Lehrbuch für präklinische Notfallmedizin (NotSan)

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6 Leitsymptome und Notfallbilder ˘ 6.4 Notfallsituationen mit Leitsymptom Schmerz

Zwei Nicht-Opioid-Schmerzmittel sind Paracetamol und Metamizol (Novaminsulfon). Nachteilig sind bei beiden die vielleicht unzureichende Wirkstärke und vor allem der verzögerte Wirkeintritt. Vorteilhaft sind dagegen die spasmolytischen Eigenschaften von Metamizol, es wird deshalb gerade bei Koliken gerne eingesetzt. Opioide wie Morphin und Fentanyl können den Tonus glatter Muskulatur zum Beispiel an der Gallengangsmündung dagegen steigern, was in der aktuellen Literatur allerdings als unproblematisch bezeichnet wird, zumal wenn begleitend Spasmolytika (z. B. Butylscopolamin) eingesetzt werden. Die Darmperistaltik wird allerdings sowohl durch Butylscopolamin als auch durch Opioide reduziert. Daher ist vorher zu auskultieren! Bei einer Nierenkolik ist keine gute Wirkung von Butylscopolamin zu erwarten, dieses Medikament wird eher bei Gallenwegs- oder auch Darmkoliken eingesetzt. Die Gabe von Butylscopolamin ohne begleitendes Schmerzmittel ist nicht ausreichend. Bei Koliken wird vielfach auch zu einem Versuch mit einem Nitropräparat geraten (Off-Label-Use!), welches den Tonus z. B. der glatten Gallenwegsmuskulatur reduzieren kann. Eine interessante Substanz zur raschen und effektiven Analgesie auch von Patienten mit akutem Abdomen ist Esketamin bzw. Ketamin. Diesem Medikament fehlen viele der geschilderten unerwünschten Eigenschaften anderer Medikamente.

˘ Beispiele

Junge Frau ohne Auffälligkeiten in der SAMPLE-Anamnese, jetzt dringender Verdacht auf Gallenkolik. Die Gabe von 20 mg Butylscopolamin führt bereits zu einer spürbaren Linderung der Beschwerden. Beginn einer Kurzinfusion mit 1 000 mg Metamizol (Novaminsulfon). Ältere Patientin mit dringendem Verdacht auf Nierenkolik. SAMPLE: An eine Unverträglichkeit peripherer Analgetika, zu denen auch Metamizol gehört, muss gedacht werden. Bei normalem oder erhöhtem Blutdruck wird ein Therapieversuch mit 2 Hüben Nitrospray unternommen. Nach regionalem Protokoll werden 7,5 mg Esketamin und 1 mg Midazolam. Ergänzt wird dies bei anfangs noch nicht ausreichendem Erfolg mit zwei Dosen à 5 mg Esketamin im Abstand weniger Minuten, was zu einer ausreichenden Analgosedierung führt. Der Blutdruck bleibt stabil. Der Dosisbereich von Esketamin zur Analgesie beträgt 0,125 – 0,25 mg/kg KG, bei 70 kg KG also 8,75 – 17,5 mg. Jüngerer Patient (80 kg) mit unklaren starken Schmerzen im Oberbauch, nicht kolikartig. Fraktionierte Gabe von Morphin, beginnend mit 2 mg, ergänzt durch ein Antiemetikum. Wiederholte Gabe von je 2 mg bis zusammen 8 mg (0,1 mg/ kg KG), dann ausreichende Schmerzlinderung. Älterer Patient mit Schock und starkem Druckschmerz im Unterbauch. Vorsichtige Gabe von Esketamin in 5-mg-Schritten, dazu zweimal 0,5 mg Midazolam bis zur suffizienten Analgosedierung.

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6.4.2

Akutes Abdomen – Notfallbilder

Starke Bauchschmerzen sind eine häufige Notfallsituation im Rettungsdienst. Meist ist dabei unklar, ob der Patient später chirurgisch oder internistisch versorgt werden muss. Früher galt bei dieser Notfallsituation der Grundsatz einer zurückhaltenden Schmerztherapie, um eine weitere Diagnostik damit nicht zu beeinträchtigen. Dies ist bei den heutigen Diagnoseverfahren meist kein stichhaltiges Argument mehr gegen eine Schmerzlinderung. Eine sorgfältige Dokumentation des Notfallbildes mit den entsprechenden Schmerzäußerungen und den Befunden ist erforderlich, sodass diese Daten an die aufnehmende Klinik übermittelt werden können. Dann steht einer entsprechenden Schmerzlinderung nichts mehr entgegen.

6.4.2.1

Appendizitis

Die Appendizitis ist eine Entzündung des Wurmfortsatzes, der ein Anhängsel (Appendix) des eigentlichen Blinddarms darstellt. Nicht immer verläuft eine solche »Blinddarmentzündung« typisch, unspezifische Verläufe kommen vor allem bei schwacher Immunabwehr sowie bei Säuglingen und alten Menschen vor. Die Therapie ist chirurgisch.

˘ Ursachen / Pathophysiologie

Ursächlich sind bakterielle Entzündungen der Wandschichten an der Appendix, schlimmstenfalls entstehen Gewebsnekrosen. Kommt es dann zu einer Perforation, tritt Darminhalt in die Bauchhöhle über. Bei einer solchen perforierten Appendizitis entsteht eine lebensgefährliche Peritonitis. Klinisches Bild einer akuten Appendizitis

Dehnungsschmerz McBurneyPunkt Lanz- Punkt Loslassschmerz

Abb. 121 ˘ Symptome und klassische Schmerzempfindung bei akuter Appendizitis


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