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von EGLEA

FRAGENDE ZEICHEN

VON EGLEA Die meisten Besucher in der Münchner Lukaskirche waren von der Frisur über die Handtasche bis zu den Pumps stilistisch auf dem aktuellen Stand. Die Witwe des Verlegers war blickdicht schwarz verschleiert; übertrieben, tuschelten zwei an meiner Seite, völlig übertrieben, und auch modisch sei das fragwürdig. Ich sass einige Reihen schräg hinter ihr und sah, wie das unterdrückte Schluchzen ihre Schultern schüttelte.

Sie hatte die Lukaskirche für die Trauerfeier ausgewählt, diesen wuchtigen Dom der Protestanten direkt an der Isar, der mir schon immer beim Vorbeiradeln dieselben Gedanken durchs Hirn blies: Errichtet hatte ihn der Architekt Albert Schmidt, der davor den Löwenbräukeller entworfen hatte und die Münchner Hauptsynagoge. Die Synagoge wurde als eine der ersten Synagogen in Deutschland 1938 abgerissen, der Löwenbräukeller, randvoll mit Erinnerungen an Adolf Hitler, der dort auch seine Stalingrad-Rede gehalten hatte, von der Royal Air Force 1944 weitgehend zerstört, die Lukaskirche bekam fast nichts ab. Der Löwenbräukeller wurde wieder aufgebaut, die Synagoge nicht.

Die Akustik der Lukaskirche war gut, der Bariton, es war ein kluger, konnte leise singen. Als er sang: «Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss», beruhigte sich der Rücken der Witwe mehr und mehr, bis er ganz ruhig war. Sie hatte auch die Musik ausgewählt und den Sänger, und Brahms wirkte, wie er es gewollt hatte, vermutlich auch die Witwe, er tröstete. Ich sah es und spürte es, freute mich und fragte mich trotzdem: Was heisst schon trösten? Den Schmerz lindern? Die Ursache des Schmerzes kann der Trost nicht beseitigen.

Vor ein paar Tagen, Anfang Januar, traf ich einen altvertrauten Freund auf der Strasse, er sah müde aus, war gerade erst aus Tel Aviv angereist, alarmiert vom jüdischen Seniorenheim, in dem seine Mutter wohnt, das Haus neben uns. Sie hatte versucht, sich aus dem Fenster zu stürzen. Ich habe die Nummer an ihrem Unterarm einmal gesehen und nie vergessen. «Hast du mitbekommen», fragte mich der Freund, «was auf der Baustelle los war?» Es ging um den Neubau eines moderneren, grösseren Seniorenheims für Juden im Münchner Osten. «Hakenkreuze, sie haben Hakenkreuze hingeschmiert», sagte er. Manchmal werden wir mitten in der Nacht, vor allem im Sommer, wenn die Fenster offen sind, geweckt von einer Stimme, die klingt, als sei gerade jemand verwundet worden, da schreit nebenan ein Mensch, den die Vergangenheit eingeholt hat; alles ist wieder da, die Ängste, die unvorstellbaren, die Gräuel, die unvorstellbaren. Sind es nur die Mechanismen des

Lea Singer = Eva Gesine Baur

© Jacques Schumacher

Traumas, die aus der Vergangenheit Gegenwart machen, sind es nicht auch die Hakenkreuze auf den Fassaden? Jetzt auch noch genau dort, wo die letzten HolocaustÜberlebenden in München ihre letzte Lebenszeit verbringen wollen, vierundachtzig Jahre nach der Zerstörung der Hauptsynagoge.

Die Stelle im Psalm 39, aus dem Brahms seine Zeilen zur Endlichkeit zog, steht in der Textbibel von 1899 in meinem Regal so: «Jahwe, thue mir mein Ende kund, und welches das Mass meiner Tage sein wird; lass mich erkennen, von welch kurzer Lebenszeit ich bin.»

Brahms war Anfang, Mitte dreissig, als er sein Deutsches Requiem schrieb, er hatte noch viel Lebenszeit zu erwarten. Jung wirkte er schon damals nicht, wirkte er vielleicht nie, er war es nicht im Kopf und nicht in der Seele. Die Lukaskirche, ein formenstrenger historistischer Bau voller Zitate, hätte ihm gefallen, obwohl er wusste, dass ihn die Begeisterung für Konstruktion und formale Perfektion, das Schwere in der deutschen Kultur, der Chance beraubte, leicht zu sein, sogar Gewichtiges leicht zu machen wie der von ihm verehrte Mendelssohn, das war ein Merkmal der Jugend.

«Ganz entsetzt» war Brahms, als bei den offiziellen Stellen der Stadt Wien in den

EGLEA

25 1880er-Jahren «die Antisemiten Oberhand bekommen hatten», und ein paar Jahre später, als Karl Lueger zum Oberbürgermeister gewählt wurde, musste er erfahren, wie berechtigt sein Entsetzen gewesen war: «Jetzt ist es wahr und damit auch die Pfaffenwirtschaft. Gäbe es eine Antipfaffenpartei – das hätte noch Sinn! Aber Antisemitismus ist Wahnsinn!» Pfaffenwirtschaft? Das Wort benutzt keiner mehr. Was es meint, wissen derzeit fast alle. Kurz nachdem ich meinen Freund auf der Strasse getroffen hatte, kamen die ersten Nachrichten über die Rolle der katholischen Kirche bei der Vertuschung von sexuellem Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising, auch der damalige Erzbischof, der spätere Papst, hat Bescheid gewusst. Er werde, sagte er jetzt, für die Opfer beten.

Ist das nicht ein Trost wie der, von dem Katharina in Shakespeares Heinrich VIII. spricht? «Dies Trösten kommt zu spät, das ist wie Begnadigen nach der Hinrichtung.» Nur was kann dann trösten? Vielleicht nur dies: dass Musik uns so tief innen erreicht, wie es keine Predigt der Welt vermag.