Faktor 2016/4

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herausgegeben von der sozialistischen jugend wien

www.sj-wien.at heft 04 2016

DIE LINKE JUGENDZEITSCHRIFT FÃœR WIEN

Schwerpunkt: ARMUT REPORTAGE: VINZIR AST S. 8


Die FAKTOR Redaktion verwendet geschlechterbewusste Sprache, um die fehlende Sichtbarkeit von Trans*-, Interpersonen und Menschen, die sich keiner Geschlechtsidentität zugehörig fühlen, aufzuzeigen. Dafür gibt es verschiedene Strategien. Das “Binnen-I” soll darauf aufmerksam machen, wie sehr nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Sprache von Männern dominiert wird und will Frauen in den Vordergrund rücken. Der Genderstar, soll zudem den Leser*innen bewusst machen, dass es mehr Geschlechter als männlich/weiblich gibt und sich nicht alle in das starre zweigeschlechtliche Muster einordnen können bzw. wollen. Er soll zum Überdenken unserer Vorstellungen bezüglich Frauen* und Männern* anregen. Welches Bild habe ich im Kopf, wenn ich „Frau“ lese? Welche Sexualität/Hautfarbe/welchen Körper stelle ich mir vor? Beim Nachdenken darüber fällt auf, dass wir oft ganz klare, gesellschaftlich geprägte Bilder in unserem Kopf haben. Dabei sind aber alle Menschen unterschiedlich und wollen und lassen sich nicht in solch starre Kategorien einordnen.


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Inhalt Redaktion 4 Kommentar der Vorsitzenden 5 Außen

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Innen

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Reportage VinziRast 8

Frauenpolitischer Kommentar VINZIRAST-MITTENDRIN 8

Wohnungslosigkeit 13

News von Rechts Wenn bei den Ärmsten gespart wird 14

Schwerpunkt Armut Ist eh nur Werbung?

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Wienkarte Obdachlosigkeit

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Augustin 18 Wären die nicht reich ...

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Kinder- und Jugendarmut

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Vermögensverteilung in Österreich 24 Armut in Wien

IST EH NUR WERBUNG?

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WÄREN DIE NICHT REICH, WÄRST DU NICHT ARM 19

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Internationales Demokratieabbau in der Türkei

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Portrait Livinus 29

Mindestsicherung 30 Armut in Zitaten

PORTRAIT: LIVINUS

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FAKTOR, Die linke Jugendzeitschrift für Wien 04/16 Medieninhaber: Verein zur Förderung fortschrittlicher Jugendmedienarbeit Herausgeberin: Sozialistische Jugend Wien, Alle: Landstraßer Hauptstraße 96/2, 1030 Wien; office@sj-wien.at; Tel.: 01/7138713 Chefredaktion: Tina Rosenberger (SJ23), Sarah Sulollari (SJ3) MitarbeiterInnen dieser Ausgabe: Felix Kamolz (SJ3), Lea Griesser(SJ3), David Gartner (SJ 3), Fiona Herzog (SJ3), Hakan Can (SJ 3),Hannah Stern (SJ 4), Dominique Trappl(SJ 7), Sarah Pliem (SJ 12), Marlene Mutschmann-Sanchez (SJ13), Nikola Illic (SJ 21), Carsten Harderer (SJ 21), Thomas Huber (SJ 21), Paul Stich (SJ 21), Paul Patscheider (SJ 22), Sebastian Ranz (SJ 23) Lektorat: Sarah Sulollari, Zoe Kapl, Tina Rosenberger Layout: Lucia Bischof Druck: Fair Drucker Ges.m.b.H 3002 Purkersdorf, Wintergasse 52

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vor

Redaktion Liebe Leserin*, Lieber Leser*,

Die FAKTOR Redaktion wünscht euch erholsame Ferien!

Die letzte FAKTOR-Ausgabe dieses Jahres möchten wir nutzen, um uns mit Armut auseinanderzusetzen. Wenn wir an Armut denken, dann sehen wir meist Bilder von Obdachlosen in zerrissener Kleidung sowie von Kindern mit aufgeblähten Wasserbäuchen im globalen Süden. Armut bedeutet aber noch mehr, sie beginnt dort, wo die eigenen Bedürfnisse auf Grund von fehlenden Ressourcen nicht mehr abgedeckt werden. Sie ist die Ursache dafür, dass bei zahlreichen Kinobesuchen, Sprachreisen und Nachhilfestunden das Geld leider fehlt und ist auch der Grund für die zu niedrig eingestellte Heizung im Winter sowie die berühmt berüchtigte Spaghetti -Woche am Ende jeden Monats. Dies stößt uns sauer auf, denn Armut ist nicht notwendig oder das Resultat von Schicksalsschlägen. Armut

ist ein Ausdruck von Machtverhältnissen. Weltweit wird viel mehr produziert, als wir je konsumieren könnten. Doch der Reichtum, der unter anderem durch technologische Entwicklungen entstand, wird nicht verteilt, sondern bleibt in der Hand einer kleinen Elite. Armut ist das Produkt eines Systems, in dem es legitim ist, dass ein kleiner Teil der Menschheit den Rest der Bevölkerung ausbeutet. Je reicher die Reichen werden, desto ärmer werden die Armen. Um es mit den Worten Bertholds Brecht zu sagen: „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich!“. Auf diese Ungerechtigkeit kann es nur eine Antwort geben: Kampfansage! Menschen statt Profite! Viel Spaß beim Lesen wünscht euch, Eure Faktor-Redaktion

Gehört ple- 4 non Blondes Lea: Ca lling all the peo Chance - Tomte David: Die Schön heit der ndela Zoe: Ha mma- Culcha Ca Simone Misunderstood - Nina Fiona: Don't Let Me Be nifer Rostock Sarah P.: Hengstin - Jen mayka ntereit Hakan: 21,22,23- Annen Bowie Felix: Cat People - David ad - Ca role King Thomas: Where You Le WIZO Paul P.: Hey, Thomas Kraftklub Carsten: Song für Lia m- The Uncluded Sarah S.: Delicate Cycle deskreis Tina: Espera nto - Freun Platnum Ma rteria, Yasha & Miss Sebastian: Lila Wolken Park Paul S.: Numb - Lin kin

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wort

Kommentar der Vorsitzenden Text: Fiona Herzog

Am 19.November fand die Landeskonferenz der Sozialistischen Jugend Wien statt, wo ich zur neuen Vorsitzenden gewählt wurde. Ein wichtiges Thema dort war Arbeit im 21. Jahrhundert.

Die steigende Arbeitslosigkeit wird von Unternehmer_innen massiv ausgenutzt, um Löhne zu senken und Arbeitsrechte weiter einzuschränken. Das führt dazu, dass Menschen unter immer schlechteren Bedingungen arbeiten müssen. Unbezahlte Überstunden werden geleistet und Verletzungen von Arbeitnehmer_innenschutzgesetzen werden hingenommen, weil die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, zu groß ist. Rechte Parteien machen sich diese soziale Unsicherheit zu Nutze. Sie sprechen die oft berechtigten Ängste und Sorgen der Menschen an, doch missbrauchen sie für ihre rassistische und sexistische Hetze. Denn Schuld daran, dass Arbeiter_innen, trotz eines Vollzeit-Jobs, ohne Sozialleistungen kaum überleben können, sind nicht Ausländer und Geflüchtete, es sind Unternehmer_innen, die ihren Profit auf Kosten der Arbeiter_innen vergrößern. Während FPÖ und ÖVP auf der einen Seite für die Kürzung der Mindestsicherung stimmen, was nur jenen schadet, die ohnehin nichts haben, setzen sie sich gleichzeitig dagegen ein, dass Steuerprivilegien für Managergehälter und Konzerne gestrichen werden. Die FPÖ verkauft sich gerne als DIE soziale Heimatpartei, doch in ihrer Realpolitik zeigt sich sehr deutlich, dass sie nicht Politik für die Mehrheit der Bevölkerung macht, sondern für wenige Reiche. Trotzdem gewinnt die Freiheitliche Partei immer mehr Stimmen. Das hat sich wieder einmal deutlich an der Bundespräsidentschaftswahl gezeigt, wo Norbert Hofer beinahe die Hälfte der Stimmen erhielt. Das liegt unter anderem daran, dass die Große Koalition schon seit Jahren eine Koalition des Stillstands ist. Die Menschen haben kein Vertrauen mehr in die Poli-

tik. Bei sozialen Forderungen ist die SPÖ immer wieder umgefallen und hat dem Druck der ÖVP nachgegeben. Immer öfter wurden ursprüngliche FPÖ- Forderungen, umgesetzt. Das bestärkt die menschenfeindliche Politik weiter, weil das Umsetzen von rechten Forderungen dieser Recht zu geben scheint. Wer Grenzzäune baut, nimmt damit nicht die Angst der Menschen, sondern bestätigt sie vielmehr. Stattdessen muss eine klare Haltung gezeigt werden. Linke Parteien müssen Antworten auf die wahren Probleme finden und diese auch klar vertreten. In Österreich wird die Zahl der Superreichen immer größer, aber gleichzeitig steigt auch die Zahl der Menschen, die armutsgefährdet oder manifest, also dauerhaft, arm sind. Diese Menschen können sich die notwendigsten Dinge zum Leben nicht mehr leisten. Heizen wird zu einem unbezahlbaren Luxus. Menschen, die in Armut leben, haben kaum Möglichkeiten am gesellschaftlichen und politischen Leben Teil zu haben, weil alles Geld kostet. Sie können ihre Kinder nicht auf Sprachreisen mitfahren lassen, oder ihnen teure Nachhilfe zahlen und damit wird ihre Armut weiter vererbt. In unserer Gesellschaft herrscht dennoch das Bild, dass die Menschen an ihrem Elend selbst Schuld seien oder durch unglückliche Schicksale in Armut geraten würden. Damit gilt es endlich zu brechen. Armut wird genauso vererbt wie Reichtum. Die reichsten und einflussreichsten Familien sind heute zu einem großen Teil dieselben wie vor 400 Jahren. Wir leben in keiner Leistungsgesellschaft, sondern in einer Erbgesellschaft und damit muss endlich gebrochen werden!

Jeder Mensch hat ein gutes Leben verdient und dafür gilt es zu kämpfen, nicht nur weil es schön klingt, sondern vor allem, weil es möglich ist. Doch wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass den Kampf für ein gutes Leben irgendjemand für uns übernimmt. Das wird nämlich nicht passieren. Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir das selbst tun! Gewerkschaften, Parteien, Jugendorganisationen, NGOs, es gilt sich überall zu organisieren und die eigenen Ideen einzubringen um sich gemeinsam dafür einzusetzen. Nur dann können wir erfolgreich sein und die Straches und Trumps dieser Welt endgültig hinter uns lassen und anfangen, an einer Welt zu bauen, in der alle Menschen in Wohlstand und Würde leben können.

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außen

Außen Text (v.l.n.r.): Zoe Kapl, David Gartner, Felix Kamolz Foto (v.l.n.r): Steve Rhodes flickr.com, Elvert Barnes flickr.com, Sofía flickr.com

ALL IN BLACK

H&M: SHE'S A LADY?!

#NIUNAMENOS

Die Masse der schwarz gekleideten Demonstranten_innen wogt durch die Straßen verschiedener polnischer Metropolen.

H&Ms neuer, polarisierender Werbespot zeigt Frauen fern von vermeintlichen Schönheitsidealen.

„Ni Una Menos“ ist ein Begriff, den man sich sehr hätte anstrengen müssen in letzter Zeit zu überhören, wenn man in Argentinien und den Nachbarländern lebt.

Vor kurzem hatte die national-konservative Regierung in jenem Land einen Gesetzesentwurf beschlossen, der Abtreibungen nahezu unmöglich macht. War es vorher schon sehr schwierig, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, ist es jetzt quasi ausgeschlossen einen solchen auf legaler Basis durchzuführen. Das neue Gesetz sieht nur bei Lebensgefahr der Mutter einen Abtreibungsgrund – nicht jedoch bei Vergewaltigungen, ungewollten Schwangerschaften oder bei schweren irreversiblen Schädigungen des Fötus. Gegen diese Einschränkung der Menschenrechte lehnen sich nun Frauen* weltweit auf. Unter dem Hashtag #CzarnyProtest (schwarzer Protest) wird auf die Einhaltung des Selbstbestimmungsrechtes gepocht – das internationale Erkennungszeichen der Aktivisten_innen ist dabei die schwarze Kleidung. International deswegen, weil in vielen europäischen Städten ebenfalls Frauen* und Männer* auf die Straße gegangen sind, um sich mit den Frauen* in Polen zu solidarisieren.

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Stattdessen natürlich, mit Muskeln und Achselhaaren. Unterlegt mit Selbstbewusstsein, Unangepasstheit und Tom-Jones‘ Song "She's a Lady" wirkt der Clip schön, beinahe feministisch. Eine gewisse Doppelmoral in dieser Werbung lässt sich jedoch nicht abstreiten und die Frage, warum ein Konzern wie H&M, der jahrzehntelang sexistische Werbung und stereotype Geschlechterrollen mitgeprägt hat, plötzlich auf feministisch macht, kommt auf. Von einem Konzern, der tagtäglich Frauen aus Ländern des globalen Südens für viel zu wenig Geld arbeiten lässt und somit ausbeutet, sollte man sich nicht täuschen lassen. Die Kampagne kann zwar als Schritt in die richtige Richtung gesehen werden, solange aber keine Änderungen in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Bezahlung in Sichtweite sind, gibt es keinen Grund, dieses Unternehmen zu unterstützen. Es bleibt nur Wut auf eine pseudofeministische Kampagne, die, beschäftigt man sich näher mit den Arbeitsweisen von H&M, komplett fehl am Platz zu sein scheint.

Er bedeutet übersetzt „Nicht eine weniger“ und ist neben einem Begriff zu vielem mehr geworden: ein Hashtag, eine Bewegung, ein Grund traurig, wütend, aber auch hoffnungsvoll und vor allem FeministIn zu sein! Der Grund warum es „Ni Una Menos“ gibt ist, der enorme Anstieg an Gewalt gegen Frauen in Argentinien. Zwischen 2008 und 2015 ist die Anzahl der Feminizide in Argentinien um 78% angestiegen, allein zwischen 2014 und 2015 um 26%. Circa alle 31 Stunden wird in Argentinien eine Frau von einem Mann umgebracht. Die Dunkelziffer nicht miteinberechnet, werden in Argentinien 50 Frauen pro Tag Opfer von Vergewaltigungen. In ganz Argentinien und auch den vom selben Problem betroffenen Nachbarländern gab es bereits riesige Demonstrationen mit weit über hundertausend TeilnehmerInnen, und der einzigartigen Forderung, dass nicht eine weitere Frau von einem Mann getötet werden solle.


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innen

Innen Text (v.l.n.r.): Sebastin Ranz, Nikola Illic, Dominique Trappl Fotos (v.l.n.r.): 2* SJ Wien, Krzysztof Pacholak flickr.com

HOFERS WIDERSPRÜCHE

ALTER KURS STATT FRISCHEM WIND?

AUTONOMIEPAKET FÜR SCHULEN

Norbert Hofer setzt bewusst auf eine manipulierende Kommunikation, um über die Widersprüche seiner politischen Agenda hinwegzutäuschen.

Erinnern wir uns an den 1. Mai 2016: An diesem Tag trafen zwei konträre Meinungen von Sozialdemokraten*innen aufeinander.

Als Vizebundesobmann der FPÖ sollte man eigentlich die Standpunkte der eigenen Partei gut kennen. Trotzdem widerspricht Hofer diesen. Er behauptet, sich für die Rechte der Arbeiter*innen einzusetzen, stattdessen stellte die FPÖ im Mai 2015 einen Antrag für die Abschaffung der Arbeiterkammer. Feierlich propagiert er "Unser Geld für unsere Leute" - Die FPÖ ist gegen die Begrenzung von Luxuspensionen, die Reichensteuer, sowie Überbrückungsgelder für Arbeiter*innen und auch gegen Gratiskindergärten.Weiters stimmte die FPÖ im Dezember 2014 gegen die Erhöhung des Pflegegeldes, sowie dem Ausbau eines Pflegefonds, dem die FPÖ als einzige Partei nicht zustimmte. Außerdem votierte sie im Februar 2014 gegen die Streichung von Steuerprivilegien reicher Spitzenmanager*innen sowie Konzernen und gegen eine Erhöhung der Bankenabgabe. Laut ihm kommt „Österreich zuerst“. Gleichzeitig ist er Mitglied der Burschenschaft „Marko Germania“, die die Nation Österreich ablehnt und sich fürs „deutsche Volkstum“ einsetzen will.

Die einen hielten Schilder mit dem Text „Werner der Kurs stimmt“ und die anderen „Rücktritt“ und „Parteitag jetzt!“ hoch. Darauf folgte der Rücktritt des damaligen Bundeskanzlers und ein Parteitag, an dem ein neuer Vorsitzender gewählt wurde. Optimismus und Hoffnung nach einer Veränderung und Demokratisierung der Parteistrukturen machte sich breit. Der erste Versuch scheiterte jedoch, denn die parteiinterne Umfrage um eine Positionierung zum Thema CETA zu finden erbrachte nicht die gewünschte Beteiligung und auch keinen Mitgliederzustrom wie erhofft. Obwohl die Umfrage ein klares Nein zu CETA ergab, wurde dies einfach von der Partei ignoriert. Eine Sache wurde dadurch leider sehr deutlich: Ein einfacher Personalwechsel reicht bei Weitem nicht aus, um mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten zu schaffen. Es braucht engagierte Menschen, die diese immer und immer wieder einfordern.

Durch das am 16.Oktober 2016 vorgestellte Autonomiepaket soll es Schulen ermöglicht werden, sich zu sogenannten „Clustern“ von bis zu acht Bildungseinrichtungen zusammenzuschließen. Das Ziel dieses Paketes ist die Förderung der Kommunikation zwischen den Schulen untereinander und daraus resultierender abwechslungsreicherer Unterrichtspraktiken. Eine weitere Änderung ist die Flexibilisierung der Öffnungs- und Unterrichtszeiten. Konkret bedeutet das, dass jede Schule den Unterrichtsbeginn und die Dauer desjenigen selbstständig festlegen darf. Weiteren Diskussionsbedarf gibt es auch über die Abschaffung der Klassenschüler*innenhöchstzahl, denn schon jetzt leidet der Unterricht unter zu großen Klassen und zu wenig Lehrpersonal. Direktor*innen dürfen in Zukunft selbst entscheiden, welches Lehrpersonal sie aufnehmen. Dabei muss vermieden werden, dass Schulen mit hohen Budget spezielle Anreize für Lehrpersonen schaffen, und es somit zu einer 2-KlassenBildung kommt.

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reportage

VinziRast-mittendrin DER SCHLÜSSEL GEGEN STIGMATISIERUNG

Text: Zoe Kapl, Tina Rosenberger

Im Wohnprojekt „VinziRast-mittendrin“ leben seit 2013 ehemalige Wohnungslose/Obdachlose und Studierende zusammen. Das Zusammenleben löst bei Außenstehenden oft Irritationen aus. Denn die Stigmatisierung von Obdachlosen steht in unserer Gesellschaft an der Tagesordnung.

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s ist November. Draußen ist es kalt und grau. Die Flamme schlägt aus dem Feuerzeug, hält sich am Docht des Teelichtes fest und die Kerze beginnt zu brennen. Thomas* zieht seine Hand zurück und setzt sich auf einen Sessel, der neben dem runden Tisch im Studierzimmer steht. Der heute 49-Jährige konnte seine Miete nicht mehr zahlen und wurde delogiert. Die darauffolgenden sechs Monate habe er „mal dort, mal da gewohnt“, er verdeutlicht dies, indem er mit den Fingerspitzen auf den Tisch klopft. Auch seine Freundschaften litten unter der angespannten Situation. „So viele Sofas“ seufzt Thomas, wenn er sich an dieses halbe Jahr zurück erinnert. Seine Lebensverhältnisse änderten sich, nachdem er einen Zeitungsartikel über ein Wohnprojekt las, in dem Studierende und ehemalige Wohnungslose zusammenleben. Dieses Wohnprojekt war „VinziRast-mittendrin“. Dies war vor dreieinhalb Jahren, Thomas „war froh hier endlich mal wieder ein normales Zimmer zu haben“. Damals war er vor allem von der dynamischen Attitüde, die Cecily Corti an den Tag legt, überrascht. Im Rahmen der Bewerbung um den Wohnplatz saß er der heute 76-Jährigen plötzlich gegenüber, er war erstaunt wie direkt und unkompliziert das Gespräch lief :„Hallo, ich bin die Cecily. Okay, was willst du machen?“. So wurde Thomas zu einer der ersten WG-Bewohner*innen in „VinziRast-mittendrin“. Cecily Corti ist die Leiterin der „VinziRast“- Einrichtungen. Ihr umfassendes Engagement für Obdachlose in Wien brachte ihr mehrere Preise ein, die allesamt ihren unermüdlichen Einsatz loben und auszeichnen. Links neben ihm sitzt Johanna, sie zog erst vor wenigen Wochen nach Wien. In

reportage

Tübingen (Baden-Württemberg), kannte sie durch eine Freundin ein ähnliches Wohnprojekt, in dem Studierende gemeinsam mit Flüchtlingen in WGs zusammenleben. In Wien angekommen, suchte sie nach einem ähnlichen Projekt und bewarb sich schließlich um den Wohnplatz. Nebenbei arbeitet die 21-jährige in einem Lokal als Kellnerin. Fast alle der 27 Bewohner*innen gehen einer Tätigkeit nach, entweder im Wohnhaus oder außerhalb. Johanna hebt das Restaurant im Erdgeschoss hervor, denn einige Bewohner*nnen, „die keinen Job hatten, haben dort zumindest geringfügige Jobs bekommen und können somit auch selbst für ihr Überleben aufkommen.“ Ergänzend bekommen einige Bewohner*innen zwar Sozialleistungen, aber es ist wichtig, dass alle einer aktiven Tätigkeit nachgehen und ihre Miete selbst bezahlen. So ist etwa Thomas für diverse Reinigungstätigkeiten im Haus verantwortlich. Auch die Architektur des Gebäudes ist es wert genauer hinzuschauen: Im Erdgeschoss befindet sich das Lokal „mittendrin“. Dank der großen Panoramafenster ist es selbst an grauen Wintertagen hell und lichtdurchflutet. Dahinter stand auch die Überlegung, dass das Restaurant einladend und offen wirken soll. Die Holzverkleidung aus alten Sperrholzkisten, auf denen teilweise noch der Schriftzug prangt, trägt ihr übriges dazu bei. In den Stockwerken darüber befinden sich das Büro und die Wohnungen. Der Wohnbau wurde so konzipiert, dass kein Straßenlärm hineindrängt. Die Dachterasse bietet eine kleine, aber feine Aussicht auf umliegende Häuser im 9. Bezirk. Geplant wurde das Gebäude vom Architekturbüro „gaupenraub +/-“, das das Ziel verfolgte

VINZIWERKE Sowohl „VinziRast-mittendrin“, als auch die Notschlafstelle sowie das VinziRast-CortiHaus sind Teil der „VinziWerke“, die im Laufe der 1990er Jahren entstanden. In Österreich gibt es heute mittlerweile 38 Institutionen, die das Ziel verfolgen, schnelle und möglichst unbürokratisch Hilfe anzubieten.

OBDACHLOSIGKEIT Die Begriffe Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit haben eine unterschiedliche Bedeutung. So wird das Wort Obdachlosigkeit dazu verwendet, die Lebensrealitäten von Menschen zu beschreiben, die tatsächlich auf der Straße leben, beziehungsweise zum Schlafen Notquartiere aufsuchen. Als wohnungslos werden hingegen jene Personen bezeichnet, die in entsprechenden Wohneinrichtungen untergebracht sind, dort aber nicht dauerhaft bleiben können. Auch Frauen, die im Frauenhaus leben, gelten daher als wohnungslos. Außerdem gibt es noch „versteckte“ Wohnungslosigkeit: Diese betrifft Menschen, die vorübergehend bei Freund*innen, Bekannten oder Verwandten wohnen können. Eine solche Wohnsituation ist aber auch immer mit einem Abhängigkeitsverhältnis verbunden.

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reportage

ein Wohnhaus mit hoher Lebensqualität zu schaffen.

NEUNERHAUS Das neunerhaus stellt nicht nur Wohnplatz für rund 500 Menschen zur Verfügung, sondern bietet auch medizinische Betreuung an. Diese kann von allen Personen in Anspruch genommen werden, die vom Gesundheitssystem nicht versorgt werden. Pro Jahr werden rund 3.500 Menschen betreut. Innovativ ist aber auch die medizinische Versorgung von Tieren, die im neunerhaus möglich ist.

Während das Gebäude also lange und sorgfältig geplant wurde, entstand die Kernidee, dass Studierende und Obdachlose zusammenleben, eher zufällig im Dezember 2009. Die letzten Tage der Audimax-Besetzung waren angebrochen. Seit fast zwei Monaten war der größte Hörsaal der Universität Wien besetzt. Denn im Oktober zogen Studierende auf die Barrikaden, um gegen das BolognaSystem und der damit verbundenen Einführung des Bachelors und Masters zu protestieren. Außerdem befürchteten sie eine Verschulung des Studiums. Doch zu Beginn der Weihnachtsferien leerte sich der Hörsaal zusehends. Mittlerweile hielten sich nicht mehr nur Studierende dort auf, sondern auch Obdachlose, die sich mit den Vorhaben der Studierenden solidarisierten, zugleich aber auch die Möglichkeit nutzten, die kalten Dezembernächte nicht im Freien verbringen zu müssen. Ende des Monats wurde das Audimax schließlich geräumt. Aber diese Tage datierten nicht nur das Ende der „unibrennt“-Bewegung, sondern auch den Beginn von „VinziRast-mittendrin“.

Meine Mitbewohnerin ist 67 Von der Verwaltung wird ein großer Wert darauf gelegt, dass in jeder WG mindestens eine Person lebt, die ehemals wohnungslos/obdachlos war und eine Person, die einem Studium nachgeht. Weiters wird auch darauf geachtet, dass in jeder WG mindestens eine Frau und ein Mann leben. Das Zusammenleben im Haus fasst Johanna mit folgenden Worten zusammen: „So verschieden wir auch sind, wir 10

sind echt eine coole Gemeinschaft hier. Schön ist auch, dass jeder einfach so sein kann, wie er ist und auch so aufgenommen wird“. Oft stößt die 21-jährige aber auch auf Verwunderung, wenn sie von dem Wohnprojekt erzählt und vor allem, dann wenn es zur Sprache kommt, dass ihre Mitbewohnerin bereits 67 Jahre alt ist. Auch Thomas wird mit überraschten Gesichtern konfrontiert sowie mit Nachfragen zu welchen der beiden Gruppierungen er denn gehöre. Dennoch wirft die junge Frau im schwarzen Pullover ein: „Nicht immer ist alles perfekt. Es wäre auch utopisch anzunehmen, dass man hier einzieht und alles ist immer super.“ Sie betont aber auch, dass sie im Zusammenleben unterstützt werden, bei Problemlagen finden sie im Büro Ansprechspartner*innen oder werden an solche vermittelt. Darüber hinaus werden auch gemeinsame Aktivitäten, wie Ausflüge organisiert und auch die Hausrunden führen zum besseren Kennenlernen der Bewohner*innen. Thomas ergänzt an dieser Stelle auch, dass mit der Zeit auch eine gewisse Gelassenheit kommt, in den letzten Jahren haben in seiner WG schon 8 Personen gewohnt. Plötzlich steht Thomas auf und stellt sich vor die Küchenzeile. Er ist gerade dabei zu erklären, warum nicht alle Obdachlose „permanent irgendwo wohnen wollen“. Auch, wenn man dies nicht glauben mag. Er erzählt von einer Reise nach Rom, im Zuge derer er mit Personen unterwegs war, die von Zeit zu Zeit in dem Notquartier in der Wilhelmstraße übernachten. „Die konnten sich überhaupt nicht vorstellen in einem Hotelzimmer zu wohnen.“ Mit den Händen stellt er nach, was


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einer der Männer tat: denn, obwohl sie in einem Hotelzimmer waren, hatte der Mann Angst bestohlen zu werden. Daher hängt er seine Daunenjacke nicht auf, sondern verwendet das Kleidungsstück als Polster. Seine Habseligkeiten, die er in einem durchsichtigen Sackerl aus der Gemüseabteilung eines Supermarktes bei sich trug, legte er unter den improvisierten Polster. Er hatte kein Geld, alles was er bei sich hatte, war sein Handy, Zigaretten, eine Gratiszeitung und die Kleidung, die er an hatte. Selbst, wenn Thomas seine Betroffenheit nicht ausgesprochen hätte, war ihm aufgrund seiner Mimik anzusehen, wie sehr ihm diese Situation mitnahm. In der Wilhelmstraße befinden sich noch weitere Einrichtungen: nämlich eine Notschlafstelle für bis zu 60 Menschen sowie das „VinziRast-Corti Haus“, in dem 29 Wohnungslosen Übergangswohnungen zur Verfügung stehen. Die Notschlafstelle zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen mit Anerkennung begegnet wird. Gegen eine freie Spende übernachten hier auch Personen, die alkoholabhängig sind, beziehungsweise unter psychischen Problemen leiden. Die Institution versucht ganz klar der gesellschaftlichen Ausgrenzung von Obdachlosen entgegenzuwirken. Im Fokus stehen zwischenmenschliche Gesten: ehrenamtliche Mitarbeiter*innen hören zu, versorgen Personen mit Pflaster sowie mit einer einfachen Mahlzeit am Abend und in der Früh. Auch ein Paar Socken wird bei Bedarf ausgegeben. Außerdem ist es in der Notschlafstelle auch erlaubt Hunde mitzunehmen. Menschen werden hier, anders als in medialen Diskursen, als Subjekte wahrgenommen und auch so behandelt.

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Auch das „VinziRast-Corti Haus“ verfolgt diesen Ansatz. Hier bekommen Menschen bei jenen Aufgaben Hilfe, bei denen sie benötigt wird. Es spielt keine Rolle, ob die Person nach einem Arbeitsplatz oder einem Therapieplatz sucht, sie bekommt von den ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen jene Unterstützung, die sie braucht. Zentral ist auch, dass alle Bewohner*innen Tätigkeiten im Wohnhaus übernehmen, also zum Beispiel etwas reparieren oder den Abwasch erledigen.

Hass gegen Obdachlose Die „VinziRast“-Einrichtungen leisten durch ihre Arbeit einen wichtigen Beitrag für das Zusammenleben in einer solidarischen Gesellschaft. Gerade in Zeiten wie diesen ist es notwendiger denn je, die voranschreitende Entsolidarisierung innerhalb unserer Gesellschaft zu bekämpfen. Wenn der Sozialstaat abgebaut wird, dann wird meist argumentiert, dass wir „über unsere Verhältnisse“ gelebt haben und den „Gürtel enger schnallen müssen“. Es wird behauptet, dass die Mindestsicherung und andere Sozialleistungen zu hoch sind. Nicht thematisiert werden hingegen die Steuerflucht und die Spekulationen

der Vermögenden. Auch die ungleiche Verteilung von Vermögen (siehe S. 24) wird nicht erwähnt. Kapitalismuskritik und Klassenkampf? Fehlanzeige. Stattdessen wird gehetzt. Vermögende beuten Arbeiter*innen aus. Diese schauen auf Arbeitslose herab und diese auf Obdachlose. Arbeiter*innen und Arbeitslose tragen nicht den Klassenkampf gegen jene auf die Straße, die sie ausbeuten oder ihren Arbeitsplatz vermeintlich „einsparen“, sondern sehen auf jene herab, die auf der Straße leben. Sozialdarwinistische Denkweisen sind in unserer Gesellschaft also tief verankert. Von Charles Darwin stammt zwar die Evolutionstheorie, auf die Gesellschaft übertragen wurde diese aber erst von dem britischen Soziologen Herbert Spencer. Darwins Leitsatz „the survival of the fittest“, der eigentlich auf die Natur bezogen war, wurde von Spencer verwendet und sollte seiner Argumentation nach dazu dienen, das gesellschaftliche Zusammenleben zu beschreiben. Wenn diese Annahme als Basis für eine gesellschaftliche Analyse herangezogen wird, so wird impliziert, dass jedeR für sein eigenes Schicksal verantwortlich ist. Wer obdachlos wird, ist demnach selber schuld und soll auch keine Unterstützung erhalten. Demnach war die betroffene 11


reportage

Person vermeintlich lediglich zu faul und hat nicht genug geleistet, um zum Beispiel die Miete zu bezahlen. Solche Denkweisen werden als latenter Sozialdarwinismus bezeichnet. Die Sozialstaat wird nicht mehr als Errungenschaft und als Basis für eine solidarische und gerechte Gesellschaft gesehen, sondern als „soziale Hängematte“. Bei dem Hass, der gegen Obdachlose (re) produziert wird handelt es sich vor allem um manifesten Sozialdarwinismus. Diese Form des Sozialdarwinismus drückt sich nicht nur in der gesellschaftlichen Ächtung aus, sondern auch in verbalen Beleidigungen, die Obdachlosen auf der Straße entgegenschallen sowie in der physischen Gewalt, die vielen widerfährt. Aber auch andere marginalisierte Gruppen können aufgrund sozialdarwinistischer Motive von Gewalt betroffen sein. Dennoch ist die Situation für obdachlose Menschen besonders problematisch, da sie über keinen geschützten Raum verfügen, in dem sie sicher vor Gewalt sind. Gerade in rechtsextremen Diskursen nimmt Sozialdarwinismus eine wichtige Rolle ein: denn er dient dabei aufgrund sozialer Ungleichheiten eine Denkweise zu legitimieren, in der nicht alle Menschen gleich viel wert sind. Es wird also eine Ideologie der Ungleichwertigkeit geschaffen. Diskussionen über Obdachlosigkeit sind meist mit Stereotypen verbunden, um so wichtiger ist es, die Thematik differenziert zu betrachten. So werden meistens nur jene Menschen als obdachlos wahrgenommen, die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes als solche erkannt werden. Gepflegte Menschen mit sauberer Kleidung fallen daher nicht als obdach12

lose Personen auf. Auch die Gründe für Obdachlosigkeit sind facettenreich. Manche schlittern zuerst in die Arbeitslosigkeit, finden keine Arbeit mehr und können schließlich ihre Miete nicht mehr bezahlen. Sie werden in Folge delogiert. Aber auch Todesfälle, die Trennung nach einer Beziehung oder ein Unfall mit gesundheitlichen Folgen können dazu führen, dass Menschen über keinen Wohnraum mehr verfügen. Auch Personen, die aus dem Gefängnis entlassen wurden, können von Obdachlosigkeit bedroht sein. Viele versuchen natürlich das Leben auf der Straße zu vermeiden und zuerst bei Freund*innen und Bekannten unterzukommen, oft ist dies aber nicht über einen längeren Zeitraum möglich. Es sind nicht äußere Erscheinungsmerkmale oder Schicksale, die Obdachlose verbinden, sondern schlicht der Umstand, dass sie über keinen Wohnplatz verfügen. Derzeit nehmen in Wien rund 5.000 Menschen Einrichtungen für Wohnungslose in Anspruch. Wie viele Menschen in Obdachlosigkeit leben, ist unklar. Wenn ehemalige Wohnungslose/Obdachlose gemeinsam mit Studierenden zusammenwohnen, dann ist das der Schlüssel gegen das Stigma, das zu Ausgrenzung führt. Es geht darum, Menschen unabhängig von ihrer Geldbörse oder ihrem Pass als Teil unserer Gesellschaft zu sehen. Wenn die Boulevardzeitungen gegen jene Menschen hetzen, die auch bei klirrender Kälte am Boulevard sitzen, dann gilt es dagegen aufzustehen.Wenn jemand hinfällt, dann reichen wir der Person die Hand. Denn wegschauen und weitergehen, das tun schon zu viele. Solidarität ist kein staubiges Relikt aus vergangenen Zeiten, sondern unsere Waffe gegen den Hass!


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frauenpolitischer kommentar

Have you see the old girl who walks the streets of Vienna? Text: Marlene Mutschmann-Sanchez

Das Bild im Kopf, wenn man an Wohnungslosigkeit denkt, ist meist männlich* geprägt. Wohnungslose Frauen* sind im öffentlichen Raum kaum vorhanden und daher weibliche* Wohnungslosigkeit in der Gesellschaft kaum sichtbar.

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enn man sich allerdings andere Statistiken anschaut, wie die über Lohn- und Pensionseinkommen, sind Frauen* nach wie vor benachteiligt und daher statistisch gesehen mehr armutsgefährdet als Männer*. Besonders Alleinerzieherinnen und Migrantinnen haben ein erhöhtes Risiko von Armut betroffen zu sein. Denn nicht nur Einkommensdiskriminierung ist eine Armutsursache, auch Erwerbsunterbrechungen und unbezahlte Haus- bzw. Familientätigkeiten können Gründe für eine plötzliche Wohnungslosigkeit sein.

Armut ist weiblich..... …..und trotzdem nehmen mehr Männer* Wohnungslosenhilfe in Anspruch als Frauen*. Expert*innen sprechen hier von einer „verdeckten Wohnungslosigkeit“: Frauen* nehmen aus verschiedenen Gründen – beispielsweise aus Scham über das eigene Versagen, aber auch aufgrund des Gewaltrisikos auf der Straße – eher private Lösungen in Anspruch. Diese oftmals Zweckpartner*innenschaft bringt neben der Abdeckung der Grundbedürfnisse auch die Wahrung des sozialen Status. Durch dieses Bestehen eines solchen Verhältnisses wird der Anschein der Normalität gewahrt. Dabei sind die meisten dieser Zweckgemeinschaften allerdings neue Abhängigkeitsverhältnisse, welche oft im Austausch mit gewissen Gefälligkeiten wie sexuelle Verfügbarkeit stehen und die in vielen Fällen in Gewaltbeziehungen enden. Aufgrund dieser verdeckten Wohnungslosigkeit ist es oft schwierig genaue Zahlen darüber zu erheben wie viele Frauen* tatsächlich von diesem Problem betroffen sind. Denn dadurch, dass mehr Männer* institutionelle Hilfe in Anspruch nehmen, sind viele soziale Einrichtungen nur wenig auf frauen*spezifische

Probleme spezialisiert. Außerdem führt die doch deutliche Männer*dominanz in den Einrichtungen dazu, dass sich Frauen* schnell unwohl fühlen und diese häufig rasch wieder verlassen. Daher braucht es mehr Anlaufstellen für wohnungslose Frauen* in Österreich.

Von Ester bis Miriam – Wohnungslosenhilfe in Wien In Wien gibt es schon einige Angebote für Frauen ohne Obdach. Vom „Fond Sozialen Wiens“ (FSW) gibt es zum Beispiel das Tageszentrum Ester, welches nur von wohnungslosen Frauen* genutzt werden kann. Neben einem Erholungsangebot in Form von Räumlichkeiten, in denen sich Frauen* aufhalten können, werden gezielt Angebote gesetzt, um Frauen* die Möglichkeit zu geben, möglichst angstfrei über ihre Probleme zu reden. Weiters wird ein spezieller Schwerpunkt auf die verdeckte Wohnungslosigkeit gesetzt. Neben dem Tageszentrum Ester existiert noch eine weitere Möglichkeit für Frauen* in akuter Notlage – das Haus Miriam. In diesem wird in Notsituationen nicht nur ein Platz für die Nacht angeboten, sondern auch die Möglichkeit in einer bis zu zwei Jahre andauernden Wohngemeinschaft zu leben. Das Ziel dabei ist, wohnungslose Frauen* auf ihrem Weg in eine selbstbestimmte Zukunft mit Wohnung und Arbeit zu unterstützen.

Marlene ist die Sprecherin der Frauenpolitischen Kommission Wien

eine feministische Perspektive eingenommen werden. Aufgrund der kapitalistischen Ausbeutung von Frauen* wie der Lohnschere oder alleiniger Hausarbeit ist es notwendig genügend Angebot in Form von Notschlafstellen und frauen*spezifischen Einrichtungen zu schaffen: nicht nur in Wien, sondern in ganz Österreich, um dem Abhängigkeitsverhältnis, das weibliche* Wohnungslosigkeit mit sich bringt, vorzubeugen.

She just keeps right on walking, carrying her home in two bags. So wie bei allen politischen Themen muss auch bei dem Problem der Wohnungslosigkeit 13


news von rechts

Wenn Parteien bei den Ärmsten sparen… Text: Sarah Pliem

Der Begriff „sozial“ ist so eine Sache. Grundsätzlich bedeutet er, dass zum Wohl der Mitmenschen gehandelt wird. Eine Theorie der Politikwissenschaft besagt zudem, dass Sozialpolitik eingesetzt wird, um finanzielle Umverteilungen vorzunehmen.

D MEHR INFOS Lest hier nach, wenn ihr mehr über Fakten und Mythen der BMS wissen wollt: „Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Fragen und Antworten. Fakten statt Mythen.“ Hrsg. Sozialministerium

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ie Bedarfsorientierte Mindestsicherung, oder kurz BMS, ist eine finanzielle Unterstützung, die vom Staat zur Sicherung der alltäglichen Ausgaben und des Wohnbedarfs ausbezahlt wird. Sie ist über eine 15a-Vereinbarung mit den Bundesländern geregelt. 75% der BezieherInnen der BMS gehen einer Beschäftigung nach, sprich obwohl sie arbeiten, reicht das Geld nicht zum Überleben. Daher zahlt der Staat über die BMS die Differenz. 2010 wurde die BMS erstmals in Bund und Ländern beschlossen. Sechs Jahre später soll nun neu verhandelt werden, um Anpassungen vorzunehmen. Die FPÖ hat nie viel von der Bedarfsorientierten Mindestsicherung gehalten. Als sie 2010 in Wien umgesetzt wurde stimmte die FPÖ als einzige Partei gegen die Vereinbarung. Als Begründung zitierte der Gemeinderat Mag. Gerald Ebinger damals aus einer IMS-Studie, wonach der Beschäftigungsanreiz bei niedrigeren Einkommensschichten sinken würde, sollte die BMS eingeführt werden. Er sah zwar ebenso, dass die Bekämpfung von Armut zwar unbedingt notwendig war, doch hegte er die Befürchtung, dass die Mindestsicherung ein Anreiz für Bezieher*innen wäre, selbst nur ein paar Hundert Euro zu verdienen und den Rest vom Staat ausbezahlt zu bekommen. Des Weiteren meinte Ebinger, dass die Mindestsicherung Frauen- und Alleinerziehenden- feindlich wäre. Noch heute lehnt die FPÖ die BMS „in der derzeitigen Form“ ab. Die angeblich fehlende Leistungsbereitschaft bei MindestsicherungsbezieherInnen, sowie auch

das Thema Migration und Mindestsicherung sind für die FPÖ emotionalisierte Themen, mit denen sie ihre Zielgruppe ansprechen will. So stellen Mitglieder dieser Partei AsylwerberInnen und anerkannte Flüchtlinge unter den ständigen Verdacht des „Sozialmissbrauchs“. Bei diesem Thema gibt es allerdings zwei wichtige Dinge, die hinzuzufügen sind: Erstens, Sozialmissbrauch wird statistisch nicht erhoben und zweitens, Asylwerber*innen leben von der Grundversorgung, sie erhalten daher gar keine Mindestsicherung. Die ÖVP handelt beim Thema Bedarfsorientierte Mindestsicherung nur geringfügig anders als die FPÖ. Bis Anfang November 2016 wurden bei den NeuVerhandlungen zur BMS keine Ergebnisse erzielt, weil die Volkspartei hartnäckig bei ihren Forderungen bleibt. Eine dieser Forderungen ist die Deckelung der Mindestsicherung. Das bedeutet, dass – nach dem Wunsch der ÖVP – nur noch bis zu einem bestimmten Betrag die BMS ausbezahlt wird und der Rest in Sachleistungen. Eine weitere Forderung der Bundes-ÖVP sind Einsparungen, die bereits in Oberösterreich (ÖVP/FPÖ-Koalition) bei Flüchtlingen vorgenommen werden. Zudem soll eine Wartefrist von fünf Jahren eingeführt werden, und erst nach Ablauf dieser sollen anerkannte Flüchtlinge BMS beziehen dürfen. Subsidiär Schutzberechtigte sollen weiterhin von der Grundversorgung leben. Sowohl die Forderungen der FPÖ, als auch die der ÖVP, sparen bei jenen die sowieso schon am Rande der Armutsgrenze beziehungsweise bereits in Armut leben. Sozial ist das nicht mehr.


faktor nr. 4/2016

news von rechts

Ist eh nur Werbung?

VON OBDACHLOSIGKEIT UND VORURTEILEN Text: Hanna Stern

Welche Assoziationen haben wir vor uns, wenn wir an obdachlose Menschen denken? Bei den meisten von uns entstehen dann Bilder mit älteren, bärtigen Männern. Außerdem werden sie meist als betrunken, psychisch krank oder agressiv inszeniert. So wird jedoch vergessen, dass es auch obdachlose Menschen gibt, die diesen Klischees nicht entsprechen.

T

agtäglich sind wir von Medien umgeben, wir konsumieren sie bewusst oder unbewusst. Sie prägen unsere Meinung, schaffen Bewusstsein und beeinflussen unsere Wahrnehmung. Die mediale Repräsentation von obdachlosen Menschen ist jedoch tief von Klischees geprägt. Stereotype werden nicht dekonstruiert, sondern in Werbungen sogar noch reproduziert. Denn hier wird meist mit einfachen, eingängigen Bildern gespielt, und dazu eignen sich nun mal alte Klischees am besten. Sogar in Charity-Kampagnen, die zum Spenden aufrufen, wird auf das stereotype Bild des Obdachlosen zurückgegriffen. Dieser Zugang ist jedoch höchst problematisch, denn der „typische Obdachlose“ ist ein rein mediales Konstrukt und verleugnet somit zugleich auch, dass Obdachlosigkeit multiple Lebensrealitäten umfasst.

Stereotype bringen Spenden

Die Plakate der Caritas zeigten im Zuge der Werbekampagne „50 Euro für einen Schlafsack“, einen im Schlafsack schlafenden, älteren, bärtigen Mann. Auch die Sujets des neunerhauses fallen nicht durch einen innovativen Zugang auf. So werden meist jüngere, gepflegte Personen, vor allem Frauen*, aus dem Spektrum der obdachlosen Personen vollkommen exkludiert. Dabei sollten genau diese Menschen auch angesprochen werden. Außerdem braucht es auch einen Diskurs, der die Gesellschaft darauf sensibilisiert, dass jedeR obdachlos werden kann. Doch genau dies wird noch immer nicht getan, schließlich lassen sich mit einfach greifenden Bildern äußerst schnell sehr viele SpenderInnen gewinnen. Eine Alternative wäre zum Beispiel die Plakatkampagne des Augustins aus dem Jahre 2011, bei der eine Leberkäsesemmel zwischen einer Gabel und einem Messer zu sehen war. Das Ungewöhnliche daran war, dass sich das Essen und das Besteck

auf einem dreckigen Boden befanden. Die Kernaussage des Sujets bestand darin, dass für manche Menschen die Straße sozusagen das Esszimmer ist. Eine recht zynische Aussage, aber trotzdem wird mit dieser Bildwahl kein Klischee reproduziert, sondern jedeR kann sich die Person hinter diesem Mahl selbst ausdenken.

Bewusstsein schafft Aktion Genau so soll in Zukunft an dieses Thema herangegangen werden. Denn es ist nicht sinnvoll Obdachlose auf ein bestimmtes Bild zu reduzieren, wir müssen Bewusstsein für die Vielfältigkeit der Obdachlosigkeit schaffen. Nur durch diese Sensibilisierung wird es möglich sein, Obdachlosigkeit in einem umfassenderen Kontext zu verstehen und sie zu bekämpfen. Es ist ein Handlungsauftrag an uns alle, bestehende Denkmuster mittels Selbstreflexion zu hinterfragen und omnipräsente Stereotype zu dekonstruieren.

Foto: Rui Duarte, flickr.com

Sowohl die Caritas, als auch die Gruft sowie das neunerhaus sind Institutionen, die sich für obdachlose Menschen einsetzen. Während sich die Caritas auf akute Hilfe in Notsituationen fokussiert, widmet sich das neunerhaus in seinen Einrichtungen zusätzlich darum, dass Obdachlosen der „Weg zurück in die Gesellschaft“ erleichtert wird. Doch trotz der hochgesteckten Ambitionen und der wertvollen Arbeit, die diese Institutionen leisten, greifen auch sie für Werbezwecke auf altbekannte Stereotype zurück. 15


Wienkarte zu Obdachlosigkeit Wiener Notschlafstellen 1

Gruft, Barnabitengasse 14, 1060 Wien

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a_way, Notschlafstelle für Jugendliche von 14-18. Felberstraße 1/7, 1150 Wien

JUCA, Haus für wohnungslose junge Erwachsene, Römergasse 64-66, 1160 Wien

VinziR

Café Gargarin Garnisongasse 24, 1090 Wien

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2 LOGIN, Verein zur Gesundheitsförderung und sozialen Integration. Bietet Kurse, Gesprächsrunden und sportliche Aktivitäten für Obdachlose und durch Armut isolierten Menschen an Weiglgasse 19/4-6, 1150 Wien

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neunerhaus, bietet kostenlose medizinische Versorgung für alle, die aus dem Regelgesundheitssystem fallen. Jährlich werden 3000 Obdachlose hier behandelt unabhängig von Herkunft oder Versicherungsstatus. Außerdem gibt es auch eine Tierklinik und eine Zahnarztpraxis. Margaretenstraße 166, 1050 Wien

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Essen & Trinken 3

Argus, Foodsharing, öffentlicher Kühlschrank aus dem man sich Lebensmittel nehmen darf und welche hineinstellen kann Frankenberggasse 11, 1040 Wien

Caffe Sospeso - Die Idee des Konzepts Caffe Sospeso basiert darauf, dass zwei Kaffees bezahlt werden, aber nur einer konsumiert wird. Der bereits bezahlte Kaffee wird als Caffe Sospeso angeführt und soll Menschen in finanziellen Notlagen das Kaffeetrinken ermöglichen.

Rast Mittendrin Währinger Straße 19, 1090 Wien

Frauenzentrum für Obdachlose Frauen, Springergasse 5, 1020 Wien

3 Die Wiener Tafel, Verteilt und sammelt Essen, Hygieneartikel und Kleidung, Simmeringer Hauptstraße 2-4, 1110 Wien

Café Vitrine Johann-Strauß-Gasse 10-14/1, 1040 Wien

Suchthilfe, Spritzentausch, bis zu medizinischen Untersuchungen Beratung, Gumpendorfer Gürtel 8, 1060 Wien

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Drogen, Alkohol & medizinische Versorgung


schwerpunkt: armut

Augustin -

MEHR ALS NUR EINE ZEITUNG Text: Paul Stich

Sie gehören für WienerInnen längst zum alltäglichen Straßenbild, an jedem großen Bahnhof sind sie zumeist anzutreffen: VerkäuferInnen der Straßenzeitung Augustin. Doch welche Geschichten sich hinter den Menschen verbergen, die sich tagein tagaus größtenteils mit genervten Gesichtern, hastigen Ausflüchten oder verbalen Beleidigungen konfrontiert sehen, wissen die Wenigsten.

A Foto: David Murobi, flickr.com

ls "die erste österreichische Boulevardzeitung" bezeichnet sich das Blatt ironischerweise selbst. Unwissende, die noch nie einen Augustin in ihren Händen hielten, sollten sich allerdings davon nicht abschrecken lassen. Kaum ein Medium hierzulande lässt in seiner Berichterstattung einen größeren Kontrast zur klassischen Boulevardpresse à la "Österreich" aufkommen, als die im Oktober 1995 erstmals erschienene und vom Wiener "Verein Sand & Zeit" herausgegebene Straßenzeitung. Im Augustin finden sich unter anderem nicht nur Reportagen über Sozialprojekte und gesellschaftskritische Texte, sondern auch von Obdachlosen verfasste Lyrik. Die Idee hinter diesem Projekt ist relativ schnell erklärt: Menschen, die vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden, sollen die Möglichkeit haben einer aktiven Tätigkeit nachzugehen. Die Intention der Zeitung besteht nicht darin Personen "jobready zu machen, sondern ihren Ausbruch aus der Entmündigung zu fördern". Als Vorbilder für den Augustin dienten einige international vergleichbare Projekte, wie die Zeitung "The Big Issue", die seit 1991 in den Straßen Londons käuflich erhältlich ist. Die Hälfte des Kaufpreises von 2,50 Euro geht direkt an die verkaufende Person. Derzeit sind rund 450 Menschen aktiv als VerkäuferInnen tätig. Pro Ausgabe, die 14-tägig erscheint, werden durchschnittlich bis zu 30.000 Exemplare verkauft.

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Ein/e Augustin VerkäuferIn verdient also rund 125 Euro im Monat sowie das allfällige Trinkgeld.

Solidarität Es geht hier also um weit mehr, als nur um eine Zeitung. Um seine Unabhängigkeit zu wahren, finanziert sich der Augustin ausschließlich aus Verkaufserlösen und privaten Spenden. Aus den Umsätzen des Zeitungsvertriebs wurden weitere Projekte ins Leben gerufen, um auf die Lebensrealitäten derjenigen aufmerksam zu machen, die von der kapitalistischen Gesellschaft als "arbeitsunwillig" abgeschrieben und verbannt worden sind. So gibt es beispielsweise mit "Radio Augustin" einen eigenen Radiosender, der auf der Frequenz 94.0 zu empfangen ist, einen Obdachlosenchor sowie eine Fußballmannschaft. Wenn auch du dir nun also denkst, dieses Projekt ist ein wichtiger Beitrag für eine solidarische Gesellschaft, dann schreite zur Tat, selbst wenn der Wille und die Entschlossenheit zum Kauf nun nicht geweckt wurden, habe ein nettes Wort und ein Lächeln für deine/n Augustin VerkäuferIn übrig. Gerade in einer Zeit, in der das neoliberale Dogma uns tagtäglich dazu rät, lediglich auf seine eigene „Leistung“ zu achten und die Ellbogen auszufahren, ist es notwendiger denn je, anderen Menschen die Hand zu reichen und Solidarität im Alltag zu leben!


faktor nr. 4/2016

schwerpunkt: armut

Wären die nicht reich, wärst du nicht arm!

Text: Carsten Harderer

Die grundlegenden ökonomischen Probleme sowohl der Industrie- als auch der sogenannten Entwicklungsländer wurden nie wirklich gelöst. Belegt wird dies durch die stetig größer werdende Einkommenskluft zwischen dem reichsten 1% der und dem Rest der Weltbevölkerung.

A

rmut hat vielerlei Gesichter. Sie wird zum Beispiel bei Schulkindern sichtbar, die sich zu Schulbeginn keine neuen Materialien leisten oder nicht auf die Klassenfahrt mitfahren können – aber auch in Menschen, die des Nachts in Leintücher eingewickelt neben der Müllpresse liegen. Fragt man/frau in Freundes-/und Bekanntenkreis nach, so sind verschiedene Definitionen zum Thema Armut zu hören,

je nachdem von welchem Standpunkt aus gesprochen wird. Hunger, zuwenig Geld zum Überleben, fehlende soziale Absicherung, Verbot politischer Meinungen – all das sind Formen von Armut, aber auch gleichzeitig die Sorgen und Befürchtungen vieler Menschen. Das reichste Prozent der Weltbevölkerung scheint von solchen Sorgen jedoch nicht

betroffen zu sein. Verallgemeinert gesehen vermitteln die BewohnerInnen dieser Einkommensschicht den Eindruck, sie würden sich nur Gedanken um Sportwagen Nummer 10 oder das nächste Steuerabkommen mit der Schweiz machen. So wie in jedem Fall gibt es Ausnahmen, aber nur sehr wenige „Superreiche“ verzichten zugunsten der Klasse mit dem niedrigsten Lohn auf ihr eigenes finanzielles Hab und Gut. 19


thema schwerpunkt: armut

FAKTEN & STATISTIK 1,2 Milliarden Menschen müssen mit 90 Cent pro Tag oder weniger auskommen ƔƔ 1,5 Milliarden Menschen leben in mehrdimensionaler Armut ƔƔ Der Anteil der hungerleidenden Menschen an der Bevölkerung ist mit 20 Prozent in Afrika am höchsten. ƔƔ 10% der Weltbevölkerung müssen jeden Abend hungrig schlafen gehen. ƔƔ Die Zahl der jährlichen Todesfälle von Kleinkindern beträgt im Jahr 2015 etwa 6 Millionen. In nahezu der Hälfte der Fälle ist die Todesursache auf Unterernährung zurückzuführen ƔƔ

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Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen setzt Armut mit der sogenannten Unfreiheit gleich. Laut ihm sind viele Millionen Menschen im Laufe ihres Lebens den verschiedensten Unfreiheiten ausgesetzt, sie haben beispielsweise zu wenig zu Essen, keine Gesundheitsfürsorge oder keinen Arbeitsplatz. Für Sen ist die Einführung von individuellen Freiheiten der Grundstein zur Minderung der sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeit. Zu den wesentlichen Freiheiten zählen für Sen die politische, die ökonomische und die soziale. Dies soll sich in Chancengleichheit, wie gleicher Bildung für

alle, Transparenzgarantien, wie Rechtsgrundsätze gegen Korruption, und sozialer Sicherheit, wie Arbeitslosenunterstützung und Mindestsicherung, äußern. Durch diese Forderungen wird nochmal Sens Ansatz an die vorhandene Multidimensionalität von Armut ersichtlich. Sen hebt besonders den Punkt hervor, dass diese vorhandenen beziehungsweise nicht vorhandenen Freiheiten direkt Einfluss auf das Leben der Menschen nehmen und in einem hohen Maße voneinander abhängig sind. So kurbelt beispielsweise die soziale Chancengleichheit, die der Bevölkerung durch Gesundheitsvorsorge und Bildung gewährt


faktor nr. 4/2016

thema

wird und somit die Sterberate senkt, die Wirtschaft an. Allerdings betont Sen auch die wichtige Stellung des Einkommens als eine der Hauptursachen von Armut. So sind Armut als Mangel von Freiheiten und Armut als Mangel von Einkommen immer miteinander gekoppelt zu betrachten. Mehr Freiheiten bei Verwirklichungschancen verhelfen den ärmeren Einkommensschichten zur Erhöhung desjenigen, gleichzeitig ist auch die Höhe des Erwerbes wichtig für die Anzahl und Größe der Freiheiten. Anfang des Jahres 2016 veröffentlicht die NGO Oxfam eine Untersuchung, die beweist, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Aus diesem Bericht geht hervor, dass die 62 reichsten Menschen so viel besitzen wie die ärmsten 3,5 Milliarden Menschen zusammen. Wird der Verlauf dieser Entwicklung genauer betrachtet ist klar ersichtlich, dass die sozioökonomische Ungleichheit fast überall auf der Welt dramatisch zugenommen hat und noch immer zunimmt. Auch in Österreich ist die Vermögensungleichheit beachtlich, aber dennoch wird diese vom Großteil der Bevölkerung anders wahrgenommen. So schätzen sich, laut einer Erhebung der Europäischen Zentralbank (HFCS 2010), die meisten Befragten als Menschen der mittleren Vermögensklasse ein. Bei der Analyse der Fragebögen aus Österreich stellte sich jedoch heraus, dass die vermögendsten 5% der österreichischen Bevölkerung knapp die Hälfte

des gesamten Bruttovermögens ihr Eigen nennen. Gleichzeitig ist die einkommensschwächere Hälfte der Bevölkerung im Besitz von 4% des gesamten Bruttovermögens. Von neoliberalen ÖkonomInnen wird häufig behauptet, dass mit steigender wirtschaftlicher Entwicklung die Einkommensungleichheit abnehme. Diese Behauptung ist falsch, und dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen werden, wie das so oft in neoliberalen Ansätzen der Fall ist, die Lebensumstände der Menschen nicht ausreichend einbezogen. Ein/Eine Beschäftiger/Beschäftigte mit einem geringen Einkommen oder Vermögen hat häufig keinen ausreichenden Zugang zu Gesundheitsfürsorge – so besitzt diese Klasse oftmals keine oder nur eine sehr schlechte Sozialversicherung. Mit der krankheitsbedingten schlechten Produktivität nimmt jedoch auch das Wirtschaftswachstum ab. Die Folge eines schlechten Sozialsystems: Weniger Arbeiter und Arbeiterinnen, die nicht mehr

in der Lage sind, das Produktionsniveau auf demselben Level zu halten. Zum anderen hat das geringe anfängliche Einkommen und/oder Vermögen eine negative Auswirkung auf den Konsum der Menschen. Bei niedrigem Lohn ist schlichtweg das Geld für den ausreichenden Konsum nicht vorhanden. Verringert sich der Konsum/die Nachfrage, so wird weniger produziert – auch in diesem Fall schrumpft das Wirtschaftswachstum. Die oben genannten Lösungsansätze sind progressive, die das Ziel haben, Armut zu bekämpfen. Tatsächlich müssen wir uns aber dessen bewusst sein, dass durch das vorherrschende kapitalistische System eine ständige Umverteilung der Gelder stattfindet und dieses Modell einzig und allein auf Profitmaximierung auf Basis von Ressourcenausbeutung ausgerichtet ist. Daher ist es nicht möglich, Armut als solche im Kapitalismus zu bekämpfen. Nicht die Symptome müssen gelindert, sondern das System geändert werden. 21


schwerpunkt: armut

Kinderarmut und Jugendarmut Text: Dominique Trappl

Kinderarmut in Österreich ist vielleicht nicht so offensichtlich, doch hat sie viele Gesichter und nimmt viele Erscheinungsformen an: Arme und armutsgefährdete Kinder gibt es in ganz Österreich: In Familien mit einem oder zwei Elternteilen, und/oder in berufstätigen Familien. Sie leben mit uns - auch wenn wir sie oft nicht sehen.

E

inige Jugendliche leben in Haushalten, die größere Ausgaben wie Lernmaterial zu Schulbeginn nicht bezahlen können. Die nie in den Urlaub fahren können, die sich die Klassenreise nicht leisten können. In den kleinen Wohnungen, die sie mit ihren Familien bewohnen, haben Jugendliche oft keinen Rückzugsort –weder zum Lernen noch zum Spielen. Auf über 400.000 Kinder und Jugendliche (bis 19 Jahre) trifft dieser Zustand zu, Tendenz steigend. Beispielsweise leben 173.000 Kinder in einem Haushalt, in dem es finanziell nicht möglich ist, unerwartete Ausgaben zu tätigen. Kinder und Jugendliche, die mit Armut konfrontiert sind, haben mit vielen Einschränkungen in allen Lebensbereichen zu kämpfen. Sie haben oft nicht die Möglichkeit der individuellen Freizeitgestaltung oder dem

Ausbau ihrer sozialen Kompetenzen in einem Verein – die Folge davon ist soziale Isolation. Für Kinder und Jugendliche bedeutet Armut also eine Verhinderung ihrer Teilhabe an der Gesellschaft und die Schmälerung ihrer möglichen Zukunftsperspektiven. Wenn wetterfeste Kleidung, die Vereinsmitgliedschaft oder das Smartphone fehlen, erzeugt das bei den Betroffenen oft das Gefühl, nicht dazuzugehören. Gerade bei Kindern und Jugendlichen werden in derartigen Situationen Strategien des Überspielens und des Tabuisierens angewandt. Es ist zwar kaum Essen im Kühlschrank, aber nach außen hin wird Markengewand getragen und stolz mit dem Besitz des neuesten Smartphones geprahlt. Oder die Scham- und Minderwertigkeitsgefühle der Kinder sind derart ausgeprägt, dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse zu artikulieren oder um etwas zu bitten, das sie eigentlich dringend benötigen wie Lernmaterial oder Pausengetränke.

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Von Armut betroffen sind oft Alleinerzieher*innen Haushalte. Ein Grund dafür sind fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen oder solche, die nur bin 13 Uhr geöffnet haben. Aufgrund dessen ist eine Vollzeitbeschäftigung für den Elternteil beinahe unmöglich.

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Die Vererbbarkeit von Bildung Bildung wird oft in einem Zusammenhang als Kriterium für eine Möglichkeit


faktor nr. 4/2016

der Überwindung von Armut genannt. Doch es gibt sie sehr wohl, die Benachteiligungen in der schulischen und beruflichen Ausbildung - sie lassen sich auch beweisen. So ist zwischen der sozialen Stellung der Eltern und dem Ausbildungsweg der Kinder nach wie vor ein starker Zusammenhang in den offiziellen Statistiken zu finden. Das Bildungssystem in Österreich ist stark schichtbeeinflusst, beispielsweise können sich armutsgefährdete Familien oft keinen Nachhilfeunterricht, Förderkurse und Unterstützung bei Legasthenie leisten. Gerade diese stammen aber oftmals aus der unteren Bildungsschicht, das heißt die Eltern können ihren Kindern auch nicht mehr selbst beim Lernen unter die Arme greifen – ein doppelter Teufelskreis. Die Instanz, an die sich Sprösslinge zuerst mit schulischen Problemen wenden versagt – und für die zweite fehlt schlichtweg das Geld. Kinder und Jugendliche aus armutsgefährdeten

schwerpunkt: armut

Familien besuchen öfter eine Hauptschule - dagegen besuchen nur 22 % der Kinder, deren Eltern ein hohes Einkommen besitzen, eine solche. Armut wird von Generation zu Generation weitergegeben, wobei hier verschiedene Faktoren ineinander greifen. Oftmals arbeiten die Eltern den ganzen Tag, wodurch es ihnen nicht möglich ist ihrem Nachwuchs beispielsweise bei der Hausübung zu helfen. Meistens fehlen auch noch die finanziellen Mittel für Nachhilfe und dergleichen, die die notwendige Unterstützung bieten können. Durch die fehlende Unterstützung von offizieller Seite werden Kindern und Jugendlichen die Möglichkeiten einer guten Ausbildung entzogen – oftmals werden dabei sogar lang ersehnte Kindheitsträume aufgrund einer schlechten Bildungspolitik zerstört.

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schwerpunkt: armut

Vermögensverteilung in Österreich Text: Paul Patscheider

Während neoliberale AkteurInnen dazu aufrufen den Sozialstaat abzubauen und die Mindestsicherung zu kürzen, sind sie gleichzeitig darum bemüht, dass alles beim Alten bleibt. Nämlich dabei, dass die reichsten 10 % der ÖsterreicherInnen über fast 70 % des Gesamtvermögens verfügen.

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och deutlicher wird dieses Ungleichgewicht, wenn wir uns das oberste Prozent anschauen: denn es verfügt über 36 % des Vermögens! Gerade in Österreich ist der Reichtum besonders ungerecht verteilt. Denn dieser ist vorwiegend auf wenige Haushalte verteilt, während die unteren 50 % der Haushalte über so gut wie gar kein Vermögen verfügen. Es sei unfair, heißt es oft von der Seite der Vermögenden und ihrer Interessenvertretungen, ihnen etwas von ihrem hart erarbeiteten Besitz wegzunehmen. Sie berufen sich dann auf ihre vermeintliche Leistung. Was sie dabei verschweigen: der Großteil des Vermögens ist in Österreich vererbt.

Die Tatsache, dass eine kleine Gruppe über den Großteil des Vermögens und Einkommens verfügt, hat natürlich sowohl wirtschaftliche als auch gesellschaftliche Auswirkungen. Eine hohe ökonomische Ungleichheit führt in weiterer Folge zu negativen Konsequenzen, auch für die Wirtschaft. Ärmere Menschen müssen, um ihre Bedürfnisse abdecken zu können einen höheren Anteil ihres Einkommens ausgeben. Wenn sie nicht mehr konsumieren können, gibt es für die produzierte Ware auch keine Nachfrage mehr.

Die Arten von Vermögen, die Haushalte besitzen, sind sehr unterschiedlich. Beinahe alle Haushalte haben z.B. ein Girokonto, aber vermögensreiche Haushalte halten weit häufiger Aktien und Unternehmensbeteiligungen als die Haushalte der unteren 50 %. Der größte Teil des Vermögens österreichischer Haushalte ist Sachvermögen.

Warum wird also diese Ungleichheit aufrechterhalten, wenn offensichtlich ist, dass viele Menschen benachteiligt werden? Auch in der Politik sind die obersten paar Prozent ungleichmäßig stark vertreten. Steuererleichterungen für Vermögende werden beispielsweise als „Anreize für die Wirtschaft“ verkauft, das hart erarbeitete

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Umverteilung von unten nach oben

Vermögen dürfe den Reichen nicht weggenommen werden, denn eine Umverteilung wäre vermeintlich ungerecht. Tatsächlich findet bereits eine Umverteilung statt: Allerdings von unten nach oben, indem Steuern für Unternehmen wiederholt herabgesetzt werden und ständig über weitere Erleichterungen diskutiert wird. Aktuell ist von Finanzminister Schelling (ÖVP) die Herabsetzung der Körperschaftssteuer auf 20 % geplant. Gleichzeitig soll bei den Ärmsten eingespart werden. Hierbei schreckt man nicht einmal davor zurück diese untereinander auszuspielen, um von den wahren Missständen abzulenken. Umso wichtiger ist es zu betonen, dass diese Ungerechtigkeit nicht in Stein gemeißelt, sondern veränderbar ist. Einerseits indem der Faktor Arbeit, welcher in Österreich viel zu hoch besteuert wird, entlastet wird, andererseits durch eine Besteuerung von Vermögen. Denn dieses ist im internationalen Vergleich viel zu gering besteuert.


faktor nr. 4/2016

schwerpunkt: armut

Armut in Wien

Text: Thomas Huber

Das kapitalistische System schafft ein Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich. Armut ist also ein Ausdruck von Machtverhältnissen und muss auch als solcher verstanden und bekämpft werden.

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erade wohnungslose Personen sind von einer Vielzahl an Diskriminierungen betroffen. Neben der gesellschaftlichen Ächtung und der Gewalt, die vielen widerfährt, gibt es auch auf der gesetzlichen Ebene Faktoren, die wohnungslosen Menschen das Leben massiv erschweren. Da es an einer regulierenden Klausel in der Wiener Kampierverordnung fehlt, ist es ExekutivbeamtInnen nämlich sogar gestattet, Obdachlose zu vertreiben und zu bestrafen. Die Stadt Wien stellt zwar insgesamt 5.707 entsprechende Wohn- bzw. Schlafplätze zur Verfügung, aber dennoch müssen etliche Personen die Nächte im Freien verbringen. Besonders schwierig ist die Situation für wohnungslose Frauen, da es lediglich sieben Nachtquartiere gibt, die nur für Frauen (und Kinder) zugänglich sind. Ein Blick in Wiener Wohnzimmer überzeugt aber schnell davon, dass Armut differenzierter betrachtet werden muss und sich auf unterschiedliche Arten äußern kann. Selbst, wenn Menschen also über Wohnraum verfügen, ist dies noch keine Garantie dafür, dass sie diesen auch ausreichend beheizen können. Seit einigen Jahren publiziert die Stadt Wien in regelmäßigen Abständen den „Wiener Sozialbericht“, dieser ist eine ausführliche Sammlung von sozialpolitischen Daten und Analysen. Demnach gelten 394.000 Wiener*innen als armutsgefährdet, das sind 22,7% der Wiener Bevölkerung. Ihr Monatseinkommen liegt also unter 1.104 Euro.

von atypischen Beschäftigungsformen und einer hohen Teilzeitquote sowie den daraus resultierenden geringen Pensionsansprüchen, sondern hängt auch mit der strukturellen Diskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt zusammen. Rund 118.000 Kinder und Jugendliche sind von Armut betroffen. Auch hier nimmt Armut unterschiedliche Formen an: So stehen etwa keine finanziellen Mittel zur Verfügung, um Nachhilfe zu bezahlen und selbst das Kaufen von Lernmaterialien kann bereits eine Herausforderung darstellen.

AMBERMED Die Notfallambulanz „AmberMed“ behandelt jährlich rund 2.000 Patient*innen, die keine Krankenversicherung haben und bietet Sozialberatung sowie psychotherapeutische Leistungen in mehreren Sprachen an.

Armut bedeutet aber auch einen Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben und hat etwa zur Folge nicht mit Freund*innen essen gehen zu können, sich keine Kinobesuche leisten zu können, geschweige denn auf Urlaub zu fahren. Viele von Armut betroffene Personen haben Anspruch auf die bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS). Schon seit längerer Zeit findet eine Diskussion darüber statt, wie diese Leistung gekürzt werden soll. Aktuell wird versucht unter dem Schlagwort der „Deckelung“ eine Kürzung der BMS zu legitimieren. Doch die BMS ist als existenzsichernde Leistung konzipiert. Also ist jedes Bestreben, das versucht die Mindestsicherung für Konventionsflüchtlinge bzw. Familien zu kürzen ein weiterer Beitrag zum Versuch der Demontage des Sozialstaates und trifft früher oder später uns alle!

Frauen, vor allem alleinerziehende Mütter, sind besonders armutsgefährdet. Dies liegt nicht nur an der Zunahme 25


internationales

Demokratieabbau und die Türkei Text: Hakan Can

Die Türkische Republik, mit ihren knapp 80 Millionen Einwohner_innen und mehr als doppelt so großen Fläche wie Deutschlands, war immer schon stark durch Turbulenzen und Instabilität gerüttelt. Die Geschichte des Landes ist geprägt von undemokratischen Regierungen, mehreren Putschs durch das Militär, Unterdrückung der (vor allem kurdischen) Minderheiten und Kampf gegen Oppositionelle.

Mustafa Kemal Pascha wurde geboren im heutigen Thessaloniki, Griechenland. Er legte eine steile militärische Karriere bis zum General hin und gründete 1923 die Republik Türkei, von der er der erste Präsident wurde. Er gründete auch die CHP (Republikanische Volkspartei), welche aktuell in Opposition ist. Er starb mit 57 Jahren an Leberzirrhose, welche von seinem Alkoholismus herrührte.

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ach dem Ersten Weltkrieg und einem türkischen Befreiungskrieg, schaffte es, der zum Mythos des Urvaters der Türken hochstilisierte Mustafa Kemal Atatürk, die Türkei zu einer modernen Republik umzuformen. Er wurde der erste Staatspräsident mit dem Ziel einer zügigen sowie tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Reformierung des Landes. Er glaubte dabei nicht an eine schrittweise pädagogische Bildung der Gesellschaft, um seine Modernisierungspläne durchführen zu können. Orientiert an europäischen säkularen Staaten, wurden innerhalb von wenigen Jahren das Sultanat, Kalifat und die dazugehörigen religiösen Gerichte abgeschafft. Er verbot die traditionelle Kopfbedeckung, welche bei Männern entweder aus Turban, Fes oder Kalpak bestand und bei Frauen handelte es sich um den typischen Schleier, der plötzlich nicht mehr getragen werden durfte. Mädchen und Knaben wurden in Koedukation zusammen unterrichtet und Frauen erhielten das passive, sowie aktive Wahlrecht. Die arabische Schrift wurde abgeschafft, mit ihr auch die islamische Zeitrechnung, dafür wurde stattdessen das lateinische Alphabet und das metrische System eingeführt. Mit Verfassungsänderungen wurde Säkularisierung und Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, verankert. Aus diesen Ideen und der zugehörigen politischer Richtung entstand der Begriff des Kemalismus, benannt nach Atatürks Zweitnamen, welcher bis heute noch

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tief in der türkischen Verfassung und gesellschaftlichen Denkweise verankert ist. Im Sinne des autokraten Atatürks und auch um der türkischen Bevölkerung eine Volksidentität zu geben, wurde die Geschichtsschreibung angepasst. Atatürk ist bis heute bekannt als Freiheitskämpfer, Staatspräsident und „oberster Lehrer der Nation“, verewigt in verschiedensten Formen über das ganze Land verteilt. Ein Portait des Urvaters der Türken Atatürk ziert alle öffentlichen Gebäude, viele privaten Haushalte, auch auf vielen öffentlichen Plätzen und Bergspitzen ist eine Statue platziert. Es ist fraglich, ob sein diktatorischer Weg zur Demokratie der Richtige war, gegriffen hat er bei der tief religiösen Bevölkerung kaum, die einen gottlosen Staat nicht akzeptierten. Atatürks zügige Reformen sind auf jeden Fall in die Geschichte eingegangen und sind bis heute, in dieser Form, in keinem anderen islamisch geprägten Land wiederholt worden. Unbestreitbar sind Atatürks Leistungen für die Einführung der Demokratie in der Türkei, den Zusammenhalt des Landes als Nation, so wie einer ständige Reformierung und Moderniersierung der Türkei. Wenn wir einen Sprung zur jetzigen Lage machen, ist die Zeit zwar Jahrzehnte fortgeschritten, jedoch ist die Türkei abgekommen von der Ideologie des Kemalismus, welche Republikanismus, Säkularität und Reformen beinhaltet, und somit stark im Rückschritt. Nach über einem


faktor nr. 4/2016

Jahrzehnt, mit dem islamisch-konservativen Politiker Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze der türkischen Regierung, entfernt sich die Türkei in großen Schritten von westlichen modernen Staaten, dabei ist es gut erkennbar, dass Erdogan versucht die Fußstapfen Atatürks abzustreifen. Er gibt sich mittlerweile als eine moderne autokratische Form eines Sultans und visioniert eine Türkei, die umgeformt wird zu einem großen und mächtigen Osmanischen Reich. Bei Erdogan handelt es sich um einen Politiker, der bereits im Gefängnis saß, weil ihm “Sympathien zum Dschihad und zur Einführung der Scharia“ vorgeworfen wurden, was von den Richtern als verfassungsfeindlich gewertet wurde. Ebenso wurde seine Partei, die AKP (“Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung”) fast vom Verfassungsgericht verboten, doch das Urteil ging um eine Stimme in seinem Sinne aus. In mehreren Reden hat Erdogan oppositionelle PolitikerInnen diffamiert, Gerichtsurteile öffentlich nicht anerkannt und somit seine demokratiefeindliche Haltung offengelegt. Mit den Gezi-Park-Protesten 2013 hat Erdogan sein Machtmonopol begonnen auszubauen und einen autoritär-autokratischen Regierungskurs eingeschlagen, welcher bis heute nicht abgeschwächt ist. Dies geschieht auf dem Rücken von Minderheiten, Andersdenkenden, Oppositionellen und auf Kosten von Meinungsund Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz sowie Schutz von Minderheiten. Mittlerweile führt er einen Krieg gegen die Kurd_innen und seine Monopolisierung der Macht im Staate erhält einen Aufschwung.

internationales

Putschversuch 2016 Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei, versucht Erdogan die Welle der mutwilligen Verhaftungen die über Beamtentum, Lehrerschaft, Universitätslehrende, Staatsanwaltsschaft und Richter_innen rollt, mit dem „Schutz der Demokratie und des Volkswillens“ zu begründen. Diese Maßnahmen sind tief anti-demokratisch. Die Gewaltenteilung von Legistlative (Gesetzgebung), Exekutive (Verwaltung) und Judikative (Rechtssprechung) ist nicht mehr gegeben. Weiters wird die oppositionelle linksgerichtete HDP (Partei der Völker), welche in demokratischen Wahlen legitimiert wurde, aus parlamentarischen Prozessen ausgeschlossen, ihre Abgeordneten verhaftet und diskreditiert. Diese Handlungen werden von den faschistischen MHP und der kemalistischen CHP trotz parteipolitischen Differenzen unterstützt, wohl aus Überzeugung, da der Nationalismus hier die einigende Kraft ist. Die HDP ist die einzige im Parlament vertretene Partei, die mehr Demokratie und Freiheiten für die Bevölkerung fordert.

GEZI-PARK Der Gezi-Park ist eine der letzten verbliebenen Grünflächen in der Innenstadt von Istanbul. Die Proteste richteten sich zu Beginn gegen den Bau eines Einkaufszentrums, schwenkten jedoch bald um gegen die autoritäre Staatsführung und der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste, die sich später auf die ganze Türkei verbreitet hatten. Im Rahmen der Proteste kamen neun Personen ums Leben, der jüngste der Todesopfer war ein 14 jähriger, der unbeteiligt an den Protesten, von einer Tränengaskartusche am Kopf getroffen wurde.

Die damals mit Gewalt eingeführte Demokratie in der Türkei hatte immer schon große Mängel und es wirkt so, als wäre sie nie in der breiten islamischkonservativen Gesellschaft angekommen. Aktuell ist diese defekte Demokratie zügig unterwegs in Richtung Diktatur. Erdogan strebt ein Präsidialsystem an, in welchem er ohne die Zustimmung des Parlaments regieren kann. Er ist am besten Weg, die Todesstrafe wieder einzuführen um ungenehmen Oppositionellen zu drohen oder sie töten zu lassen, seien dies nun Freiheitskämpfer_innen, Aktivist_innen oder Politiker_innen. Die einzige Frage, 27


Parlament

Legislative Gesetzgebung

Regierung

Exekutive

Gerichte

Judikative Rechtssprechung

Verwaltung

GEWALTENTRENNUNG Das System der Gewaltentrennung teilt die staatlichen Aufgaben in drei große Bereiche: Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Sie sind so auf verschiedene staatliche Institutionen verteilt, dass jede die andere kontrolliert. Deshalb kann in einer funktionierenden Demokratie niemand so mächtig werden, dass er/sie dieses System zerstört. Quelle: https:// www.parlament.gv.at/PERK/PARL/POL/ ParluGewaltenteilung/

die sich hier stellt, ist: “Wann ist es so weit?”. Erdogan hat auch bereits vorgeschlagen die Grenzen der Türkei auszubauen und zu erweitern, so wie es das Ziel des Sultanats im Osmanischen Reich war. Es scheint klar durch, dass die Türkei kein aktuelles Problem mit Demokratieabbau hat, sondern immer schon eine allgemein mangelhafte Beziehung zur Demokratie hatte. Dass dieser Gesamtkonflikt nicht zu blutigen Kämpfen führt, kann wohl nur durch außenpolitischen Druck durch die EU oder USA geschehen, die zur Zeit durch Interessenkonflikte wie des Flüchtlingsdeals oder NATO großteils dazu schweigen. Auch der österreichische Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) hat sich vor allem nur besorgt gezeigt über die Zukunft des Flüchtlingsdeals. Die Lage der Unterdrückten in der Türkei, ist da kaum von Interesse. Auch Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) bedient sich dem rechten Populismus, ohne klar Konsequenzen nennen zu können, außer dass die Türkei der EU in der aktuellen Lage nicht beitreten könne. Doch Erdogan und

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seine Türkei wollen längst nicht mehr der Europäischen Union beitreten, viel mehr geht es um den absoluten Machtausbau in der Türkei und der alleinigen Herrschaft. Die damals von Atatürk gegründete CHP schafft es nicht mehr, die Bevölkerung anzusprechen, Lösungen zu nationalen Problematiken zu bieten und Alternativen aufzuzeigen. Deren demokratisches Versagen, wird Erdogans Sieg sein.


faktor nr. 4/2016

portrait

The Secret of Life is Happiness Text: Lea Griesser und Felix Kamolz

Die Luft riecht schon nach Schnee, und der kalte Wind lässt uns zittern, als wir mit Livinus am Rochusmarkt sitzen. Er trägt heute – wie jeden Tag - eine grüne Jacke, Jeans und ein breites Lächeln.

L

ivinus, der Augustinverkäufer vom Rochusmarkt, ist 31 Jahre alt und lebt seit 6 Jahren in Österreich. Eigentlich kommt er aus Nigeria. Wir können das Gespräch mit ihm leider nur auf Englisch führen, weil sein Deutsch noch nicht so gut ist, dass er problemlos Interviews geben kann. Anders als viele andere AugustinverkäuferInnen hat Livinus eine Wohnung. Im 16. Bezirk, sagt er uns, wohne er mit seiner Frau und seinen drei Kindern, die er sehr liebt und von denen er uns gleich Bilder auf seinem Handy zeigt. Das Wichtigste nach seiner Familie ist für ihn sein Glaube. Jeden Tag nach der Arbeit geht er eine afrikanische Kirche besuchen. Dort wird neben dem Beten auch viel gesungen, erzählt er, und zeigt uns davon ein Video. Wir fragen Livinus nach seinen Tricks um Augustinzeitungen zu verkaufen, und er sieht uns kopfschüttelnd an. „Tricks“ findet er, sei ein ganz unpassender Audruck, weil er die Leute nicht austricksen möchte. Er will den Leuten ein Lächeln aufs Gesicht zaubern. Nachdem er das gesagt hat lacht er und sieht eine ältere Dame vorbeigehen. „Hallo!“, ruft er mit einem strahlenden Lächeln und sie grüßt ihn freundlich zurück. Sie scheint ihn schon zu kennen und öfters bei ihm den Augustin zu kaufen. Heute bleibt sie allerdings nicht stehen und geht weiter. Es scheint Livinius nicht zu stören, dass die Dame heute nicht seine Kundin geworden ist. Er wünscht ihr einen

schönen Tag, dreht sich wieder zu uns um und redet weiter. „Das ist kein Trick! Das ist wer ich bin!“ betont er noch einmal. Wir führen unser Interview fort, indem wir ihn fragen, ob er seinen Job mag. „Es ist nicht was ich gehofft hatte, aber es ist das, was ich jetzt gerade machen kann. Auf jeden Fall ist es besser als auf der Straße leben zu müssen. Viele Leute sehen uns AugustinverkäuferInnen als Bettler. Ich bin kein Bettler. In Afrika hatte ich keine Eltern, die mich großgezogen haben. Meistens habe ich alles selber gemacht. Du darfst niemals erlauben, dass dich jemand hinunterzieht. Niemand darf das. Wisst ihr, der Sinn des

Lebens ist glücklich zu sein. Ich mag es nicht Leute traurig zu sehen.“ Livinus wäre als Kind gerne Bauarbeiter geworden, um Häuser für alle zu bauen. Leider hatte er nicht das Glück, das zu werden was er wollte. Für ihn ist das kein großes Problem, weil er ja nicht wissen kann, wie seine Zukunft aussieht. Livinius' großer Traum ist es, armen Menschen zu helfen, weil er aus eigener Erfahrung weiß, wie es ist arm zu sein. Wenn er die Möglichkeiten hätte etwas zu tun, würde er weniger privilegierten Leuten helfen. Wir haben Livinus gefragt, ob es eine letzte Sache gibt, die er uns auf den Weg mitgeben möchte: „Eines Tages“, sagt er, „werden wir alle zu Staub, und was wir gemacht haben oder hätten machen wollen ist dann bedeutungslos.“

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noch fragen?

Fragen und Antworten Mindestsicherung Text Sarah Sulollari:

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ie Diskussion um die Deckelung der Mindestsicherung zeigt wieder einmal deutlich, dass bei dem Ärmsten gespart wird, anstatt die Reichen gerecht zu besteuern. Neben der finanziellen Unterstützung, die man durch die Mindestsicherung erhält, bekommt man viele weitere Hilfestellungen. Die Mindestsicherung wird in Wien von 158.375 Menschen bezogen. (Statistik Austria, 2015) Sie kann für alleinstehende Personen in Wien bis zu 837,76 € und für in einer Gemeinschaft lebende Personen bis zu 1.256,64€ betragen. Aber nicht nur dieser Geldbetrag spielt eine Rolle bei der Lebenserhaltung, es sind zahlreiche Leistungen an die Mindestsicherung gekoppelt.

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GESUNDHEIT

WOHNEN

Personen, die die Mindestsicherung beziehen, sind krankenversichert und rezeptgebührenbefreit! Außerdem gibt es mit dem „tuwas!pass“ die Möglichkeit kostenlos an Bewegung – und Sportangeboten teilzunehmen, auf diesen hat man als Bezieher*in der Mindestsicherung in Wien ein Anrecht.

Vorsicht ist bei der Wohnbeihilfe geboten, Bezieher*innen der Mindestsicherung verlieren nämlich den Anspruch auf diese, da ein Teil der Mindestsicherung (209,44 €) als Wohnkostenzuschuss gedacht ist. Außerdem ist ein Teil Energiezusschuss. Zusätzlich bietet die Sadt Wien eine kostenlose Energieberatung an, in welcher man die teilweise alten und nicht mehr effizienten Geräte mit neuen ersetzen kann. Hier fällt unter anderem die Wiener Energieunterstützung hinein. https://www.wien.gv.at/gesundheit/ sozialabteilung/energieunterstuetzung.html


faktor nr. 4/2016

in zahlen

4%

WAS BEDEUTET ARMUT? IN ZAHLEN.

der öster. Bevölkerung sind "erheblich materiell depriviert" (darunter fallen Haushalte, die so ein geringes Einkommen haben, dass wesentliche Güter/ Lebensbereiche nicht leistbar sind - z.B. Waschmaschine, Handy, Wohnung angemessen warm zu halten, ein

19,2% der öster. Bevölkerung sind armuts- oder ausgrenzungsgefährdet

Am

Mal im Jahr auf Urlaub zu fahren,

stärksten

unerwartete Ausgaben bis zu

betroffen sind Nicht-

1.050€ etc.)

ÖsterreicherInnen, Lang-

Familien mit 3 oder

die Hälfte des Gesamtvermögens.

mehr Kindern.

14.1% der öster. Bevölerung sind armutsgefährdet

Berzieher*innen der Mindestsicherung haben Zugang zum Kulturpass. Dieser ermöglicht den kostenlosen Eintritt in viele Museen, Theater und weitere Kunst- und Kulturangebote.

5%

AlleinerzieherInnen und

14,1% KULTUR

In Österreich besitzen die obersten

zeitarbeitslose,

In Österreich hat das ärmste Haushaltszehntel ein Nettovermögen von max.

977€ Aktuelle Armutsgefährdungsschwelle:

1.161€

monatlich für einen Einpersonen-Haushalt

https://www.wien.gv.at/amtshelfer/gesundheit/ gesundheitsrecht/ausweise/mobilpass.html

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Verein zur Fรถrderung fortschrittlicher Jugendmedienarbeit Verlagspostamt 1030 Wien, P.b.b. GZ 02Z033801


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