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Trauer(n) heilt Ein Ratgeber zur Unterstützung des emotionalen Heilungsprozesses bei Todesfällen, Trennungen und anderen Verlusten

John W. James & Russell Friedman Übersetzung Barbara W. Kapek


Trauer(n) heilt Ein Ratgeber zur Unterstützung des emotionalen Heilungsprozesses bei Todesfällen, Trennungen und anderen Verlusten

John W. James & Russell Friedman Übersetzung Barbara W. Kapek


Deutschsprachige Erstauflage, 2010 Titel des amerikanischen Originals: The Grief Recovery Handbook Übersetzung: Barbara W. Kapek Überarbeitung: Martha G. Lindberg / Redaktion: Anders Magnusson © 2010 Svenska Institutet för Sorgbearbetning in Stockholm/Schweden Verlag: Svenska Institutet för Sorgbearbetning Umschlag und Design: Patrik Granquist, Design by North Druck: Göteborgstryckeriet in Mölndal, Schweden Erste Auflage, 1.- 3. Tausend ISBN 978-91-9747-963-9

Copyright © 2010 Svenska Institutet för Sorgbearbetning (www.sorg.se). Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer bzw. anderer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.


Für den Sohn, den ich nie kennen lernen durfte – J.W.J. Für meine Mutter – Du warst meine Heldin – R.F. Und für alle die, die Verluste überwinden und bewältigen


Inhaltsverzeichnis

Vorwort Einleitung

teil 1: das problem erkennen Wie Sie das Buch verwenden 1 TRAUER: ein vernachlässigter und missverstandener Prozess Trauer und Bewältigung Offene Einstellung zur Trauer Trauerbewältigung: Wie funktioniert sie? 2 Das Problem verstehen Verwirrung bezüglich der Phasen Wie ist es mit der Wut? Gewöhnliche Reaktionen Darüber hinwegkommen und wieder „ganz“ werden Wann sollte man mit dem Heilungsprozess beginnen? Selbstmord, Mord, AIDS und andere tragische Umstände Das S-Wort Überlebende Es liegt nicht an Ihnen 3 Wir sind schlecht darauf vorbereitet, unsere Verluste zu bewältigen Wir lernen, wie wir Dinge bekommen, aber wir wissen nicht, was wir tun sollen, wenn wir sie verlieren Das Erlernte über Trauer ist falsch An der eigenen Heilung beteiligt sein Vertrauensverlust Übung macht den Meister

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4 Andere sind schlecht vorbereitet, uns zu helfen, mit unseren Verlusten fertig zu werden Sie wissen nicht, was sie sagen (sollen) Sie haben Angst vor unseren Gefühlen Sie versuchen, das Thema zu wechseln Sie intellektualisieren Sie hören uns nicht zu Sie möchten nicht über den Tod sprechen Verwirrung durch Experten Sie wollen, dass wir unseren Glauben behalten Glaube und Gefühle sind nicht das Gleiche

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5 Oscartrophäe in der Kategorie „Trauerbewältigung“ Vergötterung oder Verteufelung? Die Anerkennung anderer „Es geht mir gut“ – oft eine Lüge Wir verlieren eine Menge Energie Wir verlieren unsere Lebensfreude

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teil 2: sich auf eine veränderung vorbereiten: mit der bewältigung beginnen 55 6 Ihre erste Entscheidung: Die Bewältigung der Trauer Wer ist verantwortlich? Ihre zweite Entscheidung: Mit einem Partner oder allein arbeiten Finden eines Partners

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7 Richtlinien erstellen Das erste Partnertreffen Versprechungen und Zusagen Erste Hausaufgabe Zusammenfassende Gedanken und Erinnerungen Zweites Partnertreffen

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8 Identifizieren von temporären energiespendenden Verhaltensweisen Temporäre Erleichterung funktioniert nicht Identifizieren Sie Ihre TESV

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Zweite Hausaufgabe Drittes Partnertreffen 9 Das Verlustdiagramm Vergleichen und Herunterspielen Beispiel eines Verlustdiagramms Was tun mit dem Verlustdiagramm Dritte Hausaufgabe: Bereiten Sie Ihr Verlustdiagramm vor Aus dem Verlustdiagramm lernen Viertes Partnertreffen

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teil 3: eine lösung finden

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10 Was ist Unvollkommenheit? Wie identifiziert man etwas Unvollkommenes? Mit einem Verlust arbeiten Hilfe bei der Wahl für den ersten Verlust und Fragen zu anderen Verlusten

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11 Präsentation des Beziehungsdiagramms Das Beziehungsdiagramm unterscheidet sich vom Verlustdiagramm Vollenden bedeutet nicht vergessen Ihre Verantwortung: Wahrheitsgemäße Erinnerungen Die Wahrheit ist der Schlüssel zur Heilung Langwierige Krankheiten enden auch oft mit ungeklärten Angelegenheiten Das Beziehungsdiagramm Vierte Hausaufgabe: Machen Sie Ihr Beziehungsdiagramm Fünftes Partnertreffen

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12 Fast angekommen: Das Beziehungsdiagramm in heilende Faktoren umwandeln Entschuldigungen Vergebungen Vergeben ist eine Handlung, kein Gefühl Wichtige emotionale Äußerungen Fünfte Hausaufgabe: Zusammenstellung

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Sechstes Partnertreffen Von der Entdeckung zur Vollendung Letzte Hausaufgabe: Der Abschlussbrief in der Trauerbewältigung Den Brief abschließen Letztes Partnertreffen: Das Vorlesen des Briefes Was ist Vollendung? Wie behandelt man neue Entdeckungen Die Geschichte von Cole und der Fensterscheibe

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13 Was nun? sprach Zeus Nacharbeit Todesfälle von Prominenten

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teil 4: mehr zu wahlmöglichkeiten und anderen verlusten

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14 Mehr zu Wahlmöglichkeiten Mit welcher Beziehung beginnen Beginnen Sie mit Beziehungen an die Sie sich erinnern Verborgene oder maskierte Verluste

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15 Richtlinien für die Arbeit mit anderen Verlusten Tod oder Fehlen eines Elternteils in jungen Jahren Verlust eines Säuglings und Infertilität Alzheimer – Demenzkrankheiten Aufwachsen mit Alkoholismus oder in einem anderen dysfunktionalen Zuhause Spezielle Verlustdiagramme – Glaube, Gesundheit und Arbeitsplatz Umzug Verschiedene Tipps Letzte Worte auf den Weg

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Trauer(n) heilt


TEIL 1: DAS PROBLEM ERKENNEN Da Sie dieses Buch in Ihren Händen halten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie einen emotionalen Verlust erlitten haben. Das ist das, was wir übergreifend als TRAUER bezeichnen. Die Ursache kann ein Todesfall sein, der schon längere Zeit zurückliegt oder erst kürzlich eingetroffen ist. Aber auch eine Scheidung oder das Ende einer Beziehung können die Ursache sein. Die Ursache kann irgendeine der über vierzig verschiedenen Arten von Verlusten sein, von denen man im Laufe eines Lebens betroffen sein kann. Eine Ursache von Trauer kann die Erkenntnis sein, dass Ihr Leben nicht so glücklich und zufriedenstellend ist, wie Sie es sich gewünscht hätten. Unabhängig der Ursache Ihrer Trauer, nehmen wir an, dass es Ihnen nicht gut geht. Wir wollen Ihnen nicht einreden, wie es Ihnen geht. Das wissen Sie am Besten selbst. Wir sagen auch nicht, dass wir wissen, wie es Ihnen geht, denn das tun wir nicht. Das weiß auch niemand anderes. Im besten Fall können wir uns vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn wir von ähnlichen eigenen Verlusten ausgehen.

Auch wenn Sie schon einige schmerzliche Veränderungen in Ihrem Leben mitgemacht haben, nehmen wir an, dass Sie noch keine oder wenig Erfahrung mit Trauerbewältigung haben. Dieses Buch bietet Ihnen die Möglichkeit, Handlungen zu setzen, um wieder Ihr ursprüngliches Gefühl von Wohlsein zu erlangen.

wie sie das buch verwenden Dieser Ratgeber besteht aus verschiedenen Arbeitsschritten. Jeder einzelne davon ist wichtig. Überspringen Sie beim Lesen und Durcharbeiten keinen 1


dieser Schritte. Inwieweit Sie emotionale Heilung erfahren werden oder nicht liegt an der korrekten Durchführung der Übungen. Alle, die vor Ihnen diese Methode mit Erfolg angewandt haben, haben dies nicht zuletzt dadurch erreicht, dass sie sich genau an den Angaben orientiert haben. Wir möchten, dass auch Sie diesem Plan folgen, damit Sie Ihren Heilungsprozess erfolgreich abschließen können. Dieses Buch ist so konzipiert, dass Sie die erforderliche Information zur Bewältigung Ihrer Trauer wirklich Schritt für Schritt nachvollziehen können. Es wird Ihnen bei der Bewältigung, aber auch bei der emotionalen Heilung helfen. Wenn Sie das Buch richtig anwenden, werden Sie schneller und dauerhaft Ihren Heilungsprozess vorantreiben. Es kommen Vorschläge, Anweisungen und Instruktionen im Text vor und wir möchten Sie bitten, keine „Abkürzungen“ zu unternehmen. Diese werden Sie nämlich, wenn auch unbeabsichtigt, zu althergebrachten Vorstellungen über Trauer und Trauerbewältigung führen, die absolut keine Wirkung haben. Bleiben Sie bei diesem Programm und damit bei Ihrem eigenen Heilungsprozess.

achtung! wichtiger vermerk! Dieses Buch ist keine Lehreranleitung. Wir möchten Sie auffordern, von der Verlockung Abstand zu halten, anderen helfen zu wollen, nachdem Sie dieses Buch gelesen haben. Nur autorisierte Trauerbegleiter und Trauerberater sind hierzu befähigt und berechtigt.

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TRAUER: ein vernachlässigter und missverstandener Prozess

Trauer ist die normale und natürliche Reaktion nach einem Verlust. Deshalb sollten auch die Gefühle, die Sie nach einem Verlust empfinden, als normal und natürlich gelten. Das Problem liegt darin, dass die meisten von uns diesbezüglich mit fehlerhaften Informationen aufgewachsen sind. Trauer gehört zu den stärksten menschlichen Empfindungen überhaupt und gleichzeitig ist es das am meisten vernachlässigte und missverstandene Gefühl, sowohl bei den Trauernden als bei auch der betroffenen Umgebung. Trauer ist der Ausdruck für alle widersprüchlichen Gefühle, die durch ein Ende oder eine Veränderung eines vertrauten Lebensmusters verursacht werden. Was meinen wir mit widersprüchlichen Gefühlen? Lassen Sie es uns mit einem Beispiel verdeutlichen: Wenn eine Ihnen nahestehende Person nach lang erduldeter Krankheit stirbt, werden Sie vielleicht Erleichterung darüber empfinden, dass das Leiden für diese Person endlich vorüber ist. Es ist ein positives Gefühl, auch wenn es mit dem Tod eines Menschen verbunden ist. Gleichzeitig sehen Sie ein, dass Sie nicht länger mit diesem Menschen beisammen sein können. Das kann natürlich als sehr schmerzhaft empfunden werden. Solche widersprüchlichen Gefühle wie Erleichterung und Schmerz sind bei Todesfällen vollkommen normal. Wie läuft das bei Scheidungen ab? Kommen auch hier widersprüchliche Gefühle vor? Unsere Antwort ist JA. Sie können ein echtes Gefühl von Freiheit darüber empfinden, dass der Konflikt endlich ein Ende gefunden hat. Das ist das positive Gefühl. Gleichzeitig haben Sie vielleicht Angst, 3


nie wieder jemanden kennen zu lernen, der so gut aussieht oder der ein gleich gutes Einkommen hat. Diese widersprüchlichen Gefühle der (wiedererlangten) Freiheit und Angst sind auch natürliche Gefühle nach einem Verlust. Alle Beziehungen haben mit Vertrautheit zu tun, egal ob es sich um eine Beziehung innerhalb der Familie, der Freundschaft, der Liebe oder eine Beziehung auf beruflicher Ebene handelt. Aber welche anderen Verluste können noch ähnliche widersprüchliche Gefühle erzeugen? Todesfälle und Scheidungen sind offensichtliche Verluste. Wir wissen heute, dass viele andere Ereignisse Gefühle von Trauer hervorrufen können. Auf den ersten Blick sehen nicht alle gleich wie Verlustszenarien aus: Haustiere, die sterben Umzüge Schulbeginn oder Schulwechsel Ehemalige Partner, die sterben Eheschließungen Abitur/Matura machen Erfolgreicher Abschluss einer Entziehungskur Große Veränderung des Gesundheitszustandes Pensionierung Wirtschaftliche Veränderungen (positive und negative) Urlaub Probleme mit dem Gesetz Kinder, die das traute Heim verlassen und ausziehen Adoption Verlust eines Kindes Nahestehende mit Alzheimer oder Demenz Dysfunktionales Zuhause; Alkoholismus der Eltern oder eines Elternteiles (Verlust von Vertrauen, Zugehörigkeit und der Kindheit) Kündigung, Krankheit, Glaubensverlust Meistens betrachtet man gewöhnliche Veränderungen im Leben nicht als Verlust den man betrauern müsste. Die Wahrheit aber ist, dass wir um jeden Verlust einer Beziehung, die uns wichtig ist, trauern und das wiederum betrifft unsere Gefühlswelt.

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Selbst wenn die größten Verluste in Ihrem Leben nicht durch Todesfälle verursacht wurden, richtet sich dieses Buch dennoch an Sie.

Wir arbeiten seit fast 30 Jahren mit Trauernden und haben während dieser Zeit viele andere Verluste feststellen können. Diese beinhalten z.B. Vertrauensverlust, Verlust von Geborgenheit, Kontrollverlust über den eigenen Körper (durch Krankheit oder sexuelle Übergriffe). Diese Art von Verlusten betrachtet unsere Gesellschaft im Allgemeinen nicht als Verluste, die Trauer hervorrufen oder bewältigt werden müssten. Mit Geschehnissen, die dazu führen, dass man das Vertrauen verliert, werden wir wahrscheinlich alle in unserem Leben konfrontiert und diese können lebenslange Nachwirkungen haben. Sie haben vielleicht das Vertrauen zu einem Elternteil verloren, in Gott oder eine andere für Sie wichtige Beziehung. Bedeutet denn Vertrauensverlust wirklich Trauer? Die Antwort lautet JA. Und das Problem, mit der Trauer fertig zu werden, die dadurch verursacht wird, ist das gleiche. Trauer ist normal und natürlich, aber wir sind nicht besonders gut darauf vorbereitet, diese zu bewältigen. Trauer handelt von gebrochenen Herzen, nicht von verwirrten Gehirnen. Alle Versuche, das Herz mit Hilfe des Verstandes zu heilen, missglücken, weil der Verstand nicht das richtige Werkzeug dafür ist. Das wäre, als wollten Sie eine Wand mit einem Hammer statt mit einem Pinsel streichen. Viele Kommentare, die an Trauernde gerichtet sind, beginnen mit der Phrase „Sei nicht traurig“. Als John’s Sohn im Jahr 1977 starb, tröstete ihn ein Freund, der es sicherlich nur gut meinte: „Sei nicht traurig, du wirst bestimmt noch mehr Kinder kriegen“. Der Kommentar, dass John die physischen Voraussetzungen hatte, weitere Kinder zu zeugen, war zwar intellektuell korrekt, aber in diesem Zusammenhang irrelevant. Er war auch unabsichtlich kränkend, da diese Äußerung seine natürlichen und normalen Gefühle herunterspielte bzw. nicht ernst nahm. John ging es schlecht. Er war einfach verzweifelt. Als Russell sich von seiner zweiten Frau trennte, war er am Boden zerstört. Ein Freund sagte zu ihm: „Sei nicht traurig, beim nächsten Mal 5


hast du mehr Glück“. Die meisten Kommentare, die Trauernde zu hören bekommen, sind intellektuell gesehen korrekt, aber gefühlsmäßig unzulänglich. Als ein direktes Resultat dieser Widersprüche fühlen sich die Trauernden oft verwirrt und frustriert. Das sind Gefühle, die zu einer emotionalen Isolierung führen können. Nachdem die meisten von uns in dem Glauben groß geworden sind, dass alle unsere Probleme mit Hilfe unseres Verstandes zu lösen gehen, bleibt unbewältigte Trauer ein gigantisches Problem. Die Konzentration unserer Gesellschaft auf das Intellektuelle hat einige wissenschaftliche Artikel hervorgebracht, wonach die Genusperspektive als besonderer Faktor bei der Trauer zu berücksichtigen ist. Wir wissen, dass Jungen und Mädchen verschieden sozialisiert werden. Aber nach unseren Erfahrungen weisen Männer und Frauen die gleichen Begrenzungen auf, wenn es darum geht, trauerbezogene, schmerzliche und negative Gefühle zu zeigen. Gefühle sind in dieser Hinsicht nicht geschlechtsspezifisch. Es gibt kein „traurig wie ein Mädchen“ oder „traurig wie ein Junge“ beziehungsweise „fröhlich wie ein Mädchen“ oder „fröhlich wie ein Junge“. Wir meinen allerdings nicht, dass der Intellekt außer Acht gelassen werden soll, wenn es um die Bewältigung von Trauer geht. Es ist eine Tatsache, dass Sie gerade dabei sind, dieses Buch über Trauerbewältigung zu lesen. Das ist eine intellektuelle Handlung. Das Buch wird Ihnen helfen, Konzepte zu verstehen und gewisse Handlungen auszuführen; auch hier kommt der Intellekt ins Spiel.

trauer und bewältigung Es ist nicht immer so selbstverständlich gewesen, Begriffe Trauer und Bewältigung in Kombination zu sehen. Religiöse und geistige Würdenträger haben in allen Jahrhunderten gepredigt, dass unsere Verluste uns die Möglichkeit geben, als Mensch zu wachsen. In unserer heutigen modernen Gesellschaft ist das Durch- und Erleben von intensivem emotionalem Schmerz derart missverstanden, dass die meisten von uns nicht wissen, wie sie auf Verluste reagieren sollen. Was meinen wir mit Bewältigung? Bewältigung bedeutet: Verbesserung des seelischen Wohlbefindens. Es heißt auch, dass Sie Kontrolle über die Konsequenzen der Ereignisse, die Ihnen widerfahren sind, bekommen, 6


so dass nicht die Ereignisse Sie und ihr Wohlbefinden kontrollieren. Bewältigung bedeutet, neuen Mut und Sinn im Leben zu finden, ohne Angst zu haben, wieder verletzt zu werden. Bewältigung bedeutet, Zugang zu allen positiven Erinnerungen zu haben, ohne dass diese von Gewissensbissen oder Reue getrübt werden. Bewältigung bedeutet auch , dass Sie sich erlauben, traurig zu sein und über Gefühle zu sprechen, egal wie Ihr Umfeld reagiert. Bewältigung bedeutet ebenso, anderen vergeben zu können, wenn diese aufgrund mangelnder Kenntnisse falsche Dinge sagen. Bewältigung bedeutet, dass Sie eines Tages einsehen, dass es normal und gesund ist, über Ihre erlebten Verluste zu sprechen. Das Wichtigste mit Trauerbewältigung ist jedoch, dass Sie die richtigen Informationen und Instruktionen erhalten, die Sie eigentlich schon als Kind hätten haben sollen. Diese erlauben uns, unsere Verluste direkt und effektiv zu konfrontieren und zu bearbeiten. Die meisten von uns sind sich bewusst, dass es keine Garantien für ewige Liebe oder Zuneigung, Sympathie oder Vertrauen gibt. Diejenigen, die eine Scheidung durchlebt haben, mussten die schmerzliche Erfahrung des Misslingens machen, auch wenn sie sicherlich nicht damit gerechnet hatten. Die Methode der Trauerbewältigung bietet Ihnen eine konkrete Hilfe zur Verarbeitung des emotionalen Schmerzes. Das bedeutet auch, dass Sie fähig sein werden, wieder ganz und gar emotional „präsent zu sein“. Mit den Erkenntnissen und der Freiheit, die Ihnen die Trauerbewältigung vermittelt, werden Sie auch ein stärkeres Gefühl von Liebe empfinden können. Es ist natürlich keine leichte Sache, einen bedeutenden emotionalen Verlust zu bearbeiten. Für die Durchführung dieser Übungen, die zur emotionalen Heilung führen, brauchen Sie deshalb eine Portion Mut, einen starken Willen, Offenheit und Ihre ganze Aufmerksamkeit.

offene einstellung zur trauer Wir kennen alle den Spruch: „Das einzig Sichere im Leben ist, dass wir alle einmal sterben werden.“ Die Leser dieses Buches wissen auch, dass nicht nur der Tod unumgänglich ist. Auch das Erfahren von Verlusten ist leider während des gesamten Lebens unausweichlich. Das betrifft alle Menschen, wenn auch von unterschiedlicher Intensität und 7


Häufigkeit. Trotz ähnlicher Reaktionen wissen die meisten Menschen sehr wenig darüber, wie man Trauer bewältigt. Unser Wissen über Trauernde ist, dass sie das Bedürfnis und den Wunsch haben, dass es Ihnen wieder gut gehen möge. Sie haben im Grunde eine offene Einstellung und suchen Hilfe. Trauernde nehmen an Selbsthilfegruppen teil, lesen Broschüren und kaufen Bücher über das Thema. Danach sehen sie sich aber immer noch mit der Tatsache konfrontiert, dass unsere Gesellschaft im allgemeinen sehr schlecht gerüstet ist, einen Trauerprozess zu einem positiven Ende zu bringen oder dem Trauernden wirklich hilfreich zur Seite zu stehen. Der Schmerz von unbewältigter Trauer sammelt sich an und lagert sich förmlich ab. Unabhängig davon, um welche Art von Verlust es sich handelt, kann eine unvollständige Bewältigung des Verlustes lebenslange negative Einwirkungen auf unser seelisches Wohlbefinden haben.

trauerbewältigung: wie funktioniert sie? Die Heilung von Trauer wird dadurch erreicht, dass der Trauernde eine Anzahl von kleinen und korrekten Beschlüssen fasst.

Leider haben die meisten von uns nicht immer die nötigen Informationen bekommen, die uns helfen, korrekte Beschlüsse zu fassen. Wir haben mit diesem Buch die Herausforderung angenommen, alle, die den Wunsch haben, einen durch Verlust verursachten emotionalen Schmerz zu bearbeiten, „umzuschulen“. Wir wissen, dass die Prinzipien, die in diesem Buch beschrieben und erklärt werden, funktionieren. Das sehen wir immer wieder in unseren Kursen und Seminaren. Sie funktionieren für Menschen, die einen emotionalen Verlust erlitten haben, egal welcher Art. Wenn eine geliebte Person stirbt, kann das ein Gefühl hervorrufen, als wolle man sich förmlich nach dieser Person ausstrecken, die immer für einen da gewesen ist, nur um festzustellen, dass sie nicht mehr da ist, wenn wir sie ein weiteres Mal brauchen. Einige von Ihnen werden mit Hilfe dieses Buches versuchen, eine problematische Beziehung mit einem Verstorbenen zu bewältigen. Wir könnten diese Beziehung als eine „Beziehung zu einer nicht ganz geliebten Person“ 8


bezeichnen. Da kann es sich anfühlen, als würden Sie sich nach dieser Person ausstrecken, die nie für Sie da gewesen ist und immer noch nicht für Sie da ist. Das gilt natürlich auch für die, die eine problematische Beziehung zu einer noch lebenden Person haben. Es trifft fast immer zu, dass Verluste, die durch Scheidungen verursacht werden, in dieser Kategorie „Beziehung zu einer nicht sehr geliebten Person“ landen. Auch wenn Scheidungen eheliche, sexuelle und soziale Bande lösen, so werden emotionale Bande nicht durch den Scheidungsrichter getrennt. Ohne erfolgreiche Trauerbewältigung passiert es sehr häufig, dass die Frauen, bzw. Männer, die sich trennen, in späteren Beziehungen gewisse Fehler wiederholen.

eine unbearbeitete vergangenheit kann ihre zukunft beeinflussen Wir haben keine moralischen, juridischen, religiösen oder sozialen Ansichten in Bezug auf Scheidungen. Wir vertreten nur die Meinung, dass alle, die durch eine Scheidung betroffen sind, trauern, inklusive die Kinder des Paares, Eltern, Geschwister und manchmal sogar enge Freunde. Diese Auffassung macht es uns leichter. Wir wissen immer, dass das primäre Problem die unbewältigte Trauer ist. Scheidungen und beendete Liebesbeziehungen verursachen Trauer. Diese Tatsache schränkt das Leben ein und bewirkt lebenslange negative Konsequenzen für zukünftige Beziehungen. Unbewältigte Trauer über einen früheren Partner führt mit sich, dass wir Beschlüsse fassen, die auf Angst beruhen. Wir werden extrem dafür sensibilisiert, wie wir uns gegen weiteren emotionalen Schmerz schützen können. Leider begrenzt diese übertriebene Vorsicht unsere Fähigkeit, offen und vertrauens- bzw. liebevoll zu sein. Das wiederum hat zur Folge, dass wir fast schon dazu verurteilt sind, in der nächsten Beziehung (möglicherweise wieder) zu versagen. Wir hoffen, dass Sie die Wichtigkeit verstanden haben, einige Schritte zurück machen zu müssen, um frühere Beziehungen abzuschließen. Damit erhöhen Sie die Wahrscheinlichkeit, in kommenden Partnerschaften glücklich oder glücklicher zu werden. Wenn Sie zu jenen gehören, die sich noch immer isoliert und einsam fühlen, 9


hoffen wir, dass Ihnen dieses Buch den Mut gibt, fr체here Beziehungen zu bearbeiten. Damit werden Sie emotional wieder pr채senter und sind f체r kommende Beziehungen bereit und offen.

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Das Problem verstehen

Trauer ist kompliziert genug, ohne dass man den Prozess noch erschweren müsste. Leider können viele andere Faktoren unsere Reaktion auf Verluste verschlimmern und uns an der Heilung hindern. Dieses Kapitel wird Sie auf einige der Fallen aufmerksam machen, die die Bewältigung erschweren, behindern oder gar verhindern.

verwirrung bezüglich der phasen Viele Menschen kennen die bahnbrechende Arbeit von Dr. Elisabeth Kübler-Ross. Sie hat fünf emotionale Phasen festgestellt, die eine Person normalerweise durchlebt, nachdem sie Nachricht über eine – ihre eigene – tödliche Krankheit erfahren hat. Die fünf Reaktionsphasen sind: Nichtwahrhabenwollen und Isolierung Wut Verhandeln Depression Akzeptanz Ein Resultat der Arbeit von Dr. Kübler-Ross ist, dass viele Menschen heutzutage diese Phasen auch bei der Bewältigung von Verlusten verwenden. Trauer, egal welcher Verlust der Auslöser ist, kann jedoch nicht ausgehend von diesen Phasen betrachtet werden. Die Gefühle, die ein Verlust verursacht, sind von 11


ihrer Natur und Intensität ganz abhängig von der Persönlichkeit und einzigartig in der betreffenden Beziehung. Dr. Kübler-Ross und ihre Arbeit leisteten einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Sterbedepression, aber leider hat dies in anderen Bereichen auch zu Missverständnissen geführt. Viele Menschen, darunter auch Fachleute, haben versucht, diese Phasen auch auf die Gefühle eines Verlustes zu übertragen. Mangels Information wurde die Arbeit der berühmten Psychiaterin oft missverstanden und falsch interpretiert. Unter anderem hat man geglaubt, dass auch das Nichtwahrhabenwollen eine Phase ist, die man bei einem Todesfall oder einer Scheidung durchlebt. In all den Jahren, in denen wir mit Trauernden gearbeitet haben, haben wir nie eine Person getroffen, die verleugnet hätte, dass ein Todesfall oder eine Scheidung eingetreten ist. „Meine Mutter ist verstorben“ oder „Ich musste meinen Hund einschläfern“ oder „Meine Frau hat mich verlassen“ waren die Aussagen bei den ersten Begegnungen. Diese Aussagen zeugen keineswegs von einem ‘Nichtwahrhabenwollen’ und nachdem Sie dieses Buch lesen, verleugnen auch Sie nicht, dass Sie einen Verlust erlitten haben.

wie ist es mit der wut? Oft werden in der bereits vorhandenen Literatur über Trauer Behauptungen aufgestellt, dass man bei Trauer auch immer mit Wut rechnen müsse. Wir respektieren diese Meinung, teilen sie aber nicht ganz. Wut oder Zorn werden manchmal im Zusammenhang mit Verlust genannt und sind oft ein Faktor in unseren sehr komplizierten Beziehungen mit einer nicht sehr geliebten Person. Dennoch ist die Annahme, dass Wut ein ständiger und allgemeiner Teil von Trauer ist, falsch und riskant. Ein Todesfall bringt nicht notwendigerweise Wut mit sich. Lassen Sie uns mit einer Geschichte erklären, was wir meinen: „Meine 92-jährige Großmutter, mit der ich eine wunderbare Beziehung hatte, erkrankte und starb. Glücklicherweise ging es schnell, sie musste nicht leiden. Dafür war ich dankbar. Ich hatte mit ihr einige Zeit verbracht und konnte ihr sagen, wie viel sie mir bedeutet hatte. Auch dafür war ich dankbar. Die Beerdigung wurde ihr und ihrem Leben gerecht und zeichnete ein gutes Bild von ihr. Viele Menschen kamen zu mir und sprachen über sie. Das tat gut. Bei der Beerdigung erinnerte mich ein hilfreicher Freund daran, mich richtig von ihr zu verabschieden. Das tat ich und es war ein gutes Gefühl. Ich war überhaupt nicht wütend, dass sie mich verlassen hatte.“ 12


Das ist eine wahre Geschichte. Wenn die Geschichte anders verlaufen wäre, dann hätte sie auch andere Gefühle geweckt. Wenn das Enkelkind keine Gelegenheit gehabt hätte, seiner Großmutter zu sagen, was sie ihm bedeutete, dann wäre es vielleicht über die UMSTÄNDE wütend gewesen. Wenn es eine nicht sehr geliebte Person gewesen wäre, dann wäre der Enkel auch über die UMSTÄNDE erzürnt gewesen, nicht mehr die Möglichkeit zu haben, die Beziehung zu „reparieren“. Glauben Sie bitte nicht, dass Wut ein notwendiger Teil von unbewältigter Trauer ist. Einige Trauernde können böse, enttäuscht oder verzweifelt sein oder werden. Wut oder Zorn hingegen sind nicht immer involviert.

gewöhnliche reaktionen Auch wenn Trauer nicht in bestimmte Phasen eingeteilt werden kann, sieht man bei Trauernden viele ähnliche Reaktionen. Eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit: Eine trauernde Person ist im Schlafzimmer. Sie möchte etwas aus der Küche holen. Wenn sie in die Küche kommt, hat sie vergessen, was sie eigentlich holen wollte. Völlig in den durch Trauer hervorgerufenen Gefühlen und den damit verbundenen Konzentrationsschwächen zu sein, scheint eine gewöhnliche Reaktion auf Trauer zu sein. Ein Gefühl der Betäubung: Trauernde beschreiben ihre ersten Verlustreaktionen als ein Gefühl, betäubt zu sein. Das kann physisch aber auch psychisch verstanden werden. Die Betäubung wirkt verschieden lange und ist nicht bei allen gleich. Wir haben es selten erlebt, dass dieses Gefühl länger als einige Stunden andauert. Diese Reaktion wird oft fälschlicherweise als Nichtwahrhabenwollen interpretiert. Schlafstörungen: Trauernde erzählen, dass sie entweder extrem wenig/gar nicht oder sehr viel schlafen. Das kann von Tag zu Tag unterschiedlich sein. Andere Essgewohnheiten: Trauernde erzählen uns auch, dass sie entweder extrem wenig oder sehr viel essen. Auch dies variiert oft von Tag zu Tag.

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Gefühlsmäßige Schwankungen: Trauernde berichten, dass ihre Gefühle stark schwanken. Als ein direktes Ergebnis auf emotionale Veränderungen fühlen sich Trauernde oft emotional und physisch ermattet. Diese Reaktion werden wir etwas später näher analysieren. All diese Reaktionen sind normale und natürliche Reaktionen auf Verluste. Ihre Dauer ist von Person zu Person verschieden. Wir werden mit Sicherheit nicht versuchen, Prognosen darüber abzugeben, wie lange es für Sie dauern kann. Das Aufkommen dieser Reaktionen ist vollkommen natürlich, sie treten allerdings nicht als Phasen auf. Diese sogar als Trauerphasen zu bezeichnen, ist unserer Meinung nach falsch. Auch wenn es keine Trauerphasen gibt, werden Menschen immer wieder versuchen, sich anfänglich festgelegter Kategorien zu bedienen, wenn man ihnen diese Alternative anbietet. Leider trifft dies besonders dann zu, wenn Autoritäten wie Therapeuten, Psychologen, Ärzte oder religiöse Würdenträger solche Vorschläge unterbreiten. Lassen Sie es nicht zu, dass man Ihnen Zeitrahmen oder Phasen für Ihre persönliche Trauerbewältigung unterbreitet oder einredet.

Es gibt keine festgelegten Fakten, was Trauerbewältigung betrifft. Es gibt keine Reaktionen, die allgemeingültig sind. Es gibt lediglich eine unveränderliche Wahrheit: Alle Reaktionen sind einzigartig.

darüber hinwegkommen und wieder „ganz“ werden Eine der schädlichsten Vorstellungen ist, dass Sie ” nie darüber hinwegkommen werden“ wenn Ihnen z.B. Ihr Kind stirbt. Diese falsche Behauptung bekommen viele Trauernde bei dem Verlust eines Kindes oder auch bei anderen Verlusten zu hören. Die betroffenen Trauernden suchen danach immer nach Gefühlen und Informationen, die diese Lüge bestätigen. Es ist eher korrekt zu fragen: „Ist es möglich, sein Kind zu vergessen bzw. einen Partner oder Elternteil, den man verloren hat?“. 14


Die Antwort ist klar und deutlich: NEIN. Dieses „nicht vergessen“ wird oft fälschlicherweise mit „nicht darüber hinwegkommen“ verwechselt. Die Vorstellung hat einen behindernden Effekt für die Trauerbewältigung. Es ver- und behindert jegliche Bearbeitung von Verlusten und blockiert sehr oft den Zugang zu den positiven Erinnerungen der Beziehungen. Eines Tages im Monat Januar sprachen wir mit einer Frau, deren Tochter im Februar mehrere Jahre zuvor Selbstmord begangen hatte. Die Mutter erzählte von ihrer Angst und ihrem Unbehagen, das Sie immer verspürte sobald der Monat Februar näher rückte. Viele ihrer Gedanken und Gefühle wurden immer schmerzbetonter. Wir bestätigten sie in ihren Gefühlen. Es sei logisch, dass die Gefühle am fraglichen Jahrestag immer stärker würden. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie uns bei der Erinnerung an ihre Tochter Folgendes sagte: „Mein Herz ist für immer gebrochen.“ Die meisten Menschen hätten ihren Kommentar akzeptiert. Wir taten es nicht. Stattdessen fragten wir sie, ob es oft positive Erinnerungen an ihre Tochter waren, die ihre Gedanken dominierten. Diese Frage konnte sie bejahen. Wir fragten sie dann, ob positive Gefühle bei diesen positiven Erinnerungen aufkamen. Sie bejahte auch diese Frage. Als wir sie dann fragten: „Wenn du dich an etwas Positives erinnerst, fühlt sich dein Herz noch immer gebrochen an?“. Diese Frage musste sie verneinen. Wir schlugen danach vor, dass sie die Phrase „Mein Herz ist für immer gebrochen“ nicht mehr verwenden sollte. Wir empfahlen ihr, stattdessen Folgendes zu sagen: „Manchmal, wenn ich mich an ihren Kampf und ihren Tod erinnere, dann fühlt es sich an, als wäre mein Herz gebrochen. Aber bei anderen Gelegenheiten, wenn ich zum Beispiel an ihre wunderbaren Eigenschaften denke, erfüllt es mich mit Freude und diese Erinnerungen möchte ich gerne mit anderen teilen.“ Eine gewöhnlich vorkommende, falsche Vorstellung von Trauernden, geschaffen und „mitverursacht“ durch Fachleute und Fachliteratur: „Da ich sie nicht vergessen habe und sie manchmal noch immer vermisse, kann ich über den Verlustschmerz nicht hinwegkommen.“ Diese Sichtweise hat tragische Folgen, sie behindert und schränkt das Leben des/der Trauernden ein.

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wann sollte man mit dem heilungsprozess beginnen Im vorigen Abschnitt haben wir das Gefühl der Betäubung erwähnt. Wir erwähnten auch, dass Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, typisch für Trauer sein können. Trotz dieser Reaktionen sind Trauernde oft gewillt, über die Umstände des Verlustes und über die Beziehung zu sprechen. Das ist ein normaler Prozess nach einem Verlust und ist eine Art Durchgang oder Inventur der Beziehung, mit allen Höhen und Tiefen. Das bedeutet, dass eine effektive Trauerbewältigung fast umgehend begonnen werden kann. Es ist ziemlich einfach, diesen automatischen Durchgang der Beziehung auszunutzen, um alle Gefühle, die bis jetzt noch nicht artikuliert wurden, zu entdecken und aufzugreifen. Auch die gefühlvollste und perfekteste Beziehung beinhaltet Teile, die emotional nicht abgeschlossen sind. Die Erinnerungen sind oft klarer nach dem Verlust. Es ist eine gute Gelegenheit, die unglaublich große Menge an Erinnerungen zu „inventarisieren“. Trauernde sollen und möchten über ihren Verlust sprechen. Es ist normal, dass man innerhalb der Familie über die/den Verstorbene/n direkt nach ihrem/seinem Ableben spricht. Es ist auch normal, dass man über das Positive und Negative spricht. Dies betrifft auch Veränderungen wie Pensionierung, Arbeitslosigkeit, gesundheitliche Probleme und den Tod eines Haustieres usw. Das Sprechen hat eine befreiende Wirkung und ist daher gut. Gewöhnlich ist es aber nicht ausreichend. Oft benötigen wir weitere Handlungen, um diesen Schmerz zu bewältigen. Wir entdecken ihn oft erst mit der Zeit, wenn wir über unsere Beziehungen sprechen. Für uns ist es das Schlimmste, wenn sich Menschen zu den Trauerbewältigungskursen anmelden, aber dann nicht kommen. Manchmal rufen sie an und sagen: „Mein Therapeut sagt, dass ich noch nicht bereit bin, meine Trauer zu bewältigen.“ Lassen Sie uns die Frage, wann man mit der Trauerbewältigung beginnen sollte, wie folgt beantworten: 1. Sie stürzen schwer und ziehen sich eine tiefe, stark blutende Wunde am Schienbein zu. Suchen Sie sofort ärztliche Hilfe auf? Natürlich werden Sie das gleich tun. 2. Sie haben einen Verlust erlitten und empfinden emotionalen Schmerz. 16


Versuchen Sie umgehend, Hilfe zu bekommen oder warten Sie ab, bis Sie gefühlsmäßig ‘verbluten’ ? Sie haben die Wahl! Kann man zu früh mit der Trauerbewältigung beginnen? Die Antwort ist NEIN. Während der ersten zehn Jahre unserer Tätigkeit haben wir hauptsächlich mit Bestattungsunternehmen und Priestern/Rabbinern/Imamen gearbeitet, um ihnen eine gute Unterstützung bei der Betreuung von Trauernden zu sein. Diese Berufsgruppen sind oft die ersten, die mit Trauernden nach Todesfällen in Berührung kommen. Es ist nie zu früh, mit Trauerbewältigung zu beginnen.

selbstmord, mord, aids und andere tragische umstände Emotionale Isolation ist ein großes Problem für Trauernde. Verluste, erlitten durch Selbstmord, Mord, Tod durch AIDS und andere tragische Umstände, verstärken diese Isolation. Trauer in sich ist emotional zu erklären. Das bedeutet aber nicht, dass die Ursachen von Todesfällen keine Gefühle wecken. Klar ist, dass, wenn wir eine geliebte Person durch tragische Umstände verlieren, wir starke Gefühle von Ungerechtigkeit entwickeln. Nachdem wir akzeptiert haben, dass uns sogar die Umstände bzw. Ursachen eines Todesfalles beeinflussen, sollten wir uns unmittelbar auf zwei Aspekte konzentrieren: 1. Werden Sie den geliebten Menschen weniger vermissen, wenn er/sie auf andere Art und Weise verstorben wäre? Die Antwort lautet NEIN. 2. Was ist für Sie nach dem Verlust emotional unvollendet und nicht abgeschlossen? In den vorigen Abschnitten haben wir über Wut und Nichtwahrhabenwollen gesprochen. Es handelt sich hierbei um nicht sehr hilfreiche Worte für Trauernde. Abschluss ist ein anderes zweideutiges Wort, das nicht weiterhilft. Nach einem Gerichtsurteil z.B. belagern Journalisten mit Kameras und Mikrofonen den Trauernden und wollen wissen, ob das Gerichtsurteil denn nun einen Abschluss bewirkt habe. Die Antwort ist immer NEIN. Das Gerichtsurteil ist u.a. für die Rechtssicherheit wichtig aber der Trauernde hat damit keine Hilfe für die emotionale 17


Unvollständigkeit bekommen. Im besten Fall bedeutet der Rechtsspruch das Ende der Gerichtsverhandlung und des -prozesses. Aber Rechtsprozesse können niemals Trauernden helfen, emotional vollständig in der Beziehung zu werden. Es gibt viele Beispiele von Menschen, die eine Todesursache als Anlass genommen haben, daraus eine Lebensaufgabe zu machen. Das ist im Grunde natürlich nicht verkehrt, im Gegenteil, alle profitieren wir von größerem Bewusstsein und verbesserten Routinen bei Unfällen und in der Gesellschaft allgemein. Unser Leben wird auf Grund der unermüdlichen Einsätze dieser Personen um Einiges bereichert. Schade ist, dass die meisten von diesen unermüdlichen Verbesserern trotzdem emotional nicht geheilt werden, weil sie sich ganz auf ihre „neue“ Lebensaufgabe konzentrieren. Der Kraftaufwand gilt nicht der Bewältigung des eigenen emotionalen Schmerzes, und das ist dann das eigentliche Problem. Einige von Ihnen werden vielleicht einen Grund haben, Ärzte oder Krankenhäuser wegen falscher oder unausreichender Behandlung zu verklagen. Wir möchten Sie auffordern, zuerst die Trauerbewältigung in Angriff zu nehmen. Dieser Abschluss wird für Sie ein guter Mitkämpfer sein. Sie werden über viel mehr Energie verfügen. Aber am Wichtigsten von allem: Sie werden nicht aufgrund falscher Vorstellungen agieren. Sie werden nicht (mehr) glauben, dass der „Prozess oder das Urteil“ ihre Trauer mindern oder vergessen machen kann.

das s-wort Ein oft falsch angewandtes Wort im Zusammenhang mit Trauer ist das Wort „Schuld“. Wir nennen es das S-Wort. Wir verwenden es nie bei Gesprächen mit Trauernden, da es nur äußerst selten das richtige Wort ist. Ein normales schmerzliches Gespräch bei uns am Institut läuft ungefähr so ab: TRAUERNDE/R: Mein Sohn hat sich das Leben genommen. Ich fühle mich so schuldig. INSTITUT: Hast du etwas getan, das deinen Sohn bewusst verletzt hat? TRAUERNDE/R: Nein (die absolut häufigste Antwort, die wir bekommen). INSTITUT: Laut Wörterbuch ist Schuld etwas, was man empfindet, wenn man absichtlich jemanden verletzt oder ihm/ihr schadet. Du bist am Boden zerstört, da sich dein Sohn das Leben genommen hat. Es ist nicht 18


notwendig, noch weiteren Schmerz auf dich zu laden, indem du dieses falsche Wort verwendest. TRAUERNDE/R: Daran hab ich ja nie gedacht! INSTITUT: Gibt es Dinge, die anders oder besser hätten verlaufen können oder von denen du gerne mehr hättest haben wollen? TRAUERNDE/R: Ja, gibt es…. Danach brechen oft alle Blockaden. In Ausnahmefällen kommt es vor, dass jemand wirklich eine andere Person bewusst verletzt oder geschadet hat. Wenn das der Fall ist, hilft eine Entschuldigung, so dass die/der Trauernde ohne Hinderniss mit der Trauerbewältigung fortsetzen kann.

überlebende Vielleicht haben Sie gemerkt, dass wir dieses Wort nicht ein einziges Mal in diesem Buch benutzt haben; das haben wir bewusst getan. Es kann nämlich in vielen Hinsichten irreführend sein. Überlebende ist intellektuell korrekt ausgedrückt, es heißt, dass der Trauernde länger gelebt hat als die/der andere. Wir haben festgestellt, dass das Wort Überlebende/-r eine Tendenz hat, als Definition oder Diagnose verwendet zu werden und das ist ein riskanter und schmerzlicher Weg auf dem der Trauernde festfahren könnte. Ein Überlebender zu sein wird dann zur Identität. Man kann zwar einen Mord überleben aber man kann z.B. nicht den Selbstmord einer anderen Person überleben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Trauernde mehr mit der Definition und dem dazugehörigen Schmerz beschäftigt sind, als mit der wirklichen Bewältigung der emotionalen Seite dieser Beziehung. Wir wissen, dass es Selbsthilfegruppen gibt, die für Menschen mit verschiedenen Verlusten zugänglich sind. Das können Selbsthilfegruppen für Betroffene von Selbstmord, Mord, Tod durch AIDS, Kindstod oder Scheidungen sein. Wir vertreten die Meinung, dass Trauernde in unserer Gesellschaft schon isoliert genug sind und dass eine weitere Isolierung in Form von so einer Gruppeneinteilung nicht von Vorteil ist. Natürlich ist es ein Trost, andere mit ähnlichen Erfahrung und Verlusten zu treffen. Unsere Überzeugung, die auf fast dreißigjähriger Erfahrung basiert, ist aber auch: 19


Alle Beziehungen sind einzigartig, somit ist auch die emotionale Heilung für jeden von uns einzigartig. Eine Konzentration auf eine so genannte gemeinsame intellektuelle „Wahrheit“ trägt nicht zum Heilungsprozess bei. Isolierung durch Einteilung in verschiedene Typen von Verlusten kann natürlich einen kurzsichtigen Wert haben, fördert jedoch keine langfristigen Lösungen.

es liegt nicht an ihnen Größere Verluste, verursacht durch Todesfälle, Scheidungen usw. sind vollkommen normal und ein Teil des Lebens. Sie treffen uns aber nicht mit großer Häufigkeit, verglichen mit anderen Ereignissen in einem Menschenleben. Deshalb sind wir nicht unbedingt mit allen Gedanken und Gefühlen vertraut, die mit großen Verlusten einhergehen. Es ist unvermeidlich, dass wir daher auf die Informationen zurückgreifen, über die wir schon verfügen. Wir versuchen auf diese Art und Weise, die widersprüchlichen Gefühle, die durch einen Verlust ausgelöst werden, zu bewältigen. In diesem Buch weisen wir mehrmals auf die Tatsache hin, dass die meisten von uns falsch sozialisiert sind, was Trauer und deren Bewältigung betrifft. Das heißt allerdings nicht, dass wir hiermit die Gesellschaft, unsere Eltern oder Institutionen verurteilen. Wir glauben nicht, dass frühere Generationen bewusst falsche Informationen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben haben. Wir sind nur überzeugt davon, dass Menschen das weitergeben und lehren, was sie selbst kennen. Somit kann falsches „Wissen“ weitergeben werden. Wenn Sie entdecken, dass die Informationen und die Unterstützung nicht ausreichend für die Bearbeitung und Bewältigung Ihrer Trauer waren, dann liegt das natürlich nicht an Ihnen. Es liegt daran, dass keine korrekten Informationen vorhanden waren. Die Tatsache, dass Sie dieses Buch lesen, bedeutet, dass Sie eine offene Einstellung haben. Es bedeutet, dass Sie bereit sind, einen Heilungsprozess zu beginnen, der Ihr Leben bereichern wird. Es ist für uns ein Zeichen eines gesunden Geistes.

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Trauer(n) heilt Ein Ratgeber zur Unterstützung des emotionalen Heilungsprozesses bei Todesfällen, Trennungen und anderen Verlusten „Die Zeit heilt alle Wunden.“ „Andere Mütter haben auch schöne Töchter.“ „Das Leben geht weiter.“ Es gibt viele Klischees, die für Trauernde allerdings wenig hilfreich sind. Was soll man tun, wenn ein geliebter Mensch uns verlässt oder gar stirbt? Ausgehend von den eigenen Erkenntnissen und den Erfahrungen vieler tausend Mitmenschen beleuchten die Autoren Friedman & James, was Trauer wirklich ist und wie man diese bewältigen kann, um seine ursprüngliche Energie und Lebenslust wieder zu erlangen. Dieses Buch bietet Trauernden konkrete Unterstützung durch Beispiele und Übungen und hilft, den Schmerz nach einem Verlust zu heilen. Die Methode, die in diesem Buch beschrieben wird, kann Ihr Leben verändern. „Dieses Buch ist für alle meine Klassen Pflichtliteratur. Je öfter ich es verwende, desto mehr wird mir klar, dass unbewältigte Trauer die größte Ursache für viele persönliche Probleme ist. Das Buch ist das einzige mir bekannte, das nicht nur das Problem sehr gut beschreibt, sondern gleichzeitig einen Lösungsansatz anbietet.“ – Bernard McGrane, Professor für Soziologie, Chapman Universität in USA Russell Friedman und John W. James arbeiten seit fast 30 Jahren mit Trauernden. Sie standen bereits Tausenden von Fachleuten in diesem Bereich als Konsulenten bzw. Berater zur Verfügung und bieten Seminare sowie Zertifizierungskurse in den Vereinigten Staaten und in Kanada an.

ISBN 978-91-9747-963-9

www.trauernheilt.de


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