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Sinfonie Nr. 8 C-Dur, Die Grosse
EIN GIGANTISCHES WERK: FRANZ SCHUBERTS GROSSE SINFONIE
VON THOMAS GERLICH Es gibt Stellen in der späten C-Dur-Sinfonie von Franz Schubert (1797–1828), die das Publikum bei ihrer Uraufführung regelrecht in die Sitze gepresst haben müssen: die zweimalige lang gezogene Kadenz in der Coda des 1. Satzes zum Beispiel, deren Zug zum erlösenden Zielakkord nicht enden will; oder die wuchtigen Sforzato-Schläge der Bassgruppe ganz am Schluss des Werks, die wieder und wieder eine Klangkaskade des gesamten Orchesters auslösen. Eine Musik von derartiger Weite und elementarer Kraft hatte man noch kaum je gehört. Nicht zuletzt deswegen ist Schuberts 8. Sinfonie zu
einem Schlüsselstück für die Sinfonik des 19. Jahrhunderts geworden.
Drei Werke sind zwischen 1820 und 1830 entstanden, die das Schreiben von Sinfonien auf neue Wege abseits des mächtigen Vorbilds Beethoven brachten: die Neunte von Beethoven selbst, der sich mit ihrem oratorischen Finale als Sinfoniekomponist gleichsam neu erfand; Hector Berlioz’ Symphonie fantastique als Anstoss für Programmsinfonie und sinfonische Dichtung – und eben die C-Dur-Sinfonie Schuberts. Ihr zukunftsweisendes Potenzial war vielfältig, doch was wohl am meisten aufhorchen liess, war ihre Expansion in klanglicher und formaler Hinsicht. Schon in einem Brief von 1824, geschrieben ungefähr ein Jahr bevor die ersten musikalischen Entwürfe zum Stück entstanden, hatte Schubert das Projekt einer «grossen Sinfonie» formuliert. Der Begriff sollte sich als Chiffre für ein ästhetisches Konzept und eine Wirkungsabsicht erweisen, die das ausgeführte Werk dann spektakulär einlöste.
‹Gross› macht die Sinfonie zum einen ihre klangliche Erscheinung. Zwar beschränkte sich Schubert auf die klassische, nur um drei Posaunen erweiterte Orchesterbesetzung, die beispielsweise deutlich
Schubert am Klavier (Gustav Klimt, 1899)
unter der von Beethovens Neunter blieb. Prägend für den Höreindruck ist aber das hohe Mass, in dem ein gleichwohl monumentaler Tuttiklang das Stück dominiert. Gerade darin mag «das Glänzende, Neue der Instrumentation» gelegen haben, das Robert Schumann in seiner tiefgründigen Werkbesprechung von 1839 anmerkte.
Mindestens ebenso prägend ist, dass Schubert das Orchester vielfach nicht als Apparat für die Arbeit mit musikalischen Motiven einsetzt, sondern als Klanggenerator, der flächige harmonische Verläufe erzeugt. Diese Flächigkeit war eines der entscheidenden kompositorischen Mittel, um jene andere ‹Grösse›, die enorme Ausdehnung, zu erzielen, die freilich das Publikum lange polarisierte. «Zu lang», lautete seit den ersten Aufführungen das am häufigsten gesprochene Verdikt, und selbst ein so verständiger Kollege wie Antonín Dvořák hielt Schubert noch «Weitschweifigkeit» vor. An Kürzungsvorschlägen hat es entsprechend nicht gefehlt.
Damit die neuartige sinfonische Konzeption funktionieren konnte, war jedoch die grosse musikalische Leinwand essenziell. Schubert war auf eine damals ungewohnte Art von Hörerfahrung aus, die man besonders in den beiden Aussensätzen machen kann. Immer wieder mischen sich dort variierende Wiederholungen und Einschübe in das herkömmliche Formschema. Im Expositionsteil des 1. Satzes zum Beispiel umspielen mitten in der sogenannten Schlussgruppe, die regelgetreu in der Tonart G-Dur steht, die Posaunen ein Motiv aus der langsamen Einleitung. Die Tonart dieser im Pianissimo auftauchenden Insel ist allerdings ‹unerhört›, nämlich as-Moll. Auch an anderen Stellen erweitert Schubert derart die tonartliche Landschaft der musikalischen Form, die dadurch in neuer Weise ‹räumlich› wahrnehmbar wird. Um ‹Raum› so gestalten zu können, braucht der Komponist in seinem Stück aber unerlässlich eines: Zeit.
Einen in dieser Hinsicht besonders gewagten Verlauf hat sich Schubert für das Finale ausgedacht. Die Reprise folgt hier anfänglich einem scheinbar verworrenen Plan, der vom Satzanfang stark abweicht.
ZUM WERK Doch dem tonartlich Umwegigen liegt ein dramaturgisches Kalkül zugrunde. Denn die zunächst womöglich ziellos wirkenden Wiederholungen und Einschübe sind auch das Quellgebiet für die ausgedehnten, atemberaubend zielstrebigen Kadenzverläufe des Stücks, an deren Ende sich jeweils die angestauten harmonischen Spannungen so erlösend entladen. Grenzen sprengend war die letzte vollendete Sinfonie Schuberts, derart Grenzen sprengend, dass sie bald nach ihrer Fertigstellung – vermutlich noch vor seinem Tod im November 1828 – bei einer Durchspielprobe im Wiener Konservatorium durchfiel und auf Jahre in der Versenkung verschwand. Es mussten sich erst zwei hellhörige Komponisten zusammentun, damit das Stück 1839 dann doch noch (in Leipzig) uraufgeführt werden konnte: Robert Schumann, der es in Schuberts Nachlass entdeckte, und Felix Mendelssohn Bartholdy, der es dirigierte. Seither freilich hat die Sinfonie, dieses «gigantische Werk» (Pjotr Iljitsch Tschaikowski), in Konzertsälen und bei vielen weiteren Komponisten ‹grosse› Wirkung hinterlassen.
Sinfonie Nr. 8 C-Dur, Die Grosse
BESETZUNG 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Streicher
ENTSTEHUNG 1825
URAUFFÜHRUNG 21. März 1839 (postum) im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy