Johannes im DIALOG - Ausgabe 29

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Aus den Einrichtungen

Ohne Grenzen und Angebote

Das

Scheitern

der

Familienkultur

Eltern müssen ihren Kindern soziale Kompetenzen vermitteln, damit sie im Erwachsenenalter in der Lage sind, in der Gesellschaft einen Platz zu finden. Sie haben Vorbildfunktion, die Kinder suchen bei ihnen Orientierung. Doch Erzieherinnen und Erzieher berichten mit Sorge, dass Eltern heutzutage immer öfter selbst gar nicht mehr über die sozialen Kompetenzen verfügen, die sie weitergeben sollen. „Wir beobachten ganz häufig, dass Kinder, die zu uns in die Jugendhilfe kommen, keinerlei Regeln oder Grenzen kennen. Feste Tagesabläufe sind in ihren Herkunftsfamilien unbekannt“, erklärt Andrea Dudek, die in der Aufnahme- und Diagnose-Gruppe der Erziehungseinrichtung in Niederhofen beschäftigt ist. Kinder benötigen aber erkennbare Strukturen, um sich in ihrem Alltag zu recht zu finden und Verhaltensstrategien zu erlernen, die für ein normales Leben unverzichtbar sind. „Die Eltern dieser Kinder sind so sehr mit sich beschäftigt, dass sie die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht wahrnehmen“, erklärt die Erzieherin Rita Kramer. „Wenn wir in die Biografie der Eltern schauen, sehen wir, dass es ihnen mit ihren eigenen Eltern nicht anders ergangen ist. Deshalb sind sie gar nicht in der Lage, die Bedürfnisse nach Zuwendung und Sicherheit, nach regelmäßiger Ernährung und ausreichend Schlaf, nach gemeinsamen Ritualen zu verstehen.“

riele Hoffmann von der Leitung der Jugendhilfe. Oft kämen sie beispielsweise selbst aus Verhältnissen mit wechselnden Vätern, in denen es immer wieder Brüche zu Bezugspersonen gab. Großeltern, die früher die Kindererziehung unterstützt haben, stehen heute nicht mehr zur Verfügung. Sicherungssysteme, die in der Vergangenheit bestanden haben, brechen Zug um Zug weg. „Hinzu kommt, dass die Familien durch Arbeitslosigkeit, finanzielle Nöte und psychische Erkrankungen heute viel stärkeren Belastungen ausgesetzt sind als früher“, so Hoffmann.

Eltern zeigen sich darüber hinaus zunehmend nicht in der Lage, notwendige Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen, ergänzt die Sozialpädagogin Erika Meier, die sich in der Offenen Ganztagsschule tagtäglich mit diesen Problemen konfrontiert sieht. Kinder können nicht wissen, was gut für sie ist und wie viel sie bewältigen können. Aber Mütter seien oft hoffnungslos überfordert, hier klare Vorgaben zu Viele Eltern tragen aufgrund solcher machen, berichtet sie. Gabriele Hoffeigenen Erfahrung eine Lebensverun- mann glaubt, dass viele Mütter aus sicherung in sich, bestätigt auch Gab- Verunsicherung Angst haben, ihren

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Kinder unrecht zu tun, wenn sie Strenge und Konsequenz walten lassen: „Deshalb scheuen sie davor zurück, den Kinder Klarheit, Orientierung und Grenzen zu bieten.“ Mit Grenzen und Verboten allein, darin sind sich die Erzieherinnen einig, ist es jedoch auch nicht getan. „Was Kinder wirklich brauchen, sind sinnliche Erfahrungen im Umgang mit ihrer Umgebung und in sozialen Beziehungen“, so Hoffmann. „Stattdessen erhalten sie mit neuen Medien und Spielkonsolen Angebote, die ihrem natürlichen Drang nach Bewegung und Empfinden nicht gerecht werden.“ Vorbild sein, so Rita Kramer, bedeute nicht nur zu sagen, was nicht erlaubt ist, sondern auch sich beispielgebend zu engagieren. Konkret heiße dies zum Beispiel, lieber ab und zu gemeinsam Mensch-ärger-dich-nicht zu spielen, als ständig allein am Computer zu sitzen. Oder beim zu Bett gehen lieber eine Gute-Nacht-Geschichte zu hören als eine voll animierte mp3-Berieselung. In der Erziehung gehe es eben um Beziehungen und nicht um Beschäftigung.

Jugendhilfe St. Elisabeth


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