A ˘ Der Absturz
1.3 Die Katastrophe Der Flugverlauf wurde aufgrund der durch die Untersuchungskommission vorgelegten Auswertung des Cockpit Voice Recorder (CVR, Sprachaufzeichnungsgerät) und des Flight Data Recorder (FDR, Flugschreiber) rekonstruiert. Ich war Mitglied dieser Kommission. Es war ein angenehm milder Abend, ein leichter Wind wehte aus Ost bis Südost, der Himmel war bewölkt und der leichte Regen hatte gerade aufgehört, als sich um 23.42 Uhr und 11 Sekunden das Flugzeug auf der Startbahn 8 auf dem Flughafen von Puerto Plata in Bewegung setzte. Keiner der Fluggäste ahnte auch nur im Entferntesten, dass der Flug bereits nach fünf Minuten in einer Katastrophe enden und das Leben aller 189 Insassen des Fluges ALW 301 ausgelöscht sein würde. Im Cockpit der Boeing 757 saßen drei Piloten, als verantwortlicher Flugzeugführer auf dem linken Sitz Kapitän Erdem, auf dem rechten Sitz der Copilot Aykut Gergin und auf dem Notsitz der zweite Kapitän Muhlis Evrenesoglu, der auf dem ersten Flugabschnitt keine Funktion hatte. Kapitän Erdem flog dieses Flugzeug auf der ersten Etappe, der Copilot sollte ihm zuarbeiten und ihn unterstützen, so war die Arbeitsteilung vorgesehen. Kapitän Erdem war mit 61 Jahren ein erfahrener Pilot, er hatte während seines Fliegerlebens diverse Flugzeugmuster geflogen, unter anderem bei Singapore Airlines den Airbus A 310. Von seinen insgesamt 25.000 Flugstunden hatte er auf dem Flugzeugmuster B 757 1.875 Stunden geflogen. Sein Copilot Aykut Gergin war mit 34 Jahren und rund 2.870 Flugstunden auf unterschiedlichen Flugzeugmustern nicht gerade unerfahren, hatte aber auf der B 757 mit knapp 72 Flugstunden wenig Erfahrung. Auch der zweite Kapitän, 51 Jahre alt, hatte erst rund 122 Flugstunden auf diesem Flugzeug absolviert, war aber mit 15.000 Flugstunden auf anderen Flugzeugmustern als erfahren einzustufen. Im Cockpit rechnete keiner mit ernsthaften Problemen auf diesem Flug, als sich das Flugzeug endlich mit über zwei Stunden Verspätung in Bewegung setzte. Auch die Passagiere waren sicher froh, dass es endlich losging, und hatten es sich für die bevorstehende zehnstündige Flugreise bereits bequem gemacht, soweit dies in Charterflugzeugen möglich ist. Der Kapitän hatte die Leistungshebel beider Triebwerke nach vorn auf die erforderliche Startleistung geschoben, und das Flugzeug beschleunigte. Beim Übergang vom LowSpeed- in den High-Speed-Bereich bei 80 kt (80 Knoten entsprechen etwa 150 km/h) zeigte der Copilot dies laut Vorschrift mit dem Ausruf »Eighty Knots« an, was auch als »Incapacitation Check« bezeichnet wird, das heißt, es wird noch einmal geprüft, ob beide Piloten im Vollbesitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte sind und ob alle Instrumente normal arbeiten. Als der Copilot diesen Check bei 80 kt durchführte, antwortete der Kapitän, dass seine Geschwindigkeitsanzeige offensichtlich nicht funktionierte, er aber den Start fortsetzen werde, da die Geschwindigkeitsanzeige des Copiloten funktioniere und dieser ihm die notwendigen Geschwindigkeiten für den Startverlauf ansagen solle. Das Flugzeug hob mit einer Geschwindigkeit von etwa 135 kt (ca. 250 km/h) vom Boden ab und stieg mit einem Anstellwinkel (englisch: Pitch) von etwa 12° in den nachtdunklen Himmel.
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23.04.2007 13:57:05 Uhr