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Mein Hund Lala

Die ber端hrende Geschichte eines Jungen und seines Hundes in den Schrecken des Holocausts

Von Roman R. Kent


Mein Hund Lala Die berührende Geschichte eines Jungen und seines Hundes in den Schrecken des Holocausts Illustrationen: Cyril-Aurélien Gagnant Übersetzung: Karin Hanta & Marcelo Hanta-Davis Konzeption: Sigrid Raditschnig, Andreas & Simone Dressler © 2006. Namor International LCC Herausgeber: Jeff & Roman Kent E-Book 1. Auflage deutsch, September 2014 Danke an Jeanette Friedmann für ihre Mitarbeit an der englischsprachigen Ausgabe


Mein Hund Lala

Die ber端hrende Geschichte eines Jungen und seines Hundes in den Schrecken des Holocausts

Dieses Buch ist meinen Kindern Susie und Jeffrey, meinen Enkelkindern Dara, Eryn und Sean sowie allen Kindern auf der Welt gewidmet. Mogen sie die wahre Bedeutung des Wortes Liebe erfahren! Roman R. Kent


Mein Hund Lala

Uber den Autor Roman [Kniker] Kent kam mit seinem Bruder Leon in die Vereinigten Staaten, nachdem sie die Gräuel des Holocaust überlebt hatten. Sie wurden in die Stadt Atlanta im amerikanischen Bundesstaat Georgia geschickt, besuchten dort die Schule und lernten den „American way of life“ kennen. Leon wurde ein Neurochirurg und Roman ein erfolgreicher Geschäftsmann in New York. Heute ist Roman Kent Vorsitzender des American Gathering of Jewish Holocaust Survivors, Finanzdirektor der Conference of Jewish Material Claims Against Germany und stellvertretender Vorsitzender der Jewish Foundation for the Righteous. Zeit seines Lebens bemüht er sich, zur Verringerung des Hasses auf der Welt beizutragen und junge Menschen zu Toleranz und gegenseitigem Verständnis zu führen.

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Mein Hund Lala

Einleitung Beziehungen zwischen Menschen und ihren Haustieren, besonders zwischen Kindern und ihren Hunden, sind etwas ganz Besonderes und geben oft Anlass zu herzerwärmenden Geschichten. Als HolocaustÜberlebender während des Zweiten Weltkriegs habe ich viele Geschichten zu erzählen. Am liebsten erzähle ich jedoch die Geschichte von meinem kleinen Hund Lala. Nach dem Krieg kam ich als Waise in die Vereinigten Staaten und begann als Amerikaner ein neues Leben. Als ich heiratete und selbst Kinder hatte, baten mich Jeffrey und Susie manchmal, ihnen vor dem Schlafengehen eine Geschichte aus meinem Leben zu erzählen, die sich vor, während oder gleich nach dem Krieg abspielte. Heute wie damals ist ihre Lieblingsgeschichte jene von Lala. In ihren Augen wie auch in meinen trug sich hier ein wahres Wunder zu. Die Lehre, die meine Geschwister und ich aus dieser Geschichte zogen, ist heutzutage wichtiger denn je. Möge sie auch euer Herz erwärmen!

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Mein Hund Lala | Kapitel 1

Lala kommt ins Haus Ich heiße Roman Kent. Heute bin ich ein Großvater, aber auch ich war einmal ein kleiner Junge. Ich wuchs in der polnischen Stadt Lódz auf. Meine Familie und ich lebten in einer schönen Wohnung mit vielen Zimmern und einem langen Gang. Meine Mutter war Hausfrau und arbeitete schwer: Jeden Tag ging sie zum Einkaufen auf den Markt und kochte auf einem Herd mit offenem Feuer unser Essen. Die ganze Wäsche wusch sie noch mit der Hand … Gegenüber unserem Haus befand sich die große Textilfabrik meines Vaters. Ich hatte zwei ältere Schwestern und einen jüngeren Bruder. Wir waren alle sehr, sehr glücklich. Eines Nachmittags Anfang des Jahres 1930, als ich ungefähr zehn Jahre alt war, kamen wir von der Schule nach Hause und entdeckten, dass in Mamas makelloser Wohnung auf geheimnisvolle Weise ein süßes, goldenes Wollknäuel von einem Hund aufgetaucht war. Was für ein großes Ereignis! Wir waren uns sofort einig, dass wir das Hundemädchen Lala nennen würden, was auf Polnisch „Püppchen“ heißt. Ich habe noch immer nicht herausgefunden, welcher Hunderasse Lala angehörte. Sie hatte einen langen buschigen Schwanz in zwei Farbtönen. Er war pelzig und glich dem eines Eichhörnchens. Ihr Gesicht war wie das eines Collies, aber ihre Schnauze war kürzer und sie hatte spitze Ohren und einen kräftigen kleinen Körper. 6



Mein Hund Lala | Kapitel 1

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ie Hunderasse, der Lala am ähnlichsten sah, war der Finnische Spitz. Wir hatten jedoch keine Ahnung, welche Art von Hund sie war. Und es war uns auch ganz egal. Wir wussten, dass wir sie im Haus haben wollten und sie sehr liebten. Das war das Einzige, das für uns zählte. Vom ersten Augenblick an vergötterte ich Lala und freute mich wie ein Schneekönig über den „Familienzuwachs.“ Ich verbrachte zahllose Stunden damit, Lala einfach nur anzusehen. Mit Lala zu spielen und mit ihr um das Haus herumzutollen, waren einzigartige Vergnügen. Dieser glückliche Zustand währte jedoch nicht lange. Innerhalb weniger Tage begann sich Mama aufzuregen. Lala musste nämlich stubenrein gemacht werden, denn sie verunreinigte unsere schönen Teppiche. Als ich ein paar Tage nach Lalas Ankunft von der Schule nach Hause kam, freute ich mich ganz besonders darauf, mit ihr zu spielen. Ich glaubte, dass sie mich mit dem Schwanz wedelnd an der Tür erwarten und mit lautem Gebell im Kreis um mich herumhüpfen würde, weil sie wie immer in Spiellaune war. Ich sollte mich jedoch täuschen: An diesem Tag fehlte von Lala jede Spur. Mein Herz rutsche mir immer weiter in die Hose. Ich fragte Mama, ob Lala in unsere Fabrik auf der anderen Straßenseite gelaufen war. Nein, war sie nicht. Mamas Antwort brachte mich zum Verzweifeln. Mein Herz wurde mir schwer, mein Hals eng und Tränen schossen mir in die Augen. „Wo ist sie?“, schluchzte ich. „Was hast du mit Lala gemacht?“

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Mein Hund Lala | Kapitel 1

Mama hatte Lala ihren vorigen Eigentümern zurückgegeben, da Lala zu viel Unordnung ins Haus gebracht hatte und Mama nicht hinter ihr her putzen wollte. Sie hatte bereits genug zu tun. Es gab damals keine Kühlschränke, keine Waschmaschinen und keine Geschirrspüler. In manchen Gegenden in Polen gab es nicht einmal Strom oder Fließwasser. Wir hatten zwar Fließwasser und Strom, aber keine modernen Haushaltsgeräte. Jede Arbeit musste von Hand erledigt werden. Wir Kinder konnten verstehen, dass sich Mama über das ständige Putzen aufregte, aber es war uns, ehrlich gesagt, egal. Wir beschlossen, gegen den Hunderaub Protest einzulegen. Es muss dabei gesagt werden, dass wir vier selten einer Meinung waren, wenn es darum ging, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Aber unser Hündchen war es wert. Wir mussten eine gemeinsame Front bilden, denn nur so konnten wir Lala wieder zurückbekommen. Wir entwickelten eine Strategie: Wir quengelten, wir flennten, wir stellten uns stur, wir weinten, wir stampften gemeinsam und jeder für sich mit den Füßen, wir weigerten uns, unsere Hausaufgaben zu machen, wir traten einen Hungerstreik an, indem wir die Jause nach der Schule sowie das Abendessen verweigerten. Wir folgten Mama auf Schritt und Tritt. Alles, was sie hörte, war „Lala, Lala, Lala“ und „bitte, bitte, bitte“. Keine Mutter konnte einem solchen Flehen widerstehen. Lala kam noch an diesem Abend in den Armen unserer Haushälterin zu uns zurück. Sobald die Tür aufging, sprang sie aus ihren Armen und wir vier jagten ihr hinterher, weil wir sie alle herzen wollten. Von diesem 9


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Augenblick an war Lala ein richtiges Familienmitglied. Lala entzückte uns alle, zeigte uns aber auch, dass sie verstand, dass Tatusch, unser Vater, das letzte Sagen hatte. Es war unglaublich, dass dieses kleine Tierchen so an uns hing und unser Leben so veränderte. An Schultagen wartete Lala für gewöhnlich auf dem Balkon unserer Wohnung auf uns, von dem man die Hauptstraße sehen konnte. Wir konnten sie auf unserem Heimweg schon von der Ferne erkennen. Ihr goldenes Fell glänzte in der Sonne. Ihre Schnauze zuckte voller Vorfreude und sie war immer zum Spielen aufgelegt. Sie lauschte nach Geräuschen und wand ihren Schwanz über ihren Rücken. In dem Moment, wo sie uns roch, bellte sie und flitzte zur Eingangstür, um uns zu begrüßen. Sie hüpfte hoch in die Luft, drehte sich um die eigene Achse und versuchte, uns zu umarmen. Sie leckte unser Gesicht und unsere Hände ab und hüpfte laut japsend in die Luft. Lala konnte es nicht erwarten, dass wir unsere Schultasche vom Rücken warfen und schnell aus unserer Jacke fuhren. Ich muss gestehen, dass Lala mir besonders zugetan war und mir oft näher als meine Geschwister stand. Sie verdiente sich diese Sonderstellung aufgrund ihrer Geduld, ihres Verständnisses und ihrer Einfühlungsgabe. Ich kuschelte mich an sie und sie lauschte meinen Beschwerden über meine Geschwister, Eltern und Klassenkollegen. Sie tröstete mich, indem sie meine Hände und mein Gesicht ableckte und dabei mit ihrem buschigen Schwanz wackelte. Niemand anderer in meiner Familie konnte das für mich tun. 10


Mein Hund Lala | Kapitel 2

Wie wir den Sommer verbrachten Da die Fabrik von Tatusch sehr erfolgreich war, besaßen meine Eltern neben unserem Haus in der Stadt in einem Dorf namens Podebie auch eine große Sommervilla. Das Dorf lag circa 50 Kilometer von Lódz entfernt. Mit dem Zug erreichte man es in zwei Stunden. Zu Schulschluss ließ Tatusch unsere Sachen zusammenpacken und schickte uns alle in die Villa. Tatusch selbst verbrachte die Wochentage in der Fabrik und kam am Wochenende auf das Land. Bis 1939 habe ich meines Wissens jeden Sommer auf dem Land verbracht. Die Villa hatte keinen Strom und kein Fließwasser. Es gab zwar eine Wasserpumpe und ein Plumpsklo, aber auch viel Platz, um mit vielen Freunden herumzutollen. Im Sommer nach Podebie zu übersiedeln, war keine leichte Aufgabe. Wir mussten schon im Voraus alles genau planen. Alles, was wir im Sommer brauchten – Bekleidung, Bettwäsche und sonstiger Hausrat sowie alles, was Mama für nötig hielt – wurde in dem einzigen Gefährt transportiert, das alles auf einmal fassen konnte: einem riesigen Pferdewagen. Für mich war es immer ein Abenteuer, mit dem Pferdewagen zu fahren, weil man niemals wusste, was auf der Reise passieren würde. Wenn ich es so anstellen konnte, saß ich auf der Reise vorne beim Kutscher.

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Mama war das natürlich nicht recht. Meistens bestand sie darauf, dass ich mit dem Rest der Familie im Zug nach Podebie fuhr, denn ich war schon einmal aus einem Pferdewagen gefallen.

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evor wir von Lódz nach Podebie fuhren, suchten mein Vater, mein Bruder Leon und ich eine Lederfabrik auf, wo wir alles Spielzeug aussuchen durften, das wir für den Sommer brauchten: einen Fußball, einen Volleyball und einen Basketball. Wir brauchten viele Sachen, denn in unserer Villa in Podebie kamen eine ganze Reihe junger Leute zusammen, die mit ihren Eltern ebenfalls auf Urlaub waren. Podebie war kein Schtetl, kein kleines jüdisches Dorf, sondern ein Urlaubsort in der Nähe eines prächtigen Waldes mit Seen und Wiesen. Die Holzvillen gehörten jüdischen Familien oder wurden von ihnen gemietet. Sie alle kamen hierher, um die frische Luft zu genießen und den verschmutzten polnischen Städten zu entkommen. Die Villa meiner Familie war auf einem riesigen Grundstück gelegen, das sich bis zum Horizont ausdehnte und sogar noch weiter reichte. Uns umgab so viel Land, dass darauf ein mit Gras bewachsener Basketballplatz, ein richtiger Fußballplatz und ein Volleyballplatz Raum hatten, auf denen die Kinder aus der Nachbarschaft spielen konnten. Deshalb trafen sich auch alle Jugendlichen bei uns. Bälle, Stöcke, Körbe, Schläger und Netze hatten wir ja mitgebracht.

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Zu unseren vielen Freunden und Bekannten gehörte auch ein Junge, der uns immer seine Heidelbeerbrötchen verkaufen wollte. Er balancierte sie auf einem Metalltablett auf dem Kopf. Wenn wir mitten in einem Spiel waren und er kam, rannte er auf dem Feld dem Ball nach und balancierte dabei noch immer das Tablett auf seinem Kopf, ohne ein einziges Brötchen zu verlieren. Wir wussten, dass es aufs Wochenende zuging, wenn ein süßer Keksduft durch die Villa wehte. Zimt und Vanille kündigten die Ankunft von Tatusch an. Am Freitagnachmittag gingen wir zum Bahnhof, um ihn zu begrüßen und mit ihm nach Hause zu spazieren. Wir mussten niemals auf die Uhr schauen, wenn wir uns auf den Weg machen wollten. Lala konnte seine Ankunft schon spüren. Sie wusste einfach, wann wir uns in Bewegung setzen mussten. Lala bellte dann laut, zog uns an der Hose und setzte nötigenfalls andere Mittel ein, um uns alle aus dem Haus zu bekommen. An den langen Sommerwochenenden spielten die Erwachsenen Karten. Wir Kinder machten ein Lagerfeuer, erzählten einander Geschichten und sangen Lieder. Mein Bruder, meine Schwestern, meine Cousins und Cousinen und meine Freunde gingen uns Kartoffeln von einem Feld „ausborgen,“ brieten sie und ließen sie uns schmecken. Uns machte es nichts aus, dass unsere Hände und unser Gesicht dabei kohlrabenschwarz wurden. Lala begleitete uns bei unseren Abenteuern. Mein Bruder und ich fuhren am liebsten mit dem Fahrrad herum und Lala rannte neben uns her. Gern führten wir Kunststücke auf: Wir fuhren ohne Hände auf der 13


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Lenkstange oder standen am Sattel. Wir fuhren auch rückwärts und sausten die steilsten Hügel in einem Riesentempo hinunter, damit wir unser Fahrrad testen konnten. Lala begleitete uns auf Schritt und Tritt. Sie bellte und hüpfte, sie jagte uns hinterher oder eilte uns voraus und erfreute sich ihres sorgenfreien Lebens genauso sehr wie wir. Der Sommer war ein einziges Vergnügen und ich lachte viel. Wenn die Ferien zu Ende gingen, war ich immer fassungslos, wie schnell die Wochen vorbeigegangen waren. Ich träumte dann davon, wie schön es wäre, wenn der Sommer ewig dauern könnte.

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Der Krieg beginnt Ich hatte keine Ahnung, dass mein sorgloses Leben abrupt zu Ende gehen und der Sommer des Jahres 1939 unser letzter in Podebie sein würde. Als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach und Deutschland in Polen einfiel, waren wir noch in Podebie auf Urlaub. Bomben prasselten auf das Land und überall sah man nur Soldaten. Der Schulbeginn wurde verschoben und Tatusch beschloss, dass wir auf dem Land bleiben sollten, da es dort für uns sicherer war. Als Kinder wussten wir nicht, was um uns vorging. Wir lebten ganz ruhig in der Villa dahin. Am liebsten suchten wir den Himmel nach Flugzeugen und der polnischen Fliegerabwehr ab. Hin und wieder sahen wir einen Blitz aus dem Himmel schießen und beobachteten ein brennendes Flugzeug dabei, wie es in Schutt und Asche zu Boden fiel. Wir versuchten, ganz aufgeregt zu erraten, welches Flugzeug als nächstes abstürzen würde, ein polnisches oder ein deutsches. Es kam mir alles wie im Film vor. Nichts schien wirklich zu sein. Ein paar Tage nach Kriegsausbruch begann sich Lala komisch zu verhalten. Sie rannte einfach grundlos auf den Hof und jaulte den Himmel an. Es war kein normales Bellen. Es war ein Laut, den ich noch niemals gehört hatte. Wir brachten sie ins Haus zurück, doch sobald wir sie alleine ließen, rannte sie wieder hinaus und begann wieder mit dem Jaulen.

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Mein Hund Lala | Kapitel 3

Was brachte einen solch friedfertigen Hund dazu, bei jeder Gelegenheit aus dem Haus zu laufen und in der Dunkelheit Klagelaute von sich zu geben? Als unser Nachbar später am Abend herangerannt kam, erhielten wir die Antwort. Atemlos erzählte er uns, dass wir so schnell wie möglich das Dorf verlassen sollten, weil die Deutschen nur ein paar Kilometer entfernt von uns waren. Mama beschloss sofort, dass wir nach Lódz zurückfahren sollten. Es war höchste Zeit. Wir ließen alle unsere Sachen bei unserem Hausverwalter zurück, auch unsere geliebte Lala, da wir sie in Sicherheit wissen wollten. Mitten in der Nacht schlossen wir uns der Menschenmenge an, die zum Bahnhof hetzte. Je näher wir zum Bahnhof kamen, umso größer wurde die Menge. Wir konnten nur ein riesiges Menschengewühl sehen, das sich in dieselbe Richtung bewegte. Endlich kam ein Personenzug an und die Menschenmenge beeilte sich, auch noch das letzte Fleckchen Platz zu ergattern. Männer und Frauen standen auf den Trittbrettern, zwischen Waggons und klammerten sich mit Händen und Füßen an, wo immer sie konnten. Als wir buchstäblich in einen der Waggons geworfen wurden, war es ein Wunder, dass wir nicht voneinander getrennt wurden.

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Mein Hund Lala | Kapitel 3

Von dem Augenblick an, wo wir das Haus verließen, warnte uns Mama ganz ausdrücklich, dass wir uns fest an Händen halten sollten, damit wir nicht voneinander getrennt werden. Sie brauchten uns das erst gar nicht zu sagen. Wir fürchteten uns auch schon so sehr, dass wir einander nicht losließen.

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er Zug hielt auf der Rückreise nach Lódz aus einem unerfindlichen Grund ständig an. In der Dunkelheit fürchteten wir uns noch mehr. Wir standen wie Sardinen in einer Dose nebeneinander und hatten keinen Platz, um uns zu bewegen. Plötzlich spürte ich, wie etwas an meinem Bein strich. Ich erschrak und schaute in Richtung Boden. Etwas Unglaubliches hatte sich ereignet: Lala stand neben mir. Nur Gott weiß, wie sie uns in diesem Tumult gefunden hatte. Lala war in dieser verhängnisvollen Nacht der einzige Lichtblick.

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Lala lebte in unserer Wohnung in der Stadt und in unserer Villa auf dem Land. Und wenn wir uns in Podebie aufhielten, fand sie oft einen Freund. Als wir im Herbst zurück nach Lódz kamen, brachte sie vier oder fünf Hundebabys zur Welt, die wir eine Weile in der Fabrik behielten. Lala überquerte untertags die breite Straße, um sie zu säugen, und rannte abends in die Wohnung zurück. Als die Welpen groß genug waren, verschenkten wir sie.

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ala hatte eine unglaubliche Fähigkeit zu erahnen, welches ihrer Babys am schwächsten war – jenes, das am wenigsten Milch trinken konnte, da es seine Brüder und Schwestern zur Seite drängten. Lala brachte ihren kleinen Liebling jeden Abend zurück in die Wohnung, wo er in Ruhe an ihren Zitzen saugen konnte. Wenn Lala das tat, sorgte sie auf der Straße für große Aufregung. Fahrradfahrer hielten an und schauten ihr zu, wenn sie die Straße mit ihrem kleinen Welpen in der Schnauze überquerte. Die wenigen Autos, die auf der Straße fuhren, kamen zu einem Stillstand und die Kutscher hielten ihre Pferde an, damit sie über die Straße laufen konnte. Spaziergänger blieben einfach stehen und bestaunten sie. Jeder war von Lalas Intelligenz und ihrer aufopfernden Liebe für ihre Welpen beeindruckt. Sie war eben ein ganz besonderer Hund.

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Mein Hund Lala | Kapitel 4

Der Umzug ins Ghetto Ein paar Wochen später kam ich von der Schule nach Hause und versuchte, das Haus wie immer durch die Eingangstür zu betreten. Sie war jedoch versperrt. An der Tür hing ein großes Schild, auf dem stand: „Dieses Gebäude gehört der deutschen Regierung.“ Von einem Augenblick zum anderen hatten wir unseren ganzen Besitz verloren. Nur das, was wir am Leibe trugen, war uns geblieben … aber auch unsere geliebte Lala. Wir hatten mehr Glück als viele andere. Auf dem Gelände der Textilfabrik stand ein vierstöckiges Ziegelgebäude, wo wir uns in ein paar unmöblierten Zimmern vor den Deutschen versteckten. Mit dem Geld, das uns übrig geblieben war, kauften uns die Eltern ein paar Sachen zum Anziehen sowie Geschirr und einige Möbel. Wir Kinder gingen weiterhin in die Schule und Tatusch leitete die Fabrik. Innerhalb kürzester Zeit wurden gegen Juden jedoch Verordnungen erlassen und auf der Straße angeschlagen. Zuerst wurden die Schulen geschlossen und wir mussten zu Hause bleiben. Bald danach durften wir nicht mehr in öffentliche Parks gehen und mussten auf unserer Bekleidung gelbe Sterne tragen, damit Deutsche und Polen sofort erkannten, wer Jude war oder nicht. Erwachsene verloren ihre Arbeit und mussten ihre Geschäfte aufgeben. Die Fabrik meines Vaters wurde enteignet, es wurde ihm jedoch das Weiterarbeiten gestattet. 22


Mein Hund Lala | Kapitel 4

Wir versuchten, trotz all dieser Widrigkeiten ein normales Leben zu führen. Als Lala im Herbst 1939 erneut vier goldene Welpen zur Welt brachte, die genauso aussahen wie sie, fiel es uns schwer, uns zu freuen. Lala blieb in diesem Herbst auf der Fabrikseite. Dann sollte sich jedoch alles ändern. Die Situation wurde für die Juden in Lódz immer verzweifelter. Nicht nur, dass uns Restriktionen auferlegt wurden, über uns eine Ausgangssperre verhängt wurde und wir den gelben Stern tragen mussten — die Deutschen befahlen uns auch den Umzug in ein Ghetto. Dieser abgeschlossene Stadtteil lag im ärmsten Bereich der Stadt. Wir wurden dort in alten, baufälligen Holzhäusern zusammengepfercht. Von den Polen, mit denen wir jahrhundertelang zusammengelebt hatten, wurden wir somit getrennt. Die Deutschen sperrten uns hinter Stacheldraht ein und bewachten uns ständig. Wir Kinder wussten nicht, was wir tun sollten. Wir wollten Lala und ihre Babys mit ins Ghetto bringen. Meine Eltern sagten, dass dies außer Frage stünde. Dieses Mal half auch alles Bitten nicht. Mama und Tatusch setzen sich durch und dies auch mit Recht. Wie sollten wir ein Fressen für Lala und ihre Welpen finden, wenn schon für uns nichts da war? Wir überließen Lala und ihre Jungen Kasimierz, dem Vorarbeiter in unserer Fabrik. Er war ein guter polnischer Freund. Er hatte mir als Kind das Radfahren beigebracht und mir gezeigt, wie ich Lala zu versorgen hatte. Lange nach dem Krieg gab er uns die einzigen Fotos von unseren Eltern. 23


Mein Hund Lala | Kapitel 4

Wir hofften, dass Kasimierz Lala ins Ghetto schmuggeln könnte, aber wir hatten keine Ahnung, was uns bevorstand oder wie schrecklich die Situation wirklich werden würde. Nach einiger Zeit riegelten die Deutschen das Ghetto nämlich komplett ab. Wenn sie uns außerhalb der Absperrung vorfanden, waren wir ihnen ausgeliefert und sie konnten uns erschießen. Nur widerwillig schlossen wir uns dem Umzug ins Ghetto an. Das schlechte Märzwetter war typisch für den polnischen Frühling. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich auf dem Weg ins Ghetto einige Kilometer im Schneeregen dahintrabte und dabei durch viele Schlammpfützen stolperte. Meine Familie und ich schritten müde und vollkommen durchnässt durch das riesige Tor. Zu sechst kauerten wir in dem einen Zimmer, das wir für uns finden konnten. An diesem Abend waren wir Kinder zu aufgewühlt, um einzuschlafen. Während unsere Eltern leise mit anderen Erwachsenen unser mögliches Schicksal besprachen, blieben wir wach und überlegten uns, wie wir Lala ins Ghetto schmuggeln konnten. Früher oder später waren wir jedoch zu erschöpft, um einen Plan zu schmieden. Plötzlich wurden wir mitten in der Nacht durch ein Geräusch an der Tür geweckt. Unsere Eltern erstarrten und stellten sich auf das Schlimmste ein. Ich fuhr aus dem Bett, denn mir schoss ein freudiger Gedanke durch den Kopf: „Lala steht vor der Tür! Sie hat uns gefunden!“, rief ich.

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ir vier Kinder sausten zur Tür, um ihr aufzumachen. Ihr goldenes Fell war total nass und verdreckt. Sie zitterte wie Espenholz und wir konnten ihr ihre Müdigkeit ansehen. Aber sobald sie zu uns aufsah, begann sie mit dem Schwanz zu wedeln. Kurz danach begann sie, unsere Hände und Gesichter abzulecken. Wie konnte ein Hund, der keine Ahnung davon hatte, wo wir hingekommen waren, uns in einem weit entfernten Stadtteil finden, den wir selbst nicht kannten? Für uns gab es nur eine Erklärung: Es war ein Wunder. Am Morgen verließ uns Lala wieder. Wir wussten, dass sie in die Fabrik zu ihren Jungen zurückkehrte. Den ganzen Tag über konnten meine Geschwister und ich nur an eines denken: Würde sie am Abend wieder zu uns zurückkommen? Während der nächsten paar Wochen wiederholte sich dieselbe Szene: Spät in der Nacht, wenn wir schon stundenlang schliefen, kratzte es an der Tür und Lala stand draußen. In der Früh trat sie wieder den Rückweg in die Fabrik an. Lala zeigte uns, dass Liebe stärker ist als Hass und dass keine Waffe, kein Stacheldraht und keine deutschen Wachen sie davon abhalten konnten, uns dies zu beweisen. Nachdem ihre Welpen verschenkt wurden, lebte Lala ganz mit uns im Ghetto. Ihr machte es nichts aus, dass wir auf engstem Raum zusammenleben mussten und wir ihr keine Leckerbissen geben konnten. Wir gingen mit ihr

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spazieren und spielten mit ihr auf der Straße. Es war Lala ganz egal, wo sie war: Sie sprang weiterhin in die Höhe, leckte unser Gesicht ab und wedelte mit dem Schwanz. Eines Tages wurde jedoch eine Verordnung erlassen, dass alle „jüdischen Hunde“ den Deutschen übergeben werden mussten. Lala hatte sich zwar ins Ghetto geschmuggelt, doch war klar, dass sie unser Hund war. Wir konnten sie nicht verstecken, denn die Deutschen hatten ihren Aufenthalt im Ghetto verzeichnet. Jeder Versuch, dies zu vertuschen, hätte uns die Todesstrafe eingebracht. Der fürchterliche Tag der Trennung rückte immer näher heran und wir mussten von Lala auf immer Abschied nehmen. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was an diesem Tag geschah. Ich erinnere mich nur daran, dass sich Lala nicht aus der Wohnung bewegen wollte und sie sich so lange unter dem Bett versteckte, bis sie meine Eltern wegbrachten. Lala war die erste, die mir beibrachte, was wahre Liebe bedeutete. Lala war es vollkommen gleichgültig, ob wir uns in unserer schönen Wohnung, unserem Landhaus, im Versteck in der Fabrik oder im Elendsquartier im Ghetto befanden, solange sie nur bei uns sein konnte. Von Lala auf ewig Abschied zu nehmen, war genauso schrecklich, wie ein Familienmitglied zu verlieren. Nachdem sie fortgeschafft wurde, sahen wir unseren Liebling niemals wieder. In meinem Herzen sowie in dem meiner Kinder und Enkelkinder lebt sie jedoch weiter. Ich hoffe, dass Lala auch im Herzen all jener weiterleben wird, die diese Geschichte lesen. 27


Mein Hund Lala | Kapitel 4

In Erinnerung an meine geliebte Lala, eine treue Freundin,

die bis zum Ende mit uns durchhielt.

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Roman R. Kent



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