahrene Erste Solotänzerinnen. Was sehen Cameron Hunter, Polina Semionova und Ksenia Ovsyanick in der ­tragischen Liebesgeschichte?

04 I 05


Fotos: Lukas Gansterer (@dark_white); Maske: Andrea Lange; Location: Gürke – Großhandel für Floristen- und Dekorationsbedarf

LUK AS GANSTERER

In dieser Ausgabe interpretiert Fashion-Fotograf Lukas Gansterer das P ­ remierenstück „Romeo und Julia“. In einem Industriegebiet gibt er der Liebesgeschichte seine eigene Dramaturgie. Hier knüpfen die Protagonisten zarte Bande. Dargestellt werden sie von der Ersten ­Solotänzerin Elisa Carrillo Cabrera und dem Solisten Alexej Orlenco (rechts). Der 33-jährige Wiener ist b ­ ekannt für seinen foto­grafischen Dreiklang aus Authentizität, Aggression und Ästhetik. ­Gansterer arbeitete bereits für internationale Magazine wie 032c, VICE und das ZEITmagazin.


„Alina, bitte direkt bei ja-ba-di-da-dam“, ruft Ballettmeisterin Barbara Schroeder der Pianistin zu. Alina ­Pronina weiß sofort, welche Stelle gemeint ist. Sie setzt im Walzer aus dem zweiten „Schwanensee“-Akt ein, ­genau in jenem berühmten Moment, in dem die Schwäne in einer langen S-Kurve Richtung Rampe zu schweben scheinen. Im Ballettprobensaal des Staatsballetts Berlin spielen jetzt 16 junge Tänzerinnen in Tutus und Spitzenschuhen die Szene durch. Hüfthohe Sperrholz­ wände markieren die Gassen der Bühne. Während Barbara Schroeder jede Bewegung mit ihrem Körper vormacht und dazu die französischen Fachbegriffe der einzelnen Positionen ruft, gibt Alina Pronina am Flügel den Rhythmus vor, blickt immer wieder kurz auf zur Ballettmeisterin und zu den Tänzerinnen. Werden sie schneller? Oder brauchen sie für eine bestimmte Geste mehr Zeit? Die Beziehung zwischen Musik und Ballett ist komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Ohne Musik wäre der Tanz undenkbar. Und dennoch spielt sie beim klassischen Repertoire nicht die Hauptrolle. „Die ­Choreographie ist das Werk“, sagt Ballettdramaturgin Annegret Gertz. „Sie ist urheberrechtlich geschützt.“

Anders als in der Oper oder im Theater, wo der Regie kein Werkcharakter und damit kein Urheberrecht ­zugebilligt wird. Zwar besteht auch hier für die Komposition ein Urheberrecht. Und mehr noch, so Gertz: „Ballettmusik wird oft erst durch die Choreographie ­ wertvoll.“ Das gilt vor allem für die großen klassischen Ballette, deren Titel zwar jeder kennt, oft aber nicht die Namen ihrer Komponisten: „La Bayadère“, ­„Giselle“, „La Sylphide“. „Don Quixote“ zum Beispiel ist stärker mit den Choreographen wie etwa dem ­ legendären ­Marius Petipa verknüpft als mit der Musik von Ludwig Minkus. Zu den Ausnahmen gehören Peter I. Tschaikowsky, dessen Ballettmusiken auch im K ­ onzertsaal erklingen, und natürlich Serge Prokofieff und Igor ­ Strawinsky mit ihren großen Werken des ­ ­ 20. Jahr­ hunderts. Doch bleiben wir bei „Don Quixote“: Minkus’ Komposition wird derzeit in Europa in zwei unterschiedlichen Fassungen verlegt. Víctor Ullate allerdings hatte für ­seine Choreographie eine eigene, dritte Version erstellt, die auch in Berlin zur Aufführung kommen sollte. Allerdings war das Material der musikalischen Fassung verbrannt – das heißt: Es gibt keine Noten, nur die ­ ­Tonaufnahmen von damals. Hier kommt die Musikbibliothek der Deutschen Oper Berlin ins Spiel. Wie praktisch, dass Bibliothekar Philip Lawton im Hauptberuf Komponist ist! Um für Ullates Neuinszenierung für das Staatsballett das Notenmaterial zu erstellen, hörte er die Aufnahmen ab und setzte so nach und nach eine passende Partitur zusammen. Da­ raus erstellte er auch einen Klavierauszug – schließlich ist bei den Proben zunächst kein Orchester anwesend, sondern nur eine Begleitung am Flügel. Gleichzeitig ­dokumentiert der Klavierauszug auch alle szenischen Abläufe, die in einem Szenarium festgehalten werden.

Spagat am Pult: Dirigent Paul Connelly muss das Spiel seines Orchesters permanent an das Geschehen auf der Bühne anpassen. Dauert die Figur eines Tänzers einen Sekundenbruchteil länger, dehnen die Musiker die Takte entsprechend.

Links: Iana Salenko und Dinu Tamazlacaru proben für Víctor Ullates Neuinszenierung von „Don Quixote“. Unten: Choreograph Eduardo Lao bespricht die neue musikalische Fassung für das Szenarium des Stückes mit der Dramaturgin Annegret Gertz.

Fotos: Yan Revazov

MUSIKALISCHE DIPLOMATIE

VOR ORT

Die Beziehung zwischen Musik und Ballett ist komplex – und nicht immer konfliktfrei. Wer hat das letzte Wort? Eine Spurensuche hinter den Kulissen

Man mag sich über den Aufwand wundern und fragen: Könnte man während der Proben nicht einfach eine CD mit der Musik einlegen? Prinzipiell ist das tatsächlich möglich, nur spielt das Orchester später auch live. Und zwar mit gutem Grund. Denn je nach Choreographie und Tänzerpersönlichkeit müssen manche Takte gedehnt, manche beschleunigt werden, um eine ­Pirouette, einen Sprung so ausführen zu können, wie sich ihre Schöpfer und Interpreten das vorstellen. Wer zum ­Beispiel höher springt als andere, braucht mehr Zeit. Darauf muss ein Dirigent Rücksicht nehmen. „Bei einer klassischen Choreographie stehen am Abend 60 bis­ 80 Menschen auf der Bühne“, sagt Gertz. „Dazu kommen noch einmal so viele im Orchester­graben, um in einem Takt idealerweise alles auf den Punkt zusammenzubringen: Bewegung, Verwandlung der Bühne, Musik und Licht.“ Alles, was vorher erarbeitet werde, so erzählt sie, seien „Verabredungen für den jeweiligen Moment“.

tur herausholen, die am Ende trotz aller Umstellungen, Streichungen und Akzentuierungen natürlich so klingen ­sollte, wie der Komponist es sich gedacht hat. Anders als in der Oper, wo das Werk oft als unantastbar gilt und selbst Streichungen nur selten vorgenommen werden, sind Auslassungen und Änderungen in manchen Balletten selbstverständlich und von den Komponisten auch so vorgesehen.

So ist der Dirigent beim Ballett Diener zweier Herren: der des Choreographen und der des Komponisten. Er muss dem künstlerischen Wollen des Choreographen entgegenkommen und zugleich das Beste aus der Parti-

Das klingt pragmatisch, gleichwohl bedarf das Dirigieren von Ballettmusik immer eines gehörigen Maßes an Diplomatie und Fingerspitzengefühl. Zum Beispiel bei der Frage, wie weit man Tänzern in ihren Wünschen

„Ich bin offen für alles, was dazu beiträgt, dass ein Abend gelingt“, sagt Paul Connelly. Der weltweit ­gefragte Dirigent leitet am Staatsballett gerade die Aufführungen von „Giselle“. Manchmal, so erzählt er, entscheiden sich Choreographen dafür, die einzelnen ­ Nummern einer Ballettmusik umzustellen. Oft sind sie aber harmonisch aufeinander abgestimmt. „Dann muss man als Dirigent Wege finden, die Musik so klingen zu lassen, dass kein akustisches Unbehagen entsteht.“

08 I 09


Oben: In der Musikbibliothek der Deutschen Oper Berlin rekonstruiert Musikwissenschaftler Philip Lawton unvollständiges Notenmaterial. Im Anschluss erstellt er Klavierauszüge für die Ballettproben. Rechts: Pianistin Alina Pronina gibt den Rhythmus vor. Die Klavier­auszüge fürs Ballett sind anspruchsvoll. Ihre Hände ersetzen in den Proben ein komplettes Orchester.

Diese Kompromisse bespricht der musikalische Leiter auch mit den Pianisten – sie sind es ja, die seine Position während der Einstudierungs- und Probenphasen vertreten. „Im Idealfall gibt es einen engen, langfristigen Kontakt zum Dirigenten“, sagt Alina Pronina. „Das Vertrauen ist wichtig, auch die Tatsache, dass sich da einer wirklich auskennt in der Materie.“ Pronina ist ausgebildete Konzertpianistin und Preis­ trägerin mehrerer nationaler und internationaler Klavierwettbewerbe. Sie tritt als Solistin und in ­ Kammermusik-Ensembles auf. Ein echter Profi also. ­ Warum braucht man für die Begleitung von Proben ­derart viel Kunstfertigkeit? Das liegt zum einen an den Klavierauszügen, die oft ziemlich anspruchsvoll sind.

Denn alles, was sich sonst auf die Stimmgruppen des Orchesters verteilt, liegt hier in zwei Händen. Zum ­anderen bestehen die Proben nicht aus dem stoischen Abspielen vom Blatt; vielmehr geht es stets um das konzentrierte und dynamische Zusammenspiel mit den Tänzern. „Ich habe einen starken Seitenblick entwickelt“, sagt Pronina. „Ich schaue nicht nur auf die ­Noten, sondern auch auf das, was auf der Tanzfläche passiert. Man sieht die Bewegungen während des Spielens, kann die Schritte nachempfinden.“

Wie erleben Sie die Berliner – speziell als Ballett­ publikum? Als sehr höflich. Die Leute schauen konzentriert zu, geben auch keinen Zwischenapplaus – um am Ende richtig begeistert zu reagieren. Anfangs fürchtete ich oft, es gefällt ihnen nicht. Aber ich war nur verunsichert, weil ich so schlechte Kritiken bekam. Das Publikum ist wirklich großartig. In einer Vorstellung von „Erde“ im November 2017 sind die Leute fast ausgeflippt. Und es kommen immer mehr junge Zuschauer.

Dazu gehört eine gehörige Portion Durchhaltevermögen und körperliche Fitness, denn die sogenannten Durchläufe – also Proben, in denen der Choreograph nicht mehr unterbricht – sind körperlich anstrengend, weil einzelne Akte schnell 20, 30 Minuten dauern – ganze Ballette wie „Dornröschen“ gut drei Stunden. Dazu g­ ehört zudem, täglich zu üben. „Beim Begleiten muss ich ­immer präzise das Tempo halten“, sagt Pronina, „ich darf nicht schleppen, aber auch nicht zu schnell ­werden.“ Das ist nicht nur für die Orientierung der Tänzer wichtig. Gute Choreographen arbeiten sehr genau mit der Musik und nutzen die Effekte, die beim Zusammen­ treffen von Komposition und Szene entstehen können. Zum Beispiel beim Staatsballett-Abend „Jewels“, an dem Pronina vom Graben aus mitwirkt. „Da gibt es eine ­Stelle, wo das Orchester genau in dem Moment einsetzen muss, in dem die Tänzerin nach einem Sprung ­landet“, erzählt sie. „Da bin ich so konzen­triert, dass ich innerlich mitspringe.“

Als nächstes inszenieren Sie „Romeo und Julia“ in ­Berlin. Wie adaptieren Sie das Stück für die Stadt und die Compagnie? Ich verändere das Dekor und die Kostüme, vor allem aber werden viel mehr Tänzer auftreten. Das Ballett wurde für 30 Personen entwickelt, ich nehme fast 60, das wirkt gerade auf der Bühne der Staatsoper ­Unter den Linden viel besser.

Foto: Valérie Schmidt

entgegenkommen kann, wenn sie das Gefühl haben, auf der Bühne mehr Zeit zu brauchen, um die Choreographie auszuführen. Dann müssen Wege gefunden ­werden, wie die Musik unterstützen kann. Da helfen Connelly seine Erfahrungen, die er unter anderem beim renommierten American Ballet Theatre und an der Pariser Oper sammelte. „Ich kann spüren, wie die ­ Körper auf der Bühne funktionieren“, sagt er. „Und ­ ­irgendwann lernt man, wann Tänzer etwas wollen, das nicht unbedingt in ihrem Interesse ist.“ Manchmal diskutiert er auch mit den Choreographen, um unnötige Eingriffe in die Partitur und die ursprünglichen Absichten des Komponisten zu reduzieren. „Man muss sich in sein Gegenüber einfühlen, dann findet man einen ­Kompromiss.“

Wo trifft man Sie denn am ehesten? Bei Vernissagen, in Kunstgalerien. Ich habe in meiner Zeit hier fünf Gemälde gekauft, in einer wirklich schönen Galerie: Ebensperger. Sie liegt in einem ehemaligen Krematorium im Wedding – dort ist überhaupt alles ziemlich schräg.

Apropos Staatsoper: Das Staatsballett tritt auf verschiedenen Bühnen in der Stadt auf – eine Berliner Besonderheit. Wie gefällt Ihnen das? Es ist schwierig, sich immer wieder auf eine andere Spielstätte einzustellen. Die Häuser haben ihre eigenen Techniker, Kostüm- und Maskenbildner und die wiederum ihre ganz eigene Art. Es gibt schon länger die Überlegung, ein gemeinsames Haus für den Tanz zu gründen. Das wäre großartig!

F Ü N F F R A G E N A N N A C H O D UAT 0

Herr Duato, was war Ihr erster Eindruck von Berlin, und wie gefällt Ihnen die Stadt heute? Ich kam 1992 das erste Mal nach Berlin, als noch große Teile der Mauer standen. Mir wurde eine Stelle als Ballett­direktor angeboten. Damals entschied ich mich dagegen, ich mochte aber die Atmosphäre in Berlin. Die verrücktesten Leute trafen aufeinander. Künstler, Wehrdienstverweigerer, Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern – sie machten die Stadt zu einer ganz besonderen. Auch heute mag ich Berlin – natürlich! Berlin ist eine kosmopolitische Stadt, die mir, wenn man so will, viel mehr bietet als Bratwurst und Schnitzel.

MEIN BERLIN

Nacho Duato mag die Stadt, weil sie so vielfältig ist. ­ Hier spricht der Intendant des Staatsballetts über seine ­Lieblingsorte, was er vermisst und was ihn berührt

In der Kunstszene fühlt sich Nacho Duato zu Hause. Zu seinen Lieblings­ orten zählt die Galerie Ebensperger in Berlin-Wedding.


TANZTERMINE März bis Mai 2018

HERRUMBRE

DUATO | SHECHTER

Intendant und Choreograph Nacho Duato beschäftigt sich in dieser Arbeit mit Folter und Gewalt. Auf einem Soundteppich aus realen Klängen, elektronischer Musik und Kompositionen für Violoncello wird ein politisches Thema in Tanz übersetzt.

Ein zweiteiliger zeitgenössischer Abend: Der israelische Erfolgschoreograph Hofesh Shechter zeigt sechs Tänzerinnen in seiner urwüchsigen und explosiven Bewegungssprache. Intendant Nacho Duato reflektiert in seiner Kreation für das Staatsballett Berlin über ein hochaktuelles Thema, den verschwenderischen ­Umgang der Menschen mit den Ressourcen der Erde.

Staatsoper Unter den Linden 02., 09. März 2018

Komische Oper Berlin 22., 28. März | 07. April 2018

DON QUIXOTE

ROMEO UND JULIA

Don Quixote ist ein Klassiker im Ballettrepertoire, denn zur Musik von Ludwig Minkus gehen Lebensfreude und tänzerische Virtuosität eine ungewohnt natürliche Verbindung ein, allein mit den Mitteln des klassischen Tanzes. Die Fassung von Víctor Ullate betont zudem das spanische Flair, indem eine Flamenco-Gitarre die gewohnten Klänge bereichert.

Die wohl bekannteste Liebesgeschichte der Weltliteratur als Ballett – Nacho Duato hat seine eigene Version von „Romeo und Julia“ in Szene gesetzt, weil er überzeugt ist, dass „die Partitur Prokofieffs das Beeindruckendste ist, das je für die Ballettbühne geschaffen wurde“. Lyrische Szenen wechseln sich ab mit dem pulsierenden Leben in einer italienischen Stadt und den ­Auseinandersetzungen der verfeindeten Familien.

Deutsche Oper Berlin 04., 15. März | 22., 27. April | 04. Mai 2018

Staatsoper Unter den Linden Premiere am 29. April 2018 05., 13., 26. Mai 2018

GISELLE

POLINA & FRIENDS

Ein Klassiker des Romantischen Balletts in der Choreographie von Patrice Bart: „Giselle“ war eine der ersten Ballettproduktionen, in denen Tänzerinnen in Spitzenschuhen auftraten. Passend zu dem ätherischen Schweben über die Bühne erzählt das Ballett von Feenwesen, die im Wald die Nacht durchtanzen müssen.

Dem Staatsballett Berlin ist es eine Ehre, zur Gala „Polina & Friends“ einzuladen. Die Berliner Kammertänzerin Polina Semio­nova wird auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden mit Freunden, Tanzpartnern, Weggefährten, Publikumslieblingen, jungen Talenten und großen Stars für Überraschungen sorgen.

Staatsoper Unter den Linden 16. März | 06. April 2018

Staatsoper Unter den Linden 17. Mai 2018

SCHWANENSEE

DODA | GOECKE | DUATO

Legendäre Schwanenformationen, pompöse Ballszenen sowie die Musik von Peter I. Tschaikowsky begründen den Mythos dieses vielleicht bekanntesten Balletts der ­Tanz­geschichte, in Berlin zu sehen in der Choreographie von Patrice Bart.

Drei zeitgenössische Sichtweisen werden an diesem Ballettabend ­ gezeigt: Gentian Doda ist inspiriert von der albanischen Kultur, die asymmetrische und komplexe Formen der reinen Schönheit vorzieht. Basierend auf einer Komposition von Arnold Schönberg, zeigt der Körpervirtuose Marco Goecke mit „Pierrot Lunaire“ seinen unverwechselbaren Stil. Und Nacho Duato vervollständigt den Abend mit einer Berliner Erstaufführung seines ­­ Meisterwerks „Por vos muero“.

Deutsche Oper Berlin 20., 23., 29. März 2018

Komische Oper Berlin Premiere am 24. Mai 2018 27. Mai 2018

TICKETS: +49 (0)30 20 60 92 630 | tickets@staatsballett-berlin.de IMPRESSUM HERAUSGEBER Staatsballett Berlin, Richard-Wagner-Straße 10, 10585 Berlin | INTENDANT Nacho Duato | ARTDIRECTION Bernardo Rivavelarde | VERLAG TEMPUS CORPORATE GmbH – Ein Unternehmen des ZEIT Verlags, Alt-Moabit 94, 10559 Berlin, info@tempuscorporate.zeitverlag.de | Geschäftsführung: Jan Hawerkamp | Projektleitung: Kathleen Ziemann | Autoren: Hiltrud Bontrup, Georg Kasch, Kristina v. Klot | Lektorat: Katrin Weiden | Layout: Jessica Sturm-Stammberger | Bildredaktion: ­Beatrice Jansen | Herstellung: Oliver Nagel | DRUCK Axel Springer Offsetdruckerei Ahrensburg | REDAKTIONSSCHLUSS 26.02.2018 | Änderungen und Irrtümer vorbehalten


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.