Staatsballett Berlin Magazin

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Ausgabe 9 – Spielzeit 2016/2017

STAATSBALLETT BERLIN

Intendant Nacho Duato


TANZNOTIZEN

NEUES AUS DER C OMPAGNIE

Was beschäftigt uns? Der Alltag, die Zukunft, die Kindheit. Das Staatsballett Berlin nimmt die Widersprüche unseres Lebens zum Narrativ der nächsten Monate. Hofesh Shechter blickt zurück, aufs Verlassenwerden, Nacho Duato nach vorn, in ein neues Zeitalter, und Martin Schläpfer thematisiert in „7“ Heimat und getriebene Existenzen. Zwei Ensemblemitglieder beenden ihre Karriere, eine Tänzerin kommt zurück.

PREMIERE „DUATO | SHECHTER“ Ein Abend, der die ästhetischen Grenzen der Compagnie erweitert: Am 21. April 2017 feiert „Duato | Shechter“ beim Staatsballett Berlin Premiere. Exzessive Choreographien, unbequeme Klangwelten: In „The Art of Not Looking Back“ widmet sich der israelisch-britische Choreograph Hofesh Shechter dem Verlassenwerden. Sechs Tänzerinnen zeigen ein Wechselbad der Gefühle, das auch dem Zuschauer einiges abfordert. Intendant Nacho Duato folgt im zweiten Teil des Abends mit „Erde“ und thematisiert den zerstörerischen Umgang des modernen Menschen mit unserem Planeten. Mit dem Künstlerkollektiv Numen + Ivana Jonke und einer klassisch-elektronischen Komposition kreiert er eine schleichende apokalyptische Stimmung, die in einem hoffnungsvollen Schlussakt endet.

Kostümentwurf der Berliner Designerin Beate Borrmann für Nacho Duatos Werk „Erde“.

TANZTERMINE DUATO | SHECHTER Komische Oper Berlin 21 23 28 04 23 24 29 05 04 09 11 27 29 06

GASTSPIEL BALLETT AM RHEIN MIT „7“

Moderne Tanzkunst zu Gustav Mahlers 7. Sinfonie: Choreograph Martin Schläpfer inszeniert „7“, eine Szenencollage.

Erstmals tanzt Martin Schläpfers Compagnie, das Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg, in Berlin. Am 11., 12. und 15. April 2017 ist „7“ zu sehen, Schläpfers emotionale Auseinandersetzung mit Gustav Mahlers 7. Sinfonie. Die wechselnden Atmosphären des Stückes übersetzt er in eine eigene Ballettsprache. Mit zweierlei Schuhwerk erzeugen die Tänzer eine zusätzliche Geräuschkulisse: mal in Stiefeln, mal klassisch in Spitzenschuhen. Seine Geschichte handelt von den Widersprüchen unseres Lebens, von der Suche nach Heimat und getriebenen Existenzen. Für den Zuschauer ist das ein Erlebnis mit intensiven Bild- und Klangwelten – bezeichnend für den Schweizer Choreographen. Bereits dreimal in Folge wurde das Ballett am Rhein unter Schläpfers Leitung von der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „tanz“ zur „Kompanie des Jahres“ gekürt.

RÜCKKEHR POLINA SEMIONOVA Ausnahme-Ballerina Polina Semionova tritt wieder auf: Nach einjähriger Pause ist die Gast-Solotänzerin des Staatsballetts Berlin gleich in drei Produktionen zu sehen. Am 26. April 2017 gibt sie ihren Auftakt in der Rolle der Tatjana in John Crankos „Onegin“. In dem dreiteiligen Abend Karriere mit Kind: Polina Semionova gilt als eine der „Duato | Kylián“ übernimmt besten Balletttänzerinnen ihrer Zeit. Im April 2017 sie die weibliche Solopartie endet ihre Babypause. in Nacho Duatos „White Dark­ness“ am 02. und 03. Juni 2017. Es folgt die Rolle der Prinzessin Aurora in „Dornröschen“ am 18. und 19. Juni sowie am 03. und 05. Juli 2017. Semionova freut sich schon auf die Vorstellungen: „Ich bin gespannt, wieder auf der Bühne zu stehen und dem Publikum begegnen zu können. Das ist nun genau ein Jahr her, und ich vermisse es sehr. Ich fühle mich glücklich und bereichert und hoffe, dass ich diese Gefühle mit dem Publikum teilen kann.“

TANZFESTIVAL 10 JAHRE EDUCATION-PROGRAMM Am 29. und 30. Juni 2017 richtet „Tanz ist KLASSE!“, das Education-Programm des Staatsballetts, ein zweitägiges Tanzfestival in der Urania Berlin aus: FestiTANZ. Gemeinsam mit neun Partnerschulen präsentiert FestiTANZ aktuelle Stücke mit etwa 250 Kindern, gibt Einblicke in das laufende Kursangebot und blickt auf die letzten zehn Jahre zurück. Mehr als 30 000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben seit 2007 an dem Education-Programm teilgenommen. Das Angebot für Schulklassen, Familien und Hobby-Tänzer baut Berührungsängste mit dem Tanz ab. Das gelingt – und wird gefeiert. Zwei Tage für alle Sinne: zuschauen, zuhören und mitmachen.

Patricia Zhou und Arman Grigoryan tanzen in „Herrumbre“. Das Stück gilt als Auftakt politischer Inszenierungen am Staatsballett Berlin.

Titelfoto: Yan Revazov (Tänzer Alexander Abdukarimov in Nacho Duatos „Erde“) Fotos: Beate Borrmann (Kostümskizze), Fernando Marcos (Bildmitte, „Herrumbre“), Gert Weigelt („7“), Enrico Nawrath (Semionova)

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„Erde“ ist ein schenzeitalter, Naturgewalten Erde hat. Das ein Ballett.

Eine weitere Farbe auf dieser Palette ist die elektro­ nische Musik: Es gibt drei Stücke von Komponisten elektronischer Musik. Welche Funktion hat sie? Alcalde: Die Streicher und die Soundscapes ordnen wir der Geo- und Biosphäre zu, die elektronische Musik steht für die Technik ... Caballero: ... das Zeitalter des Anthropozäns beginnt mit der Industrialisierung. Ursprünglich hatten wir überlegt, dafür das Geräusch von Webstühlen zu verwenden, haben uns dann aber für die Musik von Richie Hawtin, Alva Noto und Mika Vainio entschieden. Ich kenne alle drei seit vielen Jahren über das Sónar [Anm. d. Red.: jährliches Festival für elektronische Musik in Barcelona]. Mika Vainio kommt aus dem Experimentalbereich, Alva Noto hat am Soundtrack zu „The Revenant“ mitgearbeitet. Richie Hawtin ist einer der wichtigsten Vertreter der Techno-Musik und international als DJ sehr erfolgreich. Wie arbeitet Nacho Duato mit Ihrer Musik?

Stück über das Anthropozän, das Men­ in dem erstmals der Mensch – und nicht oder das Universum – Einfluss auf die ist ein eher ungewöhnliches Thema für

Pedro Alcalde: Warum sollte sich das Ballett nur auf Märchen beschränken? Wie alle anderen Kunstformen darf und soll es alle Themen behandeln. Vor allem, wenn das Thema so aktuell ist wie dieses: Wir sind nämlich gerade dabei, unseren Planeten zu zerstören. Sergio Caballero: Das stimmt. Es geht um unseren Lebensraum! Dazu müssen wir uns alle – jenseits nationaler Grenzen – als Erdbewohner begreifen. Natürlich wollen wir mit „Erde“ kein politisches Manifest auf die Bühne bringen. Aber in der Kunst geht es immer um die Vermittlung von etwas – in diesem Fall um die Relevanz dieses Themas. Sie beide arbeiten schon seit 2004 mit Nacho Duato zu­ sammen, haben für sieben seiner Tanzstücke die Musik komponiert. Wie funktioniert dieser kreative Prozess? Caballero: Die Themen entstehen aus dem Gespräch heraus. Nacho hat ein sehr feines Gespür dafür, was in der Welt passiert, und bezieht Position dazu. Aber erst, wenn wir einen gemeinsamen Nenner gefunden haben, beginnen wir mit der musikalischen Arbeit. Wir gehen wie ein Maler vor, der zuerst die Palette vorbereitet und dann die Farben mischt. In unserer akustischen Palette zum Thema Anthropozän sollte auf jeden Fall ein Streichertrio auftauchen. Dabei interessierten uns die physikalischen Eigenschaften des Instruments, die körperliche Beschaffenheit. Wir haben Klänge aufgenommen und damit dann komponiert. Hinzu kamen Soundscapes, Geräuschlandschaften, die am Anfang, in der Mitte und am Ende des Stückes auftauchen.

Caballero: Er hört sie sich so oft an, bis er sie besser kennt als wir. (lacht) Dann entwickelt Nacho Bilder und Bewegungen dazu. Im Prinzip arbeiten wir drei sehr ähnlich: Wir gehen immer vom Material aus, nicht von konzeptionellen Überlegungen. Die Musik, der Tanz selbst führt dich letztlich zur Komposition, zum Werk. Alcalde: Beides entwickelt sich weiter: Wenn Nacho zu einem kurzen Fragment eine Tänzerin in Erde graben lässt, müssen wir die Musik natürlich verlängern. Manches steht tatsächlich erst kurz vor der Premiere fest. „Erde“ ist also keine chronologische Erzählung über das Zeitalter des Anthropozäns. Alcalde: Nein, das Stück ist auf einer sehr viel abstrakteren Ebene angesiedelt. Die Erde wird von einer Tänzerin personifiziert, aber abgesehen davon gibt es keine handelnden Figuren. Es gibt auch keine Erzählung im Sinne von „Jetzt kommen die Atombombentests“ oder „Darum geht es im Artikel 18 der Kyoto-Resolution“. Um zu zeigen, was die Menschen der Erde antun, setzt Nacho Duato ganz auf Bilder, auf die Bewegungen der Tänzer – und auf das Bühnenbild. Das Ensemble befindet sich in einer Art Plastikhülle, die Erde wird mit Staub beworfen, man rückt ihr mit allem Möglichen zu Leibe: Das ist teils düster, teils erschütternd ... Gibt es keinen Schimmer Hoffnung? Alcalde: Doch! Am Ende läutet die St. Petersglocke des Kölner Doms. Ein optimistisches Ende, ein Hoffnungsschimmer, war für uns sehr wichtig. Wir wollten keine Schuldzuweisung an die Zuschauer auf die Bühne bringen, im Sinne von: „Seht, ihr bösen Menschen, was ihr angerichtet habt!“ Man geht schließlich nicht ins Ballett, um sich ausschimpfen zu lassen. Wir sind überzeugt: Wenn der Homo Sapiens sich des Sapiens in seinem Namen bewusst wird, dann gibt es Hoffnung. Etwas anderes bleibt uns auch gar nicht übrig.

Foto: Biel Capllonch

ERSCHÜTTERTE ERDE

KOMP ONISTEN IM GESPR ÄCH

Seit über zehn Jahren komponieren Sergio Caballero und Pedro Alcalde die Musik für Nacho Duato – auch für sein jüngstes Ballett „Erde“. Das Stück thematisiert den Umgang des modernen Menschen mit unserem Planeten. Für die damit einhergehende schleichende Apokalypse haben Caballero und Alcalde nach neuen Tönen gesucht

Experimentierfreudig: Pedro Alcalde (links), Komponist und Dirigent, traf sich mit Sergio Caballero (rechts), Co-Gründer des Musikfestivals Sónar, im Parc de la Ciutadella in Barcelona zum Gespräch. In ihren gemeinsamen Kompositionen verbinden sie klassische Musik mit elektronischen Klängen und schaffen damit ungewöhnliche Klangteppiche für Nacho Duatos moderne Ballettstücke.

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1989 Du bekommst dein erstes Engagement beim Moskauer Klassischen Ballett. Einer deiner Partner ist der blutjunge Vladimir Malakhov. Würfel noch einmal.

START

START

1981 Du beginnst deine Ausbildung zur Tänzerin an der Staatlichen Ballettakademie in Perm.

1991 Deine internationale Karriere beginnt: Heinz Spoerli engagiert dich als Solotänzerin für die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg. Gehe 1 Feld nach vorn.

1995 Du beginnst deine Ausbildung an der Ballettakademie München/Heinz-BoslStiftung. Ziehe 1 Feld weiter.

1998 Hurra! Du wirst beim Ballett der Staatsoper Unter den Linden engagiert. Gehe 1 Feld nach vorn.

Du bist Nadja Saidakova

Du bist Michael Banzhaf

1978 Du wirst in Friedrichshafen am Bodensee geboren.

NADJA SAIDAKOVAS ABSCHIEDSVORSTELLUNG ONEGIN 19 05 Staatsoper im Schiller Theater

2012 Für den Auftritt in Itzik Galilis „The Open Square“ musst du ein Sprechtraining absolvieren. Setze eine Runde aus.

2014 Als Johann Sebastian Bach brillierst du in Nacho Duatos „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“. Es wird deine letzte große Rolle sein. Gehe 1 Feld vor.

2017 FINALE Nach 19 Jahren beendest du deine Tänzerlaufbahn und wirst als Berliner Kammertänzer ausgezeichnet.

1995 Du gehst als Erste Solotänzerin nach Berlin an die Staatsoper Unter den Linden. Gehe 2 Felder nach vorn.

2017 FINALE Nach 28 Jahren beendest du deine Tänzerlaufbahn. Doch du weißt: Die Zukunft beginnt jetzt.

2000 Auch in der Berliner Party-Szene kommst du gut an. Das raubt dir aber Kraft für den Tanz. Gehe 1 Feld zurück.

Ballett des LEBENS

2017 beenden die Erste Solotänzerin Nadja Saidakova und der Solotänzer Michael Banzhaf ihre Tanzkarrieren. In diesem Würfelspiel stecken ihre schönsten Erlebnisse. Spielstart ist in der Mitte links: Einfach zwischen Michael (grün) und Nadja (weiß) wählen, würfeln und den Feldern folgen. Wer zuerst das Finale erreicht, gewinnt!

2007 Glückwunsch! Du erhältst den „Daphne-Preis“ der TheaterGemeinde Berlin. Ziehe 1 Feld weiter.

2007 Das Glück ist dir weiter hold. Du tanzt die Titelpartie in Boris Eifmans „Tschaikowsky“. Gehe 2 Felder vor.

2015 Dein zweiter Sohn kommt zur Welt! Die Freude ist groß. Gehe 1 Feld vor.

2001 Dein erster Sohn kommt zur Welt. Du genießt eine Pause. Setze eine Runde aus.

1999 In Patrice Barts „Der Nussknacker“ tanzt du die Rolle der Marie. Dein Prinz ist Vladimir Malakhov.

2001 Das ging schnell: Du wirst zum Demi-Solotänzer befördert. Ziehe 1 Feld weiter.

2003 Du tanzt die Rolle der Tatjana in der Berliner Erstaufführung von John Crankos „Onegin“. Dein Lieblingsballett!

2004 Du tanzt den Siegfried in Maurice Béjarts „Ring um den Ring“. Es wird die Rolle deines Lebens. Du verkörperst sie neun Jahre lang. Würfel noch einmal.

2009 Die Berliner Festspiele beauftragen dich mit einem Werk: „Egopoint“ wird nicht nur in Berlin uraufgeführt, sondern 2013 auch vom Ballett Moskau übernommen. Gehe 1 Feld weiter.

2005 Deine Karriere geht rasant weiter. Du wirst zum Solotänzer befördert. Gehe 2 Felder weiter.

2012 Du wirst für William Forsythes „Herman Schmerman“ ausgewählt und zu vielen internationalen Gastauftritten eingeladen. Ziehe 1 Feld weiter.

2011 Du erarbeitest dir das Choreographen-Diplom der Staatlichen Akademie der Slawischen Kultur. Gehe 2 Felder nach vorn.

Fotos (in Reihenfolge der Nutzung): Michael Banzhaf: Spielfigur: Fernando Marcos, Jugend: Staatsballett Berlin, „George Balanchine“: Sandra Hastenteufel, „Schneewittchen“: Enrico Nawrath, „Ring um den Ring“: Enrico Nawrath, „Tschaikowsky“: Enrico Nawrath, „Don Juan“: Yan Revazov, „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“: Sinissey; Nadja Saidakova: Spielfigur: Fernando Marcos, Jugend: privat, „Verdiana“: Gert Weigelt, „Der Nussknacker“: Gert Weigelt, „Onegin“: Enrico Nawrath, „Shut up and dance!“: Oliver Schmidt, „Duato | Forsythe | Goecke“: Enrico Nawrath, „Ring um den Ring“: Bettina Stöß


Für diesen Auftritt hat sich sogar der Himmel fein gemacht. Azurblau wölbt er sich über den Bebelplatz. Es ist ein warmer Tag im September 2016. Aufgeregt drängen sich die Tänzerinnen und Tänzer in das Gebäude hinter der Staatsoper Unter den Linden, lachen und recken die Köpfe. Wie sieht es da drin wohl aus? Die Stellvertretende Intendantin und der Ballettinspektor sind gekommen, die Ballettmeister und die Tänzer wie auch das gesamte Team des Staatsballetts. Heute öffnen die umgestalteten Probenräume ihre Türen für einen ersten Praxistest. Nach der Generalsanierung steht die Staatsoper vor der Wiedereröffnung. Zuschauer-, Bühnenhaus und Intendanzgebäude wurden rundum erneuert. Daneben, auf einem Teil der Grundfläche des alten Magazins, entstand ein modernes Probenzentrum. Der Architekt HG Merz schuf auf knapp 8.000 Quadratmetern neue Probenstätten für Orchester, Sänger und Ballett. Bevor sich bald der Vorhang nach sieben Jahren wieder hebt, ist Zeit für einen Blick hinter die Kulissen: Wie tanzt es sich auf dem Boden? Stimmen Akustik, Klima und Licht? Was fehlt noch, wo muss nachgebessert werden? Rundgang. Sonnenstrahlen fallen in die Kantine des Intendanzgebäudes. Kronleuchter glitzern, noch schauen Kabel aus den lindgrün getünchten Wänden, die Pflastersteine sind erst halb verlegt. Der Blick durch die stattlichen Altbaufenster reicht über das Atrium, den Innenhof – umrahmt von Beton, Stahl und Glas – bis zum Probenzentrum auf der anderen Seite. „Herzlich willkommen in der neuen Staatsoper“, ruft ein Herr vom Technikteam. Gespannt machen sich die Tänzer und das Team auf, schlendern durch die langen Gänge, zu Künstlergarderoben und Probenräumen. „Wunderschön“, sagt eine junge Französin. Ihr italienischer Kollege nickt: „Ein toller Mix aus Alt und Neu.“ „Aber so anders als früher“, raunt ein Tänzer. Für Michael Banzhaf, Ensemblemitglied seit 1998, beginnt eine Reise in die Vergangenheit. In der Staatsoper hat er den Aufstieg in die große Ballettwelt geschafft, hat dieses enge, freundschaftliche Miteinander des Ensembles genossen, das so ganz anders war als das Klima in München. „In der Berliner Kantine saßen die Stars mit den Neulingen an einem Tisch, einfach wunderbar.“

So gesellte sich Tenor Plácido Domingo, Bouletten essend, an den Balletttisch, und wer besonders gut tanzte, defilierte mit seinem Premierenstrauß stolz durch die Kantine, euphorisch beklatscht von seinen Kollegen. Wen störte da schon, dass aus dem Hahn nicht immer kristallfarbenes Wasser lief oder auch mal Taubendreck den Innenhof zierte? Banzhaf lacht. „Klar, ich vermisse die alte Patina. Aber nur wer die heiligen Hallen von damals kennt, weiß zu schätzen, wie bravourös es hier gelungen ist, den Glanz des Ortes wieder sichtbar zu machen.“ Tanzzeit. Im Probenraum 1 reiben sich die Tänzerinnen die Hände. Es ist kühl, zu kühl zum Tanzen. Gerade erst wurden eilig die Temperaturen hochgefahren. In Stulpen und Pulli wärmen sich die Tänzerinnen auf. Beim Praxistest ist Improvisation gefragt. Auch, weil das Ablage-Regal mit dem Rücken zur Tanzfläche steht, so sind die Sachen der Tänzerinnen nicht schnell griffbereit. Ein erster Punkt, der nachgebessert werden könnte. Dann hebt Ballettmeister Tomas Karlborg die Stimme. „Plié, plié, tendu, tendu et renversé.“ Die Hände der Pianistin eilen über die Tasten, den Ballerinen an den Ballettstangen tritt der Schweiß auf die Stirn. Nach etwa einer Stunde klatscht Karlborg in die Hände. „Gut, Mädels, Pause.“ Der sanierte Saal überzeugt mit großen Fenstern, vielen Spiegeln und einer Milchglas-Galerie. Auf Knopfdruck öffnet sich der Blick nach unten in den Raum, damit Besucher den Tänzern zuschauen können. Gleichzeitig fällt Karlborg auf: „Der Saal ist kleiner als unsere Haupt-Probenräume in der Deutschen Oper, und es fehlen noch einige Ballettstangen. Aber er ist genau richtig für die letzten Korrektur-Proben kurz vor den Vorstellungen.“ Vor allem logistisch bringt das Probenzentrum viele Vorteile. Um Änderungen einzustudieren, die sich bei letzten Bühnenproben ergeben, muss das Ensemble nicht mehr zu den Haupt-Probenräumen unter dem Dach der Deutschen Oper nach Charlottenburg fahren, sondern nur ein Gebäude weiter gehen. Dr. Christiane Theobald ist zufrieden. Trotz einiger Kritikpunkte kommen die neuen Räume beim Team gut an. Die Stellvertretende Intendantin und Betriebsdirektorin hat den Umbau begleitet, besuchte regelmäßig die Baustelle, wies darauf hin, was das Ballett braucht. Staunte selbst, wie anders die Wege heute durchs Gebäude führen, wie strahlend die alten Hallen sind. „Früher waren sie charmant, aber auch ein wenig ranzig“, sagt Theobald. „Heute ist die Atmosphäre schöner. Alles ist hell und viel moderner.“ Dunkles Stäbchenparkett, Betonwände, bodentiefe Fenster und der lichte Innenhof zeigen, was sich verändert hat. Natürlich gibt es noch viel zu tun. Es fehlen Spinde für die Tutus und Platz in den Garderoben. Die Bahnen der Schwingböden sind noch nicht glatt genug verschweißt, Spiegel müssen nachjustiert werden. Ballettinspektor Oliver Wulff hat alle Kritikpunkte der Tänzer ausgewertet. Mit manchem werden die Tänzer leben müssen. Der Boden im Probensaal unter dem Dach ist härter als gewohnt, das Licht kommt nur von oben. Das meiste jedoch lässt sich korrigieren. Wulff zeigt sich zuversichtlich: „Bis zur Eröffnung ist schließlich noch genug Zeit“.

Fotos: Holger Talinski, Staatsoper Unter den Linden (Grundriss)

SZENENWECHSEL

VOR ORT IN NEUEN RÄUMEN

Nach aufwändigen Sanierungsarbeiten lädt die Staatsoper Unter den Linden in wenigen Monaten zur ersten Aufführung. Bereits im Sommer letzten Jahres durfte das Staatsballett Berlin die neuen Räume testen. Eine Probe mit Improvisationen

Zeit für einen Bl ick die Kulissen: W hinter ähre eines Rundgang nd September 2016 s im dete das Ensem erkunbl Staatsballett Be e vom neuen Räume in rlin die nierten Staatsop der saden Linden und er Unter entd einen spannend eckte en Mix aus Alt und Ne u.

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„Ich will Angst vor euch haben, echte Angst.“ Hofesh Shechter schaut die Tänzerinnen an, die vor ihm stehen und ihre Schultern lockern. „Bis jetzt fürchte ich mich kein bisschen. Seid aggressiv! Starke Frauen!“ Und wieder von vorn: bei jedem Takt ein Kick zur Seite, synchron die Arme wie zum Stoß durchstrecken. „Jetzt habt ihr’s“, ruft Shechter, „das war gut!“ Der israelisch-britische Choreograph ist in Berlin, um mit dem Staatsballett Berlin „The Art of Not Looking Back“ einzustudieren. Es ist ein modernes Stück und typisch für Hofesh Shechter, der zu den Stars der internationalen Tanzszene zählt: schnelle, energiegeladene Bewegungen zu kraftvollen Klängen, eine besondere Spannung in den Körpern. Elf Tänzerinnen proben seit anderthalb Wochen; im Studio Tom Schilling wird Sequenz für Sequenz geübt, immer wieder. Die Tänzerinnen erarbeiten sich sein Bewegungsmaterial, konkrete Gedankenbilder helfen dabei: „Denkt an etwas Dickflüssiges, als würdet ihr durch Honig laufen.“ Anders als beim klassischen Ballett streben die Bewegungen nicht nach außen oder oben, sondern zum Boden und zur Körpermitte. Das wirkt introvertiert, und das soll es auch. Starke Spannung hält den ganzen Körper zusammen. Als würden sie von Gummibändern gehalten, zieht es Arme und Beine immer wieder zurück – „wie Kaugummi“. Shechter zielt nicht auf Präzi-

sion bis ins letzte Fingerglied. „Es geht darum, mit den Bewegungen bei den Tänzerinnen Gefühle zu wecken“, sagt er. „Und wenn ich ihnen zusehe, will ich nachempfinden, was sie spüren.“ Introvertiertheit, der Blick nach innen, hat viel mit Shechters Geschichte zu tun und mit dem Thema des Stückes. „My mother left me when I was two ...“, diesen Satz spricht eine männliche Stimme zu Beginn aus der Dunkelheit. Es ist seine eigene Erfahrung, die Eltern trennten sich früh, die Mutter ging. „Ich kann mich nicht wirklich erinnern“, sagt er. „Aber ich glaube, mein ganzes Leben war ein einziges Bemühen, mich nicht damit auseinanderzusetzen.“ Das Nicht-Zurückschauen als Kunstform – der Titel ist durchaus sarkastisch gemeint. Als er das Stück vor acht Jahren für das Brighton Festival entwickelte, war das Thema völlig offen. Die einzige Aufgabe, die er sich bei Probenbeginn stellte: mit einer rein weiblichen Gruppe zu arbeiten, zum ersten Mal in seiner Karriere. Shechter hat selbst jahrelang getanzt, unter anderem in Ohad Naharins Batsheva Dance Company in Tel Aviv, außerdem ist er Schlagzeuger und Komponist. 2008 gründete er seine eigene Compagnie; den Vorwurf, lieber mit Männern zu arbeiten, konterte er mit eben diesem Projekt. Entwickelt hat er die Kreation zusammen mit seinen Tänzerinnen, jede hat ihre Lebenserfahrungen eingebracht. So entstand aus der Arbeit mit Frauen ein Werk über Frauen und über das Verlassenwerden. Nun eignet sich die Compagnie des Staatsballetts Berlin das Werk an. „Die Leute hier sind unheimlich vielseitig und lernbegierig“, sagt Shechter. Immer wieder macht er bei der Probe vor, was er meint. Das lautlose Auf-den-Boden-Sinken, die Kraft der kleinen Schritte. Wie eine eigene Sprache wirkt das, was der Körper erlernen soll. „Wenn ich den Tänzerinnen zuschaue, sehe ich manchmal schon, dass sie die Elastizität fühlen, die Ganzheit. Dann schießt die Energie, die ich meine, in die Körper, und alles verbindet sich.“

Foto: Yan Revazov

SPANNUNGSGELADEN

IM STUDIO MIT HOFESH SHECHTER

Introvertiert und mitreißend zugleich: Hofesh Shechter bringt sein Stück „The Art of Not Looking Back“ mit dem Staatsballett Berlin auf die Bühne

Hofesh Shechter probt mit Demi-Solotänzerin Weronika Frodyma eine Szene aus „The Art of Not Looking Back“. Seine Choreographien sind kraftvoll und exzessiv, typisch für den Star-Choreographen aus Israel.

Spannung, Elastizität, Tempo, Energie. Tänzer zum Fühlen bringen, damit das Gefühl auf den Betrachter überspringt: Für Shechter sind seine Choreographien auch ein Mittel, „den Geist auszutricksen, das ewig arbeitende Gehirn, das alles analysieren will“. Im Fluss der Bewegung lösen sich Wertungen und Kategorien auf, bis das Fühlen das Denken ausschaltet. 10 I 11


TA N Z LY R I K

IM STAATSBALLETT Springt wer mächtig auf wen an und viel Tanz dabei heraus Schmeißt elegant sich wer ran und Konkurrenz galant raus

TANZTERMINE ONEGIN Staatsoper im Schiller Theater 26 04 19 05 Im Sog der Poesie: Während Choreograph John Cranko aus Puschkins Versroman „Eugen Onegin“ ein meisterhaftes Ballettstück erschuf, verwandelt Bas Böttcher die drei Akte in zeitgenössische Sprache. Er selbst betrachtet seine Werke als sinnliche Erlebnisse – für den jungen selbstverliebten Aristokraten Onegin bedeutet das ein neuer Rhythmus. In 24 Zeilen zum Duell.

Fliegen welche aufeinander und aufeinander welche auf Wickelt wer wen um den Finger und verwickelt sich darauf

Greift ein Falscher süße Hände und den Widersacher an Spielt Bewegung erste Geige und auf wilde Wünsche an Tanzt er dann sein’ Gegner aus und bei der Liebsten zu spät an Liegen um sie andere Arme und neue Wendungen dann an

Wirft sie schön den Blick voraus und den früh’ren Schwarm voll um Wirbelt es in der Geschichte und um die ganze Bühne rum Riss blind ihn hin der tolle Rausch und der Rollentausch dann um Dreht sich Leben schritteweise weise Schritte dreht man’s um

TICKETS:

+49 (0)30 20 60 92 630 tickets@staatsballett-berlin.de

Bas Böttcher wurde 1974 in Bremen geboren und lebt seit 2000 in Berlin. Er gilt als der „Pop-Poetry-Pionier“ (NZZ) der zeitgenössischen Bühnenlyrik. Seine Werke erscheinen in Schulbüchern sowie in Sammlungen deutscher Dichtung (z.B. „Der Neue Conrady“). Im Verlag Voland & Quist veröffentlichte Böttcher die DVD „Poetry Clips“ (2005) sowie drei Gedichtbände. 2014 gab er mit dem Buch „Die Poetry-Slam-Fibel“ die bisher umfangreichste Sammlung von Poetry-Slam-Stücken heraus. Internationale Bekanntheit erlangte Böttcher durch Auftritte in der Bibliothèque nationale de France in Paris und der University of California, Berkeley.

IMPRESSUM HERAUSGEBER Staatsballett Berlin, Richard-Wagner-Straße 10, 10585 Berlin | INTENDANT Nacho Duato | ARTDIRECTION Bernardo Rivavelarde | VERLAG TEMPUS CORPORATE GmbH – Ein Unternehmen des ZEIT Verlags, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin, info@tempuscorporate.zeitverlag.de | Geschäftsführung: Jan Hawerkamp | Projektleitung: Kathleen Ziemann | Autoren: Hiltrud Bontrup, Anja Dilk, Julia Macher | Lektorat: Katrin Weiden | Layout: Jessica Sturm-Stammberger | Herstellung: Dirk Woschei DRUCK Axel Springer Offsetdruckerei Ahrensburg | REDAKTIONSSCHLUSS 29.03.2017 | Änderungen und Irrtümer vorbehalten. Foto: Marina Petrova (Bas Böttcher)


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