Trotzdem 3/2017

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DI E ZEI T U NG DER SOZ I A L IST ISCH E N J UGE N D ÖST ER R EICH

LINKS IM DRUCK.

Ausgabe 3/17 Dezember 2017 www.sjoe.at

Digitalisierung  = Prekarisierung? Warum das kein Naturgesetz ist und was Foodora, Facebook und Co für uns bedeuten, klären wir im Schwerpunkt! s. 22–25

Wir dürfen uns nicht spalten lassen! Armut hat strukturelle Ursachen. Im Interview mit Manuela Wade diskutieren wir, was die Politik hier macht und machen müsste. s. 14–15

Endlich über sexualisierte Übergriffe sprechen Warum es als Tabu gilt, was sich gerade ändert und wie sich die #MeToo-Debatte entwickelt! s. 18–19

Der Widerstand beginnt jetzt! Die neue Schwarz-Blaue Regierung ist angelobt und das Koalitionsprogramm beinhaltet massive Verschlechterungen für ArbeiterInnen, SchülerInnen, StudentInnen, Arbeitslose und MigrantInnen. Der Widerstand dagegen ist daher um so wichtiger!

Österreichische Post AG / Sponsoring.Post 02Z032957 S

s. 4–9

Wir haben uns angeschaut, was die SJ jetzt tun muss, wie es bei Schwarz-Blau 1 gelaufen ist und im Interview mit den Nationalratsabgeordneten Muna Duzdar und Sabine Schatz fragten wir nach, welchen Weg die SPÖ einschlagen muss.


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INHALT INHALT

Widerstand gegen Schwarz-Blau! Ein eisiger Hauch weht durch Österreich und es ist nicht nur der Winter, der die Kälte bringt. Schwarz-Blau 2 wird in den nächsten Jahren die Regierung stellen und bringt Angriffe auf hart erkämpfte Rechte mit sich: 12-Stunden-Arbeitstag, Schwächung der Arbeiterkammer, allgemeine Studiengebühren, doch kein generelles Rauchverbot, RetroBildungspolitik und vieles mehr. Als Sozialistische Jugend werden wir den Widerstand organisieren, junge Menschen motivieren und politisch bilden. Darum widmet sich die Coverstory in dieser Ausgabe der Frage, wie der Widerstand organisiert sein muss, was wir als SJ machen müssen und wie sich die

SPÖ als Opposition aufstellen soll.

Wer dich gegen Schwarz-Blau!“

„1938 Gründe gegen Haider“

Der Widerstand darf nicht nur bis zum nächsten Wahltermin reichen. Er muss darüber hinaus gehen. Ein Wahlsieg der SPÖ allein wird nicht reichen, um die Entwicklungen der letzten und der kommenden Jahre korrigieren zu können. Rechtes Gedankengut ist weit in unsere Gesellschaft eingedrungen und wenn linke Politik Erfolg haben möchte, muss sie den Diskurs drehen, Solidarität wieder positiv besetzen und nicht nur Prozente, sondern Meinungen zurück gewinnen! Die Aufgabe für die nächsten Jahre ist groß. Beginnen wir jetzt!

Der Protest gegen die erste SchwarzBlaue Regierung war groß. Heute ist die Gesellschaft eine andere: Der Rechtsruck ist vorangeschritten! Was früher noch ein Skandal war, ist heute salonfähig. Trotzdem verzagen wir nicht! Die ersten Projekte der neuen Regierung zeigen, dass viele Menschen damit gar nicht glücklich sind. Diesen Unmut gilt es jetzt zu kanalisieren und in Protesten Ausdruck zu verleihen! „Widerstand! Hol dir deine Zukunft zurück.

Die Trotzdem-Redaktion

Inhalt Editorial 3 Vorwort von Julia Herr:

Die Jugend trägt den Widerstand!

Coverstory 4–5 Opposition gegen Schwarz-Blau:

Kurz und Strache an der Macht – Was tun?

6–7 Interview mit Duzdar und Schatz: Wir müs-

sen die neue Regierung vor uns her treiben!

8–9 Rückblick auf Schwarz-Blau 1: Der Widerstand beginnt!

Inland 10 Organisationsreform SPÖ:

Fenster auf, frischer Wind hinein!

11 SJ-Wahlkampf NRW17:

Mit Inhalten punkten & Menschen begeistern!

Gesellschaft 12–13 Ländlicher Raum: Der ländliche Raum muss digitalisiert werden!

14–15 Armut in Österreich:

„Wir dürfen uns nicht spalten lassen!“

16 Respekt statt Abwertung:

Frauen 18–19 #MeToo:

Wir müssen über sexualisierte Übergriffe sprechen!

20 Veränderung im Rückwärtsgang:

Das veraltete Rollenbild der „Neuen“ ÖVP

21 Digitalisierung:

Frauen trifft’s besonders hart!

Schwerpunkt 22–23 Kommunikationskapitalismus:

Wir müssen soziale Medien erst erkämpfen!

24–25 Folgen der Digitalisierung:

Prekarisierung ist kein Naturgesetz!

Internationales 26 Kommentar von Josef Weidenholzer:

Robotisierung: Freund oder Feind für Europas Zukunft?

27 Weltweite Kampagne für Steuer­

gerechtigkeit: Internationalismus in der Praxis

28–29 Kommentar zur Unabhängigkeits­

Das Frauenvolksbegehren sammelt ab 12. Februar Unterstützungserklärungen. Mehr Informationen gibt es auf frauenvolksbegehren.at

Impressum Trotzdem 3/2017: Verlagspostamt: 1050 Wien Aufgabepostamt: 4020 Linz Zulassungsnummer: GZ 02Z032957 S Herausgeberin: Sozialistische Jugend Österreich (SJÖ), Amtshausgasse 4, 1050 Wien Tel.: 01/523 41 23, Fax: 01/523 41 23-85, Mail: office@sjoe.at, Web: www.sjoe.at DVR: 0457582, ZVR: 130093029 Medieninhaberin: Trotzdem VerlagsgesmbH, Amtshausgasse 4, 1050 Wien. Geschäftsführerin: Sara Costa, Eigentümerin: SJÖ (100%), Tel.: 01/526 71 12, Fax: 01/526 71 12-85, Mail: office@trotzdem.at Grundlegende Richtung: Das Trotzdem versteht sich als Medium zur Information von Mitgliedern, FunktionärInnen und Sympathisant­ Innen der SJÖ. Das Trotzdem informiert über aktuelle politische Debatten und thematisiert jugendrelevante Ereignisse. Chefredaktion: Julia Herr, Roland Plachy MitarbeiterInnen dieser Ausgabe: Miriam Bonaparte, Simon Březina, Mirza Buljubasic, Sara Costa, Silvia Czech, Stefan Hofinger, Jan Hofmann, Maja Höggerl, Matthias Krainz, Nadine Lenzinger, Nora Limbach, David Lizoain, Lisa Marchhart, Olivia Mühlbacher, Daniel Posch, Eva Reiter, Peter Schicho, Maida Schuller, Hannah Stern, David Walaszek, Josef Weidenholzer Lektorat: Roland Plachy

Richtig über Armut sprechen

bewegung in Katalonien: Das fehlende Element

Produktion: NGL-Mediamondial, 3151 St. Georgen

Rezensionen

Kalender

Art Direction, Grafik: Peter Rüpschl

17 Buch: Eric Burton – Socialisms in Development Film: Aus dem Nichts Musik: Angus and Julia Stone – Snow

30–31 Was war – was kommt

Gefördert durch: BMFJ, gem. § 7Abs. 2B-JFG


EDITORIAL EDITORIAL

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Vorwort von Julia Herr

Die Jugend trägt den Widerstand! Montag, zwischen 8 und 9 Uhr, 10.000 Menschen haben sich am Heldenplatz versammelt. Die Demonstrationen während der Regierungsangelobung zeigen: Es gibt die Mobilisierungskraft! Es waren mehrheitlich junge Menschen, die den Heldenplatz füllten und ohne eine Hellseherin sein zu wollen: Der Protest gegen Schwarz-Blau wird weiterhin von Jugendlichen getragen werden (und getragen werden müssen). eshalb brauchen wir eine Strategie für den Widerstand und wie dieser Protest über die Jahre hinweg ausgerichtet und aufrecht erhalten werden kann. Jeder Jugendliche in Österreich, der bei Schwarz-Blau Bauchweh bekommt, muss wissen: Die SJ ist seine politische Heimat, denn hier findet der Widerstand statt. Der Widerstand wird auch durch den Kampf um den öffentlichen Raum gelebt – da braucht es nicht nur Demos, da geht es schon im Kleinen los mit Stickern, die bei euch zu Hause an jeder Bushaltestelle kleben. Der nachhaltigste Widerstand gegen die Orbán-Imitatoren Kurz und Strache ist der Aufbau von SJ Gruppen. Schaffen wir SJ Strukturen in jenen ländlichen Regionen, in denen bei Wahlen kein blaues Wunder mehr passiert, sondern blauer Alltag regiert! Viele neue Motivationsgründe in die SJ zu kommen liefert uns das Regierungsprogramm: allgemeine Studiengebühren, mehr Druck und Prüfungen in den Schulen, 12 Stunden lang hackeln etc.

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Julia Herr, Vorsitzende der Sozialistischen Jugend Österreich

Zwischen dem, was die FPÖ verspricht und dem, was die FPÖ im Regierungsprogramm umgesetzt hat, liegen mehrere Galaxien.

Tausende, überwiegend junge Leute sammelten sich am 18.12. am Heldenplatz und zeigten ihren Unmut über Schwarz-Blau.

Un!sozial Nutzen wir jene Wahrheit, die wir schon seit Jahren predigen: Die FPÖ ist keine ArbeiterInnenpartei! Die Fakten dafür liegen jetzt auf der Hand: Die Austrocknung der Arbeiterkammer, die Abschaffung von Jobs für ältere Arbeitslose, Wohltaten nur für SpitzenverdienerInnen – da fällt der soziale Anstrich der Blauen schnell ab. Zwischen dem, was die FPÖ verspricht und dem, was die FPÖ im Regierungsprogramm umgesetzt hat, liegen mehrere Galaxien. Diesen Umstand müssen wir strategisch nutzen, um viele FPÖ WählerInnen zu überzeugen.

In the long run! Erinnern wir uns an unser langfristiges Ziel. In der SPÖ höre ich jetzt oft: „In fünf Jahren holen wir uns den Kanzlersessel zurück!“ oder „In fünf Jahren werden wir wieder regieren!“ Doch: das ist nicht weit genug gedacht. Regieren nur des Regierens willen? Nein danke! Sitzen wir dann wieder in einer Rot-Schwarzen Koalition, in der die ÖVP alles blockiert? Das nächste

Mal darf die SPÖ nur in eine Regierung gehen, wenn linke Politik möglich ist. Denn wie Plan A endet, haben wir jetzt gesehen. Zeit für Plan B: Glaubhaft linke Politik in der Opposition machen und sie danach fortsetzen und nicht für eine Regierungsbeteiligung verkaufen.

Mathematik! Jetzt kann sich aber jede Person, die rechnen kann, kurz überlegen, wie binnen fünf Jahren eine Mehrheit für progressive Politik zustande kommen soll. Vor allem, wenn das Fragezeichen rund um die Grünen und das noch größere Fragezeichen rund um „OneMan-Show Pilz“ mitgerechnet wird. Selbst wenn die SPÖ all diese Stimmen einfangen könnte: Wenn sich in Österreich die Mehrheitsverhältnisse ändern sollen, brauchen wir wieder die Stimmen der ArbeiterInnen. Da kommt es uns doch gelegen, dass die FPÖ die ArbeiterInnen gerade auf allen Ebenen verrät! Deshalb: Mitglieder gewinnen, Strukturen aufbauen und vor allem der FPÖ die soziale Maske vom Gesicht reißen!


Opposition gegen Schwarz-Blau

Kurz & Strache an der Macht – Was tun? Die Wahl ist geschlagen. Sie war eine fundamentale Richtungsentscheidung für die österreichische Bevölkerung. Keine Wahl hat in den letzten Jahren so lange und so effektiv Menschen in allen Lebenslagen polarisiert und politisiert. Offensichtlich hat der linke Flügel der Gesellschaft diese Wahl massiv verloren. Während die Grünen den Einzug in das Parlament nicht geschafft haben, hat die SPÖ einen beachtlichen Teil ihrer bisherigen StammwählerInnen verloren und nur durch den Zerfall der Grünen ihr Ergebnis der letzten Wahl gehalten. Also stellt sich für die österreichische Linke nicht zu Unrecht die Frage: Was tun?

Wahl analysieren ie Wahlanalysen, wie es zur großen schwarz-blauen Mehrheit und gemeinsam mit den Neos sogar zur neoliberalen Zweidrittelmehrheit kommen konnte, gehen weit auseinander. Die Analyse, die am kürzesten greift, ist die Schuldsuche beim Skandal um Silberstein und Co. Die Entscheidung, Silberstein überhaupt zu engagieren war auch ohne Skandal fragwürdig genug. Marketing-Strategien und Meinungsumfragen über Inhalte und sozialdemokratische Werte zu stellen, ist ein Fehler an sich – ein Symptom einer viel weitreichenderen Krise der SPÖ. Die Wahl war kein freier Wettbewerb der Ideen. In den letzten Jahren wurde massiv an dem bisher akzeptierten Menschenbild gesägt. Social Media Blasen erreichen schon lange nicht mehr nur Jugendliche, sondern bereits einen großen Teil der Bevölkerung. So war es möglich, Stück für Stück völlig unterschiedliche Weltbil-

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der unkritisch nebeneinander aufzubauen, mit Informationsflüssen, die weitgehend nicht miteinander interagieren. Damit ist nicht nur die Verbreitung von Falschinformationen unheimlich leicht. So war es möglich, die Entmenschlichung von Flüchtlingen und MigrantInnen in den Köpfen der Menschen voranzutreiben. Der Boulevard tat den Rest: Mit den täglichen Schlagzeilen über Probleme mit „Asylanten“ wurde das Bild einer gefährdeten Gesellschaft gezeichnet. Mangels nennenswerter Alternative, die österreichische gesamtpolitische Lage zu interpretieren (was vor allem die Aufgabe der SPÖ und Grünen war), wurde der rassistische Diskurs langsam zum österreichischen Konsens.

Wo war das linke Lager? Dass Kurz der maroden ÖVP innerhalb eines halben Jahres einen Erdrutschsieg liefern konnte, lag nicht ausschließlich an seinem netten Lächeln. Selten wurde eine politische

Kampagne auf Bundesebene mit so wenigen Inhalten geführt, wie die von Sebastian Kurz. Kurz formulierte kaum Forderungen, die über eine „neue politische Kultur“ und Angriffe auf MigrantInnen hinausgingen. Mit dieser Strategie zu gewinnen war nur möglich, weil die ÖVP von niemandem herausgefordert wurde.

Der rassistische Diskurs wurde langsam zum österreichischen Konsens. Die SPÖ schaffte in ihrer Kampagne keine klare Linie und manche versuchten gar die ÖVP rechts zu überholen. Mit Vorschlägen wie von Minister Doskozil, Panzer an den Brenner zu schicken, verspielte die Sozialdemokratie jegliche Authentizität, ein ernstzunehmendes Gegengewicht zu der schwarz-blauen Hetze gegen Flüchtlinge und Migran-

tInnen zu sein. Statt die große zivile Bewegung, die sich gegen Hofer bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016 gebildet hatte, mit gelebter Menschlichkeit und Solidarität aufzufangen, lag der Fokus von Kerns Team auf der Förderung von Wirtschaft und Start-ups. Sinnvolle Vorstöße wie die Aktion 20.000 gingen im Lärm der Integrationsdebatte unter oder wurden erst viel zu spät im Wahlkampf aufs Tapet gebracht. Die Grünen waren die einzige Partei, die auf offene Grenzen und die Aufrechterhaltung der Flüchtlingskonventionen beharrte. Dennoch verloren die Grünen nicht ohne Grund ihre Präsenz im Parlament. Durch den Ausschluss ihrer Jugendorganisation, den Jungen Grünen, und Gerüchte über undemokratische Vorgänge innerhalb der Parteistrukturen raubten ihnen weitgehend ihre Glaubwürdigkeit. Die moralische Überlegenheit gegenüber den anderen Parteien war immer ein wichtiger Grund für die in der Regel überdurchschnittlich gebildeten Sympathisan-


COVERSTORY COVERSTORY

Am Tag der Regierungsangelobung versammelten sich rund 10.000 Menschen am Heldenplatz. Der Protest war überwiegend von jungen Menschen – SchülerInnen und Studierenden – getragen, was Mut und Motivation für die Zukunft bringt.

tInnen der Grünen, sie auch zu wählen. Mit der drohenden Gefahr einer schwarz-blauen Regierung und dem Bewusstsein, dass die Grünen niemals eine ernstzunehmende Opposition sein könnten, gingen viele Stimmen an die SPÖ verloren. Die Liste Pilz war nur noch der letzte Nagel im Sarg des grünen Parlamentsklubs. Doch das linke Lager endet nicht bei den beiden großen Parteien der linken Mitte. Die KPÖ, die Linkswende und unzählige andere Kleinparteien und Initiativen im linken Spektrum waren diese Wahl präsenter denn je. Dennoch waren ihre Bemühungen bei der Stimmenauszählung nicht sichtbar. Trotz eines Wahlbündnisses

der KPÖ und den exilierten Jungen Grünen verlor die KPÖ etwa die Hälfte ihrer Stimmen. Das Wahlbündnis der KPÖ fiel in das gleiche Loch, das den Grünen geschadet hatte: Sie konnten niemanden davon überzeugen, dass die KPÖ eine ernstzunehmende Opposition zu einer rechtskonservativen Regierung sein könnte. Obwohl die Forderungen oft kaum von denen überzeugter SozialdemokratInnen zu unterscheiden waren, konnten sie nicht einmal 1% der Stimmen für sich gewinnen.

Das linke Lager in Österreich muss diese Niederlage als Chance sehen. Auch die SJ konnte ihr Ziel nicht völlig erreichen. Die Sozialdemokratie fuhr weder den systemkritischen Kurs, der von der SJ schon seit Jahren gefordert wird, noch konnte Julia Herr mit einem Vorzugsstimmenwahlkampf in den Nationalrat einziehen und dort als kämpferische linke Stimme für die Menschen in Österreich kämpfen. Trotzdem war die SJ medial und auf der Straße präsenter denn je. Darauf muss jetzt aufgebaut werden.

Wir haben verloren – Was jetzt zu tun ist Das linke Lager in Österreich muss diese Niederlage als Chance sehen. Die Sozialistische Jugend konnte ihr historisch größtes Wachstum unter der ersten schwarz-blauen Regierung verzeichnen. Das Bedürfnis, gegen eine rechte, sexistische und rassistische Politik aufzutreten, ist da. Die Mobilisierung für Van der Bellen hat bewiesen, dass viele Menschen bereit sind, für ihre (linken) Überzeugungen einzutreten. Diese Menschen müssen aufgefangen werden. Es ist Zeit, Bündnisse gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft zu schließen und auf lokaler, sowie bundesweiter Ebene Widerstand zu leisten. Ob es darum geht, eine Abschiebung in Vorarlberg zu verhindern oder gegen den 12-StundenArbeitstag zu demonstrieren, die Antwort auf Kurz und Strache muss immer laut und stark sein. Das kann die Sozialistische Jugend nicht allein machen. Dazu braucht es nicht nur eine Kooperation mit anderen Initiativen mit einem antikapitalistischen Grundverständnis, sondern auch die Unterstützung der SPÖ, der Grünen, der Gewerkschaften und NGOs wie SOS Mitmensch. Dieses Vorhaben ist leichter gesagt, als getan. Außerhalb von Wien gibt es kaum politische Strukturen, die eine flächendeckende Bewegung gegen Schwarz-Blau tragen könnten. Auch in Wien befinden sich diese Strukturen fast ausschließlich auf universitärem Level, also nicht wirklich dazu geschaffen, breite Teile der Bevölkerung anzusprechen. Was es also braucht, ist eine fundamentale Erneuerung der politischen Strukturen der österreichischen Linken.

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erfolgreich Projekte realisieren können. Auch hier ist unheimlich viel Know-How bei der SPÖ, aber auch bei der Sozialistischen Jugend zu finden. In den kommenden Monaten wird das Bedürfnis, sich gegen Kurz und Strache zu wehren, massiv ansteigen. Ob dann auch etwas passiert, liegt an jenen, die auch die Ressourcen haben, eben diesen Widerstand verwirklichen zu können.

Die SPÖ hat das Potenzial, viele Initiativen aufzufangen und langfristig in den Widerstand gegen die Regierung einzubinden. Nicht trauern, handeln! Die Zeit, die Wahl zu betrauern, ist vorbei. Jetzt liegt es an UNS, Widerstand zu leisten. Die Sozialistische Jugend sowie die Sozialdemokratie befinden sich dabei in einer besonderen Position der Verantwortung. Die SJ ist weltweit eine der erfolgreichsten linken Jugendorganisationen und hat immer wieder bewiesen, erfolgreich Strukturen in ganz Österreich aus dem Boden stampfen zu können. Die SPÖ muss endlich wieder über ihren Schatten springen und zu ihren Wurzeln der Solidarität zurück-

Strukturaufbau dort, wo es Sinn macht Während NGOs und kurzweilige politische Initiativen oft daran scheitern, keine kostengünstige Räumlichkeit zu haben, um ihre Pläne umzusetzen, verfügt die SPÖ österreichweit über viele Büros und Liegenschaften, die nicht in ihrer vollen Kapazität genutzt werden.Aufgrund dieser Ressourcen hat die SPÖ das Potenzial, viele Initiativen aufzufangen und langfristig in den Widerstand gegen die Regierung einzubinden. Aktivismus auf regionalem Level bedeutet meist, sich erst einmal zu treffen und planen zu können. Dafür braucht es Menschen mit Organisationserfahrung, die

kehren. Als letzte linke Partei im Parlament verfügt sie über Ressourcen, die essentiell für eine breite Bewegung sind. Wenn die alten sozialdemokratischen Strukturen geöffnet werden, kann die SPÖ auch ihre Glaubwürdigkeit als antifaschistische Kraft gegen Rassismus und Sozialabbau wiedergewinnen. Wenn der Widerstand jetzt richtig beginnt, werden Kurz und Strache nicht lange an der Macht bleiben. JedeR einzelnE wird dabei gebraucht.

Simon Březina

Als die Regierungspläne zum 12-StundenArbeitstag bekannt wurden, organisierten die roten Jugendorganisationen, allen voran die SJ und die FSG Jugend einen Protest vor der FPÖ Zentrale. Die Zusammenarbeit fand aber auch mit dem ÖGJ statt – denn gewerkschaftlicher Protest ist dringend notwendig.


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Interview mit Duzdar und Schatz

Wir müssen die neue Regierung vor uns her treiben! Das TROTZDEM traf die ehemaligen SJ-Funktionärinnen Muna Duzdar und Sabine Schatz, die uns nun im Nationalrat vertreten werden und stellte ihnen einige Fragen zu ihrer künftigen politischen Arbeit und dem richtigen Kurs für die SPÖ. Trotzdem: Die SPÖ ist nun in der Opposition, Schwarz-Blau in der Regierung. Was muss die SPÖ machen, um gestärkt aus dieser Konfrontation herauszugehen? Duzdar: Ein Standbein ist die aktive parlamentarische Arbeit, denn in Opposition muss man gerade als Abgeordnete umso vehementer auftreten. Wir müssen der neuen Regierung auf die Finger schauen, sie vor uns her treiben und geradezu hyperaktiv sein. Nur so werden wir als Opposition gehört. Deshalb müssen wir frech, aufmüpfig und aktiv sein, um auf uns aufmerksam zu machen. Gemeinsam mit der Zivilgesellschaft müssen wir ein Momentum erzeugen, um eine starke Stimme gegen die Schwarz-Blaue Regierung zu sein. Das andere Standbein ist die inhaltliche Aufstellung der Partei. Die Themen müssen soziale Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich sein. Das sind die Themen der Sozialdemokratie. Wir dürfen uns nicht in Sicherheitsdebatten a la Sobotka verzetteln, weil wir hier als Sozialdemokratie nur verlieren können. Wir müssen unsere Stärken hervorheben und die werden umso wichtiger sein, wenn erst eine Regierung angelobt ist, die von sozialem Ausgleich gar nichts hält. Trotzdem: Die SPÖ muss also wieder die soziale Frage stellen? Duzdar: Nicht nur stellen, sondern dabei auch in die Tiefe gehen. Der Neoliberalismus ist in der Mitte unse-

rer Gesellschaft angekommen. Neiddebatten und dieses GegeneinanderAusspielen schlagen ein wie eine Bombe. Das hat damit zu tun, dass auf der einen Seite der Rechtspopulismus nun auch von der ÖVP salonfähig gemacht wurde, aber auch das neoliberale Denken: wenn du arbeitslos bist, bist du selber Schuld. Wenn du Mindestsicherung beziehst, bist du faul. Wenn du zu wenig verdienst, bist du nicht tüchtig genug. Da muss man sich schon fragen, woher das kommt, warum das schon so stark verankert ist. Da reicht es nicht, einen 10-Punkte-Plan vorzustellen und abzuarbeiten, da müssen auch Grundsatzdiskussionen geführt werden. Solche Diskussionen haben wir in der Vergangenheit zu wenig geführt. Wichtig ist, dass wir hier jetzt auf den Plan treten. Genau das stärkt und festigt uns. Schatz: Wir müssen uns als SPÖ endlich von dieser Konsens-Politik der letzten Jahre verabschieden und wieder sozialdemokratische Politik machen. Wir müssen auf unseren Werten Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität aufbauen und uns muss klar sein, dass alle Themen rechts der Mitte besetzt sind. Es macht also keinen Sinn, zu versuchen, dort mitzuschneiden. Es widerspricht unseren Werten, wir sind unglaubwürdig und die Rechnung für solche Versuche haben wir präsentiert bekommen. Wenn wir also von Sicherheit reden, dann müssen wir von sozialer Sicherheit sprechen und nicht von Panzern an der Grenze.

Trotzdem: Was muss sich an den Partei-Strukturen ändern? Duzdar: Wir müssen uns öffnen und eine Politisierung in der Partei zulassen. Bildungsarbeit war in der ArbeiterInnenbewegung immer zentral, ist in den letzten Jahren aber verloren gegangen. Wir werden von den Medien von so vielen Infos überflutet, die dieses rechte, neoliberale Gedankengut widerspiegeln. Daher kann man keine Hegemonie, keinen Konterpart, aufbauen ohne ausreichend politische Bildungsarbeit in der Partei. Wir müssen gegen den rechten und neoliberalen Mainstream mit einer klaren Positionierung ankämpfen und dagegen halten. Schatz: Wir müssen diese SchwarzBlaue Regierung auch als Chance begreifen und nützen. Wir müssen wieder mehr politisieren und den Widerstand kanalisieren. Wir müssen beim Widerstand an erster Stelle stehen. Es ist auch nicht primär der Wahlsieg 2022 das Ziel, sondern dieses vorherrschende Gesellschaftsbild, diese Neidgesellschaft, wieder umzudrehen und den Menschen bewusst machen, dass es nur denen da oben nutzt, wenn wir uns unten gegenseitig treten. Wir müssen zeigen, dass während über Mittelmeer- und Balkanroute öffentlich diskutiert wird, im Hintergrund unsere Rechte beschnitten werden. Trotzdem: Welche Schwerpunkte wollt ihr euch in den nächsten Jahren setzen?

Schatz: Ich bin Sprecherin für Erinnerungskultur und werde natürlich dort meinen Fokus setzen. Das wird eine Herausforderung werden, mit einer Regierung, wo die FPÖ-Mandatare zu einem großen Teil Burschenschafter sind. Das liegt auf der Hand. Die FPÖ ist im Vergleich zu 2000 viel weiter rechts positioniert. Gleichzeitig ist dieses Gedankengut auch viel salonfähiger und in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Alltäglichkeit der sogenannten Einzelfälle führt dazu, dass der große Aufschrei fehlt. Gerade deshalb müssen wir dran bleiben. Neben dem Antifa-Bereich möchte ich mich auch für Frauenpolitik engagieren. Die künftige Regierung wird hier sicher nichts positives leisten, das sehen wir auch schon in Oberösterreich, wo die Frauenlandesrätin gerade Kindergartengebühren einführen will. Duzdar: Wir müssen die Gesellschaft als Ganzes sehen und Problemen und Herausforderungen mit Lösungen begegnen. Es darf jetzt auch nicht zu sehr darum gehen, wer welches Thema hat. Da braucht es nicht lauter FachreferentInnen, sondern das Verständnis, parlamentarische Arbeit als Tool zu nutzen und nicht als Selbstzweck. Mein Akzent wird in Richtung Außenpolitik gehen, weil mir der Internationalismus wichtig ist und weil diese Provinzialisierung der letzten Jahre überwunden gehört. Die Fluchtbewegungen sind die direkte Folge des fehlenden Nord-Süd Dialogs. Man hat einfach nicht hinge-


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COVERSTORY COVERSTORY Manager eine halbe Million und sieht jetzt, wie seine Forderungen umgesetzt werden. Wir brauchen Regelungen, die solche Wege unmöglich machen. Wir müssen uns auf soziale Medien konzentrieren, uns da verbessern und neue Kanäle erschließen. Es ist aber Fakt, dass viele Menschen glauben, was in der Zeitung steht.

Sabine Schatz war Landessekretärin der SJ Oberösterreich und von 2004 bis 2006 Verbandssekretärin der SJ Österreich. Sie engagiert sich bei den SPÖ Frauen Oberösterreich, ist Gemeinderätin in Ried in der Riedmark und seit kurzem auch Abgeordnete zum Nationalrat.

schaut und sich gedacht, was in Afrika und im Nahen Osten passiert, interessiert uns nicht. Bruno Kreisky hat noch gewusst, dass wir die direkten Auswirkungen sehr wohl spüren – 2015 wurden da aber viele erst wieder wachgerüttelt. Wir müssen uns international wieder vernetzen, weil aktuell machen das nur die Rechten, insbesondere in Ostund Südosteuropa. Das bedeutet teilweise von Null an zu beginnen. Trotzdem: Was muss für stärkere internationale Vernetzung getan werden? Duzdar: Die Sozialistische Internationale ist meiner Meinung nach politisch tot und auch in der PES ist es nicht so leicht zu agieren. Wir müssen uns als SPÖ auch wieder stärker auf bilaterale Zusammenarbeit verständigen und Beziehungen und Allianzen aufbauen. Es gibt ja gute Institutionen wie das Renner Institut oder das Kreisky-Forum, wo wir andere Organisationen einladen können. Langfristig braucht es eine starke Vernetzung unter den sozialdemokratischen Parteien weltweit. Schatz: Europäische Politik gehört auch wieder stärker thematisiert. Auch innerhalb der Sozialdemokratie. Was auf EU-Ebene passiert, ist oft nur nebensächlich. Wir nutzen auch die Kompetenzen unserer EU-Abgeordneten viel zu wenig. Dabei machen sie hervorragende Arbeit. Trotzdem: Wie erklärt ihr, dass gerade ArbeiterInnen zur FPÖ gewechselt sind?

Das Interview wurde am 9. Dezember geführt, zu einem Zeitpunkt, als die Regierung schon fix erschien, aber noch nicht angelobt war.

Duzdar: Viele ArbeiterInnen glauben uns nicht mehr, was wir da sagen und tun. Zusätzlich spaltet der Nationalismus. Die Arbeiter­ Innen erreichen wir dann, wenn wir glaubwürdig linke Politik machen. Schatz: ArbeiterInnen hatten in den letzten Jahren Reallohn-

verluste und es war dann für die Rechte leicht, Menschen für sich zu gewinnen, in dem sie die Schuld MigrantInnen und Flüchtlingen gaben. Damit bleibt übrig, dass wir als Sozialdemokratie oft ganz stark auf die Menschen vergessen haben und gerade in der Koalition mit der ÖVP viele Deals ausgemacht haben, die nicht vorrangig für ArbeitnehmerInnen zielbringend waren. Und dann sind Punkte, die zwar den Vielen helfen, wie starke Pensionserhöhungen, Abschaffung des Pflegeregresses oder die Angleichung von ArbeiterInnen und Angestellten, noch nicht angekommen. Hätte man erst in einem Jahr gewählt, hätten diese Maßnahmen schon gewirkt. Trotzdem: Warum schafft es die SPÖ nicht, ihre Inhalte zu vermitteln? Duzdar: Wir haben uns in den letzten Jahren viel zu stark auf die konventionellen Medien verlassen. Diese haben insbesondere im Wahlkampf keine objektive Arbeit geleistet. Die Kombination aus zwei Parteien, die nur über Migration geredet haben und dem Boulevard, hat dazu geführt, dass viele Menschen schlussendlich nur das zu hören bekommen haben. Da gibt es natürlich große Interessen und Machtnetzwerke, die einen Kanzler Kurz wollen. Schatz: Auch die Mittel waren nicht gut verteilt. Da zahlt ein

Das Interview in voller Länge kann auf www.sjoe.at/ InterviewDuzdarSchatz nachgelesen werden.

Duzdar: Wenn wir hingegen von Vermögensbesteuerung geredet haben, ist natürlich klar, dass das nicht im Interesse der Großindustrie oder von Medienhäusern ist. Da sind wir auch nicht durchgedrungen und konnten nicht aufzeigen, dass wir damit keineswegs die Häuslbauerin treffen.

Da zahlt ein Manager eine halbe Million und sieht jetzt, wie seine Forderungen umgesetzt werden. Schatz: Paradebeispiel für die Macht der Medien ist ja besonders das „Nikolo-Verbot“. Da wird mit Fake-News Aufregung verursacht und das ist auch schon im Wahlkampf ausgenutzt wurden. Duzdar: Was hier geschieht ist eine Brot und Spiele-Politik, mit der Menschen trotz für sie schlechter Politik bei der Stange gehalten werden sollen. Die künftige Regierung wird weiterhin darauf bauen und um Einschnitte in der Sozialpolitik durchzubringen auf populistische Maßnahmen und Nebelgranaten setzen. Statt über 12-Stunden-Arbeitstag zu diskutieren, wird dann über NikoloVerbot und Advent-Kränze in Stiegenhäusern geschrieben. Das ist eine gefährliche Methode, gegen die wir mit unseren eigenen Kanälen Widerstand leisten müssen.

Das Interview führten Eva Reiter und Nora Limbach

Muna Duzdar war internationale Sekretärin der SJ, Vize-Präsidentin der internationalen Dachorganisation IUSY und stv. Landesvorsitzende der SJ Wien. Nach einigen Jahren im Bundesrat und Wiener Landtag wurde sie 2016 zur Staatssekretärin im Bundesamt. Seit der letzten Nationalratswahl sitzt sie für die SPÖ im Nationalrat.


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„1938 Gründe gegen Haider“ – am Anfang rechnete niemand mit großen Protesten, doch der Zorn war erheblich größer als gedacht. Mit einem „1998 Gründe für Haider“-Fakebild heizte die FPÖ die Stimmung selbst auch noch an. Quelle: SCHLAGER Roland / APA / picturedesk.com

Rückblick auf Schwarz-Blau 1

Der Widerstand beginnt! Die Koalitionsverhandlungen sind beendet, die neue Schwarz-Blaue Regierung steht. Zeit für einen Blick zurück auf die Regierung Schüssel und die damaligen Protestbewegungen. Was können wir als Sozialistische Jugend tun? Wie können wir Widerstand leisten? Um diese Fragen zu beantworten hat das TROTZDEM Florian Wenninger getroffen, der als damaliger SJ-Funktionär viel über die Situation und die Rolle der SJ zu erzählen hat. leich nach den Nationalratswahlen 1999, bei denen die Haider-FPÖ den zweiten und Wolfgang Schüssels ÖVP den dritten Platz errang, war klar, dass die Taktik der ÖVP auf eine schwarz-blaue Koalition zielte. Florian Wenninger, war gerade von seinem Gedenkdienst in Israel nach Österreich zurückgekommen. In Wien beteiligte sich der gebürtige Kärntner zunächst im Rahmen des Gedenkdienstes und der von diesem mitgetragenen Demokratischen Offensive an den Versuchen, eine Regierungsbeteiligung der FPÖ zu verhindern. Die erste große Protestkundgebung fand, veranstaltet von der Demokratischen Offensive, während der Koalitionsverhandlungen am 12. November 1999 statt. Weil Unklarheit herrschte, welchen Zuspruch der Demonstrationsaufruf erfahren würde, wurde die Veranstaltung nicht wie in den 1990ern das Lichtermeer, am Heldenplatz, sondern auf dem Stephansplatz abgehalten. Selbst OptimistInnen im Organisationskomitee hatten jedoch nicht mit dem Ansturm gerechnet, der am Abend der Kundgebung nicht nur den Stephansplatz, sondern auch die umliegenden Stra-

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ßen und Gassen füllte. „Die Leute standen bis in die Seitengassen hinein, die Stimmung war gigantisch“, erinnert sich Florian zurück. „Wir vom Gedenkdienst hatten ein großes Transparent mit der Aufschrift ‚1938 Gründe gegen Haider‘ das selbst von den Hochhäusern aus zu sehen war. Es entstand ein Foto davon, das von der FPÖ mit Photoshop auf ‚1998 Gründe für Haider‘ verfälscht und als Hintergrunddeko einer Pressekonferenz Jörg Haiders diente. Die Unverfrorenheit, mit der die FPÖ eine gegen sie gerichtete Kundgebung in eine eigene Jubelveranstaltung umzudeuten versuchte, sorgte medial für beträchtliche Aufmerksamkeit. Rundum redeten alle über Politik, auch Leute, die davor nichts damit zu tun hatten. Und solche Aktionen wie das gefakte Foto heizten die allgemeine Unruhe weiter an.“

Die Rolle der SJ in der Sozialbewegung Obwohl Schüssel schon bei den Nationalratswahlen 1995 offen mit einer Koalition mit der FPÖ geliebäugelt hatte, hielten es viele Leute – auch innerhalb der Protestbewegung – letztlich

für unwahrscheinlich, dass er diesmal mit der FPÖ paktieren würde. Wenn solche Leute auf die Protestveranstaltungen kamen, dann vor allem, um gewissermaßen zur Sicherheit ein Zeichen zu setzen. Als die Koalition

„Die Leute standen bis in die Seitengassen hinein, die Stimmung war gigantisch.“ dann aber wirklich stand, wirkte das wie ein Donnerschlag. Hatte es zuvor schon viel mehr Bewegung als üblich gegeben, intensivierte sich nun der Protest ungeheuer. Besonders junge Menschen waren stark politisiert, befanden sich aber in einem Dilemma: kaum jemand wollte eine Fortsetzung der großen Koalition, gleichzeitig wollte niemand die FPÖ in der Regierung. Eine andere Konstellation hatte aber keine parlamentarische Mehrheit. Der Protest blendete dieses Problem weitgehend aus – ohne eine genauere Vorstellung zu haben wären

die meisten vermutlich für eine Ampel aus Rot-Schwarz und grün oder liberal eingetreten. Als die Koalition aus ÖVP und FPÖ schließlich stand, war das aus einer SP-Innensicht zumindest insofern ein Vorteil, als es der Partei die Möglichkeit bot, sich inhaltlich und organisatorisch in der Opposition zu erneuern. Viele hätten es daher zwar kaum zugeben wollen, waren aber insgeheim auch froh über das Ende der großen Koalition, in der die SPÖ sich und ihre Ziele über Jahre hinweg Schritt für Schritt verkauft hatte. Von November 1999 bis weit in die erste Jahreshälfte 2000 fand viel unorganisierter grassroot-Protest statt. Die SJ konnte den insofern gut nutzen, als sie Struktur bieten konnte wo sonst keine war und außerdem Ressourcen hatte, um Kampagnen auszuarbeiten, Flyer zu drucken und Aktionen zu planen. Vor den Protesten war die SJ-Wien auf wenige Bezirksorganisationen beschränkt gewesen. In kürzester Zeit entstanden nun in fast allen Wiener Bezirken SJ-Organisationen mit dem Ziel, politischen Widerstand gegen den Rechtsschwenk im Land zu leisten. Ein Effekt, der auch in anderen Bundesländern nicht ausblieb.


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Am 19. Februar 2000 fand eine Groß­ demonstration gegen die damalige SchwarzBlaue Regierung statt. Quelle: SCHNARR Ulrich / APA / picturedesk.com

Wolfgang Schüssel war der damalige ÖVP Vorsitzende und stellte von 2000 bis 2006 den Bundeskanzler während der schwarz-blauen Koalition. Er gilt als politischer Ziehvater des jetzigen ÖVP Chef Sebastian Kurz. Florian Wenninger war Landes-Sekretär der Sozialistischen Jugend Wien. Heute ist er Universitätsassistent und Historiker mit den Schwerpunkten Polizei- und Militärgeschichte, Österreichs Republikgeschichte und Geschichtspolitik. Er ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift „zeitgeschichte“.

Anfänglich stießen die einschlägigen Aktivitäten auf große Sympathien: „Als SJ übernahmen wir eine Protestaktion die hieß ‚Chor der Nachbeter‘. Wir gingen im Gänsemarsch die Mariahilfer Straße auf und ab, vorneweg ein Vorbeter mit Megafon, hinter ihm zehn Leute mit blauen Schals. Das Ganze war aufgezogen wie eine Rosenkranzbetgruppe. Der Vorbeter gab im Singsang eines Pfarrers Haider-Zitate zum Besten, die von den Menschen mit blauen Schals im selben Singsang wiederholt wurden, während sich alle mit Brettern gegen den eigenen Kopf schlugen. Die Leute blieben stehen, lachten, Daumen hoch, reihten sich ein. Unser Zug war bald doppelt so lang wie anfangs. So ging es uns bei vielen Aktionen.“ Einer der wöchentlichen Fixpunkte waren die Donnerstagsdemonstrationen. Protestierende zogen jeden Donnerstag durch die Straßen Wiens, um ihren Unmut gegen die Regierung zu artikulieren. Auch hier waren die Reaktionen anfangs überaus positiv, obwohl die Demonstrationen den Verkehr behinderten und abends Krach schlugen jubelten die Leute aus den Fenstern. Aber mit den Wochen und Monaten flaute die Stimmung ab. Nach einem halben Jahr war die Phase des großen Zorns vorbei. Ein Gewöhnungseffekt trat ein, langsam sickerte die Forderung „lasst die Regierung halt arbeiten“. In der SJ war es mittlerweile zu einem Wechsel an der Verbandsspitze gekommen, mit Andreas Kollross stellte erstmals seit Jahrzehnten die Linke die Führung der Organisation. Das machte sich auch in neuen Themen bemerkbar: Die SJ griff stärker Sozialthemen auf, etwa

mit der Kampagne „Zeitbombe Jugendarbeitslosigkeit“. Mit Aktionen vor Berufsschulen und einem konkreten Forderungskatalog. Durch diese Kampagne gelang es viele Lehrlinge in die SJ zu holen, die ein großer Zugewinn für die Organisation waren. Insgesamt wurde die Organisation politischer – und kritischer. Die Schulungsarbeit lebte auf. Hatten bis dahin vor allem technische Workshops die diversen Seminare dominiert, so waren es jetzt die Themen-Go-Ins.

Druck aufzubauen. Wenn die SPÖ sich wieder einmal in die falsche Richtung bewegt, muss die SJ da sein um der Partei auf die Finger zu klopfen. Das ist eine zentrale Aufgabe der SJ. Sie darf die Abgeordneten nicht in Ruhe lassen, muss auf den Parteitagen lästig sein, muss sich trauen zu streiten. Das Schlechteste was passieren kann ist ein neues 2006: Die rechte Regierung ist am Ende, die SPÖ hat jahrelang wütend gegen unsoziale Maßnahmen im Sozialbereich, gegen Pensionskürzungen, Aufrüstung und Studiengebühren gewettert – und wirft alle Versprechen, es als Regierungspartei anders zu machen über Bord, sobald der Kanzlersessel in Reichweite kommt. Unter den Jungen, die 99/2000 in die Organisation gekommen waren hat die SPÖ damals ungeheuer an Vertrauen verloren. Um das zu verhindern braucht es eine starke SJ, die Widerstand leistet, wenn es darauf ankommt, auch gegen die eigene Partei.“ Was wir ebenfalls noch aus diesen sechs Jahren unter Schüssel mitnehmen müssen, ist der Ausbau von Netzwerken mit anderen linken Organisationen.

„Was wir damals zu wenig gemacht haben, war innerpartei­ lichen Druck aufzubauen.“

Die SJ unter Schwarz-Blau Einer der ersten großen Aufreger gegen den sich die SJ zur Wehr setzte, war die Kürzung der Verpflegungssätze für Zivildiener, später etwa die Einführung der Studiengebühren. An Verschlechterungen für Jugendliche, gegen die man protestieren konnte, herrschte kein Mangel. Dass die FPÖ nicht nur ausländer- und arbeiterInnenfeindliche Politik machte, sondern auch gegen die Interessen von Frauen agierte, unterstrich die Einsetzung von Herbert Haupt als Sozial- und Frauenminister. Eine seiner ersten Amtshandlungen als Frauenminister war es, eine Abteilung zu schaffen, die sich jahrelang ausgerechnet mit der Diskriminierung von Männern beschäftigte.

Was können wir aus der Zeit unter Schüssel lernen? Entscheidend ist, dass sich die SJ als aktive politische Organisation versteht, die sich auch gegenüber der Mutterpartei kritisch verhält und Druck macht. „Was wir damals zu wenig gemacht haben, war innerparteilichen

Wir müssen den Kontakt mit den Gewerkschaften ausbauen, um uns gemeinsam zur Wehr zu setzen. Allianzen für soziale Anliegen zu bilden ist unumgänglich, wenn wir eine starke Stimme sein wollen. Florian fällt dazu ein Beispiel ein: „2003 streikten die Eisenbahner als Einzige gegen die schwarz-blaue Pensionsreform. Wir haben da situationsbedingt mitgeholfen, haben an den Bahnhöfen die Streikposten beim Infomaterialverteilen unterstützt, denen war das oft ein bisschen peinlich. Und das immerhin konnten wir gut. Die Kontakte, die damals entstanden sind, waren längerfristig sehr wertvoll.“ Ob am Beginn der 2000er Jahre oder heute, für uns ist klar: Wir werden Schwarz-Blau keine Ruhe lassen. Wir werden uns gegen rassistische, sexistische und sozialfeindliche Politik zur Wehr setzen und wir werden nicht zurückweichen. Unser Widerstand beginnt jetzt!

Jan Hofmann

Andreas Kollross war von 2000 bis 2004 SJ-Verbandsvorsitzender und fuhr ein sehr klar linkes Programm und unterschied sich damit von seinem Vorgänger und der SPÖ-Linie. Herbert Haupt ist FPÖ-Mitglied und war zu jener Zeit auch teil­ weise Vizekanzler. Heute ist er Vizebürgermeister der Stadtgemeinde Spittal an der Drau.


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INLAND INLAND

Organisationsreform SPÖ

Fenster auf, frischer Wind hinein! Die Sozialdemokratie sieht sich in Österreich vor neue Herausforderungen gestellt: Nach Jahren in der Regierung geht es jetzt in die Opposition. Was im Augenblick einen massiven Verlust an Einfluss und Macht bedeutet, muss langfristig als Chance genutzt werden. Einerseits, um die Partei inhaltlich auf ein stabiles Fundament zu stellen, wo Kritik am herrschenden System wieder glaubwürdig und fundiert formuliert werden kann – andererseits, um die Partei selbst auf neue Beine zu stellen! Inhalte statt Inszenierung

Mehr Mitbestimmung, Diversität und inhaltliche Debatten: An diesen Leitlinien muss sich die Organisationsreform der SPÖ orientieren.

W

ill die SPÖ in den nächsten Jahren wieder viele Menschen ansprechen und für sich gewinnen, muss sie auf Demokratisierung und nachvollziehbare Entscheidungsprozesse setzen. Die Zeit der Abmachungen im Hinterkammerl muss vorbei sein, denn viele Menschen sind heute nicht mehr einfach so bei der Partei, weil es die Eltern schon waren und die Inhalte passen, sondern wollen mitbestimmen. Eine Parteispitze, die ihre Mitglieder vor vollendete Tatsachen stellt, wird über die Partei hinaus kaum für Begeisterung sorgen. Die Wege, die die SPÖ hier wählen kann, sind vielfältig und auch in diesem Artikel können nicht alle Vorschläge Platz finden. Eine Auswahl beschränkt sich daher auf den Parteitag, mehr Demokratie und Diversität.

Ein Parteitag ist kein Medienspektakel. Hier schlägt die SPÖ ihre inhaltlichen Grundpfeiler für die kommenden Jahre ein und dafür braucht es intensive, offene und auch kontroverse Debatten.

Ein Parteitag ist kein Medienspektakel. Hier schlägt die SPÖ ihre inhaltlichen Grundpfeiler für die kommenden Jahre ein und dafür braucht es intensive, offene und auch kontroverse Debatten. Unter der Anwesenheit dutzender Medien ist eine solche Diskussion nicht möglich. Streit, Duell, Spaltung, Grabenkämpfe – der letzte Wahlkampf hat gezeigt, wie Medien hier aufbauschen und die Berichterstattung der Sache mehr schadet als nutzt. Der Parteitag soll daher ohne Medien statt finden. Um die Debatte weiter zu befördern, gilt es die Empfehlung durch die Antragsprüfungskommission abzuschaffen und die Kommission auf die Prüfung der Anträge nach inhaltlicher Richtigkeit und formalen Regeln zu beschränken. Delegierte des Parteitages können selbst Entscheidungen treffen und brauchen keine Hilfestellung! Was auf dem Parteitag, dem höchsten Gremium der SPÖ, beschlossen wird, muss natürlich auch für alle gelten. An diese Beschlüsse müssen sich auch Landeshauptleute halten – auch wenn ihnen gegenteiliges gerade gelegen kommt. Mit diesen Schritten sind die Grundlagen geschaffen, damit wieder auf breiter Basis respektvoll, ehrlich und inhaltlich diskutiert werden kann. Von der Grundsatzdebatte bis zum konkreten Punkte-Programm trägt jede lebhafte Diskussion zu einer lebendigen Partei bei!

Direktwahl und Urabstimmung Die Partei mit Leben erfüllen! Nicht nur am Parteitag, sondern auch darüber hinaus. Mitglieder sollen den Kurs der Partei aktiv mitbestimmen

können. Das macht es auch für Außenstehende attraktiver, sich einzubringen, aktiv zu werden und mitzuhelfen, unsere Inhalte zu vermitteln. Zwei essenzielle Werkzeuge dafür sind die Direktwahl des oder der Parteivorsitzenden sowie die Urabstimmung über künftige Regierungsprogramme. Beides trägt zu einer stärkeren Legitimation bei, was uns in der direkten Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner stärkt.

Für eine diverse SPÖ! Die SPÖ hat den Anspruch, die große Mehrheit der Bevölkerung zu vertreten. Das kann ihr nur gelingen, wenn sie diese auch in den eigenen Strukturen abbildet. Erstmals sitzen für die SPÖ im Nationalrat 46% weibliche Abgeordnete. Das ist ein wichtiger Erfolg, unter den wir nicht mehr zurück fallen dürfen. 40% muss daher als Untergrenze im SP-Nationalratsklub festgeschrieben und das Reißverschlussprinzip gestärkt werden. Kaum vertreten sind im Parlament MigrantInnen. Die SPÖ muss das Ziel haben, für alle Menschen Politik zu machen, egal woher sie kommen. Daher darf die Herkunft auch innerhalb der SPÖ keine Hürde sein. Diese Veränderung lässt sich nicht diktieren. Sie lässt sich nur durch eine Veränderung der tagtäglichen politischen Kultur erreichen. Die nächsten Jahre sind nicht leicht. Wir müssen den politischen Diskurs in Österreich ändern, aber wir müssen auch die Partei verändern. Ersteres wird ohne letzterem nicht gelingen, daher sollten wir mit der Öffnung und Demokratisierung der Partei so schnell wie möglich durchstarten.

Stefan Hofinger

Beim Reißverschlussprinzip folgt einem Mann immer eine Frau bei der Listenerstellung - und umgekehrt. Damit dieses System durch Vorzugsstimmen nicht gestört wird, soll über die Bundesliste so nachbesetzt werden, bis das Geschlechterverhältnis stimmt.


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INLAND INLAND Wahlkampf der SJ

Mit Inhalten punkten & Menschen begeistern! Die Nationalratswahl ist geschlagen und das Gesamtergebnis war für uns nicht erfreulich. Trotzdem können wir auf einen erfolgreichen Wahlkampf der Sozialistischen Jugend zurück blicken. Allein die Tatsache, dass hunderte AktivistInnen über Wochen hinweg auf der Straße waren und tausende Gespräche geführt haben, zeigt, was wir auf die Beine stellen können. Der Wahlkampf hat innerhalb der Organisation eine Energie entfaltet, die jeden und jede ergriffen hat und uns dazu motivierte, bis zum letzten Tag keine Diskussion zu scheuen und auch noch den letzten Flyer zu verteilen.

Ein Pool voller Geld, während David auf 5m2 hausen muss: Mit dieser Aktion für eine Millionärssteuer starteten wir so richtig durch und tourten durch ganz Österreich!

M

it über 2.600 Vorzugsstimmen konnte auch unsere Vorsitzende und Spitzen-Kandidatin Julia Herr ein sehr gutes Ergebnis einfahren, auch wenn es schlussendlich nicht für den Einzug in den Nationalrat gereicht hat. Aber nicht nur das! Auch auf Regional- und Landesebene haben KandidatInnen der Sozialistischen Jugend fleißig tausende Vorzugsstimmen gesammelt. Damit wird vor allem eines sichtbar: Auch ohne großem Parteiapparat, ohne die Gelder von Großindustriellen und ohne enormen Budget für Plakatwände und Werbeeinschaltungen können Inhalte vermittelt und Menschen überzeugt werden! Unsere Stärke waren unsere Mitglieder, unsere Inhalte und klare Ansagen.

352.000 Flyer verteilt

165.000 Sticker verbreitet

23.000

Kulis hergegeben

13.000

Kondome verschenkt

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Aktionsstände gemacht

Auch wenn der Wahlkampf nun vorbei ist, bleiben unsere Forderungen top aktuell. Egal ob die Millionärssteuer oder das Top-Jugendticket für alle unter 26, leistbares Wohnen und ein Ende für den Steuerbetrug durch Großkonzerne diese Themen brennen vielen Menschen unter den Nägeln! Wer, so wie wir, soziale Themen anspricht, die Herrschaft der Mächtigen hinterfragt und mit der Kritik auch nicht vor dem aktuellen System halt macht, kann Menschen überzeugen und begeistern. Der Wahlkampf hat vor allem auch eines gezeigt: Wir müssen uns vor Schwarz-Blau nicht fürchten! Mit den richtigen Themen, unserer Energie und Motivation können wir Kurz und Strache noch ordentlich einheizen!

Peter Schicho

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Parties veranstaltet

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Videos veröffentlicht

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Diskussionsveranstaltungen abgehalten

Tausende Gespräche geführt


GESELLSCHAFT GESELLSCHAFT

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Ländlicher Raum

Der ländliche Raum muss digitalisiert werden Der „ländliche Raum“ ist seit dem Beschluss des Umzugs des Umweltbundesamtes nach Klosterneuburg wieder aktuelles Gesprächsthema. „Landflucht“ beziehungsweise das „Landsterben“ sind große Zukunftsherausforderungen für Österreich. Das TROTZDEM traf deshalb Dr. Gerlind Weber, pensionierte Professorin der Universität für Bodenkultur Wien und nun selbständige wissenschaftliche Konsulentin für ländliche Entwicklung und Raumordnungspolitik, zum Gespräch. Trotzdem: Wie wird der ländliche Raum definiert? Weber: Es ist nicht leicht, den ländlichen Raum einzugrenzen. Man arbeitet hier eher mit einer Negativdefinition, die heißt: Alles, was nicht Stadt ist, ist ländlicher Raum. Das ist aber heute wenig aussagekräftig. Denn es hat sich zwischen Stadt und Land vielmehr ein neuer Raumtyp entwickelt, der „rurbane Raum“ auch „Zwischenstadt“ genannt. Es kann davon ausgegangen werden, dass etwa 40 Prozent der österreichischen Bevölkerung mittlerweile in solchen hybriden Räumen leben. Beispiele dafür sind etwa das Wiener Umland, Räume entlang der Hochleistungsverkehrsachsen entlang der Westautobahn bzw. Westbahn, aber auch das Rheintal in Vorarlberg. Charakteristika des ländlichen Raumes sind zum Beispiel die geringe Bebauungsdichte, die Bebauungsart (Einfamilienhäuser) oder auch, dass oft nur mehr Teile der Basisversorgung wie Nahversorger, Kinderbetreuungseinrichtungen und Volksschulen vorhanden sind. Zudem ist die Dominanz agrarisch genutzter Flächen bezeichnend,

aber auch eine rege Vereinstätigkeit und ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl der BewohnerInnen. Trotzdem: Das Umweltbundesamt soll von Wien nach Klosterneuburg übersiedeln. Das Land Niederösterreich und das Umweltministerium bezeichnen diese Maßnahme als „Stärkung des ländlichen Raumes.“ Ist Klosterneuburg ländlicher Raum? Weber: Nein, Klosterneuburg ist geradezu ein Paradebeispiel für diese Zwischenstädte. Als Teil der Metropolregion Wien herrscht eine hohe Verflechtung mit Wien. Die BewohnerInnen von Klosterneuburg pendeln überwiegend nach Wien zur Arbeit und meist spielt sich auch das kulturelle Leben in Wien ab. In Klosterneuburg selber wird gewohnt. Trotzdem: Das heißt, die Maßnahme verfehlt ihre Wirkung? Weber: Ja, mit der Umsiedelung des Umweltbundesamtes wird die Stadt Klosterneuburg gestärkt, die ohnehin strukturstark ist. Es handelt sich um keine Arbeitsplatzschaffung, sondern um eine Arbeitsplatzverlagerung. Die mehrheitlich in Wien wohnenden

werden antizyklisch auspendeln, sie werden also auf kurze Sicht nicht ihren Wohnsitz oder Lebensmittelpunkt nach Klosterneuburg verlagern. Vielleicht ein paar Generationen später, aber auch da scheint es nicht besonders wahrscheinlich. Die Maßnahme, strukturschwache Regionen durch Dezentralisierung von staatlichen Einrichtungen zu fördern, ist prinzipiell gut. Aber eine so spezifische Behörde wie das Umweltbundesamt, wo Fachkräfte wie UmwelttechnikerInnen in hoher Zahl arbeiten, ist kein gutes Beispiel dafür. In ländlichen Regionen fehlt es

Mit der Umsiedelung des Umweltbundesamtes wird die Stadt Klosterneuburg gestärkt. alleine schon an den nötigen Fachkräften, aber auch an adäquatem Wohnraum, um solche Ziele sinnvoll in kurzer Zeit umzusetzen. Dieser Schritt muss den Umständen angemessen erfolgen, einzelne Abteilungen könnten etwa in verschiedenen

Landgemeinden angesiedelt werden, aber nicht ein „Riesenamt“ auf einmal in einer Kleinstadt. Ein Vorzeigebeispiel ist die Stadt Salzburg. Dort hat man vor 15 Jahren das zuständige Amt für Strafmandatsverwaltung ins strukturschwache St. Michael im Lungau ausgelagert. Die Region hat davon profitiert. Trotzdem: Es gibt vom Umweltministerium seit kurzem einen „Masterplan zur Stärkung des ländlichen Raumes. “ Was sind für Sie die wichtigsten Schritte zur Förderung strukturschwacher Regionen? Weber: Die Forderungen sind seit Jahren die Gleichen: es müssen zukunftsträchtige Arbeitsplätze neu entstehen. Grundvoraussetzung ist heute, dass auch der ländliche Raum an der Wissensökonomie teilnehmen kann. Das heißt, eine leistungsfähige digitale Ausstattung muss auch hier flächendeckend vorhanden sein. 100 MBit-Leitungen müssen zum Standard werden und dürfen nicht länger als Fantasie abgetan werden. Ohne zeitgemäße Infrastruktur wird sich kaum ein Betrieb ansiedeln. Dadurch wird es auch keine Vermehrung zukunftsträchtiger Arbeitsplät-


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GESELLSCHAFT GESELLSCHAFT ze geben. Der ländliche Raum darf nicht nur als attraktiver Lebensraum, sondern er muss auch als ein leistungsstarker Wirtschaftsraum gesehen werden, sonst hat manche Gemeinde keine Zukunft mehr. Trotzdem: Wie entwickelt sich prinzipiell der ländliche Raum in Österreich? O. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Gerlind Weber studierte Soziologie, Raumplanung und Rechtswissenschaften in Wien. Im Jahr 1991 wurde sie als Universitätsprofessorin für Raumforschung und Raumplanung an die Universität für Bodenkultur Wien berufen. Bis zu ihrer Pensionierung 2012 leitete sie an der BOKU das Institut für Raumplanung und Ländliche Neuordnung. Weber ist Mitglied in diversen Beiräten, Think Tanks, Fachjurien und Berufsverbänden.

Weber: Es ist wichtig, den ländlichen Raum nicht als geschlossenes Jammertal wahrzunehmen. Manche der reichsten Gemeinden Österreichs sind ländliche Gemeinden, wie zum Beispiel jene in zweisaisonalen Tourismusregionen. Es gibt jedoch gehäuft strukturschwache Regionen, die sich entlang des Alpenhauptkamms von Osttirol über Kärnten und weite Teile der Steiermark und den Süden von Oberund Niederösterreich ziehen. Dazu kommen die Grenzregionen zum ehemaligen Eisernen Vorhang. Tendenziell werden die reichen Regionen immer reicher und die ärmeren immer ärmer. Es ist kein „Kampf“ zwischen Stadt und Land, sondern eine Polarisierung zwischen strukturschwach und strukturstark. Trotzdem: Womit ist diese Entwicklung zu erklären? Weber: In den letzten Jahren sind mehr Arbeitsplätze in vielen ländlichen Gebieten verloren gegangen, als neue

Es ist kein „Kampf“ zwischen Stadt und Land, sondern eine Polarisierung zwischen strukturschwach und strukturstark. geschaffen werden konnten. Dies ist auch teilweise auf den Umstand zurückzuführen, dass sich die öffentliche Hand dort zurückgezogen hat. Postfilialen und Bezirksgerichte wurden geschlossen, Gendarmerieposten wurden zugesperrt und im öffentlichen Verkehr wurde das Angebot ausgedünnt. In vielen Gebieten gibt es kein leistungsfähiges Internet. Das ist aber Voraussetzung für Betriebsansiedlungen, was dazu führt, dass qualifizierte Arbeitskräfte wegziehen bzw. nicht zuziehen und dieses Fehlen ist ein wesentlicher Teil der anhaltenden Strukturschwäche. Im alpinen Raum fehlt es zusätzlich oft an attraktiven Gewerbe- und Industrieflächen. Es gibt nicht selten keine Krabbelstuben

und Nachmittagsbetreuung für Kinder, um für junge Familien attraktiv zu sein. Es entsteht eine Abwärtsspirale, die auch in den Köpfen der Bevölkerung zu einer resignativen Grundstimmung in diesen Regionen führt. Es fehlen damit die Menschen vor Ort, die an einen möglichen Aufschwung glauben und diesen auch in Gang setzen könnten. Wachstum ist so auf absehbare Zeit nicht mehr möglich.

gung für Jugendliche alterspezifisch ausgedehnt werden müsste. Jugendliche wollen in ihrem Lebensraum zum Beispiel ein Pizzalieferservice haben, ein Fitnessstudio, eine Disco, schnelles Internet, Coffee to go und ein Nachttaxi am Wochenende. An diesen Möglichkeiten fehlt es. Auch dadurch wird die Landflucht von Jugendlichen weiter angefacht, weil es in ihnen das Gefühl verstärkt, dass sich woanders die wahre Zukunft abspielt.

Trotzdem: Leiden Frauen mehr als Männer an diesen Entwicklungen? Beziehungsweise ist Raumplanungspolitik auch Frauenpolitik? Weber: Der ländliche Lebensraum ist ein männlich dominierter. Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Handwerk und Bauwirtschaft sind traditionelle Männerberufe. Frauen sind im ländlichen Raum schon seit Jahren besser qualifiziert als Männer, doch es gibt eben keine adäquaten Arbeitsplätze. Deswegen müssen Frauen immer öfter auspendeln beziehungsweise wegziehen. Die Politik ist am Land auch von Männern dominiert. Diese schätzen die Bedürfnisse von Frauen oftmals völlig falsch ein. Es herrscht beispielsweise mancherorts noch immer ein Rollenbild vor, dass Frauen, die ihre Kinder in Krabbelstuben geben, Rabenmütter wären. Trotzdem: Was bedeuten diese ganzen Entwicklungen für Jugendliche? Weber: Das funktionelle Ausbluten mancher Teile des ländlichen Raumes ist eine Katastrophe für Jugendliche. Die Ausbildungsund Freizeitmöglichkeiten erfordern das Zurücklegen weiter Distanzen. Erhebungen zeigen, dass der Begriff der Nahversor-

Das funktionelle Ausbluten mancher Teile des ländlichen Raumes ist eine Katastrophe für Jugendliche. Ein Negativbeispiel aus Sicht der demografischen Entwicklung ist der Bezirk Murau in der Steiermark. Für diesen Bezirk wird etwa prognostiziert, dass es 2050 30 Prozent weniger Kinder und Jugendliche und 40 Prozent weniger Erwerbstätige geben wird, aber mehr als doppelt so viele alte Menschen wie heute. Das Wachstum konzentriert sich in der Steiermark fortgesetzt auf den Metropolraum Graz. Trotzdem: Zum Abschluss: Was wären aus ihrer Sicht die wichtigsten Forderungen zur Stärkung des ländlichen Raumes? Weber: Es braucht Menschen, die imstande sind, „aus Stolpersteinen Trittsteine zu machen“ und so die Zukunft aktiv mitzugestalten und sich nicht nur von ihr gefangen nehmen zu lassen. Dies bedingt ein intensives Miteinander, angemessene Ausstattung mit Infrastruktur und finanziellen Mitteln und den Mut zu neuen, situationsange­ passten Lösungen.

Das Interview führte Mirza Buljubasic

Ländliche Gemeinde in Oberösterreich. Charakteristika des ländlichen Raumes sind zum Beispiel die dünne Bebauungsdichte, die Bauart (Einfamilienhäuser) oder auch, dass „nur“ Basisversorgung wie Nahversorger, Kinderbetreuungseinrichtungen und Volksschulen gegeben ist.


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GESELLSCHAFT GESELLSCHAFT

Armut in Österreich

Mit Kürzungsmaßnahmen sind wir immer alle gemeint!

„Wir dürfen uns nicht spalten lassen!“ Armut hat immer strukturelle Ursachen, besonders stark davon betroffen sind alleinerziehende Frauen und Kinder. Das TROTZDEM traf Manuela Wade von der Volkshilfe und hat mit ihr über die Auswirkungen von Kinderarmut und die Folgen der Schwarz-Blauen Kürzungspolitik in Oberösterreich und vermutlich bald auch im Bund gesprochen. Trotzdem: FPÖ und ÖVP diskutieren derzeit im Rahmen der Koalitionsverhandlungen unterschiedliche soziale Grausligkeiten. Darunter auch die Kürzung der bedarfsorientierten Mindestsicherung. Welche Auswirkungen hätte eine bundesweite Umsetzung dieser Pläne? Wade: Die Volkshilfe ist für bundesweit einheitliche Standards bei der Mindestsicherung – allerdings nur, wenn die BezieherInnen auch gut davon leben können! Davon ist im Moment keine Rede. Stattdessen wurden in Niederösterreich und in Oberösterreich die Rahmenbedingungen drastisch verschärft. Bereits davor lagen die Richtsätze aber um rund ein Drittel unter der Armutsgefährdungsschwelle. Das bedeutet, dass Menschen und deren Familien existenzgefährdet sind – Menschen, die vom sozialstaatlichen Sicherungsnetz eigentlich aufgefangen werden sollten. Abwertende Zuschreibungen und Framings im öffentlichen Diskurs, die von Medien reproduziert werden, erfüllen vor allem einen Zweck: Bevölkerungsgruppen sollen gegeneinander ausgespielt werden – „Inländer“ gegen „Ausländer“, „Leistungswillige“ gegen „Leistungsunwillige“. Mit diesen Strategien wird davon abgelenkt, dass die Mindestsicherung als Überbrückung für Notlagen gedacht ist, die uns alle treffen könnten. Es ist das unterste soziale Netz. Die Gesamtausgaben für die Mindestsicherung betrugen zuletzt

0,8% des gesamten Sozialbudgets – das wissen nur leider die Wenigsten. Den Menschen wird trotzdem eingeredet, dass es ihre eigene Lebenssituation verbessert, wenn es anderen noch schlechter geht. Das stimmt aber nicht. Denn jede Reduktion der Mindestsicherung bewirkt nur eins: Armut – und damit auch Kinderarmut. Trotzdem: Wie setzt ihr euch als Volkshilfe für BezieherInnen der Mindestsicherung ein? Wade: Einerseits wollen wir Betroffene befähigen, ihre sozialen Rechte laut und selbstbewusst einzufordern. Uns geht es nicht darum, betroffenen Menschen Almosen zukommen zu lassen. Uns geht es darum, Menschen im Sinne von Empowerment bei der Durchsetzung ihrer sozialen Rechte zu helfen. Andererseits wollen wir – nicht zuletzt durch Arbeit in Netzwerken – klarmachen, dass mit Kürzungsmaßnahmen wir immer alle gemeint sind. Da dürfen wir uns nicht spalten lassen! Wir müssen hinschauen und solidarisch dagegen auftreten, wenn solche Kürzungen diskutiert werden. Außerdem halten wir mit fundierter Argumentation und Forderungen dagegen. Dazu gehören die Einführung eines Mindestlohns und die Betonung darauf, dass unser soziales Sicherheitsnetz ausgebaut statt zurückgebaut werden muss. Wir brauchen ein Sicherungssystem, das

sozialen Druck von den Menschen nimmt statt eines, das die Menschen noch stärker unter Druck setzt! Trotzdem: Eine wichtige Forderung im Bereich sozialer Absicherung wurde im Oktober umgesetzt: Die Reform der Notstandshilfe. Welche Bedeutung hat diese gesetzliche Änderung für armutsgefährdete Menschen? Wade: Dass das PartnerInneneinkommen nicht mehr in die Berechnung der Notstandshilfe miteinbezogen wird, ist eine wichtige Maßnahme. Es ist wahrscheinlich sogar eine der wenigen positiven Veränderungen in Bezug auf

Uns geht es darum, Menschen im Sinne von Empowerment bei der Durchsetzung ihrer sozialen Rechte zu verhelfen. Frauenarmut in der letzten Zeit. Diese neue Berechnung der Notstandshilfe bringt nämlich vor allem Frauen mehr Unabhängigkeit vom Partner. Frauen, die aufgrund des Einkommens ihres Mannes bisher keine finanzielle Unterstützung erhalten haben, können diese nun bekommen und sind nicht mehr finanziell abhängig davon, die Beziehung fortzuführen.

Die Frage ist allerdings, wie sich die Situation um die Notstandshilfe in Zukunft allgemein verändern wird. Im Wahlkampf etwa war von einem „Umbau des Sozialstaates“ die Rede, was in Richtung Hartz IV für Österreich gehen könnte. Das würde bedeuten, das System der Mindestsicherung mit jenem der Notstandshilfe zusammenzulegen. Sollte es dazu kommen, ist nicht klar, ob die im Oktober beschlossene Verbesserung überhaupt noch bei den Betroffenen ankommen wird. Trotzdem: Für wie wahrscheinlich hältst du eine Einführung von Hartz IV in Österreich? Wade: Es ist noch schwer abzuschätzen, ob Kürzungen wirklich in Form von Hartz IV umgesetzt werden.Allerdings ist die österreichische Notstandshilfe international fast einzigartig. Vieles deutet darauf hin, dass es zu Änderungen kommen wird. Mit den aktuellen Kürzungen der Mindestsicherung und den neu eingeführten Sanktionierungsmöglichkeiten und Barrieren wurde ein restriktives System geschaffen. Wir befürchten, dass der nächste Schritt die Zusammenführung von Notstandshilfe und BMS ist. Wie die genaue Ausgestaltung aussehen könnte, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Auf jeden Fall ist es wichtig, aufzuzeigen, dass Hartz IV in Deutschland Menschen in Jobs gedrängt hat, die nicht zum Überleben reichen. Die Anzahl der Working Poor und die Kin-


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Mindestsicherung: Verschärfung NÖ: • Deckel Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS): 1500€/ Haushalts-/Wohngemeinschaft (Wohnkosten enthalten) • Wartefrist: “BMS light": Menschen, die in vergangenen 6 Jahren weniger als 5 Jahre Hauptwohnsitz/rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich hatten: 1 Erwachsener 572,50€ (inkl. Integrationsbonus) + Verpflichtung zur Integrationsvereinbarung (Werte- & Orientierungskurse/Erwerb Deutschkenntnisse) • Verpflichtung zu gemeinnützigen Tätig­ keiten Mindestsicherung: Verschärfung OÖ: • massive Kürzung der Leistungshöhe für Asylberechtigte/subsidiär Schutzberechtigte • Deckelung Mindest­ sicherung auf 1.512€ (auch Personen, die keinen Leistungsanspruch haben, werden fiktiv in die Berechnung einbezogen) Abwertende Framings: Wie wir über Armut schreiben und berichten sollten: siehe Seite 16 Harz IV: Bezeichnet die Grundsicherungsleistung in Deutschland, die aktuell für eine alleinstehende Erwachsene Person bei einer Regelleistung von 409€ liegt und damit deutlich geringer als die österreichische BMS ausfällt. Equal Pay Day: der Tag, ab dem Frauen bis zum Jahresende quasi gratis arbeiten, weil die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen in Österreich noch immer fast 22 Prozent betragen. Equal Pension Day: der Tag, der markiert, ab wann Frauen im Vergleich zu Männern bis zum Rest des Jahres quasi keine Pension mehr beziehen, weil der Gender Pension Gap so groß ist.

derarmutsrate hat sich immens erhöht. Da werden Kindern Chancen fürs Leben genommen. Das sind Gründe, warum ein derartiges System in Österreich dringend abgewehrt werden muss. Verhindern lässt sich das aber nur, wenn die Bevölkerung darüber Bescheid weiß, und wenn wir uns gemeinsam dagegen wehren.

1.500€ Deckelung

GESELLSCHAFT GESELLSCHAFT -349€ -155€ 357€

-121€ 1.500€

83€ 1.417€

1.143€

Trotzdem: Erst im Oktober fand wieder der Equal Pay Day statt. Sind Frauen auch stärker von Armut betroffen? Wade: Es lässt sich eindeutig sagen, dass Frauen stärker von Armut betroffen sind als Männer. Frauenarmut entsteht dabei auf unterschiedlichen Ebenen. Ein Grund ist oft das Beschäftigungsverhältnis. Frauen sind sehr viel öfter in atypischen Beschäftigungsformen als Männer, vor allem auch in Teilzeitbeschäftigung. Ihr Einkommen wird häufig als „Zuverdienst“ betrachtet, von dem alleine sie nicht überleben könnten. 133.000 Frauen sind in Österreich als Working Poor einzustufen. Das sind 42% aller Working Poor. Das Armutsrisiko ist vor allem für Alleinerzieherinnen massiv erhöht.Während die durchschnittliche Armutsgefährdung bei 14% liegt, sind 30% der Alleinerziehenden von Armut betroffen. Diese erschwerten Umstände im Laufe des Lebens einer Frau führen auch dazu, dass Altersarmut unter Frauen sehr viel höher ist. Der Equal Pay Day findet im Oktober statt. Der Equal Pension Day ist schon im Juli. Der Pensionsunterschied zwischen den Geschlechtern beträgt über 40%. Die Altersarmutsgefährdung für Frauen über 65 liegt bei 16%, die für Männer bei 10%. Hier wird schnell erkennbar, dass es im Sozialsystem – aber auch auf der gesellschaftlichen Bewusstseinsebene – großen Verbesserungsbedarf gibt. Trotzdem: 2006 verpflichteten sich SPÖ und ÖVP im Regierungsprogramm, Kinderarmut bis 2016 um ein Drittel zu reduzieren. Das Ziel wurde nicht erreicht. Was sind die Ursachen für Kinderarmut und welche politischen Schritte müssen gesetzt werden? Wade: Ob Kinder armutsgefährdet sind, hängt in erster Linie vom Haushaltseinkommen ihrer Familie ab. Sind die Eltern nicht sozial abgesichert, ist es auch das Kind nicht. Das zeigt uns, dass Kinderarmut immer untrennbar

1 Alleinverdienerin, 1 Person krank, 2 Kinder

1 Person bezieht Arbeitslosengeld, 1 Person nicht, 3 Kinder Einkommen/ Arbeitslosengeld

mit dem Thema Armut allgemein verbunden ist. Was die nötigen politischen Schritte betrifft, denke ich, dass wir uns gerade in Bezug auf soziale Infrastruktur an den skandinavischen Ländern orientieren sollten. Die massiven regionalen Unterschiede bei uns müssen abgebaut werden, und wir brauchen flächendeckende Kinderbetreuungszentren und bessere Bildungsinfrastruktur, wie etwa die ganztägige gemeinsame Schule zumindest bis 14. Weitere wichtige Schritte sind zum Beispiel die Einführung eines jährlichen Berichts zu Kinderarmut. Nur so können Probleme sichtbar gemacht werden. Außerdem müssen die Kinderkosten, also die Schätzung, wie hoch der Kostenaufwand ist, um ein Kind großzuziehen, neu erhoben werden. Die letzte Erhebung der Kinderkosten wurde im Jahr 1964 (!!) gemacht. Es ist Zeit, im 21. Jahrhundert anzukommen! Eine Kindergrundsicherung kann ebenso angedacht werden. Die Kinderrechte müssen viel stärker politisch verankert werden. Kinder haben das Recht auf Versorgung, auf Beteiligung, auf Mitbestimmung und auf Absicherung. Trotzdem: Wie sehen eigentlich die unterschiedlichen Dimensionen von Kinderarmut aus? Wade: Armut bei Kindern hat nicht nur eine materielle Dimension. Armut schränkt die soziale, die kulturelle, die psychische und die physische Lebenssituation von Kinder ein.

1 AlleinerzieherIn ohne Lohnarbeit, 4 Kinder

Mindestsicherung

Armut macht Kinder auch krank. Viele Studien beweisen, dass arme Kinder meist ein geringeres Geburtsgewicht haben, häufig Entwicklungsverzögerungen aufweisen und vieles mehr. Einige Studien weisen darauf hin, dass die sozioökonomische Ausgangssituation eines Kindes entscheidender für die gesundheitliche Lebenssituation ist als die Frage, ob ein Kind Migrationshintergrund hat oder nicht. Wir sehen: das ist eine klare soziale Frage! Und genau hier müssen wir ansetzen: Es braucht gleiche Chancen für alle – das muss unser Sozialstaat leisten. Sozialleistungen reduzieren die Armutsgefährdung nämlich drastisch. Ohne jegliche Sozialleistungen und Pensionen wären 45% der österreichischen Bevölkerung armutsgefährdet. Durch sämtliche Sozialleistungen kann die Zahl auf 14% reduziert werden. Wir müssen endlich wegkommen von der Vorstellung, dass Armut durch individuelles Fehlverhalten zustande kommt. Ich bin der Meinung, dass Armut immer strukturelle Ursachen hat. Und genau deshalb muss der Sozialstaat hier ausgleichend eingreifen und abfedern – um Menschen zu schützen und ihnen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Damit das so bleibt und noch verbessert wird, müssen wir laut sein und unsere sozialen Rechte gemeinsam auch in Zukunft stark einfordern!

Das Interview führte Silvia Czech

Verlust

Die Auswirkungen der Deckelung der Mindestsicherung in NÖ treffen vor allem Alleinverdiener­ Innen und AlleinerzieherInnen und daher besonders oft Frauen.

Was heißt Armut? Armutsgefährdungsschwelle laut EU-SILC 60% des Median-Pro-Kopf Haushaltseinkommens: • Einpersonenhaushalt 1.185€/Monat • pro Erwachsenen Erhöhung: 592€ /pro Kind Erhöhung: 355€ • Für eine Alleinerzieherin mit einem Kind sind das beispielsweise 1.540€, für eine aus zwei Erwachsenen und zwei Kindern bestehende Familie sind das 2.488€. Armut in Österreich 1.2 Millionen Menschen (14,1% der Bevölkerung) sind armutsgefährdet: • davon Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre: 290.000 • Frauen 14% armutsgefährdet / Männer 12%

www.volkshilfe.at www.starkestimme.at


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GESELLSCHAFT GESELLSCHAFT

Respekt statt Abwertung

Richtig über Armut sprechen Welche Wörter und Phrasen wir nutzen, um unsere Ansichten zu vermitteln, bleibt nicht ohne Bedeutung. Mit der Sprache die wir nutzen, zeichnen wir Bilder, die sich in unseren Köpfen festsetzen. Wenn es um Armut geht, wird heute vor allem ein Bild gezeichnet: Wer arm ist, ist selbst schuld! Wie im Interview mit Manuela Wade (Seiten 14–15) dargelegt, hat Armut jedoch strukturelle Gründe. Wenn wir Menschen also nicht abstempeln und auf den Faktor „arm“ reduzieren möchten, müssen wir auf richtige Sprache achten! reduzieren wir Menschen mit Armutserfahrung auf einen Faktor: ihre Armut. Dabei haben sie unzählige Interessen, Wünsche, Ansichten und Gefühle, die wir nicht ausblenden dürfen, wenn es uns um Menschen und nicht um Schubladen geht.

Menschen mit Armutserfahrung

Der Leitfaden der Armutskonferenz geht auch auf die Nutzung richtiger Bilder ein. Oft reproduzieren diese nämlich Klischees.

Respekt statt Aufhänger

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licken wir auf die aktuelle Medienwelt, so sehen wir, dass hier meist eine Sprache herrscht, die vor allem einzelne Schicksale als Aufhänger präsentiert, Zusammenhänge und Hintergründe missachtet und Stimmung gegen Menschen mit Armutserfahrung schürt. Auch aus diesem Grund hat sich die Armutskonferenz intensiv der Art und Weise, wie über Armut und von Armut betroffene Menschen berichtet wird, angeschaut, ExpertInnen und Betroffene gefragt und einen Leitfaden erstellt.

Auch einfach von „den Armen“ zu sprechen, hilft hier nicht weiter. Damit reduzieren wir Menschen mit Armutserfahrung auf einen Faktor: ihre Armut.

Armut wird höchst unterschiedlich definiert. In Österreich und der EU gilt als armutsgefährdet wer weniger als 60% des Median-ProKopf-Einkommens zur Verfügung hat.

Wer kennt die Phrase von den „sozial Schwachen“ nicht? Wer hat noch nie von der „sozialen Hängematte“ gehört? Diese Begriffe rufen Bilder in uns hervor, die von Armut betroffene Menschen abwerten, Neiddebatten schüren und die Hintergründe, die zu Armut führen können, ausblenden. Viele Menschen sind zwar arm, aber nicht „sozial schwach“, denn sie verfügen

über viel soziale Kompetenz: Sie haben ihre Netzwerke, vielleicht engagieren sie sich sogar ehrenamtlich oder helfen ihren FreundInnen und der Familie. Begriffe wie die „soziale Hängematte“ oder „Sozialschmarotzer“ sind diskriminierend und dienen in der politischen Debatte um nach unten zu treten und Sozialabbau zu betreiben. Wer von Armut betroffene Menschen als „arbeitsscheu“ beschreibt, verkennt zudem die ökonomischen und persönlichen Hintergründe. Aktuell gibt es gar nicht genug freie Arbeitsplätze. Viele Menschen wollen einer Lohnarbeit nachgehen, finden aber keine. Andere wiederum stecken ihre ganze Energie in die Pflege von Angehörigen und können deshalb keinen Job annehmen. Auf den ersten Blick mag die Formulierung „unschuldig in Not geraten“ problemlos klingen. Genauer betrachtet wird aber klar, dass das Unschuldige hervorzuheben, auch das Schuldige inkludiert. Damit gibt es plötzlich eine Trennung zwischen guten und bösen von Armut betroffenen Menschen, wobei nur erstere Hilfe verdienen. Diese Spaltung nutzen insbesondere rechte PolitikerInnen, um einzelne kleine Gruppen an den Rand zu drängen ohne auf viel Widerstand zu stoßen. Auch einfach von „den Armen“ zu sprechen, hilft hier nicht weiter. Damit

Es geht auch anders! Die Armutskonferenz hat auch eine Liste erstellt, die von Expert­ Innen und von Menschen mit Armutserfahrung als passend beurteilt wurde. Dazu zählt „von Armut betroffen“, „Menschen mit Armutserfahrung“, „Menschen mit geringem Einkommen“ und „ökonomisch benachteiligt“. Diese Begriffe reduzieren Menschen nicht auf den Faktor „arm“ und stecken sie nicht in Schubladen. Im Gegenteil: sie machen sie zu ExpertInnen ihrer Situation und befreien aus der Passivität.

Die Armutskonferenz gibt es seit 1995 und ist ein Netzwerk von über 40 Organisationen. Sie sammelt Informationen, bereitet sie auf und trägt so wesentlich dazu bei, dass Themen wie Armut und soziale Grenzen thematisiert und sichtbar gemacht werden. www.armutskonferenz.at

Nicht in die Sprach-Falle tappen! Richtige Sprache ist nicht nur Zeichen des Respekts. Sie hilft uns auch, unsere eigenen politischen Forderungen besser zu vermitteln. Denn wir dürfen nicht in die Falle tappen und mit unserer eigenen Rhetorik die Kürzungspolitik der Rechten befördern. Wer von „sozial Schwachen“ redet, wertet ab und trägt damit zur Spaltung, der Marginalisierung und dem Nach-unten-Treten erheblich bei. Das darf uns nicht passieren, denn so werden auch unsere Forderungen nicht richtig gehört werden. Wer wie wir alternative Konzepte zur herrschenden Politik ausarbeiten und schließlich auch umsetzen möchte, muss auch darauf achten, diese richtig zu formulieren und zu vermitteln!

Sara Costa

Link zur gesamten Broschüre: www.armutskonferenz.at/ files/armkon_leitfaden_ armutsbericht­ erstattung_1.pdf


REZENSIONEN REZENSIONEN

BUCH BUCH

„Socialisms in Development“

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um hundertjährigen Jubiläum der Oktoberrevolution 2017 hat der Mattersburger Kreis für Entwicklungspolitik ein Journal mit dem Thema „Socialisms in Development“ herausgegeben. Sozialismus wird vor allem mit der Sowjetunion in Verbindung gebracht – ausgespart wird dabei jedoch, dass die Sowjetunion vor allem in den Ländern des Globalen Südens Nachfolgermodelle hatte. Diese Ausgabe beschäftigt sich mit diesen Nachfolgern, betont jedoch, dass Sozialismen im Globalen

„Aus dem Nichts“

D Regie: Fatih Akin Land: Deutschland Jahr: 2017 Laufzeit: 106 Minuten

MUSIK MUSIK

er Titel des neuen Fatih Akin Films „Aus dem Nichts“ bezeichnet, wie sich Katja (Diane Kruger) in einer neuen Realität wiederfindet, nachdem ihr Ehemann und Sohn Opfer eines Nagelbomben-Attentats werden. Durch den Schock und die andauernden Versuche der Polizei, die Vorstrafe sowie die türkische Nationalität ihres Mannes als Tatbestand für seine angebliche Aktivität in der türkischen Mafia zu benutzen, versucht Katja ihren Schmerz durch Drogenkonsum zu betäuben. Dabei ist für sie klar, dass ihre Familie Ziel von Nazis geworden ist, wurde der Anschlag

Angus and Julia Stone – „Snow“

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as australische Indie-Folk Duo Angus and Julia Stone ist wieder am Start und hat nach drei Jahren wieder ein Album mit dem Titel „Snow“ herausgebracht. Passend zum Titel stimmt das Album auf unbeschwerte und verträumte Spaziergänge durch zauberhafte Schneelandschaften ein, als würde es sich um die ausklingende Abschlussszene eines herzzerreißenden Blockbuster-Dramas handeln. Besonders an diesem Album ist, dass sich für das Entstehen der Songs die Geschwister ins australische Hinterland zurückgezogen haben und erstmals alle ihre Texte alleine verfasst haben. Das Ergebnis kann sich sehen lassen!

Süden nicht einfach das sowjetische Modell kopierten, sondern sich als eigenständige sozialistische Projekte positionierten. Die Ausgabe bespricht die Interaktionen von sozialistischen Modellen im globalen Süden anhand verschiedener Beispiele – DDR und Kuba, Äthiopien sowie Zentralasien und Mexiko. Der Fokus auf den sowjetischen Staat wird dabei ausgeweitet und um verschiedene länderspezifische Ausprägungen im Globalen Süden ergänzt. Ein Muss für alle, die sich mit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung von Sozialismen als globalgeschichtliches Projekt auseinandersetzen möchten!

Maida Schuller

doch in einer, für die Stadt bekannten, türkischen Gegend getätigt. Ihr Verdacht soll sich bestätigen und der Kampf für Gerechtigkeit beginnt. Der an die Attentate des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) angelehnte Film zeichnet sich vor allem durch Krugers überzeugende Fähigkeit aus, den Wirbelsturm aus Schock, Verzweiflung und Wut ihres Charakters auf die ZuseherInnen wirken zu lassen. Der melancholische Ton schwebt über dem gesamten Film, bis er in einem kurzweiligen Knall sein Ende findet, welcher auf Selbstjustiz plädiert.

Herausgeber: Eric Burton Volume XXXIII: 118 Seiten Verlag: mattersburgerkreis.at Preis: 11,90 Euro / 8,90 Euro für StudentInnen ISSN: 0258-2384

FILM FILM

David Walaszek

Mit der Titelnummer „Snow“ beginnt das Album genauso, wie man es sich von Angus und Julia Stone erwartet oder erwünscht. Eine sanfte und doch treibende Melodie, die den Körper ausdruckstanzartig schwanken lassen will und Julias einfaches „Lalala“ tanzt sich in unseren Gehörgang. Darauf folgt die Single „Oakwood“, die schon etwas anrüchiger und energischer klingt. „Drinking on the weekend, weekday. Never get a break to say the things I wanna say, lover.” Dramatisch. Schön. Alles in allem kann eine große Empfehlung für dieses Album ausgesprochen werden! Und selbst wenn manche Songs ein paar Replays benötigen, um zu sickern, fühlen sie sich trotzdem wie ein Entspannungsbad für das Gehör an. „Snow“ passt in jede und zu jeder Situation!

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Nadine Lenzinger

Release: 15. September 2017 Label: EMI – Nettwerk


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Mit diesem Tweet startete #MeToo. Tausende Frauen berichteten darauf hin von Fällen sexualisierter Übergriffe.

#MeToo

Wir müssen über sexualisierte Übergriffe sprechen! #MeToo ist nicht der erste Hashtag unter dem sich Erlebnisse von sexualisierten Übergriffen sammeln. Schon im Jänner 2013 hatte die deutsche Netzfeministin Anne Wizorek diese Idee. Als eine andere Twitternutzerin über sexualisierte Übergriffe twitterte, beschloss sie: „Wir sollten diese Erfahrungen unter einem Hashtag sammeln. Ich schlage #aufschrei vor“. Innerhalb der ersten zwei Wochen kam es zu über 60.000 Tweets, die sich mit sexueller Belästigung und Gewalt gegen Frauen befassten. Es regte zu einer riesigen Sexismusdebatte in ganz Deutschland an und man begann erstmals wirklich offen über persönliche Grenzen und Alltagssexismus zu sprechen. Noch heute findet man unter #aufschrei Tweets, die vor allem Alltagssexismus aufzeigen, jedoch war die Hauptfolge des Hashtags die Sensibilisierung hinsichtlich des Themas. Hollywood & Politik Seit einigen Monaten gibt es nun den Hashtag #MeToo. Er zog wie eine Welle von Hollywood bis in die österreichische Innenpolitik. Mit dem Namen Harvey Weinstein, ein US-Amerikanischer Filmemacher, kann mittlerweile jedeR etwas anfangen. Über 80 Frauen gaben bekannt, durch Harvey Weinstein einen sexualisierten Übergriff erlebt zu haben, die Ereignisse zogen sich sogar bis in die 1980er Jahre zurück. Mittlerweile wurde Harvey Weinstein von der Weinstein Company entlassen. Nach dem Bekanntwerden des Weinstein-Skandals verfasste die Schauspielerin Alyssa Milano am 15. Oktober 2017 den Tweet: „Eine Freundin hat diesen Vorschlag gemacht: Wenn alle Frauen, die schon mal sexuell belästigt wurden oder Opfer eines sexuellen Übergriffs waren, ihren Status auf ‘Me too’ setzen, verstehen die Menschen vielleicht, wie groß das Problem ist.“ Schon am 2. Tag gab es bis zu einer halben Millionen Tweets mit dem Hashtag #MeToo.

Nach und nach wird von immer mehr Schauspielern bekannt, dass sie einen (oder auch mehrere) Übergriff(e) erlebt haben. Aber #MeToo ist über Hollywood hinaus auch schon in der Politik angekommen: Mittlerweile ist schon von zwei USAmerikanischen Politikern bekannt, sexualisierte Übergriffe ausgeübt zu haben, unter anderem Roy Moore, ein Kandidat der Republikaner für den Senat in Alabama. Der US-Senator Al Franken von den Demokraten hat am 7. Dezember 2017 seinen Rücktritt eingereicht, nachdem öffentlich wurde, dass er vor einigen Jahren eine Radmoderatorin stark belästigt hatte. Sowohl den Demokraten, als auch den Republikanern ist bewusst, dass die Frauen der Partei noch von viel mehr erzählen könnten. Die Demokraten haben davor nur momentan ein wenig mehr Angst als die Republikaner, da die Frauen vermutlich viel eher offen darüber reden werden und der Unmut potenzieller WählerInnen größer ausfallen könnte. Als „Brutstätte der sexuellen Belästigung“ bezeichnet eine Betrof-

fene das EU-Parlament. Diese Aussage trifft zu, berichten doch gleich zwei ehemalige Mitarbeiterinnen von Vergewaltigungen durch Kollegen. Zusätzlich sollen Arbeitsverträge nur angeboten worden sein, wenn es im Gegenzug zu Sex kommt. Ein Parlamentarier soll sogar in Anwesenheit einer jungen Assistentin masturbiert haben. Michael Fallon der britische Verteidigungsminister reichte am 1. November seinen Rücktritt ein, nachdem herausgekommen war, dass er auf einem Parteitag 2002 seine Hand immer wieder auf das Knie einer Journalistin gelegt hatte. Im Nachhinein wurde bekannt, dass dies eher ein Scheingrund war und er vor allem gegenüber einer Kabinettskollegin immer wieder obszöne Kommentare gemacht hatte. Am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, hielt Emmanuel Macron, der französische Staatspräsident, eine Rede, in der er erklärte, dass die Gleichstellung von Frau und Mann zu einem zentralen Thema in seiner Amtszeit wird. Mac-

ron nennt als seine Hauptprioritäten eine bessere Betreuung für Betroffene von sexualisierten Übergriffen und den Kampf und die Bildung für Gleichstellung. Außerdem möchte er bei Fällen von Female Genital Mutilation (FGM) die Täter konsequent verfolgen und „sexistische Beleidigung“ als Straftatbestand einführen.

Der Fall Pilz und strukturelle Hintergründe In Österreich traf #MeToo vor allem Peter Pilz. Der ehemalige Grüne verließ die Partei vor einigen Monaten, nachdem er nicht auf den gewünschten Listenplatz gesetzt wurde. Daraufhin gründete er die Liste Pilz, die es auch mit 4.4% in den Nationalrat schafft. Dann veröffentlichte das „Profil“ und „Die Presse“ Vorwürfe gegenüber Pilz, eine Parlamentsmitarbeiterin sexuell belästigt zu haben. Die Veröffentlichung erfolgte gegen den Willen der Betroffenen. Kurz darauf legte der Falter nach und deckte auf, dass Pilz 2013 eine Mitarbeiterin der Europäischen Volkspartei


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Das US-Magazin Time kürte die Frauen hinter #MeToo zu den Personen des Jahres 2017! Quelle: Time

gegen ihre Einwilligung wild begrapscht hatte. Die Reaktion von Peter Pilz fiel unzureichend aus. Zwar blieb er nach einigem Hin-und-Her dabei, sein Nationalratsmandat nicht anzunehmen, doch versuchte er das Vorgefallene zu relativieren. Durch die enorme Auflistung von sexualisierten Übergriffen wurde der breiten Öffentlichkeit klar, dass diese überall stattfinden: im Filmbusiness, im europäischen Parlament und auch in der österreichischen Innenpolitik. Doch die meisten Übergriffe passieren im persönlichen Umfeld durch den Partner, einen Freund oder einen Verwandten. Wir leben in einer Rape-Culture, in der sexualisierte Übergriffe an Frauen etwas vollkommen legitimes sind und tagtäglich passieren. Die Gründe dafür liegen in einer patriarchalen Gesellschaft, in der Frauen strukturell benachteiligt werden. Zu sehen ist das auf verschiedenen Ebenen: Umso höher eine Position in der Berufswelt ist, desto wahrscheinlicher ist sie von keiner Frau, sondern einem Mann besetzt. So kommt man auch auf einen Lohnunterschied von 22,7% zwischen Mann und Frau.

Wir leben in einer Rape-Culture, in der sexualisierte Übergriffe an Frauen etwas vollkommen legitimes sind und tagtäglich passieren. Dieser Gender Pay Gap ist unter anderem so groß, da Frauen oft Teilzeit arbeiten müssen, weil sie meist diejenigen sind, die sich um die Kinder und den Haushalt kümmern müssen. Aber auch, weil Frauen im Vorhinein nicht einmal eingestellt werden, da sie ja Schwanger werden und dann in Karenz gehen könnten. All das ist Ausdruck der patriarchalen Strukturen, die ein Umfeld schaffen, in dem die ungleichen Machtverhältnisse zugunsten der Männer auch in (sexualisierter) Gewalt enden können. Natürlich gab es zu #MeToo auch eine Art „Gegenbewegung“, zu der auch Nina Proll zu zählen ist. Proll ist eine österreichische Schauspielerin, die in einem Facebook-Post erklärte, dass Frauen nur belästigt werden, wenn sie erfolglos, geil auf Aufmerksamkeit und jung sind. Ihrer Meinung nach sollen Frauen doch glücklich sein, wenn ein Mann mit ihnen Sex haben will, da das als Kompliment angesehen werden soll.

Jede 5. Frau ab 15 war bereits von körperlicher oder sexualisierter Gewalt betroffen!

56,8% aller Frauen haben körperliche Gewalt erlebt

85,6% aller Frauen haben psychische Gewalt erlebt

Es ist falsch von Nina Proll zu behaupten, dass erfolgreiche, ältere Frauen nicht von Sexismus betroffen sind. Sie verkennt damit die Realität, in der bereits drei Viertel aller Frauen in Österreich schon einmal sexuell belästigt worden sind und ein Drittel aller Frauen in Österreich schon einmal sexuelle Gewalt erlebt hat. Diese sexualisierten Übergriffe geschehen überall, denn meistens passieren sie im persönlichen Umfeld, aber auch in der Arbeit, im Kino oder in der Disko. In der Familie gibt es oft eine finanzielle Abhängigkeit vom Partner und auch am Arbeitsplatz gibt es Abhängigkeiten, die es Frauen schwer machen, über Vorfälle zu berichten. Manchmal handelt es sich beim Täter um den eigenen Chef, wodurch Frauen fürchten müssen, ihren Job zu verlieren, wenn sie sich beschweren. Manchmal werden Beschwerden aber auch abgetan und als Vorwand der Betroffenen zum Karriereaufstieg umgedeutet. Doch geht es nicht um angebliche Karrieregeilheit mancher Frauen, sondern um das Ausnützen höherer Position durch Männer, die ihre Macht sichern

Diese sexualisierten Übergriffe geschehen überall, denn meistens passieren sie im persönlichen Umfeld, aber auch in der Arbeit, im Kino oder in der Disko.

29,1% aller Frauen erlebten körperliche Gewalt in der Partnerschaft

und notwendige Kritik vom Tisch wischen wollen. Dazu kommt der gesellschaftliche Druck zu Schweigen. Frauen, die an die Öffentlichkeit treten, sehen sich oft mit einer Welle frauenfeindlicher Kommentare, weitschweifenden Relativierungen und noch mehr Belästigung konfrontiert. Hier hat #MeToo die Art und Weise, wie wir über diese sexualisierten Übergriffe sprechen, stark verändert. Man spricht offener darüber und immer mehr Frauen trauen sich auch von ihren Erlebnissen zu erzählen, was erklärt, warum Frauen gerade jetzt, manchmal Jahre nach dem Übergriff, den Mut aufbringen, zu berichten. Auch Strukturen verändern sich langsam, denn bisher mächtige Männer müssen zurücktreten und wer weiß, vielleicht folgt ihnen ja die ein oder andere Frau nach. Solange die Strukturen des Patriarchats aber nicht vollends eingerissen sind, besteht die Gefahr, dass der Hashtag wieder in der Versenkung verschwindet, so wie es mit #Aufschrei passiert ist. Gerade in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem sich ein Rechtsruck vollzieht, rechte Parteien versuchen, frauenpolitische Themen mit Rassismus zu kapern und frauenfeindliche Politik betreiben! Daher ist es wichtig, dass wir weiterhin über sexualisierte Übergriffe reden, wir sie unseren Freundinnen und Freunden erzählen und so Schritt für Schritt das Tabu über erfahrene Übergriffe zu sprechen aufbrechen.

Miriam Bonaparte

44,6% aller Frauen erlebten psychische Gewalt in der Partnerschaft

Gewalt gegen Frauen gehört auch in Österreich zum traurigen Alltag, wie Zahlen der Studie „Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld . Österreichische Prävalenzstudie zur Gewalt an Frauen und Männern“ aus 2011 zeigt. (Herausgeber: Österreichisches Institut für Familienforschung an der Universität Wien)


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Veränderung im Rückwärtsgang

Das veraltete Frauenbild der „Neuen“ ÖVP Seit den letzten Nationalratswahlen ist klar: unsere nächste Regierung wird aus ÖVP und FPÖ bestehen. Aber dass das auch für Frauen schwerwiegende Folgen haben wird, ist meist nicht die Debatte. Die sogenannte Wahl„freiheit“

Das Frauenbild der ÖVP erinnert an diese alte Werbung: die Frau hinterm Herd kümmert sich um den Mann, der das Geld verdient. Quelle: 90100/kpa/hip

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as Ergebnis der Wahlen im Oktober war für viele ein Schock: 57,44% haben die ÖVP und die FPÖ gemeinsam erreicht. Was das bedeutet lässt sich bereits jetzt absehen: eine AsylwerberInnenfeindliche Politik, neoliberale Wirtschaftsansätze die zu einem massiven Sozialabbau führen. Und genau diesen Abbau werden besonders Frauen spüren. So hat die schwarz-blaue oberösterreichische Landesregierung beschlossen, dass die Nachmittagsbetreuung in Kindergärten nicht mehr gratis, sondern zu zahlen sei. Dass das besonders Frauen trifft liegt auf der Hand. Denn noch immer sind sie zum großen Teil für die Reproduktionsarbeit, also unbezahlte Haus-, Pflegearbeit und Kindererziehung, zuständig. Somit werden Kindergärten wieder zu einer Einkommensfrage. Wenn das nicht möglich ist, müssen Frauen Teilzeitjobs annehmen oder daheim bleiben.

Für die ÖVP ist die Kernfamilie, also eine Familie die aus Vater, Mutter und Kindern besteht, die Keimzelle des Bürgerlichen Staats.

Neue Farbe, altes Frauenbild Wenn man sich das Frauenbild der ÖVP ansieht, wird einem klar, dass diese Zurückdrängung ins Private bewusst ist. Spricht die ÖVP von Frauenpolitik, meint sie meist Familienpolitik. Kein Wunder, denn für die ÖVP ist die Kernfamilie, also eine Familie die aus Vater, Mutter und Kindern besteht, die Keimzelle des Bürgerlichen Staats. Die Hauptaufgabe der Frau wird mit einem konservativen Blick betrachtet. Die Volkspartei stellt sich gegen jeden Ausbau der Kindergärten. Das sieht man besonders im konservativ geprägten Westen Österreichs wo es sehr wenig Kindertagesstätten gibt und somit ein Elternteil gezwungen ist, daheim auf die Kinder aufzupassen und das ist meistens die Frau. Auf der anderen Seite erwähnt die Volkspartei in keinem Punkt, wie man Frauen in der Arbeitswelt fördern könnte. Es dringt stark durch, dass Frauen zwei Aufgaben zugeteilt werden: das Zeugen von Nachkommen und die Reproduktionsarbeit. Das ist für die ÖVP biologisch vorgesehen, denn Geschlecht und zugewiesene Rollenbilder sind für sie naturgegeben und somit unumgänglich.

Immer wieder spricht die ÖVP von der sogenannten „Wahlfreiheit“. Damit meinen sie, dass Frauen sich aussuchen dürfen sollen, ob sie daheim bei den Kindern bleiben wollen oder arbeiten gehen. Doch diese Argumentation setzt voraus, dass die Rolle der Frau die der Hausfrau ist, ihr Platz sich hinter dem Herd befindet. Wenn dieser Anreiz nicht ausreicht, kann Frauen der Zugang zu Arbeit, das Beantragen von Pflegeurlaub erschwert und Kinderbetreuungseinrichtungen teurer werden. So werden Frauen vor die Wahl zwischen Arbeit oder Familie gestellt. Das spielt einem autoritären Staat in die Hände, denn so werden Frauen gänzlich in den privaten Bereich geschoben und können sich schwerer untereinander vernetzen und für ihre Rechte und gegen Missstände protestieren. Gleichzeitig ist es auch aus der Sicht der UnternehmerInnen wünschenswert. Sobald die Reproduktionsarbeit allein von Frauen geleistet wird, können Männer stärker ausgebeutet werden, da ihr Teil der Hausarbeit nicht mehr von ihnen verrichtet wird und sie mehr Energie in die produktive Arbeit stecken können. Somit ist klar: die frauenfeindliche Politik der ÖVP ist nicht nur für die betroffenen Menschen selber schädlich, sondern fördert auch die konservative und neoliberale Politik. Und wie dies das Leben der in Österreich lebenden Bevölkerung beeinflusst, wird sich in den kommenden fünf Jahren zeigen, denn: die Neue ÖVP ist keineswegs neu. Und vor Allem nicht ihr Frauenbild.

Hannah Stern

Rollenbilder: Frauen sind einfühlsam, rücksichtsvoll und gefühlsbetont. Männer stark, greifen durch und beweisen Härte. Diese veralteten Rollenbilder sind immer noch tief verankert und werden naturalisiert, obwohl sie gesellschaftlich konstruiert und veränderbar sind.


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FRAUEN FRAUEN Digitalisierung

Frauen trifft’s besonders hart! Die fortschreitende Digitalisierung wird Arbeitsplätze kosten. Zwar werden auch neue Berufe entstehen, doch viele Stellen werden verschwinden. Diese Entwicklung wird unsere Gesellschaft vor große Herausforderungen stellen, die wir auch gerade aus frauen­ politischer Perspektive meistern müssen. Denn Frauen sind von der Digitalisierung besonders hart betroffen: fe, Mathematik und Naturwissenschaften in deutlich geringerem Ausmaß betroffen. Diese sogenannten MINT-Fächer sind bis heute von Männern dominiert und der Anteil von Frauen im Studium, der Lehre oder dem Beruf wächst nur langsam, beispielsweise liegt der Frauenanteil bei ingenieurtechnischen oder vergleichbaren Berufen gerade mal bei 8,4%.

Expresskassen wie diese werden immer häufiger und gibt es nicht nur in Supermärkten, sondern auch in FastfoodLokalen. Unternehmen können sich damit Arbeitskosten sparen und durch Maschinen ersetzen.

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ch stehe in der Uni-Pause mit nur einem Sandwich und einer Flasche Wasser an der Kasse eines Supermarktes. Zwei Kassen sind geöffnet, aber es dauert trotzdem ewig. Neben mir gibt es eine sogenannte „Expresskassa“, bei der man seine Artikel selbst scannen und sofort bezahlen kann. Ich gehe zur „Expresskassa“ und stehe innerhalb von 2 Minuten schon vor dem Geschäft. Doch saß an dieser Kassa nicht noch vor einem Jahr eine nette Frau, die mich angelächelt hat und mit der ich Smalltalk betrieben habe? Was ist wohl aus ihr gewor-

Betroffene Sparten wie der Handel sind aktuell auch noch sehr arbeitsintensiv – hier finden 300.000 Frauen einen Job. den? Höchstwahrscheinlich fiel sie der Digitalisierung zum Opfer und wurde wegrationalisiert. So wie ihr ergeht es vielen anderen Frauen. Doch was könnten Gründe dafür sein, dass Frauen noch schwerwiegender von Digitalisierung betroffen sind als Männer?

Noch immer zu wenig Frauen in Führungspositionen Grundsätzlich gibt es zwar mehr Akademikerinnen als Akade-

miker, jedoch sind auch im 21. Jahrhundert noch immer weniger Frauen als Männer in Führungspositionen, da sie in unserer patriarchalen Gesellschaft an die gläserne Decke stoßen und nur schwer in die von Männern dominierten Strukturen vordringen können. Manager, Führungskräfte und CEOs sind nur in sehr geringer Gefahr wegrationalisiert zu werden. Es muss daher aus Gründen der Digitalisierung – und aus tausenden anderen Gründen – ein zentrales Ziel sein, in der Arbeitswelt Frauen auf die gleiche Stufe wie Männer zu stellen!

Lehrberufe mit hoher Frauenrate sind besonders betroffen Jobs mit hoher Routinetätigkeit – also solche, wo den ganzen Tag das Gleiche zu tun ist und Computerprogramme und deren Algorithmen diese Arbeit leicht übernehmen können – sind leicht abzubauen. Lehrberufe mit hoher Routinetätigkeit sind meistens mit Frauen besetzt und werden auch in der Gesellschaft als „typische Frauenberufe“ angesehen. Jobs wie Bürokauffrau, Einzelhandelskauffrau oder Buchhalterin sind hierbei am meisten betroffen und werden wohl als erstes gestrichen werden. Betroffene Sparten wie der Handel sind aktuell auch noch sehr arbeitsintensiv – hier finden 300.000 Frauen einen Job. Im Gegenzug sind technische Beru-

MINT: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik

Frauen nehmen sich nicht den gleichen Raum wie Männer Frauen wird von klein auf antrainiert zurückhaltend zu sein. Das beginnt schon im Kindergarten, wo die Mädchen in der Ecke mit ihren Puppen spielen sollen, während die Burschen durch den Raum toben. Frauen haben daher einen anderen Habitus und nehmen sich oft nicht den Raum, der ihnen zustehen würde oder den sich ein Mann einfach nimmt. Wenn Frauen daher gebeten werden zu gehen um einer Maschine Platz zu machen, trauen sie sich weniger für ihre Rechte einzutreten und Widerstand zu leisten als ihre männlichen Kollegen. Digitalisierung hat viele Vorteile und führt unser Land in eine fortschrittliche Zukunft, aber nur, wenn sie politisch von den richtigen Rahmenbedingungen bestimmt wird. Es gilt daher im öffentlichen Diskurs auf die negativen Effekte aufmerksam zu machen und hier auch ein Augenmerk auf die frauenpolitische Dimension zu legen. Die Gründe für die besonders harten Folgen für Frauen offenbaren grundsätzliche Machtungleichheiten zwischen den Geschlechtern, die durch die technologische Entwicklung nochmals besonders deutlich zu Tage treten. Daher müssen wir auch in Zukunft bei der Digitalisierung und generell für eine Gleichstellung der Geschlechter kämpfen!

Lisa Marchhart

Diese Seite steht in Zusammenhang mit den folgenden 5 Seiten, die sich um die Auswirkungen von Digitalisierung und Prekarisierung unserer Arbeitswelt drehen. Link: media.arbeiterkammer.at/ wien/PDF/studien/ digitalerwandel/ AK_Policy_Paper_ Nr.12_Frauen_und_ Digitalisierung.pdf (August 2017)


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SCHWERPUNKT SCHWERPUNKT

Facebook lässt die NutzerInnen für sich Arbeiten – eine neue Phase der Ausbeutung unbezahlter Arbeit. Quelle: Katie Sayer

Kommunikationskapitalismus

Wir müssen soziale Medien erst erkämpfen! Digitalisierung, neue Kommunikationsplattformen und Wege der Ausbeutung: viel zu schnell werden die Theorien von Marx aufs Abstellgleis geschoben. Christian Fuchs, Professor an der Universität Westminster, stellt im Interview mit dem TROTZDEM klar, dass Marx auch heute noch aktuell und notwendig für das Verständnis des Kapitalismus im 21. Jahrhundert ist. Trotzdem: Sie beschäftigen sich mit marxistischen Medien- und Kommunikationsstudien in Zeiten des „Kommunikationskapitalismus“, was konkret kann man sich unter diesen Begriffen vorstellen? Fuchs: Unter kommunikativem Kapitalismus sind jene Teile und Dimensionen des Kapitalismus zu verstehen, bei denen Kommunikationstechnologien zur Machtausübung, Herrschaft, Ausbeutung und im Widerstand dagegen verwendet werden. Dazu gehören Internet, Computer und Mobiltelefon. Der Kapitalismus ist aber nicht nur kommunikativer und digitaler Kapitalismus, sondern zugleich auch Finanzmarktkapitalismus, Mobilitätskapitalismus, usw. Und diese Dimensionen hängen zusammen: Silicon Valley Konzerne wie Google, Twitter oder Facebook werden zunächst mit der Hilfe von Venture-Kapital aufgebaut und sind börsennotiert. Digitale Technologien sind Medium und Ergebnis der Globalisierung und resultieren in Unmengen an elektronischem Müll, der in Entwicklungsländer exportiert wird und Menschen und Umwelt vergiftet. Das Internet zu betreiben konsumiert außerdem Unmengen an nicht nachhaltiger Energie.

Marxistische Kommunikationswissenschaft ist eine kritische Theorie und kritische empirische Erforschung der Kommunikationsverhältnisse im Kontext des Kapitalismus und der Klassengesellschaft. Marxismus bedeutet aber nicht, wie leider oft fälschlicherweise angenommen wird, ökonomischen Reduktionismus. Der Kapitalismus ist nicht einfach eine Wirtschaftsform, sondern eine Gesellschaftsformation, die auf der Logik der Akkumulation von Macht sowie der Akkumulation von ökonomischem, politischem, kulturell-ideologischem, symbolischem und sozialem Kapital beruht. Trotzdem: Inwiefern können wir Marx‘ Theorien benutzen um soziale Medien besser zu verstehen? Fuchs: Google hat ein Monopol im Bereich der Suchmaschinen, Facebook eines im Bereich der sozialen Netzwerke, Amazon eines im Bereich des Onlineverkaufs, usw. Marx sah die Monopolbildung als inhärente Tendenz des Kapitalismus. Den Kapitalismus zu analysieren bedeutet den Zusammenhang von Arbeit und Warenproduktion zu beleuchten. Der digitale Kapitalismus

beruht auf einer Unzahl verschiedener Ausbeutungsformen, dazu gehören auch unbezahlte Formen der Arbeit. Personalisierte Werbung ist das Kapitalakkumulationsmodell sozialer Medien wie Facebook, YouTube, Twitter, usw. Verkauft wird dabei eine Datenware. Google erzielte damit im Jahr 2016 einen Gewinn von 19,5

Bei McDonalds ist man sein eigener Kellner, bei IKEA der eigene Möbelmonteur, bei Facebook der Produzent von Daten. Milliarden Dollar und gehört damit zu den weltgrößten transnationalen Konzernen. Marx hat gezeigt, dass die kapitalistische Warenproduktion auf der Ausbeutung von Arbeit beruht, die in Klassenverhältnissen Mehrwert erzeugt. Wer produziert Googles und Facebooks Datenware? Die NutzerInnen. Diese Konzerne akkumulieren also Kapital, indem die Produktion von nutzerInnengenerierten Daten ausgebeutet wird. Die Produktion von

Inhalten, sozialen Beziehungen, Kommunikationen, Affekten, usw. ist also auf werbebasierten sozialen Medien eine Form der unbezahlten Arbeit, die die Profite von Internetkonzernen generiert. Arbeit findet nicht nur in Büros und Fabriken, sondern auch im Alltag statt. Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt bei der Prosumption. Bei McDonalds ist man sein eigener Kellner, bei IKEA der eigene Möbelmonteur, bei Facebook der Produzent von Daten. Denken wir an Haus- und Reproduktionsarbeit so zeigt sich, dass unbezahlte Arbeit schon lange eine Rolle im Kapitalismus spielt. Digitale Arbeit auf sozialen Medien ist die neueste Phase bei der Ausbeutung unbezahlter Arbeit. Trotzdem: Im Jahr 2017 feiert Das Kapital sein 150-jähriges Bestehen, im Jahr 2018 wäre Karl Marx 200 Jahre alt geworden. Wird Marx heute anders gelesen und inwiefern können wir seine Schlüsse auf die heutige Zeit vor allem im Kontext der Digitalisierung um­legen? Fuchs: Heute wird es so dargestellt, dass Marx ein Denker des 19. Jahrhunderts war und sich seine Analyse daher auf vergangene Zeiten des


SCHWERPUNKT SCHWERPUNKT

Die Auswirkungen des Kommunikationskapitalismus finden wir nicht nur in der digitalen Welt: der Elektroschrott verschmutzt Regionen, Menschen suchen unter schlechten Bedingungen nach verwertbaren Metallen. Quelle: Marlenenapoli

Ökonomischer Reduktionismus: Eine Theorie des ökonomischen Reduktionismus würde ein System und dessen Auswirkungen ausschließlich über ökonomische Faktoren erklären. Prosumption: der Konsum, der Wert produziert

Creative Commons Lizenzen: verschiedene Lizenzen, die NutzerInnen klar kommunizieren, wie weit sie Medien teilen, verändern, verwenden dürfen. Das reicht von einigen Einschränkungen (z. B. nur nicht-kommerzielle Verwendung) bis hin zur völlig freien Weitergabe. Club 2 war eine Diskussionssendung auf ORF 2, in der mittels reduzierter Gestaltung die politische Debatte in den Vordergrund gestellt wurde. Einige der Sendungen, die von 1976 bis 1995 lief, sorgten über das Format hinaus für Aufsehen.

aufkeimenden Industriekapitalismus bezieht. Das ist eine Fehlannahme, die gerade heute aber wieder in neueren Marx-Biographien verbreitet wird. Marx war ein dialektischer Denker und dazu gehört auch die Dialektik der Geschichte. Der Kapitalismus bleibt immer dasselbe System der Ausbeutung, indem er sich dynamisch verändert und in Phasen entwickelt. Die großen Krisen spielen dabei eine wichtige Rolle. Marx hat ein kritisches Denkwerkzeug geschaffen, das uns hilft, die Entwicklung des Kapitalismus kritisch zu verstehen. Kategorien wie Arbeit, Ware, Kapital, Mehrwert, Sozialismus, etc. sind heute noch sehr aktuell, da wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben. Da sich der Kapitalismus wandelt, ist es entscheidend, dass wir Marx’ Kategorien dialektisch weiterentwickeln und anwenden, um den heutigen digitalen und kommunikativen Kapitalismus kritisch zu verstehen. Trotzdem: Karl Marx hat neben seiner Werke zeitlebens journalistische Texte verfasst und in diversen Zeitungen publiziert, was können wir von seiner journalistischen Arbeit heute noch lernen? Fuchs: Heute erleben wir durch die Kommerzialisierung, Kapitalisierung, Monopolisierung und Boulevardisierung des Journalismus ein stetiges Verschwinden des kritischen und investigativen Journalismus. Die journalistischen Arbeiten von Marx können heute ein Vorbild für kritischen Journalismus sein. Marx zeigt uns aber auch, dass kritischer Journalismus die richtigen politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen brauchen. Kritischer Journalismus und eine kritische Öffentlichkeit brauchen die Entkapitalisierung der Medien, um sich entwickeln zu können.

Trotzdem: Was würden Sie (jungen) GenossInnen mitgeben, die Marx‘ Theorien in ihre Social Media Arbeit einfließen lassen möchten? Fuchs: Marx ist kein Denker des 19. Jahrhunderts, sondern unser Zeitgenosse. Solange der Kapitalismus existiert, wird es Lesewellen des Marx’schen Kapitals und seiner anderen Schriften geben. Heute können wir Marx im Kontext des

Der Kapitalismus bleibt immer dasselbe System der Ausbeutung, indem er sich dynamisch verändert und in Phasen entwickelt. digitalen und kommunikativen Kapitalismus neu lesen. Marx lesen dient vor allem dazu, sich über die heutige politische und gesellschaftliche Lage klar zu werden, Strategien für gesellschaftliche Kämpfe zu entwickeln und an konkreten Alternativen zur Durchkapitalisierung des Lebens zu arbeiten. Es geht heute ganz konkret darum, die Durchkapitalisierung des Alltags, der Bildung, der Medien, der Kommunikation, der öffentlichen Räume, der Kultur, der Familien- und Freundschaftsbeziehungen, usw. umzukehren. Soziale Medien sind Kommunikationsmittel heutiger politischer Kämpfe. AktivistInnen finden kreative Wege, um neue Medien politisch zu nutzen. Soziale Medien sind aber auch ein Ort, wo anonymes CyberMobbing, Online-Nationalismus und Online-Faschismus stattfindet, wodurch die Online-Öffentlichkeit beschränkt und kolonialisiert wird.

Soziale Medien sind noch gar nicht sozial, sondern individualisiert. Es geht ständig um die Akkumulation von individueller Reputation. Auch eine Form des digitalen Kapitalismus. Es geht bei den heutigen politischen Kämpfen auch darum, wirklich soziale Medien zu erkämpfen, die entkapitalisiert, werbefrei und nicht profitorientiert sind. Also soziale Medien als gemeinwohlorientierte soziale Medien, als Räume der digitalen Commons. Dabei spielen öffentlichrechtliche Medien und zivilgesellschaftliche Medien eine Rolle. Wir brauchen ein YouTube, das werbefrei ist und von allen europäischen öffentlich-rechtlichen Medienanstalten gemeinsam betrieben wird. Digitalisieren diese ihre Archive und stellen diese Inhalte mit Creative Commons Lizenzen auf dem öffentlich-rechtlichen YouTube zum Remixen bereit, so wird dadurch Kreativität und Partizipation als Teil des öffentlichrechtlichen Medienauftrages gefördert. Die Werbeabgabe sollte auf Onlinewerbung ausgedehnt werden, wodurch ein öffentlich-rechtliches Internet finanziert werden könnte. In unserer schnelllebigen und oberflächlichen politischen Kultur fehlt es an Raum und Zeit für echte politische Diskussion. Der Club 2 soll zurückkommen – aber als Kombination von Fernsehen (z.B. auf ORF III) und sozialen Medien. Also ein Club 2.0. Das zivilgesellschaftliche Internet könnte durch eine partizipative Mediengebühr ausgebaut und finanziert werden. Wir brauchen radikale Reformen der Medienlandschaft und der Institutionen, um Demokratie und demokratische Öffentlichkeit zu fördern.

Das Interview führten Olivia Mühlbacher und Maja Höggerl

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Egal ob Google, Facebook oder Amazon: die Marktmacht und der Einfluss auf unser Leben durch diese Konzerne ist groß. Die Zeit zurück drehen zu wollen bringt nichts, wir müssen viel mehr Perspektiven und Alternativen zu diesen profitorientierten Unternehmen entwicklen. Quelle: Robbie Shade

Christian Fuchs ist Professor an der Universität von Westminster und Direktor des Communication and Media Research Institute (CAMRI) und des Westminster Institute for Advanced Studies (WIAS). Er veröffentlichte eine Reihe von Büchern, die sich mit sozialen Medien, Kommunikation und Marxismus auseinander setzen. Mehr Informationen auf http://fuchs.uti.at


SCHWERPUNKT SCHWERPUNKT

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Foodora & Co bringen neue Herausforderungen, die uns unseren ArbeitnehmerInnenbegriff neu denken lassen müssen. Quelle: Tiia Monto

Folgen der Digitalisierung

Prekarisierung ist kein Naturgesetz Unsere Arbeitswelt verändert sich, wie sie es im Laufe der Geschichte immer schon getan hat. Ein maßgeblicher Treiber ist der technologische Fortschritt. Waren es früher Fließbandarbeit und die Entstehung von Fabriken, so ist es nunmehr die Digitalisierung. Technologische Errungenschaften sind immer auch Momente, in denen sich die Arbeitsbedingungen ändern. Zu wessen Gunsten diese Veränderungen ausfallen, darüber entscheiden die Machtverhältnisse in einer Gesellschaft sowie die Art und Weise wie divergierende Interessen ausgeglichen werden. Die Roboter kommen! Robotik, künstliche Intelligenz und moderne Kommunikationstechnologien werden menschliche Arbeit ersetzen. Ein ordentlich bezahlter Arbeitsplatz wird zum Privileg. Aussagen wie diese befeuern die Angst vor dem digitalen Strukturwandel. Vor etwa vier Jahren ereilte die Welt ein großer Digitalisierungs-Schock. Zwei Forscher aus Oxford veröffentlichten eine spektakuläre Studie, welche besagt, dass der Einsatz digitaler Technologien bis 2030 etwa die Hälfte aller Jobs in der westlichen Welt vernichten könnte. Diese These von Carl Benedikt Frey und dem Informatiker Michael Osborne wurde unzählige Male quer durch alle Informationskanäle verbreitet. Internationale Medienhäuser, Konzernchefs, Thinktanks, aber auch Institutionen wie die Weltbank zitierten aus der Studie und verstärkten die durch den Digitalisierungs-Diskurs ausgelöste Panik. Dabei wird so getan, als könne man soziale Konsequenzen, die mit der Einführung neuer Technologien einhergehen, wie Naturgesetze

mathematisch herleiten. Technologie und deren Einsatz und Auswirkungen sollen „exogen“ und von den gesellschaftlichen Institutionen nicht gestaltbar sein. Es ist ganz und gar nicht selbstverständlich, dass der digitale Strukturwandel zwangsläufig zu Jobverlusten führt. Die vergangenen 20 Jahre haben gezeigt, dass in Österreich die Beschäftigung insgesamt gestiegen ist. Ausgerechnet in den stärker digitalisierten Branchen sind mehr Arbeitsplätze hinzugekommen als weggefallen. Viel zentraler als die befürchtete Massenarbeitslosigkeit ist die Prekarisierung des Arbeitsmarktes. Hier unterliegt die Arbeitswelt durch die Digitalisierung einer ungeheuren Beschleunigung und Verdichtung. Es muss in kürzerer Zeit mehr gearbeitet werden und das bei einem immer diffuser werdenden Verständnis der Grenze von Arbeit und Freizeit. Das Risiko zur Selbstausbeutung und Überforderung steigt damit massiv an. Symptom dafür ist die wachsende zahl an „Ich-AGs“, also den neuen Selbstständigen oder EPUs.

Was sich hinter der „Sharing Economy“ versteckt Der digitale Kapitalismus boomt. Er brachte in der jüngeren Vergangenheit bisher ungeahnte Geschäftsmodelle hervor, die unsere Konsumge-

Es muss in kürzerer Zeit mehr gearbeitet werden und das bei einem immer diffuser werdenden Verständnis der Grenze von Arbeit und Freizeit. wohnheiten auf den Kopf stellten. Mit diesen Geschäftsmodellen gingen auch neue Arbeitsformen einher, die große Risiken bergen. Unternehmen wie Uber, Foodora & Co erzielen damit astronomische Gewinne und tragen zur Prekarisierung in der Arbeitswelt bei.

Dabei stellen Uber und Co lieber das Teilen in den Vordergrund. Was da ist, wird in der Community geteilt und was fehlt gemeinsam erarbeitet. Als hip und cool werden diese Plattformen vermarktet, außerdem soll es schnell und einfach gehen. Am Ende wird aber gar nicht so viel geteilt, wie der Name verspricht: Egal ob Lieferservice oder Apartment, gezahlt wird für die Dienstleistung trotzdem. Natürlich stehen am Ende jene, die besonders viel mitschneiden und an Provisionen und Gebühren verdienen. Die Umsätze dieser neuen Plattformen in Österreich entsprachen 2015 bereits dem Umsatzvolumen einer großen Handelskette, zusätzlich ist eine fortschreitende Monopolisierung zu bemerken. Ein besonders bekanntes Beispiel für diese neue Plattformökonomie ist Foodora. Eher in der gehobenen Preisklasse kann hier bei Restaurants Essen bestellt werden, die sonst kein Lieferservice anbieten. Geliefert wird von den RadfahrerInnen in Pink, die nach Unternehmensangaben bis zu


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SCHWERPUNKT SCHWERPUNKT Wer sind heute die ArbeitnehmerInnen?

Der Fahrdienst Uber ist nicht überall willkommen. Er bereitet klassischen Taxi-Unternehmen Probleme und wurde in vielen Teilen der Welt bereits eingeschränkt oder gänzlich verboten. In Österreich gibt es bisher keine Einschränkungen. Quelle: taxi-deutschland.net (CC BY-SA 4.0)

Fakten zur Digitalisierung in Österreich: • Rückgang im Arbeitsvolumen bei Landwirtschaft und Industrie • Dafür noch Steigerung im Handel und Tourismus • Besonders starker Anstieg bei unternehmensnaher Dienstleistung, im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich

EPU: Einpersonenunternehmen

zwölf Euro in der Stunde verdienen. Doch das Problem der Scheinselbstständigkeit und Selbstausbeutung steht im Raum, auf der anderen Seite wird mit Autonomie gelockt, was gerade für Studierende als Nebenjob verführerisch ist. Mit dem Autonomieversprechen der Plattformökonomie ist es jedoch auch nicht weit her. So schreiben die Soziologen Oliver Nachtwey und Philipp Staab in einer Studie über den neuen digitalen Kapitalismus: „In Dienstleistungsfabriken wie Amazon kehren lückenlose Kontrolle und maschinelle Maschinensteuerung nun zurück in die Arbeitswelt. Was früher das Fließband war, sind heute Apps und Algorithmen.“ Bei Foodora läuft die Auftragsvergabe an die FahrerInnen nämlich automatisch über einen Algorithmus. Die Algorithmen sind ein Kontrollinstrument. Weil die Fahrer immer ein Smartphone mit installierter App bei sich haben, weiß die Firma dank Geolokalisierung immer, wo man sich gerade befindet. Diese neue Form des Wirtschaftens und Arbeitens bringt nicht nur Prekarisierung und Überwachung, sie bedeutet auch noch ein stärkeres Unterordnen aller Lebensbereiche unter das Diktat des Profits. Jede freie Minute des Tages soll gewinnbringend genutzt werden. Wer auf Urlaub fährt, versucht noch mit der eigenen Wohnung auf AirBnB Geld zu machen. Wer keine Abendpläne hat, kann ja mit Uber Leute transportieren und noch etwas dazu verdienen. Wer zwischen Seminar, Prüfung, Lern- und Prüfungsstress nur ein paar Stunden Zeit hat, schwingt sich halt auf das Rad. Man arbeitet von Auftrag zu Auftrag, von Gig zu Gig, weshalb wir hier auch von der Gig-Economy sprechen. Die Plattformen kombinieren so

kurzfristige, befristete Arbeitsaufträge mit dem Fakt, dass immer irgendjemand zur Verfügung steht, um die notwendige Leistung zu erbringen, weil die FreiberuflerInnen sowieso arbeiten, als hätten sie durchgängig Arbeitsverhältnisse. Die Ausbeutung der ArbeiterInnen wird durch die Plattformökonomie weniger sichtbar. Hatte man beim Pizzaservice früher

Prekarisierung ist kein Naturgesetz und auch eine sich rasch ändernde Arbeitswelt führt nicht zwangsläufig zu Verschlechterungen. ob der eigenen Bequemlichkeit noch ein schlechtes Gewissen, bringt heute einE jungeR, fitteR StudentIn mal so nebenbei das Essen vorbei. Nicht nur deshalb gestaltet sich der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen äußerst schwierig. Durch das Springen von Gig zu Gig löst sich der altbekannte Neun-Bis-Fünf-Betriebsrhytmus völlig auf. Feste Strukturen, vertraute KollegInnen, eine gemeinsame Arbeitsstätte – all das fehlt. Die Anweisung gibt die App auf das Handy und nicht mehr der Vorgesetzte persönlich, was weitere Anonymisierung und Entfremdung bedeutet. Lauter einzelkämpfende ArbeitskraftunternehmerInnen, einander weitgehend unbekannt, schwer zusammenzuführen und für Gewerkschaften kaum zu erreichen, arbeiten mehr gegeneinander als miteinander und sind damit maximal ausbeutbar. Statt Solidarität unter KollegInnen herrscht also ständiger Wettbewerb zwischen Scheinselbstständigen.

Egal ob nun Sharing Economy, Gig-Economy oder Plattformökonomie genannt: Sie alle bringen neue Herausforderungen bezüglich Schutz von ArbeiterInnen. Gefordert sind klare Regelungen bei der zeitlichen Verfügbarkeit und dem Gesundheitsschutz, hin zu Arbeitsbedingungen, die autonomes, selbstbestimmtes und gesundes Arbeiten tatsächlich ermöglichen und nicht nur bei einem leeren Versprechen belassen. Schlussendlich werden wir aber nicht darum herum kommen, den ArbeitnehmerInnen-Begriff neu zu definieren. Neue Selbständige und EPUs machen bisherige Unterscheidungen unzureichend. Die Grenze muss zwischen jenen verlaufen, die tatsächlich wirtschaftlich abhängig sind, ohne jeden freien Gestaltungsraum für sich selbst, und denen, die freiwillig gewählten Tätigkeiten im Rahmen ihrer eigenen Interessen und Zeitvorstellungen nachgehen. Für Erstere muss die arbeits- und sozialrechtliche Absicherung auch auf diese neuen Beschäftigungsverhältnisse erweitert und Beschäftigungsbedingungen eingefordert werden, die ein sicheres Arbeiten ermöglichen. Auch Gewerkschaften werden sich noch stärker diesen neuen Verhältnissen stellen müssen, um Wege zu finden, der Vereinzelung der ArbeitskraftunternehmerInnen entgegen wirken zu können und den Organisationsgrad innerhalb dieser Plattformökonomien zu stärken. Die Gewerkschaft vida verkündete hier im April 2017 einen ersten Erfolg: die Gründung eines Betriebsrates bei Foodora. Zusätzlich soll für alle Fahrradzustelldienste ein Kollektivvertrag ausgehandelt werden. Prekarisierung ist kein Naturgesetz und auch eine sich rasch ändernde Arbeitswelt führt nicht zwangsläufig zu Verschlechterungen. Mit den richtigen Ansätzen können auch Plattformen wie Foodora an die Leine genommen und klare Regelungen für Anstellungen gefunden werden. Wenn wir nicht wollen, dass in diesen wachsenden Sparten schon bald noch viel mehr Menschen unter prekären Verhältnissen arbeiten, müssen wir rasch reagieren.

Roland Plachy

ArbeitskraftunternehmerInnen sind genötigt, mit der eigenen Arbeitskraft wie einE UnternehmerIn umzugehen. Das bedeutet mehr Selbstkontrolle (selbständige Planung, Überwachung und Regulierung), Selbst-Ökonomisierung (mit der eigenen Arbeitskraft strategisch umgehen, Selbst-Marketing) und SelbstRationalisierung (durch das Verschwimmen der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit wird auch letztere ökonomischen Kriterien unterworfen).

Mit AirBnB wird sogar die eigene Wohnung – eigentlich etwas sehr privates – zur Ware. Zusätzlich setzt AirBnB nicht nur traditionelle Übernachtungsmöglichkeiten unter Druck, sondern hat auch das tatsächlich kostenlose, auf dem Teilen basierende Couchsurfing aus dem Fokus gedrängt.

Links: https://blog.arbeitwirtschaft.at/ digitalisierung-undberufstrukturwandel/ https://www.profil.at/ portfolio/innovation/ fairness-sharing-economyairbnb-uber-7636561 http://oe1.orf.at/ artikel/634477 http://derstandard. at/2000052440445/ Crowdworking-WieStaaten-Uber-FoodoraCo-an-die-Leine-nehmen


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INTERNATIONAL INTERNATIONAL

Kommentar von Josef Weidenholzer

Robotisierung: Freund oder Feind für Europas Zukunft? Die Robotisierung unserer Gesellschaft ist eine der wichtigsten technologischen Entwicklungen der Gegenwart. Während die erste Generation der Maschinen vor allem als Werkzeug für schwere Arbeiten in der Industrie eingesetzt wurde, ist die nächste Stufe von Robotern darauf ausgelegt mit Menschen zu interagieren. 1,7 Millionen entscheidungsfähige Maschinen, die miteinander kommunizieren können, sollen bereits aktiv sein. Das ist die EinwohnerInnenzahl Wiens. EU muss rechtliche Standards bestimmen

Robotisierung führt zu Umwälzungen in der Arbeitswelt und bringt Verunsicherungen. Der EU-Parlamentarier Josef Weidenholzer fordert, dass die Politik die Entwicklung gestalten soll – nicht umgekehrt. Quelle: Marco Verch

S

chon heute haben sich mit Staubsaugerrobotern die intelligenten Maschinen ihren Weg in unsere Haushalte gebahnt und der Einsatzbereich wird rasant vielfältiger. Bei einer Konferenz zu diesem Thema im vergangenen Monat in Brüssel wurden Beispiele, von selbstfahrenden Bussen, bis zu Robotern, die in Zukunft Pflegepersonal unterstützen können, präsentiert.

Ein Leben ohne Arbeit Beim Großteil der Europäer erzeugt die Idee der Robotisierung Angst vor dem Verlust der eigenen Arbeit. Davon wird nicht nur die Fließbandarbeit betroffen sein, sondern prinzipiell jede Tätigkeit, bei der Informationen an einem Bildschirm verarbeitet werden. Neue Märkte im Dienstleistungssektor können einen Teil der verlorenen Jobs der Industrie auffangen, doch nicht alle Jobs werden kompensiert. Mehr denn je müssen Unternehmen deshalb in die Weiterbildung ihrer Beschäftigten investieren. Trotzdem wird die maschinengestei-

gerte Produktivität dazu führen, dass nicht mehr genug klassische 40-Stunden-Arbeit vorhanden ist. Als Gesellschaft müssen wir uns daher die Frage stellen, ob eine 40-Woche noch zeitgemäß ist. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung ist unumgänglich. Die knapper werdende Arbeit muss gerechter auf mehrere Schultern verteilt werden. Je komplexer unsere Arbeitszeit wird, desto wichtiger ist dabei die Mitsprache der ArbeitnehmerInnenvertretungen. Und was die wachsenden Gewinne der automatisierten Unternehmen betrifft, muss es nicht nur Einkommenserhöhungen geben, sondern auch einen durch eine Robotersteuer finanzierten Solidaritätsfonds. Das Ziel dürfen nicht Fabriken ohne Menschen sein, oder ein Leben ohne Arbeit, sondern ein Zusammenspiel von Mensch und Maschine. Sie sollen uns dort wo es nötig ist, entlasten und unsere Gesundheit schützen. Wenn zwischenmenschliche, persönliche Kontakte gefragt sind, wird uns auch in nächster Zeit keine Maschine den Rang ablaufen.

Momentan spielt Europa bei der Produktion der Industrieroboter ganz vorne mit. Damit das so bleibt und wir nicht, wie in vielen anderen industriellen Zweigen von Fernost überholt werden, heißt es investieren. Nicht nur in die Betriebe, sondern auch in die Zusammenarbeit von Universitäten und Industrie. Die innovativen Ideen müssen in wirtschaftlich erfolgreiche Geschäftsmodelle gewandelt werden. Die Veränderungen für den Arbeitsmarkt, die sozialen Strukturen und die Angst der ArbeitnehmerInnen dürfen wir nicht unterschätzen. Sie hat im vergangenen Jahr dazu beigetragen, dass Trump in den USA zum Präsidenten gewählt wurde und auch beim Brexit waren die Konsequenzen einer automatisierten Welt Thema. Bei der Schaffung eines rechtlichen Rahmens für die Robotisierung ist die Sozialdemokratische Fraktion Vorreiterin im Europäischen Parlament. Wir haben sowohl Regeln für den Umgang mit Robotern, als auch die Besteuerung erstmals auf die Agenda und zur Abstimmung gebracht. Wichtig ist, dass wir die Entwicklung der Systeme gestalten und nicht umgekehrt, technisch und politisch. Europäische Standards können sich global durchsetzen, das haben wir zuletzt beim Thema Datenschutz gesehen, wo Europa den großen Konzernen die Stirn geboten hat. Doch solche Fragen lassen sich nicht nationalstaatlich regeln, nur wenn Europa geeint auftritt, können wir die Zukunft bestimmen.

Josef Weidenholzer

Josef Weidenholzer ist Abgeordneter im EUParlament und dort seit 2015 Vizepräsident der Sozialdemokratischen Fraktion. Quelle: SP OÖ

Veranstaltungs-Tipp

Die internationale Vortragsreihe „Robophilosophy“ bringt von 14. bis 17. Februar, neben Josef Weidenholzer, Expert­ Innen aus aller Welt an die Universität Wien. Diskutiert werden bei der wissenschaftlichen Konferenz Visionen zum Thema Roboter in der Gesellschaft – Politik, Macht und öffentlicher Raum. Infos unter: http://conferences.au.dk/ robo-philosophy


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INTERNATIONAL INTERNATIONAL Weltweite Kampagne für Steuergerechtigkeit

Internationalismus in der Praxis Es gibt wenige Themen, die Lösungen auf internationaler Ebene mehr benötigen, als der Kampf gegen Steuerflucht. Heute sind etwa 7 Billionen Euro oder 10% des weltweiten Bruttoinlandsproduktes in Steueroasen versteckt. Das ist mehr unversteuerter Besitz, sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen, als je zuvor.

Auch Jeremy Corbyn, Vorsitzender der britischen Labour Party, unterstützt die internationale Kampagne gegen Steuerflucht!

YES und IUSY sind die internationalen Dachorganisationen der Sozialistischen Jugend Österreich. Die IUSY hat ihren Sitz in Wien.

O

b multinationale Konzerne – beispielsweise Apple, Google, McDonalds und viele andere – das reichste Prozent der Weltbevölkerung, terroristische oder kriminelle Organisationen wie die Mafia: Sie alle nutzen Steueroasen für sich, um das Zahlen von Steuern zu vermeiden, ihr Vermögen zu vermehren und ihr Geld zu waschen. Obwohl diese Tatsachen den meisten bekannt sind, oder man sich zumindest darüber bewusst ist, dass uns gewaltige Summen an öffentlichen Einnahmen durch das unsaubere Geschäft der Steuerflucht entgehen, nimmt die Empörung nach Veröffentlichungen, wie zuletzt den Paradise Papers, immer rasch ab. Teils weil jeder Versuch auf nationalstaatlicher Ebene alleine scheitern muss, teils weil es scheinbar keine internationalen Lösungen gibt.

Aus diesen Überlegungen haben wir, die Young European Socialists (YES) und die International Union of Socialist Youth (IUSY) gemeinsam mit Verbündeten aus anderen politischen Familien am 1. Dezember eine weltweite Kampagne für Steuergerechtigkeit gestartet. Die Kampagne ist um einen umfassenden Forderungskatalog zur Bekämpfung von Steuerflucht aufgebaut, deren zentrale Punkte auf einer internationalen Ebene umgesetzt werden müssen. Zusätzlich sind weitere Forderungen ausgearbeitet, die auf nationaler Ebene erkämpft werden können. Im Zentrum der Kampagne stehen die monatlichen Aktionstage, an denen wir am selben Tag auf der ganzen Welt auf die Straße gehen werden, um für globale Steuergerechtigkeit zu mobilisieren. Bis Herbst 2018 werden wir Unterstützung für unsere Kampagne organisieren und ein breites Bündnis für Steuergerechtigkeit bilden. Ziel ist es, die Mobilisierung für unsere Forderungen in politischen Druck zu übersetzen und so viele Parteien und Parlamente dazu zu bringen, sich dafür einzusetzen, jene Strukturen zu verändern, die Steuerflucht möglich machen. In den letzten dreißig Jahren haben sich die Kräfteverhältnisse auf nationaler und internationaler Ebene zwischen den Wenigen, die von der Arbeit der Vielen leben, weiter zu ihren Gunsten verschoben. Die Schwäche der Linken, sich auf internationaler Ebene zu organisieren, ist für die stetig zunehmende Ungleichheit sowie für den erstarkenden Nationalismus mitverantwortlich. Die Deregulierung der Finanzmärkte, immer niedri-

gere Steuern auf Kapital und Unternehmensgewinne, Steuerflucht, Automatisierung und Globalisierung – sie alle haben zu einer ungeheuren Konzentration von Kapital und Macht in den Händen des reichsten Prozents geführt. Internationalismus ist keine schöne Floskel, mit der eine Rede abgeschlossen wird. Er ist politische Praxis und entspricht unserer tiefen Überzeugung, dass der entscheidende Spalt nicht zwischen Nationen klafft, sondern zwischen den Superreichen und dem Rest von uns, ganz gleich wo wir leben! Auch wenn sich die politischen Realitäten in vielen Ländern unterscheiden, sind die Limitationen, die wir in unserer politischen Arbeit erfahren, nur zu ähnlich.

Für mehr Informationen über Steuerflucht und unsere Forderungen: endtaxevasion.org und https://www.facebook. com/endtaxevasion/

Die Schwäche der Linken, sich auf internationaler Ebene zu organisieren, ist für die stetig zunehmende Ungleichheit sowie für den erstarkenden Nationalismus mitverantwortlich. Wir müssen die Kämpfe identifizieren, die wir nur auf einer internationalen Ebene gewinnen können und sie auf eben dieser führen. Mit dieser Kampagne wollen wir Bündnisse mit progressiven Kräften aus der ganzen Welt stärken, Erfahrungen sammeln, Austausch und Zusammenarbeit intensivieren, um in den vielen zukünftigen Kämpfen geschlossen zusammenzustehen. Internationale Solidarität ist unser höchster Wert und unsere stärkste Kraft!

Matthias Krainz

Links: Who Owns the Wealth in Tax Havens? Macro Evidence and Implications for Global Inequality Annette Alstadsæter, Niels Johannesen, and Gabriel Zucman NBER Working Paper No. 23805 September 2017 JEL No. E21,H26,H87


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INTERNATIONAL INTERNATIONAL

Proteste in Barce­ lona gegen PolizeiGewalt am Tag des Referendums. Quelle: Adolfo Lujan

Kommentar zur Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien

Das fehlende Element „Die Darstellung eines Problems ist immer politisch“ hält David Lizoain, Autor des folgenden Textes fest. Zu den Entwicklungen in Katalonien diesen Herbst gibt es auch innerhalb der Linken unzählige Positionen. In dieser Ausgabe des TROTZDEM haben wir uns dazu entschlossen, eine Stimme der Sozialistischen Partei Kataloniens, mit deren Jugendorganisation wir innerhalb der Young European Socialists eng zusammen arbeiten, zu Wort kommen zu lassen. s gibt Hunderttausende linke KatalanInnen die ein unabhängiges Katalonien als ein progressives Projekt ansehen, und für die sozialer Fortschritt und nationale Selbstbestimmung untrennbar miteinander verbunden sind. Ich bin in diesem Punkt völlig anderer Meinung als sie. Der Nationalismus erweist sich einmal mehr als ein nützliches Instrument für die konservativen Kräfte, weil er unser großes Ziel, mehr wirtschaftliche Gerechtigkeit in der Gesellschaft durchzusetzen, untergräbt. Was als eingrenzbarer Konflikt zwischen verbündeten Eliten um regionale Finanzen begann, ist nun auf die Titelseiten der Weltpresse katapultiert worden. Was ganz offensichtlich ist, wird aber fast immer verschwiegen: Die Hauptverliererinnen in diesem sektiererischen Konflikt zwischen zwei Parteien der Rechten sind die arbeitenden Klassen. Sobald Politik als ein Konflikt zwischen Nationen konstruiert wird, werden Fragen der Verteilung entweder in den Hintergrund gedrängt oder deformiert.

E

Der Weg zum Hier & Jetzt Die Regierungen von Spanien und Katalonien sind einander viel ähn-

licher als sie je zugeben würden. Sie werden beide von konservativen Parteien geführt, sie sind beide enthusiastische Administratoren einer Agenda der Austerität und sind beide konsequente Feinde der Interessen der organisierten ArbeiterInnenklasse. Ihre Fähigkeit an der Macht zu bleiben, hängt ganz stark daran, dass sie den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit von sozialen Themen hin zu Identitätskonflikten gelenkt haben. Anfang September dieses Jahres verabschiedete das katalanische Parlament zwei Gesetze, die das Abhalten eines Unabhängigkeitsreferendums und eine Übergangsphase vor der Erlangung der vollen Unabhängigkeit vorsahen. Das spanische Verfassungsgericht hat diese Gesetze sofort wegen Verfassungswidrigkeit suspendiert, nachdem sie zuvor bereits von katalanischen Gerichten zurückgewiesen worden waren und sie darüberhinaus gegen das katalanische Autonomiestatut verstießen. Doch hat diese Legislaturperiode den Beginn eines Zusammenbruchs des Institutionengefüges markiert, da nun unterschiedliche Institutionen (katalanische & spanische) um Legitimität rangen. Die katalanische Regierung beharrte auf dem Standpunkt, dass sie

ein Referendum abhalten lassen würde. Die spanische Regierung reagierte mit einer brutalen Welle der Repression, die die Abhaltung des Referendums verunmöglichen sollte. Sie bedrohte WahlbeisitzerInnen, etwa

Ein klassenübergreifendes Bündnis lässt sich nur für Umverteilung oder Polarisierung entlang nationaler Grenzen betreiben – aber nicht beides. mit hohen Strafzahlungen. Anstatt das Referendum vonstatten gehen zu lassen, und gleichzeitig seine Glaubwürdigkeit und Legitimität in Frage zu stellen, entschied sich die Regierung in Madrid in unverhältnismäßiger Art und Weise, ihre Macht zu demonstrieren. Das verschlimmerte die Situation erheblich. Statt die Unabhängigkeit nach dem Referendum formell zu erklären, wie es das Gesetz vorsah, entschied sich der katalanische Präsident Puig-

demont, in der Ambiguität zu verharren. Die nationalistische Mehrheit im katalanischen Parlament verabschiedete eine symbolische Unabhängigkeitserklärung, die jedoch noch nicht in Kraft getreten sei und erklärte sich selbst zu den legitimen Repräsentanten des katalanischen Volkes. Damit war der institutionelle Zusammenbruch vollkommen. Das katalanische Parlament hatte die spanische Verfassung verletzt, der katalanische Präsident ignorierte nach eigenem Gutdünken katalanische (von seiner eigenen Regierungsmehrheit beschlossene) Gesetze und es existierte nun neben dem demokratisch gewählten katalanischen Parlament eine zusätzliche „Unabhängigkeits“-Versammlung.

Die katalanische Bourgoisie bekommt kalte Füße Eine Fraktion des katalanischen Kapitals hörte in der ersten Oktoberwoche auf zu existieren. Sie hat sich in diesen Tagen in einen Regionalausschuss des spanischen Kapitals verwandelt. Es begann damit, dass zwei katalanische Großbanken die Verlegung ihrer Hauptquartiere von Barcelona ins übrige Spanien verkündeten. Dem folgten einige andere der größten


INTERNATIONAL INTERNATIONAL

Carles Puigdemont (rechts), Präsident Kataloniens, befindet sich mittlerweile in Belgien. Quelle: Sandra Lázaro

David Lizoain arbeitet als Ökonom in Madrid. Er war Wirtschaftsberater des letzten sozialistischen Präsidenten Kataloniens und Direktor für Politikentwicklung und Forschung der Sozialistischen Partei Kataloniens bis 2015. Der vorliegende Text wurde Mitte Oktober 2017 geschrieben und ist in längerer Fassung in der Zeitschrift ZUKUNFT erschienen.

katalanischen Firmen. Die Illusion der völlig schmerzlosen Trennung von Spanien erwies sich als das, was sie immer war – als Illusion. Das katalanische Kapital hat fast einstimmig entschieden, die Flucht in den sicheren Hafen des spanischen Staates anzutreten. Fortgesetzte Instabilitäten werden den katalanischen Industriekapitalismus bedrohen. Sollte einmal die Entscheidung anstehen, ob man lieber für den gesamtspanischen Markt produzieren und expandieren möchte, könnte die katalanische Wirtschaft den Kürzeren ziehen. Arbeitsplätze werden verloren gehen, die Steuereinnahmen werden sinken, Investitionen werden ausbleiben und die Entscheidungsgewalt über die katalanische Wirtschaft wird sich noch mehr aus Katalonien hinaus verlagern. Dem Kapital, das relativ mobil ist, wird es ein leichtes sein, die Kosten für diese Anpassungen auf den Faktor Arbeit überzuwälzen. Der Abfall der wirtschaftlichen Elite ist zwar ökonomisch bedeutsam, aber weniger wichtig in Hinsicht auf Wahlen. Die Zustimmung zur katalanischen Unabhängigkeit ist am stärksten bei den Mittelschichten, aber nicht majoritär in der katalanischen Gesellschaft insgesamt. Je geringer das Einkommen, desto weniger Begeisterung für die katalanische Unabhängigkeit wird man antreffen. Es wäre bequem, vielleicht sogar tröstlich, wenn man annehmen könnte, dass man politische Präferenzen in Katalonien aufgrund der Klassenlage definieren könnte. Tatsächlich ist dieser Faktor aber zweitrangig, wenn es darum geht, hier politisches Verhalten zu erklären. Viel wichtiger sind Faktoren wie familiärer Hintergrund und Sprachzugehörigkeit. Auf den stärksten Widerstand treffen die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen bei jenen Millionen KatalanInnen

und ihren Kindern, die vor Jahrzehnten aus dem übrigen Spanien auf der Suche nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen zugewandert sind. Diese Gruppe sieht keinen Widerspruch darin, sich als KatalanInnen und als SpanierInnen zugleich zu fühlen. Die meisten dieser Zuwanderer­ Innen sind ärmer als die Durchschnittsbevölkerung und sind daher überproportional in den unteren Einkommensschichten repräsentiert. Katalonien ist ein Einwanderungsland, in das mehr als eine Million AusländerInnen in den Boomjahren immigriert sind. Dieser Teil der Bevölkerung ist der marginalisierteste und am meisten vergessene in der derzeitigen Debatte. Nichtsdestotrotz ist jedes Segment der katalanischen Gesellschaft sehr plural in Herkunft und Zusammensetzung. Ein überwältigender Teil der EinwohnerInnen Kataloniens vereinbart eine katalanische mit einer spanischen Identität. Politisch bedeutet das, dass man ein klassenübergreifendes Bündnis für Umverteilung oder Polarisierung entlang nationaler Grenzen betreiben kann, aber nicht beides. Niemand sollte davon überrascht sein, dass die Radikalisierung des katalanischen Nationalismus im Rest Spaniens einem spanischen Nationalismus Auftrieb verschafft hat. Diese wachsende Stärke des spanischen Nationalismus, sowohl in Katalonien als auch im Rest Spaniens, nützt vor allem den Parteien der politischen Rechten und auch der außerparlamentarischen extremen Rechten. Das explosionsartige Überhandnehmen von spanischen Flaggen ist die verspätete Reaktion auf das explosionsartige Überhandnehmen von katalanischen Flaggen.

Die Herausforderung der Umverteilung Solange die derzeitige außergewöhnliche Situation andau-

ert, sind die Aussichten für ein politisches Projekt, dass soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund rückt, düster. Sowohl die katalanische als auch die spanische Regierung haben sich dazu entschlossen, eine ungleiche ökonomische Entwicklung voranzutreiben, die die weitere Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse verallgemeinert, die Gehälter weiter drückt und die Arbeitsbedingungen verschlechtert. Aufgrund stagnierender und sinkender Löhne sind Gewinne gestiegen. Gewerkschaften sind jedoch zu schwach und insbesondere dort schwach, wo die meisten neuen Arbeitsplätze entstehen, nämlich im Dienstleistungssektor. Sich selbst überlassen, wird der spanische Arbeitsmarkt niemals den ArbeiterInnen einen anständigen Lebensstandard ermöglichen. Die strukturelle Schwäche der spanischen Arbeiter­ Innenklasse könnte durch eine

Solange die derzeitige außergewöhnliche Situation andauert, sind die Aussichten für ein politisches Projekt, dass soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund rückt, düster. Ausweitung des öffentlichen Sektors und einen Ausbau des spanischen Wohlfahrtstaates ausgeglichen werden, etwa des Pflegesektors. Irgendeine Entwicklung in diese Richtung würde aber auch einen Ausbau des spanischen Steuerstaates bedingen. Das derzeitige spanische Steuersystem führt zu einem ständigen Steuerwettbewerb zwischen den Regionen. Das Konzept einer weiteren Dezentralisation des spanischen Staates, das von vielen spanischen Linken verteidigt wird, würde dieses Problem nur verschlimmern und eine Ausweitung staatlicher Ausgaben erschweren. Ein Bundesstaat scheint der einzige Weg zu sein, um eine weitere Polarisierung zu verhindern und einerseits die nationale Frage zu lösen und andererseits den Wohlfahrtsstaat zu stärken. Pessimismus des Intellekts aufzubringen ist einfach, aber im Moment erscheint Optimismus des Willens entweder heroisch oder illusionär.

David Lizoain

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KALENDER KALENDER

WAS WAR WAS WAR

Kampagne

Erfolgreicher SJ-Wahlkampf, Lehren für die Zukunft!

1. Dezember 2017

15. Oktober 2017

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Kampagne

End Tax Evasion Now

Feier

123 Jahre Sozialistische Jugend Start der internationalen Kampagne gegen Steuerflucht durch unsere Dachorganisationen YES und IUSY. Mehr Informationen zum alljährlichen Schaden durch Steuerflucht, unseren Forderungen auf globaler und nationaler Ebene sowie unserer Petition auf endtaxevasion.org

25. November 2017

Seit 1894, als der Grundstein für unsere heutige Organisation gelegt wurde, setzen wir uns für eine Welt ein, in der alle Menschen frei und selbstbestimmt leben können! Ohne Unterdrückung, ohne Diskriminierung, ohne Kapitalismus, Faschismus, Rassismus und Sexismus. Eine Aufgabe, die heute so wichtig ist, wie vor 123 Jahren!

Aktion

Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen

Mit #metoo sind über Wochen hinweg Frauen an die Öffentlichkeit getreten und haben sexualisierte Belästigung und Gewalt aufgezeigt. Gewalt an Frauen ist ein strukturelles Problem in unserer Gesellschaft, auf das wir am 25. November aufmerksam gemacht haben!

7.–10. Dezember 2017

4. November 2017

Mit tausenden Vorzugsstimmen für SJ-KandidatInnen und vielen positiven Gesprächen können wir zufrieden auf den SJ-Wahlkampf zurück blicken. Darüber hinaus dürfen wir natürlich das Gesamtergebnis der Nationalratswahl nicht vergessen. Mehr in der Coverstory.

Seminar

Widerstandswerkstatt

Die diesjährige Bildungswerkstatt stand ganz im Zeichen des Widerstands gegen die Schwarz-Blaue Regierung und den Rechtsruck in ganz Europa. Über 300 Jugendliche haben sich von 7. bis 10. Dezember am Wörthersee versammelt und gemeinsam an linken Strategien gearbeitet!


KALENDER KALENDER

Demonstration

Neujahrsempfang: Großdemo gegen Schwarz-Blau

8. März 2018

13. Jänner 2018

WAS KOMMT WAS KOMMT

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Aktion

Weltfrauenkampftag!

Die Regierung aus ÖVP und FPÖ ist angelobt. Ihre Pläne reichen vom 12-Stunden-Arbeitstag, niedrigerem Arbeitslosengeld, schlechterem Mietrecht, allgemeinen Studiengebühren und dem herben Eingriff in das Grundrecht von AsylwerberInnen bis hin zum Abbau von ArbeiterInnenrechten und dem Stopp für das generelle Rauchverbot.

16.–18. März 2018

Wir setzen uns Tag für Tag für mehr Rechte für Frauen ein! Am 8. März werden wir wieder in ganz Österreich Aktionen veranstalten und für die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern kämpfen. Gemeinsam gegen Sexismus, veraltete Rollenbilder und für ein selbstbestimmtes Leben für Alle!

Aktion

Internationaler Tag gegen FGM

Female Genital Mutilation (FGM) ist ein weltweites Problem! 200 Millionen Frauen sind betroffen und 3 Millionen Frauen Jahr für Jahr gefährdet. FGM ist ein brutaler Eingriff in die Sexualität und die Selbstbestimmung über den eigenen Körper.

FemSem

Das coolste frauenpolitische Seminar des Jahres findet 2018 von 16. bis 18. März statt! Diesmal ist es besonders international und wir freuen uns auf viele TeilnehmerInnen aus aller Welt mit denen wir gemeinsam an feministischen Strategien zur Überwindung des Patriarchats arbeiten können! 16.–18. März • St. Gilgen • femsem.at

4.–6. Mai 2018

6. Februar 2018

Also Gründe genug, um gegen diese Regierung Widerstand zu leisten! Deshalb alle am 13. Jänner nach Wien zur Großdemo gegen Schwarz-Blau kommen!

Seminar

Seminar

Antifa-Seminar und Befreiungsfeier im ehem. KZ-Mauthausen

Die antifaschistische Arbeit ist in der SJ zentral. Von 4. bis 6. Mai treffen wir uns daher auch heuer wieder im Europacamp am Attersee, um über Themen wie Austrofaschismus, Neue Rechte und gemeinsame Strategien zu diskutieren. Komm mit und vernetze dich mit 200 anderen Jugendlichen aus Österreich und der Welt! 4.–6. Mai 2018 • sjoe.at/antifa18


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Trotzdem 3/2017 – Die Zeitung der Sozialistischen Jugend Verlagspostamt: 1050 Wien – Aufgabepostamt: 4020 Linz P.b.b. Zulassungsnummer: GZ 02Z032957 S

ICH WILL mit auf das FemSem (16.–18. März) kommen mit auf das Antifa-Seminar (4.–6. Mai) kommen Feministische-Materialien und Infobroschüren erhalten Antifaschismus-Materialien und Infobroschüren erhalten ein TROTZDEM-Abo Infos über die SJ aktiv werden – kontaktiert mich!

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