Staatsanzeiger für Baden-Württemberg vom 20. Oktober 2023 | 173. Jahrgang | Nr. 41

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20. Oktober 2023 | 173. Jahrgang | Nr. 41

Chatgruppen

Politik & Verwaltung

Vom AfD-Haudrauf zum Bürgerlichen Markus Frohnmaier polarisierte als Chef der „Jungen Alternative“. Als AfD-Landeschef wirkt er ruhig und seriös. Was steckt dahinter? Seite 5

Kreis & Kommune

Mehr Akzeptanz für Tourismus Die Übernachtungszahlen steigen nach Corona wieder an. Nun will das Wirtschaftsministerium die Akzeptanz für Tourismus steigern. Seite 10

Wirtschaft

Digitales Bauamt als erster Schritt Mit dem Gesetzentwurf zur Digitalisierung des Bauantrags hat die Landesregierung eine große Reform des Baurechts begonnen. Seite 14

Bildung & Wissenschaft

Antisemitismus an Schulen stoppen Nach den Terroranschlägen der Hamas und anti-israelischen Demonstrationen wird über AntisemitismusPrävention an Schulen diskutiert. Vorschläge gibt es viele. Seite 31

Beilage Der Gesamtauflage des Staatsanzeigers liegt in dieser Ausgabe die Beilage 50 Jahre Kreisreform bei.

Zitat der Woche

„Wir wollen Mietwohnungen in zentralen Lagen für alle Schichten erhalten.“ Nicole Razavi ( CDU), Woh n u n gsbau m in iste rin

Beruf & Karriere mit Stellenanzeigen

Zentralblatt

Seite 17

Seite 28

Amtliche, öffentliche und gerichtliche Bekanntmachungen

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Rechtsextremismus in der Polizei – was tun?

Auch wenn es bisher nur Einzelfälle sind: Rechtsextremistische Chatgruppen bringen die Polizei in Verruf. Jetzt soll dafür ein neuer Straftatbestand geschaffen werden, doch die beiden großen Polizeigewerkschaften lehnen dies ab.

Singelnstein argumentiert. Er forscht seit Jahren zu Themen wie Polizeigewalt und bezweifelt, dass das Problem strafrechtlich zu lösen ist. Für ihn sind die Chatgruppen nur ein Symptom. Das Problem gehe tiefer.

Von Michael Schwarz

Rechtsextremistische Einstellungen könnten sich im Dienst herausbilden, etwa, wenn ganze Dienstgruppen ihrem Vorgesetzten folgten. Außerdem ziehe die Polizei aufgrund ihrer Gewaltbefugnisse Menschen an, die in Kategorien wie Macht und Hierarchie dächten. Darunter seien auch Rechtsextremisten. Singelnstein rät der Polizei, bei der Rekrutierung, spätestens jedoch vor der Ernennung auf Lebenszeit, genau darauf zu achten, mit wem man es zu tun habe. Außerdem hält er die Erforschung der Ursachen für wichtig und bedauert, dass sich das Land nicht an einer bundesweiten Studie beteiligt habe, die unter anderem ergab, dass zehn Prozent der Polizisten mit Muslimen und 17 Prozent mit Sinti und Roma Schwierigkeiten haben. Innenminister Thomas Strobl (CDU) hatte sich für eine Teilnahme ausgesprochen, der Hauptpersonalrat war jedoch dagegen. Dessen Chef Ralf Kusterer hatte „rechtliche Bedenken“ geltend gemacht. Kusterer, der auch der Deutschen Polizeigewerkschaft vorsteht, ist auch gegen den neuen Paragrafen. Seiner Ansicht nach werden wirkliche Extremisten davon kaum abgeschreckt. Von den Mitgliedern der nun entdeckten Chatgruppen wiederum sei keine Gefahr ausgegangen. Die Chats hätten keine bleibenden Stimmungen erzeugt. Ihr Handeln habe sich weiterhin an Recht und Gesetz orientiert. Gundram Lottmann, Chef der Gewerkschaft der Polizei, sieht das ähnlich. Er verweist auf das Disziplinarrecht, das „ausreichend hohe Strafen für die wenigen schwarzen Schafe innerhalb der Polizei“ vorsehe. Kommentar auf Seite 2.

Kriminologe bedauert, dass Land nicht an Bundesstudie teilnimmt

STUTTGART. Der „Itiotentreff“ machte seinem Namen alle Ehre. Das ist der erste Eindruck, den man gewinnt, wenn man durch die Inhalte der gleichnamigen internen Chatgruppe der Frankfurter Polizei scrollt, die jetzt von Jan Böhmermann veröffentlicht wurden. In der WhatsappGruppe, die 2015 gegründet und 2018 im Rahmen der NSU-Fahndung entdeckt wurde, wurden rassistische, antisemitische und menschenverachtende Inhalte, darunter Hitler-Bilder in allen Variationen, geteilt.

Nordrhein-Westfalen will Gesetzeslücke schließen Dennoch ließ das zuständige Landgericht Anfang des Jahres keine Anklage gegen die sechs mutmaßlichen Mitglieder der Chatgruppe zu. Die Richter argumentierten mit dem Recht auf Meinungsfreiheit. Und damit, dass die Inhalte nicht öffentlich verbreitet worden seien und deshalb beispielsweise nicht als Volksverhetzung verfolgt werden könnten. Dieses Argument könnte in Zukunft hinfällig sein. Denn Nordrhein-Westfalen bringt an diesem Freitag eine Gesetzesinitiative in den Bundesrat ein, die den Austausch extremistischen Gedankenguts auch dann unter Strafe stellen soll, wenn dieses nur privat geteilt wird. Voraussetzung: Es besteht ein Bezug zu Dienstgeschäften, etwa weil die Chatgruppe ursprünglich zum kollegialen Austausch gegründet wurde. Denn dann handele es sich um „mehr als eine bloße Meinungsäußerung unter Kolleginnen und Kolle-

Innenminister Thomas Strobl hatte sich für die Teilnahme der Landespolizei an einer bundesweiten Studie ausgesprochen, die Motivation, Einstellung und Gewalt im Polizeialltag untersuchen sollte. Der Hauptpersonalrat legte jedoch sein Veto ein. FOTO: DPA/MARIJAN MURAT gen“, wie es in der Gesetzesbegrün- Polizei zähle über 34 000 Beschäftig- schmid (AfD) den neuen Paragrafen dung heißt. So würden Stimmungen te. Polizisten müssten sich jederzeit ab. Weinmann sieht das Problem von erzeugt und „zu einer nicht mehr an aktiv für die freiheitliche demokrati- Echokammern, in denen sich GleichGrundordnung einsetzen. gesinnte radikalisieren. Trotzdem seiRecht und Gesetz, sondern an sol- sche chen Ideologien orientierten Dienst- Gleichwohl hält das Ministerium den en die Regeln ausreichend. Lindenausübung animiert“. Vorschlag von NRW für richtig. Er schmid warnt vor „GesinnungsÄhnliche Fälle schnüffelei“. gibt es auch in BaGrünen-In„Verfassungsfeindliches Verhalten [stellt] den-Württemnenexperte Hilinnerhalb der Polizei Baden-Württemberg berg. Am 11. Mai denbrand hat zuwaren laut Innendem „Vorschläge mit über 34 000 Beschäftigten kein ministerium 61 für die weitere strukturelles Problem [dar].“ DisziplinarverfahStärkung einer Wilfried Klenk (CDU), ren gegen Poliziswertegeleiteten ehemaliger Innenstaatssekretär, in seiner Antwort auf eine Landtagsanfrage der FDP ten anhängig, die Polizeikultur“ erMitglieder von arbeitet, darunter solchen Chatdie Möglichkeit gruppen waren. Dies ergab eine schließe eine Gesetzeslücke. der „tätigen Reue“: Wer offenlegt, Ähnlich argumentieren Oliver dass er sich eines Dienstvergehens Landtagsanfrage der AfD. Das Ministerium sieht darin, wie Hildenbrand (Grüne), Christian Geh- schuldig gemacht hat, soll mit Milde es 2022 in seiner Antwort auf eine ring (CDU) und Boris Weirauch rechnen können. FDP-Landtagsanfrage ausführte, (SPD). Dagegen lehnen Nico WeinDas geht in die Richtung, in die „kein strukturelles Problem“. Die mann (FDP) und Daniel Linden- der Frankfurter Kriminologe Tobias

Lucha kämpft für Frühchen-Kliniken

Grafik der Woche

Minister will Ausnahmegenehmigungen erteilen STUTTGART. Drei von der Schließung bedrohte Stationen zur Versorgung sehr kleiner Frühgeborener sollen nach dem Willen von Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) auch weiter behandeln dürfen. „Ich möchte, dass alle Kliniken weiter versorgen können. Dazu werden wir all unsere Handlungsspielräume ausschöpfen. Für eine vorläufige Ausnahmegenehmigung müssen die Kliniken bei meinem Haus allerdings einen Antrag stellen, den wir schnellstmöglich bearbeiten werden“, sagte Lucha in Stuttgart. Es geht es um die Stationen in Schwäbisch Hall, Ravensburg und Reutlingen. Hintergrund ist eine Änderung der Mindestmengenregelung, die der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Kliniken und Krankenkassen

(G-BA) beschlossen hatte. Demnach müssen Kinderkliniken ab 2024 pro Jahr mindestens 25 Frühgeborene unter 1250 Gramm Geburtsgewicht behandeln, um auch weiter die Versorgung der kleinen Frühgeborenen von den Krankenkassen bezahlt zu bekommen. Bislang lag die Mindestzahl bei 14 Frühgeborenen pro Jahr, in diesem Jahr gilt eine Übergangsregelung von 20. Das Land plant neben der Ausnahmegenehmigung für die drei betroffenen Kliniken auch eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Dazu sei man auch mit anderen Ländern im Gespräch. „Wir wollen das Vorgehen des G-BA grundsätzlich überprüft haben, weil wir dieses Wirken für nicht statthaft halten“, sagte Lucha. (lsw)

FOTO: DPA-INFOGRAFIK GMBH


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