Wie begegnen wir der Entwicklung von Dopingmentalität? Der Ansatz der Deutschen Sportjugend zur Dopingprävention
Vorwort Die Deutsche Sportjugend (dsj) entwickelt unter aktiver Mitbestimmung junger Menschen Rahmenbedingungen im Kinder- und Jugendsport und leistet damit aktiv Jugendhilfe. Die dsj ist der größte Jugendverband in Deutschland und führt das jugendpolitische Mandat des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB). Eines unserer Ziele ist es, die Lebenskompetenz von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Vor diesem Hintergrund setzen wir uns auch ein, Gesundheitsförderung, Suchtprävention und Dopingprävention in einer langfristigen Perspektive auf eine gemeinsame Grundlage zu stellen. Zusammen mit dem DOSB und dem Zentrum für Dopingprävention der Pädagogischen Hochschule Heidelberg haben wir seit 2004 ein umfassendes Präventionskonzept für den Kinder- und Jugendsport entwickelt, welches wir ständig fortschreiben.
Jan Holze Deutsche Sportjugend 1. Vorsitzender
Darin enthalten sind unter anderem das vom Bundesministerium des Innern (BMI) geförderte Projekt „Sport ohne Doping“ als Bestandteil des Nationalen Dopingpräventionsplans, die Ausbildung von Juniorbotschafter/innen für Dopingprävention, die Arbeitsmedienmappe sowie weitere Publikationen in diesem Themenfeld. Ich danke unserem langjährigen Partner und Mentor, dem Sportpädagogen Prof. Dr. Gerhard Treutlein vom Zentrum für Dopingprävention, für sein herausragendes Engagement und das Verfassen dieser dsj-Publikation. Mit vielen Grüßen
Jan Holze
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1. Einleitung Leistungssport kann die Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen positiv beeinflussen. Dieses Potenzial kommt jedoch nur so lange zum Tragen, wie Maßnahmen gegen Negativentwicklungen des Leistungssports – wie Betrug und Doping – überzeugend eingesetzt werden. Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass die vielbeschworenen Selbstheilungskräfte des Leistungssports nur unzureichend funktionieren. Fast immer erfolgt im Dilemma zwischen Wertorientierung und Zweckrationalität (mit ihrer bedingungslosen Orientierung an der Sieg-Niederlage-Logik) eine Entscheidung für den Zweck, der die Mittel heiligt. Die Dopinggeschichte zeigt, dass das Erreichen von Normen und Medaillen als Ziel stets höher im Kurs stand als der manipulationsfreie Leistungssport. So liegt die folgende Schlussfolgerung nahe: Perfektionierungsdrang und Optimierungswahn scheinen in unserer Gesellschaft normal zu sein, zumindest für einen Teil der Bevölkerung und der Sporttreibenden.
Was davon war verboten? Dopingmentalität ist kein Phänomen, das es erst in jüngster Zeit gibt, das verdeutlichen zwei historische Beispiele, wie Leichtathleten ihren Eiweißbedarf decken wollten: Werfer aus der Region Mannheim/Heidelberg würgten sich in den Jahren um 1970 an jedem Abend zur vermeintlich notwendigen Deckung ihres Eiweißbedarfs drei bis vier Steaks hinein, ein Zehnkämpfer im Württembergischen aß pro Tag 30 gekochte Eier – er starb mit 31 Jahren am Herzinfarkt (Hoberman 1994). Sport ohne Doping ist ebenso wenig wahrscheinlich wie eine Gesellschaft ohne Kriminelle – zum Schutz der Jugend ist aber Resignieren keine Lösung.
Im Zentrum einer sinnvollen Dopingprävention muss diese Erkenntnis stehen: Die Entwicklung der Dopingmentalität ist das größte Risiko für sauberen Sport und die Gesundheit von Sportlerinnen und Sportlern. Dopingmentalität ist die Bereitschaft oder der verspürte Zwang, für die Steigerung der Leistungsfähigkeit mehr zu tun als die natürlichen Möglichkeiten hergeben – unabhängig davon, ob sie verboten sind oder nicht. Einige Beispiele verdeutlichen die Komplexität der Problematik: • Eltern als Vorbild: „Nimm‘ diese Vitaminpille, damit du gesund und fit in der Klassenarbeit bleibst!“ • Beeinflussung durch Peers: „Dein erster Skilanglauf? Du musst unbedingt vorher Dextro-Energen nehmen.“ • Gruppendruck: „Du bist neu bei uns. Mach‘ einfach alles so, wie wir es machen!“ • Werbung: „Kreatin? Nehmen doch alle! Schau dir die Werbung an: ‚Eine erlaubte und wirksame Alternative zu anabolen Steroiden!‘“ • Verführung durch Insider/innen und Dealer/ innen: „Mit Wachstumshormon geht doch alles viel besser und schneller!“
Prof. Dr. Gerhard Treutlein (rechts) empfängt den DOSB-Ethikpreis von Gudrun Doll-Depper (Vizepräsidentin des DOSB) und Prof. Dr. Wolfgang Knörzer (PH Heidelberg)
Gerade darum müssen wir aktiv sein und bleiben – das Verhindern oder zumindest Bremsen der Entwicklung von Dopingmentalität sollte im Mittelpunkt der dsj-Dopingprävention stehen! Leitbild des Kampfs gegen Medikamentenmissbrauch und Doping ist der Sisyphos von Camus, der einen Stein immer wieder einen Abhang hinaufrollt, wohl wissend, dass er nie ganz oben bleiben wird – das heißt, es ist ein Kampf ohne Aussicht auf einen endgültigen Erfolg.
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2. Dopingdefinitionen Was in den zuvor genannten Beispielen ist Doping? Wo genau verläuft die Grenze zwischen Doping und Nicht-Doping überhaupt? Hält man sich an die Welt-Anti-Dopingagentur (WADA) und die Nationale Anti Doping Agentur (NADA), dann ist die Abgrenzung einfach: Hier wird unter Doping die Einnahme von auf der Verbotsliste stehenden Substanzen und die Verwendung von verbotenen Methoden verstanden (enge Dopingdefinition)1. Wird davon etwas nachgewiesen, liegt ein Regelverstoß vor, der sportrechtlich verfolgt wird (neuerdings auch strafrechtlich).2 Die ersten Dopingverbotsregeln wurden im ProfiRad- und -Boxsport entwickelt. Schon 1927 wurde beim deutschen Sportmedizinerkongress diskutiert, ob nicht für den Profisport eine Arbeitsethik gelten solle, nach der zu den Aufgaben der Sportmediziner die Unterstützung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit von Profisportlern gehört, ungebremst durch Verbotsregeln. Doping ist kein Kinderspiel, sondern ein Verstoß gegen die in den Organisationen des Sports vereinbarten Regeln für Training und Wettkämpfe, die alle Sportlerinnen und Sportler mit Eintritt in die SportGemeinschaft (beispielsweise durch ihren Vereinsbeitritt) anerkennen. Doping im Sport ist sowohl Selbstbetrug als auch Betrug und zerstört die Vorbildfunktion des Sports und damit den Sport an sich. Hinzu kommt: Doping bedeutet zugleich eine Veruntreuung von Steuergeldern, denn Sportorganisationen und Wettkämpfe werden mit öffentlichen
Geldern gefördert, immer verbunden mit der Zielsetzung des sauberen Sports. Für das Ziel eines sauberen Leistungssports, auf der Basis einer sinnvollen Lebensführung, kann die alleinige Konzentration auf die enge Dopingdefinition nicht zielführend sein. Nach ihr bräuchte man sich um die Entwicklung von Dopingmentalität nicht zu kümmern, Dopingprävention könnte sich auf Informationen zum Ablauf von Kontrollen sowie zu Dopingregeln und Strafen bei Verstößen gegen sie beschränken, im Extremfall erst bei C-, B- und A-Kader-Athletinnen und -Athleten. Jedes Doping hat eine Vorgeschichte, die häufig mit der Gewöhnung an Pilleneinnahme im Kindesalter beginnt. (Sport-)Mediziner/innen haben eine besondere Verantwortung: Junge Sportlerinnen und Sportler wenden sich bei Problemen meist an einen Arzt oder eine Ärztin. Diese können – bremsend oder fördernd – die Entwicklung hin zum Missbrauch von erlaubten und verbotenen Mitteln beeinflussen, nur sie haben das Recht zur Intervention am Körper. Über die Verordnung von Präparaten wie Eisen oder Kreatin kann die Dopingmentalität so gefördert werden, dass der Übergang zu verbotenen Mitteln wie Anabole Steroide, Erythropoetin (EPO) oder Wachstumshormon (HGH) relativ leichtfällt.3 Sicher ist auf jeden Fall: Je später mit moderner Dopingprävention angefangen wird, je älter die Sportlerinnen und Sportler sind, je höher das Leistungsniveau, desto schwieriger wird die Aufgabe.
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Dieser Meinung ist auch der Kölner Sportmediziner Hollmann: „Dann ist schon Zähneputzen Doping, weil ich damit die Leistungsfähigkeit meines Gebisses steigere. Das ist alles eine Frage der Definition. Für mich ist Doping das, was durch Gesetze verboten ist. Alles andere hat mit Doping nichts zu tun.“ (Spiegel Online, 9.8.2013).
2 Erst im 20. Jahrhundert entwickelte sich die Bereitschaft, Doping zu verbieten. Leistungsbeeinflussungsversuche mit Hilfe von Substanzen (Stierhoden, Fliegenpilze, Mohn, Opium, Matetee, Kokablätter) gab es schon seit Jahrtausenden, mit zum Teil tödlichen Folgen (z.B. der Engländer Linton beim Radrennen Paris–Bordeaux 1886). Die Zunahme von nationalen und dann internationalen Wettkämpfen im 19. und 20. Jahrhundert erhöhte die Relevanz von Themen wie Chancengleichheit und Gesundheit der Athlet/innen, die mit Hilfe von Regeln geschützt werden sollten. 3 In einer Fernsehdiskussion des Süddeutschen Rundfunks Freiburg am 15.1.1992 im Institut für Sportwissenschaft der Universität Freiburg sah der führende deutsche Sportmediziner und leitende Olympiaarzt Prof. Dr. Joseph Keul als eine wesentliche Aufgabe des Sportmediziners, sich an der Leistungssteigerung zu beteiligen. Die Arbeitsethik ist genauer geregelt als die Sportethik, sie soll für Berufssportler/innen gelten. (Lexikon der Ethik im Sport , BISp Bd. Nr. 99, Hrsg. Ommo Grupe und Dietmar Mieth). Das Hauptproblem im organisierten Sport entstand durch die Aufgabe der Trennung zwischen Berufs- und Amateursportler/innen durch das IOC 1981. Für Berufssportler/innen dürften im Rahmen der Gesetze alle Mittel zur Steigerung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit eingesetzt werden, für Amateure nicht.
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Mit der engen Doping-Definition wird nicht erfasst, was sich vor einem Regelverstoß gegebenenfalls schon im Kindesalter entwickelt. Moderne komplexe Doping-Präventionsansätze gehen deshalb von einem weiten Doping-Begriff aus: Er berücksichtigt latente Einflüsterungen und Versuchungen, mehr zu machen, als Körper und Training, verbunden mit gesunder Ernährung und Erholung, normalerweise hergeben. Das heißt, die weite Definition umfasst neben den verbotenen Mitteln auch erlaubte, noch nicht verbotene, nicht auf der Verbotsliste stehende Mittel sowie für den Missbrauch relevanten Faktoren. Dopingprävention auf der Basis eines weiten Begriffs von Doping rückt folgende Frage in das Zentrum der Aufmerksamkeit: Welche Entwicklungen führen dazu, dass junge Menschen zu Mitteln greifen, die potenziell das Risiko massiver Nebenwirkungen mit sich bringen? Dass Doping (und dopingfreundliches Verhalten) ein Problem ist, das schon bei Jugendlichen einsetzen kann, zeigten verschiedene internationale Studien bereits in den 1980er Jahren (Treutlein 1991). Es ist auch nicht nur ein Problem des Sports (siehe dazu die Selbst-Optimierungs-Debatte zum Menschen als Mängelwesen, bei dem Leistungsmaximierung notwendig ist). Seit Urzeiten versuchen Menschen, die natürliche Leistungsfähigkeit mit Hilfe von Substanzen zu erhöhen und damit durch die Natur gegebene Grenzen des menschlichen Körpers zu überschreiten.
Dies war besonders wichtig beim Kampf ums Überleben und um Nahrungssicherung, bei Wettkämpfen und in Kriegszeiten. „Seit es den Menschen nach göttlichen oder magischen Kräften verlangt, zählt die Einnahme von Substanzen zu den Methoden, mit denen er versucht, seine physischen, mentalen und sogar sozialen Leistungen zu verbessern oder zu erhalten“(Laure 2011, 275). Im Verlauf der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte hat sich die Zahl der für Leistungssteigerung zur Verfügung stehenden Substanzen und Methoden vervielfacht. Mit ihnen sollen zum Beispiel Kinder lernfähiger gemacht werden oder sie sollen Erwachsenen ermöglichen, lange ohne Müdigkeit wach, konzentriert und arbeitsfähig zu bleiben. Menschen versuchen so, vermeintliche Defizite auszugleichen oder sich über natürliche Leistungsgrenzen hinaus steigern zu können – besonders deutlich sichtbar wird dies im Spitzensport. Parallel zu solchen Entwicklungen schreitet auf der Grundlage einer schon fast paranoiden Gesundheitsorientierung in der Gesellschaft die Produktion von Nahrungsergänzungsmitteln und Vitaminen sowie der Konsum von Pillen voran: Mit ihnen müssen Gesundheit und Aussehen um schon fast jeden Preis stabilisiert und weiterentwickelt werden. Dies führt zu einer schleichenden und manchmal rapiden Pillengewöhnung.
Sport als Beruf Normale Welt
Karriereende Außergewöhnliche Welt
Entwicklung von Dopingverhalten
Normale Welt
Einstieg in die Dopinggemeinschaft
Professionelles Dopingverhalten
Produkte, um den Job zu tun
Produkte, um zu siegen
Eisen, Kreatin
Kortison, Anabolika
Epo, Wachtumshormon
Amphetamine, psychoaktive Substanzen
Phase I
Phase II
Phase III
Phase VI
Phase V
Medizinische Betreuung
Allgemeinmediziner
Sportmediziner
Leistungsphysiologe
Biotechnologe
Suchtspezialist
Physische Belastung
gering
erhöht
hoch
sehr hoch
Sportliche Karriere
Entdeckung der Sportart
Leistungsentwicklung
Sport ist zum Beruf geworden
Kampf um den Sieg
Wieder ein normaler Mensch werden
Phase I
Phase II
Phase III
Phase VI
Phase V
Entwicklungsphasen Dopingmentalität und Dopingverhalten
Beginn möglicher Dopingneigung
Entdeckung legaler, leistungsfördernder Stoffe
Mit dem Umbruch zurechtkommen
Einen auf den Leistungssport von Jugendlichen und Erwachsenen bezogenen Ausschnitt aus der Entwicklung der Dopingproblematik stellt der französische Sportsoziologe Christophe Brissonneau auf der Grundlage seiner Befragungen von Radprofis dar: eigene Ausarbeitung auf der Grundlage eines Vortrags von Christophe Brissonneau (Brissonneau 2007/2008).
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Seit einigen Jahrzehnten wurde versucht, im Leistungssport Missbrauchstendenzen mit Appellen sowie durch Regeln und Verbote zumindest zu bremsen. Das war aber wenig erfolgreich. Die Suche nach noch nicht verbotenen und/oder nicht nachweisbaren Substanzen ging und geht weiter. Aus der Suche von Medizinforschung und Pharmaindustrie nach neuen, für die Heilung von Kranken hilfreichen Substanzen und Medikamenten wird eine Steilvorlage für Gesunde, die Optimierung und Leistungssteigerung suchen. Auf der anderen Seite dauert die Entwicklung von Nachweismethoden für verbotene Substanzen und Methoden fast immer mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte, das heißt, Sportler/innen mit Dopingmentalität haben fast immer einen Vorsprung. Was sollten wir daraus lernen? Eine rasche und umfangreiche Entwicklung von Prävention und ihr möglichst flächendeckender Einsatz sind dringend geboten. Dopingprävention im notwendigen Umfang ist bis heute nicht in Sicht. Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert, einem Jahrhundert der rasend schnellen Entwicklung der Dopingmöglichkeiten, müsste das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der
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Dopingprävention werden, mit folgenden Schwerpunkten: • Problembewusstsein entwickeln, • Wissensgrundlagen zu Wirkungen und Nebenwirkungen vermitteln, • zur Reflexion von unterschiedlichen Positionen zur Verwendung von Drogen, Nahrungsergänzungs- und Schmerzmitteln anregen, • konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzeigen und • den selbstbestimmten Umgang mit der Problematik anstreben. Gegen den Drang nach Überschreiten der natürlichen Grenzen gibt es keine Pille, sondern nur die Fähigkeit des Menschen, auf der Basis von Wissenund Reflexion sinnvoll und ethisch zu handeln.
3. Dopingmentalität 3.1 Die Wurzeln und die Grundlagen Der Einsatz von leistungssteigernden Mitteln ist nur im Leistungssport in größerem Umfang reglementiert. Dass es sich um ein problematisches Verhalten handelt, ist Handelnden im Alltag kaum bewusst. Der Begriff „Dopingmentalität“ muss daher die Grundlage für ein umfassenderes Verständnis und eine weitergehende Konzeption von Dopingprävention bilden. Schon der Leistungsgedanke an sich ist potenziell toxisch: Die Jugendlichen geraten mit steigendem Leistungsniveau und wachsender Bedeutung des sportlichen Erfolgs in ein Dilemma zwischen Werteorientierung und Zweckrationalität. Dazu kommt die häufige Verschiebung der Verantwortung für eigenes Handeln an Schieds- und Wettkampfrichter/ innen, sie verlagert sich von der Eigen- zur Fremdverantwortung. Dopingmentalität wurzelt vor allem in zwei Prozessen: in der Entwicklung der Gesellschaft und in der Entwicklung des Leistungssports. Entwicklung der Gesellschaft: Die Bereitschaft, schon bei kleinsten Schwierigkeiten und Hindernissen zu Pillen zu greifen und im Zweifelsfall auch Spritzen in Kauf zu nehmen, hat parallel zum wachsenden Angebot an Mitteln in den vergangenen Jahrzenten deutlich zugenommen: Aufputschmittel, Anti-Aging-Produkte, Antidepressiva, Beruhigungsmittel, Drogen, Erektionshilfen, Haarwuchsmittel, Schlafmittel, Schlankheitspillen und Schmerzmittel werden beinahe bedenkenlos eingenommen, um nur einige der Präparate zu nennen, die unmittelbare Hilfe bei der Beseitigung unerwünschter Körperzustände oder nicht erfüllter Bedürfnisse versprechen (Müller 2015, 159). Neben dem größer werdenden Angebot an Mitteln spielen zunehmende Leistungsorientierung und Leistungsdruck in unserer Gesellschaft eine große Rolle.
Leider zu oft wird nur der fitte, gutaussehende, jederzeit leistungsbereite und belastbare Mensch als wertvoller Mensch angesehen. Für den steigenden Drogenkonsum moderner Gesellschaften sind drei Drogenklassen wichtig, die sowohl im Alltag als auch im Sport eine Rolle spielen: • Drogen zum Herstellen von „Normalverhalten“: Mit ihnen wird versucht, Anpassungsfähigkeit und auch reibungsloses Funktionieren in der Gesellschaft herzustellen (zum Beispiel Ritalin). • Drogen zur Steigerung der Leistungsfähigkeit: Leistungsdrogen werden in der Gesellschaft insgesamt positiv beurteilt, ohne Berücksichtigung der möglichen Nebenwirkungen. Dies bringt erhebliche Probleme für den Leistungssport mit sich beim Versuch, mit Hilfe von Dopingregeln leistungsfördernde Drogen vom organisierten Sport fernzuhalten. • Genussdrogen: Hier ist die Einstellung der Gesellschaft besonders zwiespältig. Während Nikotin und Alkohol für Erwachsene erlaubt sind, werden andere Genussdrogen wie Kokain oder Cannabis geächtet (Hautefeuille, 2009). Besonders gefährlich wird die Entwicklung dadurch, dass es sich nicht mehr „nur“ wie in früheren Zeiten um natürliche Substanzen handelt, sondern dass mit der Entwicklung der modernen Chemie immer neue Substanzen in jeder Menge hergestellt und verfügbar gemacht werden können. Das Entstehen eines „homo syntheticus“ (Hautefeuille 2009, 11) schreitet voran.
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Die große Palette der zur Verfügung stehenden Substanzen wird zum beschleunigten Herstellen gewünschter Zustände verwendet. Einige Beispiele für dahingehende „Abkürzungsversuche“:
All dies sind Beispiele dafür, wie Medikamentenentwicklung und Medizin jenseits von ihrer primären Zielsetzung in den gesellschaftlichen Alltag eingedrungen sind. Das Ziel ist überall das gleiche: Mehr scheinen als sein.
• Junge/Mann: Waschbrettbauch Anabolika • Mädchen/Frau: Brustgröße ästhetische Chirurgie • Orchestermusiker/innen: Nervosität vor Aufführung Betablocker • Manager/innen: Handeln unter Zeitdruck Ritalin, Captagon • Studierende: Erfolgsdruck in Examenszeiten Stimulanzien (Captagon durch Medizinstudent/ innen schon in den 1960er Jahren) • Spitzensportler/innen: vor wichtigem Wettkampf Cocktail aus Substanzen aus der Verbotsliste
Entwicklung des Leistungssports: Der Leistungssport hat sich sowohl hinsichtlich der Zahl der Spitzensportlerinnen und Spitzensportler als auch der ihn fördernden Länder und Firmen enorm entwickelt. Parallel dazu haben sich auch – trotz aller Gegenmaßnahmen – Betrug und Doping verbreitet. Schwierig ist es, Zahlen zum Umfang zu benennen. Es handelt sich zum einen um Bereiche großer Heimlichkeit, wir sehen nur die Spitze des Eisbergs. Sicher ist lediglich, dass die Zahl derjenigen, die zu Dopingmitteln greifen und nach nicht nachweisbaren Mitteln suchen, weit größer ist, als es die Ergebnisse von Dopingkontrollen und -analysen nahelegen (Pitsch, W., Emrich, E., Klein, M. 2005, 2007; Striegel, H./Ulrich, R./Simon 2010; für den Alltagsbereich Hautefeuille 2009). Von einer Freizeitbeschäftigung englischer Gentlemen und dem Beruf weniger Profis ist der Sport durch weltweite Verbreitung, Kommerzialisierung und Mediatisierung zu einem Riesengeschäft geworden, das teilweise enormen finanziellen Profit und ungeahnte soziale Aufstiegschancen bietet. Angesichts solcher Verlockungen erfordert es von Sportler/innen charakterliche Stärke, in Versuchungssituationen nein sagen zu können. Diese Stärke zu entwickeln ist eine wesentliche Aufgabe für eine Sportorganisation wie die dsj, die sich für Kinder und Jugendliche sowohl innerhalb wie außerhalb der Sportstrukturen zuständig und verantwortlich sieht. Eine Reduktion auf den sportlichen Kontext greift jedenfalls zu kurz (Müller 2015, 173). Dopingmentalität wird gelernt. Sie hat eine negative Selbstwirksamkeitserwartung als Grundlage – nämlich den fehlenden Glauben, dass die eigenen Möglichkeiten ausreichen könnten, gesteckte Ziele zu erreichen und/oder Hindernisse zu überwinden. Bei Vorliegen von Dopingmentalität fehlt ein wichtiger Schutzfaktor gegen die Dopingversuchung (Singler 2011, S. 38). Ein früher Indikator für das Vorliegen von Dopingmentalität ist die häufige Einnahme von Nahrungsergänzungs- und Schmerzmitteln ohne Vorliegen eines ärztlich festgestellten Defizits. Die Bereitschaft, die eigene Leistungsfähigkeit über die natürlich gegebenen Möglichkeiten hinaus zu steigern, ist nicht angeboren. Pillengläubigkeit wird von klein auf entwickelt und mögliche negative Wirkungen durch Einnahmen werden nur selten vermittelt.
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Ziele von Dopingprävention müssen daher sein: • Die Entwicklung von Dopingmentalität verhindern. • Durch Reflexion und Entwickeln von Entscheidungsfähigkeit die Widerstandsfähigkeit gegen Betrug erhöhen. • Sporttreibende Kinder und Jugendliche für gesunde Lebensführung, Ernährung und gegen eine unkontrollierte Einnahme von Arznei- und Nahrungsergänzungsmitteln sensibilisieren (aber: Kinder folgen dem Beispiel ihrer Eltern, nicht ihrem Rat). • Das Umfeld von Sportarten, in denen Ernährung und Körpergewicht eine herausragende Rolle spielen (Turnen, Sportgymnastik, Gewichtheben, Kampfsportarten oder Ausdauersport), für ihre besondere Verantwortung sensibel machen.
Einkommensgruppe geben ihren Kindern „doppelt so häufig“ wie Eltern aus allen anderen Gruppen Nahrungsergänzungsmittel, obwohl sie ihre Kinder wie keine andere Gruppe für gesund halten (Apothekerstudie 2009). Nach einer Luxemburger Studie ist die Bereitschaft zur Verwendung illegaler Drogen umso größer, je umfangreicher die Vorerfahrung mit legalen Schmerz-, Schlaf- oder Aufputschmitteln ausfällt. Wenn Heranwachsende schon in früher Kindheit daran gewöhnt werden, alle körperlichen und psychischen Probleme mit Hilfe einer Pille zu regeln, wird das Gehirn so programmiert, dass die Fähigkeit, Probleme aus sich heraus zu lösen, verloren geht (Amendt 2003). Daneben spielen überhöhte Erwartungen von Eltern, Trainern, Personen aus dem Umfeld und so weiter eine große Rolle.
• Bewusstsein dafür schaffen, dass Trainingspläne für Heranwachsende von den Verantwortlichen (Trainer/innen, Physiotherapeut/innen, Ärztinnen und Ärzte) und dem persönlichen Umfeld (vor allem Eltern) immer unter Einbeziehung von Themen wie Doping und Überforderung thematisiert und problematisiert werden müssen.
Medien: Spitzensportler/innen können durch die Übertragung von Spitzensportveranstaltungen als Negativvorbilder wirken. Nach dem Doping-Fall des 100-Meter-Olympiasiegers Ben Johnson (1988) wurde in Apotheken vermehrt das von ihm missbrauchte Mittel verlangt. Bei der von Deutschland 2007 gewonnenen Handball-Weltmeisterschaft wurde bei Fernsehübertragungen immer wieder auf den Schmerzmittelkonsum (Voltaren) von nicht wenigen Spielern hingewiesen. Zuletzt wurde bei Wintersportveranstaltungen immer wieder die Verwendung von Asthmaspray angeführt.
• Kindern und Jugendlichen vermitteln, in Versuchungssituationen aus eigener Überzeugung dem Griff zu leistungssteigernden Mitteln zu widerstehen – auch wenn sie sich so gegen möglichen „Erfolg“ entscheiden (mentale Stärkung).
Selbstwirksamkeitserwartung: Fehlt die Überzeugung, ein bestimmtes Verhalten erfolgreich ausführen zu können, steigt die Versuchung, auftretende Hindernisse und Schwierigkeiten mit Hilfe von Substanzen oder Medikamenten zu überwinden – es wird nach einer Abkürzung gesucht.
3.2 Wesentliche Faktoren für die Entwicklung von Dopingmentalität Der Weg in die Dopingmentalität erfolgt schrittweise und mitunter schon ab dem frühesten Kindesalter durch die Orientierung am Vorbild der Eltern (Beobachtung, Modell-Lernen) sowie durch die Gewöhnung an eine Pilleneinnahme in einem pillen- und später dopingfreundlichen Umfeld; schrittweise werden Hemmschwellen abgebaut. Parallel dazu wächst die Bereitschaft zur Verwendung erst von legalen, dann auch von illegalen Mitteln zur Leistungsförderung. Die Motive sind dabei vor allem ein Streben nach Anerkennung, Zuneigung und Wertschätzung. Eine kurze Skizzierung wesentlicher Faktoren: Eltern: sind Vorbild; ihr Bildungsniveau und Einkommen spielen eine wichtige Rolle. Die Neigung, verschreibungspflichtige Medikamente einzunehmen, korreliert stark mit dem Bildungsstand der Eltern (McCabe et al. 2005, S. 99): Eltern aus der höchsten
Versuchungssituationen: Leistungsabfall nach Verletzungen, Übergang in einen leistungsstärkeren Verein oder Beobachtungen der Konkurrenz können Auslöser für das Überschreiten von Grenzen sein. Immer dann, wenn Leistungsgrenzen beim Annähern auf natürlichem Weg (Training, Ernährung, Schlaf usw.) nicht mehr im erhofften Umfang verschoben werden können und natürliche Grenzen nicht akzeptiert werden, ist das Risiko groß. Einflüsterungen: Wenn von außen Versprechen der Leistungssteigerung erfolgen (zum Beispiel: „Mit diesem Mittel wirst du schneller, das wird dich stark machen, das hebt dein Leistungsniveau, das reduziert deine Schmerzen und deine Ermüdung, das hilft dir weitermachen zu können, damit wirst du Anstrengung gar nicht spüren, damit kriegst du keine schweren Beine, das ist gegen Schmerz“), steigt die Missbrauchs-Versuchung.
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Werbung: Wenn Pharma- und Mittelproduzenten einem „Defizite“ einreden und für Mittel werben, die dagegen helfen könnten („mit zusätzlichen Vitaminen und Mineralstoffen das Optimum aus sich herausholen“). Gleichwohl geht es den Unternehmen nicht in erster Linie um die Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit, sondern um mehr Umsatz und Gewinn. Dies alles führt zu einem steigenden Konsum von Nahrungsergänzungs- und Schmerzmitteln. Dr. Mischa Kläber vom DOSB (2010) stellte auf der Grundlage einer Befragung von Fitnesssportler/innen fest, dass der Konsum von Nahrungsergänzungsmitteln ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Einnahme von Drogen und Mitteln zur Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit (Enhancement-Substanzen) ist. Dagegen könnte wirken, wenn Kinder entdecken, wie Handlungsergebnisse und eigene Tüchtigkeit zusammenhängen beziehungsweise dass eigene Anstrengung die Leistung erklärt. Seit der Einführung von Dopingregeln und Verbotslisten läuft die Suche nach nicht verbotenen „Alternativen“ immer mit der Konzentration auf die Fragen, wie solche Produkte, Substanzen und Methoden am besten angewendet werden können und was eventuell am wenigsten gesundheitsschädlich ist. Ethik, Fairness und Chancengleichheit – eigentlich Grundlagen des Leistungssports – spielen dabei keine Rolle.
3.3 Die gefährliche Rolle von Nahrungsergänzungs- und Schmerzmitteln Viele Akteur/innen im Leistungssport meinen, auf dem Weg zu Spitzenleistungen auf Nahrungsergänzungs- (NEM) und/oder Schmerzmittel nicht verzichtet zu können. Die Konsument/innen erwarten von ihrem Konsum genauso wie von Dopingmitteln in erster Linie Erfolgsgarantien bei der Bewältigung von Aufgaben (z.B. Wettkämpfe), die Sicherung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die Gewährleistung der Anerkennung durch die Peers und das Umfeld (z.B. Eltern, Trainer), den Abbau von Unsicherheit bezüglich der Ergebnisse von Anstrengung, Schwächephasen zu vermeiden und nach Verletzungen schneller wieder Anschluss zu finden. Mit Nahrungsergänzungsmitteln wird versucht, den menschlichen Stoffwechsel mit Nähr- und Wirkstoffen zu versorgen, die im Grenzbereich zwischen Arznei- und Lebensmitteln einzuordnen sind: zum Beispiel Mineralstoffe, Vitamine, Antioxidantien, Kreatin, Eiweiß, Aminosäuren.
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Dabei bleibt festzustellen: • Bei ärztlich festgestelltem Defizit kann der Einsatz von NEM sinnvoll sein; eine gesunde Ernährung ist aber meist die bessere Alternative. • Junge Menschen haben im Normalfall – zumal bei sinnvoller Ernährung – kein Defizit. Noch nie waren die Ernährungsmöglichkeiten so gut wie heute. • NEM verleiten den Organismus zu „Bequemlichkeit“: Bestimmte Stoffe, die er selbst herstellen könnte, nun aber über NEM bekommt, werden nicht mehr produziert. • Der Organismus kann aus optimaler Ernährung bestimmte Stoffe nicht mehr verwerten, da ihn der Konsum von NEM daran hindert. • Als Folge einer regelmäßigen Verwendung von NEM wird der Griff zu Pillen „normal“ – ein Meilenstein für die Entwicklung der Dopingmentalität! • Ein relativ großer Prozentsatz von NEM ist verunreinigt, was zu einer Positivprobe bei einer Dopingkontrolle führen kann. • NEM sind keine legalen Alternativen zu Doping: Die Suche nach solchen angeblich leistungsfördernden Substanzen ist Ausdruck von Dopingmentalität. Interessanterweise stößt das Thema „legale Alternativen“ bei Befragungen und Interviews mit Verantwortlichen für Dopingprävention im Landessportbund Rheinland-Pfalz auf besonderes Interesse (Singler 2011, 264). • Spitzensportler/innen geben bei Dopingkontrollen teilweise extrem hohe Zahlen verwendeter NEM an, so zum Beispiel der Ringer Alexander Leipold bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney (61 Substanzen), die Olympiasiegerin Ilke Wyludda (Diskus) bei der EM in Budapest 1998 (63 Substanzen) u.a.m. Nur in den seltensten Fällen wissen Sportler/innen um die oft schädlichen Interaktionen zwischen den verwendeten Mitteln. • Dr. Jeffrey Sallen (Universität Potsdam), der die Selbstmedikation von Nachwuchssportler/innen erforscht, stellt fest: „Die Verbreitung von Supplementen unter Jugendlichen im Nachwuchsleistungssport hat ein Ausmaß erreicht, das die bisherigen Befunde zur deutschen Allgemeinbevölkerung und zur Gruppe der Wettkampfsportler/innen übertrifft; die wenigen vorliegenden Ergebnisse signalisieren Handlungsbedarf. Zu erkennen ist auch, dass die Selbstmedikation unter Jugendlichen etabliert ist“ (Sallen 2008).
3.4 Weitere Erkenntnisse Weitere Ergebnisse aus relevanten Studien zum Thema Doping und Dopingmentalität: • Jungen sind anfälliger als Mädchen. Das Wissen um schädliche Nebenwirkungen ist gering. • Nach französischen Untersuchungen sind Kinder und Jugendliche, die weniger als eine Stunde und mehr als acht Stunden wöchentlich Sport treiben bzw. trainieren, in erhöhtem Maße suchtgefährdet. Nach Studien von Jouvent (Erwähnung in einem Interview mit Dr. William Lowenstein, www.cycling4fans.de/index.php?id=6055) wächst mit der übermäßigen Steigerung des Trainingsumfangs das Verlangen nach Produkten wie Amphetamin oder Kokain. • Nach Laure ist das Risiko, dass in späteren Jahren viele Substanzen genommen werden, fünfmal so hoch, wenn Mittel schon im Alter von sechs bis zwölf Jahren gegeben werden (Laure 2000, S. 295ff.). • Substanzmissbrauchende Jugendliche leiden häufiger unter psychischen Problemen (Laucht 2007, 45).
• Besonders gefährdet sind Besucher von Fitnessstudios mit vorwiegend männlicher Kundschaft (vgl. Boos et al., 1998). • Hans Geyer vom Dopinglabor in Köln stellt fest: „Es wird alles ausprobiert, was auf dem Markt ist. In vielen Sportarten ist kaum noch ein Athlet ohne Schmerzmittel am Start“ (Welt, 7.6.2007). Beispiele für (Versuchungs-)Situationen für Doping im Leistungssport: Neben gravierenden Verletzungen (samt „Ratschlägen“ durch Mediziner/innen, Freund/ innen usw.) können der Wechsel in einen leistungsorientierteren und -stärkeren Verein (Gefahr der Anpassung durch Abweichung, vgl. Bette/Schimank, 2. Auflage 2006), Doping von Konkurrent/innen (Chancengleichheit), Schwierigkeiten beim Akzeptieren und Verarbeiten von Misserfolgen (dies gehört zu einer erfolgreichen Sportkarriere dazu!), die Angst vor dem „Social Death“ nach Karriereende (Bette/Schimank) sowie auch eine fehlende berufliche Perspektive für die Zeit nach der Sportkarriere den Griff zu Pille oder Spritze begünstigen. Andererseits: Auf identifizierte schwierige Situationen in einer Leistungssportkarriere kann bei Präventionsmaßnahmen systematisch vorbereitet werden.
• Ein überzogenes Körperideal ist oft Ursache für Medikamentenmissbrauch.
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4. Dopingprävention 4.1 Traditionelle Dopingprävention Traditionelle Dopingprävention besteht in der Hoffnung, dass Kontrollen und Bestrafung ausreichend abschreckend wirken – Grundlage des sogenannten Abschreckungsansatzes. Das würde aber voraussetzen, dass Kontrollen flächendeckend in allen Ländern erfolgen und mit Kontrollen alle Doperinnen und Doper erwischt werden würden. Dies bleibt aber eine Illusion, wie etwa das Beispiel des österreichischen Skilangläufers Johannes Dürr zeigt (bei den Olympischen Winterspielen in Sotchi 2014 mit dem Nachweis von EPO erwischt). Die positive Probe habe ihn überrascht: „Ich habe Dopingkontrollen bestanden, vor denen ich die doppelte Dosis genommen hatte“. Insgesamt hatte er in der Saison 2013/14 14 Kontrollen, bei denen trotz EPO-Dopings nichts nachgewiesen wurde (Spiegel Online, 25.2.2014). Ähnlich sah es bei der Sprinterin Marion Jones und dem Radprofi Lance Armstrong aus, bei denen trotz intensiven Dopings in jeweils mehr als 160 Kontrollen nichts nachgewiesen werden konnte. Fazit: Kontrollen und Bestrafung sind notwendig, können aber nur einen kleinen Beitrag zur Bearbeitung des Dopingproblems leisten. Das Hase-IgelSpiel ist nicht zu gewinnen. Sinnvoll wäre, weniger Kontrollen durchzuführen und das gesparte Geld in eine verstärkte Entwicklung von Nachweis-
Website: www.dsj.de/juniorbotschafter
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methoden und vor allem in eine moderne Dopingprävention zu stecken. Weitere Ansätze – die sich ebenfalls als relativ wirkungslos erwiesen haben: Aufklärungskonzept: Hier steht die Trias Informationsvermittlung – Einstellungsveränderung – Verhaltensänderung im Mittelpunkt, verbunden mit der Hoffnung, dass Informationsvermittlung praktisch automatisch eine Einstellungs- und Verhaltensänderung nach sich zieht. Dies ist aber eine Illusion, wie vor allem Wahl (1991, 59f.) nachgewiesen hat: Wahl nennt diese Annahme „naiv“, denn bei der Umformung von Wissen in Handeln brauchen die Lernenden Hilfen (die meist nicht gegeben werden). Außerdem müssen die bisher handlungsleitenden Strukturen außer Kraft gesetzt werden. Unter Handlungsdruck, vor allem in Entscheidungssituationen, werden dann meist die zuvor angewandten Strukturen wieder angewandt (Treutlein/Janalik/Hanke 1996, 225f.). Sofern überhaupt Maßnahmen zur Dopingprävention in Vereinen und Verbänden durchgeführt werden, basieren sie fast immer auf dem Abschreckungs- und dem Aufklärungskonzept.
Risikofaktorenkonzept: Durch das Identifizieren von Risikofaktoren soll das Risikobewusstsein geschärft werden. Risikofaktoren bei der Dopingthematik sind unter anderem der Übergang in einen leistungsstärkeren und sehr erfolgsorientierten Verein, dopende „Vorbilder“, Einflüsterungen, ein ungünstiges Umfeld usw. Weitere wesentliche Faktoren sind zum einen die oft hohe Risikobereitschaft von Jugendlichen, zum anderen das Gefühl des Verzichts auf Chancen, wenn vermeintlich alle anderen dopen. Hinzu kommen dann Bemerkungen von so manchen Ärzten, dass bei einem ärztlich überwachten Doping gar nichts passieren könne. Als einziger wesentlicher Risikofaktor wird dann oft nur die Gefahr angesehen, bei einer Dopingkontrolle positiv getestet zu werden. Überlegungen gehen dann im Sinne von Risikominimierung primär dahin, welche Möglichkeiten es gibt, einen positiven Test zu vermeiden.
4.2 Moderne Dopingprävention Moderne Prävention orientiert sich am Modell der Salutogenese („Gesundheitsentstehung“) des israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky – auch das dsj-Konzept der Dopingprävention. Bei diesem steht nicht mehr das Vermeiden von Medikamentenmissbrauch, Doping und positiven Dopingtests im Vordergrund, sondern das Aufzeigen/Erarbeiten von Wegen zu einem gesunden und freudvollen, Regeln und eigene Grenzen respektierenden Sport. In Anlehnung an Antonovsky lautet die Grundfrage: Was muss geschehen, damit junge Sportlerinnen und Sportler immun gegen die Versuchung von Medikamentenmissbrauch und Doping werden? Da mit den vorherigen gängigen Konzepten weder bei der Gesundheitsprävention noch bei der Dopingprävention die gewünschten Erfolge erzielt wurden und werden, wurden in der allgemeinen Präventionstheorie (und in der Folge auch in der Dopingprävention) seit der Mitte der 1980er Jahre verstärkt Konzepte mit folgender Grundannahme entwickelt: „Nicht mehr die Verhütung von Krankheiten (d.h. in unserem Fall Dopingmentalität und Doping) soll im Vordergrund stehen, sondern die Förderung von gesundheitsorientierten Prozessen.“ (Knörzer/Treutlein, 1987).
konsequent für sauberen Sport und eine gesunde Lebensführung und gegen Doping entscheiden? Das Kernstück des Salutogenese-Modells ist das „Kohärenzgefühl“: Dieses ermöglicht dem Menschen, „die Welt als in sich zusammenhängend und stimmig zu erleben“ (Knörzer/Steen 2006, 136)4, mit drei Komponenten: • Sinnhaftigkeit (für Antonovsky die wichtigste Komponente): Das Leben und seine Anforderungen werden als sinn- und wertvoll erlebt. • Verstehbarkeit: Sie ermöglicht es dem Menschen, Umwelt so zu ordnen und zu strukturieren, dass sie sinnvoll interpretiert werden kann. • Machbarkeit bzw. Bewältigbarkeit: Das Vertrauen, zur Bewältigung von Anforderungen geeignete Ressourcen zur Verfügung zu haben bzw. Probleme und Situationen aktiv bewältigen zu können. Ist auf der Grundlage dieser Komponenten das Kohärenzgefühl gut entwickelt, dann ist der Mensch in der Lage, „flexibel und kreativ mit unterschiedlichen Lebenssituationen umzugehen“ (Knörzer/ Steen 2006, 137). Herausfordernde Situationen werden dann nicht mehr als Belastungen wahrgenommen.
Im Salutogenese-Modell stehen Aufbaufaktoren (Stärkung von Ressourcen) im Vordergrund: Bei der Dopingprävention soll durch die Stärkung von Ressourcen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Dopingmentalität und Doping verringert werden. Die daraus abgeleitete Hauptfrage lautet: Über welche Ressourcen müssen Sportler/innen verfügen, damit sie sich angesichts vielfältiger Versuchungssituationen (zum Beispiel der Stressor: Entscheidung für oder gegen Medikamentenmissbrauch und Doping) 4
Im Folgenden nach Knörzer/Steen (2006, 137).
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Aufbaufaktoren/Ressourcen für Dopingprävention können beispielsweise sein:
• Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit: Reflektieren und Argumentieren lernen.
• Freude als Leitkategorie bei der sportlichen Betätigung, Zufriedenheit und Selbstvertrauen.
• Theoriewissen mit Handeln verbinden: Für kritische Vorfälle und Versuchungssituationen Handlungsmöglichkeiten suchen und diese bewerten können.
• Gesunde Ernährung ohne künstliche Zusatzstoffe. • Gute Kommunikation, dopingferner Freundeskreis, positive Vorbilder, Kenntnisse in der Komplementärmedizin, mentale Stärke (eine wesentliche Widerstandsressource!). Antonovskys Ansatz richtet sich schwerpunktmäßig nur an Einzelpersonen aus. Deshalb muss er durch die Einbeziehung der Lebenswelt (Setting-Ansatz) erweitert werden. Genau diese Kombination wird bei den Präventionsmaßnahmen der dsj verfolgt. Es geht dabei weniger um eine Inhaltsvermittlung als um eine Arbeit an den Kompetenzen und Stärken von Seminar-Teilnehmenden bis hin zur Ausbildung von Spezialist/innen für die Entwicklung mentaler Stärke (nach Amler/Bernatzky/Knörzer). Folgende Schwerpunkte werden in der modernen Dopingprävention gesetzt:
Prof. Dr. Gerhard Treutlein im Kreis von Juniorbotschafter/innen
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• Analyse des Denkens von Peers, Vereinskamerad/ innen, Einflüsterer/innen, Ärzt/innen, Werbung usw. (Argumentationsfähigkeit). • Peer-Education: Ausgebildete Juniorbotschafter/ innen für Dopingprävention als Vorbilder, Informant/innen und Diskussionspartner/innen für Gleichaltrige und Jüngere. • Grundsatzdiskussionen führen – beispielsweise zur Frage: „Was ist fair“? • Direkter Kontakt – verbunden mit einer interaktiven Vorgehensweise – ist wichtiger als die Konfrontation mit Präventionsmaterialien. • Dopingprävention ist am effektivsten, wenn sie langfristig angelegt ist und vom Umfeld der jugendlichen Sportler/innen (Eltern, Trainer/ innen, Ärzt/innen usw.) unterstützt wird.
Für die Bewältigung des Lebens und von Schwierigkeiten sind Kompetenzen notwendig: Nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind „Lebenskompetenzen (…) diejenigen Fähigkeiten, die es den Menschen ermöglichen, • ihr Leben zu steuern und auszurichten und • ihre Fähigkeiten zu entwickeln, • mit den Veränderungen in ihrer Umwelt zu leben und • selbst Veränderungen zu bewirken“, letztlich also Selbst- statt Fremdsteuerung. Im Rahmen der begrenzten finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten der dsj wird versucht, vor allem folgende Kompetenzen anzusprechen: • Problemlösefertigkeit – Entscheidungsfertigkeit • kreatives Denken – kritisches Denken • effektive Kommunikationsfertigkeit – interpersonelle Beziehungsfertigkeiten • Selbstwahrnehmung – Empathie • Stressbewältigung – Emotionsbewältigung Auf dieser Basis haben sich Interventionen in Frankreich als wirksam erwiesen, selbst wenn sie nur von kurzer Dauer waren (zwei bis vier Stunden) (Laure 2011, S. 283). Als zentrale Aufgabe für Dopingprävention hat sich die Beschäftigung mit der Entwicklung von Dopingmentalität herausgestellt – mit sinnvoller Prävention kann die Entwicklung von Dopingmentalität gebremst oder gar verhindert werden, was zu folgenden Aufgaben führt: • Das Vermeiden der Entwicklung von Dopingmentalität muss im Kindes- und Jugendalter anfangen (z.B. durch Elternarbeit). Für die Entwicklung von Dopingmentalität spielt das Vorbild Familie eine maßgebende Rolle: Gewohnheiten in der Familie beeinflussen die Entwicklung und den zukünftigen Konsum von legalen wie illegalen Mitteln. • Es muss versucht werden, das Umfeld von Leistungssportler/innen im Kindes- und Jugendalter in Maßnahmen der Dopingprävention miteinzubeziehen (Setting-Ansatz).
• Wer Dopingprävention erst bei der Zugehörigkeit zu B- oder A-Kadern ansetzt, will und wird nichts erreichen, die Hauptaufgabe der Dopingprävention liegt früher: bei den Eltern, dem Umfeld im Sportverein und auf Länderebene, der Schule – das sind die entscheidenden Interventionsorte. • Voraussetzung für eine flächendeckende Dopingprävention sind zum einen die Entwicklung von Problembewusstsein und die Ausbildung von Präventionsexpert/innen, zum anderen im Sinne einer Bottom-up-Strategie die Ausbildung von Juniorbotschafter/innen für Dopingprävention als Voraussetzung für Peer-to-peer-Education. • Dopingprävention wird umso schwieriger, je älter und leistungsstärker die Leistungssportler/innen sind. Wenn sich Dopingmentalität im Kindes- und Jugendalter schon gefestigt hat, ist eine andere Vorgehensweise der Dopingbekämpfung als Kontrolle und Bestrafung wenig erfolgversprechend. • Dopingprävention ist nicht nur eine Aufgabe des organisierten Sports, sondern aller Verantwortlichen für Leistungssituationen von Kindern und Jugendlichen. • Prävention von Medikamentenmissbrauch und Doping sollte in die allgemeine Prävention (Drogen, Nikotin, Alkohol usw.) integriert werden.
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5. Fünf Forderungen für die Zukunft Daraus ergeben sich wesentliche Forderungen für Dopingprävention in Deutschland: 1. Wir brauchen eine fachliche Auseinandersetzung darüber, was ein ausreichendes Maß an DopingKontrollen ist, und eine solide finanzielle Ausstattung, die eine Erarbeitung neuer Nachweismethoden ermöglicht und zugleich die flächendeckende Prävention von Medikamentenmissbrauch und Doping umfasst. 2. Wir brauchen eine Kultur des Hinsehens und Handelns, zum Schutze der Individuen als auch des Sportsystems. Als Basis hierfür muss das Problembewusstsein in Vereinen sowie Landes- und Bundesverbänden wesentlich entwickelt werden. Nur dann wächst die Bereitschaft, Maßnahmen durchzuführen und Präventionsexpert/innen einzusetzen. 3. Damit hängt die Notwendigkeit der Ausbildung einer großen Zahl von Präventionsexpert/innen zusammen – als Voraussetzung für eine flächendeckende Prävention, um zum Argumentieren und Reflektieren anzuleiten sowie zum Treffen von sinnvollen eigenen Entscheidungen und zu ihrem Verantworten.
4. Der Themenkomplex „Medikamentenmissbrauch, Doping im Leistungssport sowie Alltagsdoping“ sollte in ein Schulfach „Gesundheitserziehung“ integriert werden. 5. Wir brauchen eine, von Bette und Schimank schon 1995 geforderte, externe und unabhängige Beobachtungsplattform5 (z.B. eine kleine Gruppe unabhängiger Sportwissenschaftler usw.). Sie soll den organisierten Sport und die Gesellschaft rechtzeitig auf sich entwickelnde Probleme hinweisen und Veränderungsvorschläge einbringen können. Ohne all dies ist der Leistungssport wie ein Zug, der führerlos auf einen Abgrund zurast. Ein letzter Appell: Liegt uns etwas an einem sauberen Leistungssport als wertvolle Möglichkeit für die Persönlichkeitsentwicklung der Jugend, so sollten wir als Voraussetzung dafür die Forderung des französischen Sportpädagogen Jacques Personne akzeptieren: Aucune médaille ne vaut la santé d‘un enfant – keine Medaille der Welt ist es wert, dafür die Gesundheit eines Kindes zu riskieren! 5 Bei dieser – noch nicht existierenden – Beobachtungsplattform könnten sich Personen direkt melden. Falls ihr Name nicht bekannt werden soll, könnten sich diese als Whistleblower über die folgende Website der NADA einbringen: www.bkms-system.net/NADA.
Website: www.dsj.de/juniorbotschafter
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