GanzOhr Nr. 4 2018

Thema > Familiensache

November 2018

04

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Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

ganzOHR

> Sich in einer Familie mit Gehörlosen geborgen fühlen > Kommunikation stärkt die Familienbande > Gebärdensprache so früh wie möglich lernen

Thema > Familiensache

Dr. Harry Witzthum Geschäftsführer SGB-FSS

Helfen Sie mit, Familien zu stärken!

Erstaunlich: 90% der gehörlosen Kinder wachsen mit hörenden Eltern auf. In solchen Familien wird die Kommunikation zur Herausforderung und die Gebärdensprache zum Muss. Es gibt für Familien jedoch zu wenig Angebote für das Erlernen dieser Sprache – der Muttersprache der gehörlosen Menschen.

Später in der Schule werden viele gehörlose Kinder in Regelklassen integriert – meistens als einziges gehörloses Kind unter hörenden Kindern. Wie soll es da die Gebärdensprache lernen und in Kontakt mit der Gehörlosengemeinschaft kommen? Dadurch ist das Kind isoliert und benachteiligt.

Hier springen wir mit unserem Angebot ein: Unsere Kinderlager und Familienwochenenden bieten Eltern und Kindern einen Ort, wo sie die Gebärdensprache lernen und Informationen über die Gehörlosenkultur erhalten – nicht nur in der Theorie, sondern auch konkret und erlebbar.

Für viele gehörlose Kinder ist dies der erste Kontakt unter Gleichen überhaupt.

Damit diese wichtigen Begegnungen weiterhin möglich bleiben, brauchen wir Ihre wertvolle Unterstützung. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Spende!

Leben ist kommunizieren – auch für gehörlose Menschen > Eine Familie ist eine Familie ist eine Familie: Die Familienbande gibt es in jeder Familie – das Gefühl, zusammenzugehören, die Nähe zueinander. Das gilt selbstverständlich auch für Familien, in denen gehörlose Menschen leben.

Die Kommunikation spielt in jeder Familie eine zentrale Rolle. Sie trägt wesentlich zum Verständnis füreinander und zum Gefühl der Geborgenheit bei. Für Familien mit gehörlosen Mitgliedern gilt das unabhängig davon, zu welcher Gruppe sie gehört: • Kind gehörlos, Eltern hörend • Kinder hörend, Eltern gehörlos • Kind und Eltern gehörlos

Einerseits lernen gehörlose Kinder sehr schnell, sich in der Gebärdensprache auszudrücken, und kreieren sogar eigene Gebärden für bestimmte Ausdrücke. Anderseits bleibt der Nutzen der Gebärdensprache sehr beschränkt, wenn sie nicht gelernt wird. Und gelernt werden muss sie, wie jede andere Sprache: idealerweise im Kleinkindalter, wo man sich Sprachen noch einfach aneignet.

Lautlos alles sagen können Je nach Konstellation gibt es unterschiedliche Herausforderungen an die Kommunikation. Etwas ist jedoch in jedem Fall zentral: Die Gebärdensprache ist die Muttersprache der gehörlosen Menschen. Sie gibt ihnen Identität und ermöglicht ihnen, sich zu verständigen. Für gehörlose Kinder ist sie besonders wichtig. Denn mit der Gebärdensprache kommen sie aus ihrer Sprachlosigkeit heraus und können ihre Wünsche und Gefühle ausdrücken. Das ist für die geistige und seelische Entwicklung der Kinder elementar.

Sich mit zwei Sprachen die Welt erschliessen Gehörlose Kinder sollen aber auch die gesprochene Sprache lernen. Die Gebärdensprache dient dem Entwickeln des generellen Sprachgefühls und der Verständigung in der Familie. Die gesprochene Sprache brauchen die Kinder beim Spielen mit ihren hörenden Freunden sowie in der Schule und später im Leben.

Diese zweisprachige Erziehung ist eines der wichtigsten Anliegen des Schweizerischen Gehörlosenbundes. <

In den ersten Lebensjahren lernen die Kinder die Sprache. Das ist Wasser für den Lebensbaum, der in ihnen wächst.

Harry Witzthum (hörend)

CODA: Kinder zwischen zwei Kulturen > CODA (Children of Deaf Adults) steht für hörende Kinder, deren Eltern gehörlos sind. Sie wachsen mit der Gebärden- und der gesprochenen Sprache auf und bewegen sich in zwei Kulturen – jener der Gehörlosen und jener der Hörenden. Das ist ein grosser derung.

Stella Zurkirchen (21) bereitet sich als Praktikantin für die Ausbildung zur Sozialarbeiterin vor – und ist CODA. Sie erinnert sich an ihre Kindheit:

Andrin Siebenha

ar

Eine Familie, zwei Sprachen > Hörende Eltern mit einem gehörlosen oder schwerhörigen Kind brauchen viel Unterstützung. Denn sie sind bezüglich Kommunikation, Erziehung, Schule und Pubertät oft verunsichert und haben viele Entscheidungen zu treffen. Wir unterstützen solche Familien.

Der heute schon 17-jährige Andrin Siebenhaar ist gehörlos und absolviert an der Berufsfachschule für Lernende mit Hör- und Kommunikationsbehinderung in Zürich-Oerlikon die Berufsmatura. Seine Eltern Christoph und Tanja haben ihn in der Gebärden- und der gesprochenen Sprache aufwachsen lassen. Sie erzählen: «Andrin machte im Vergleich zu seiner älteren Schwester wenig Fortschritte in der Sprache. Als er elf Monate alt war,

liessen wir sein Gehör testen. Die Diagnose «hochgradig schwerhörig» war für uns ein Schock. Wir stellten uns viele Fragen: Wird Andrin reden können? Freunde finden? In welche Schule wird er gehen? Wir wollten so rasch wie möglich mit unserem Kind kommunizieren und suchten Möglichkeiten dafür. So nahmen wir an einem Wochenende für Eltern mit gehörlosen Kindern teil, an dem wir viele wichtige Informationen erhielten. Danach entschieden wir uns, zusammen mit Andrin die Gebärdensprache zu lernen. Schon bald konnten wir miteinander gebärden. Wir spürten und erlebten: Die Gebärdensprache und die gesprochene Sprache befruchten sich gegenseitig. Welch ein vielfältiger Sprachschatz, der sich daraus ergibt! Das Familienwochenende und der Gebärdensprach-Heimkurs gehören zum Angebot des Gehörlosenbundes. Wir sind ihm für diese Angebote sehr dankbar.» <

«Im Kindergartenalter merkte ich, dass meine Eltern anders sind als ich. Wenn jemand bei uns läutete, blinkten die Lampen in der Wohnung. Dann standen meine Eltern auf und öffneten die Tür. Als einmal die Blinkanlage kaputt war, blieben meine Eltern sitzen, als es läutete: Sie hörten es nicht. Ich stellte meine Eltern mehrmals auf die Probe, ob sie wirklich nichts hörten. Zum Beispiel zog ich heimlich den Stecker vom Staubsauger raus, während meine Mutter saugte. Sie machte einfach weiter.

Ich bin stolz auf meine zwei Kulturen. Oft fühle ich mich wohler in der gehörlosen Kultur, weil die Menschen dort offener und herzlicher sind. Und ich liebe es, zu gebärden. Wie alle Jugendlichen finde ich meine Eltern ab und zu peinlich, aber nie wegen ihrer Gehörlosigkeit! Im Alltag unter Hörenden merke ich oft, dass ich mit Gehörlosen aufgewachsen bin. Beim Sprechen mache ich begleitende Gebärden, weil ich mich unsicher fühle, wenn ich ohne Hände kommuniziere. Ich fühle mich als hörende Gehörlose – ich habe zwar ein Gehör, aber meine Lebensumstände kann man manchmal mit denen von Gehörlosen vergleichen.» <

Foto: privat

Gewinn, aber auch eine Herausfor-

> Gebärden Auf www.signsuisse.sgb-fss.ch finden Sie unser einmaliges OnlineGebärdensprach-Lexikon. Das visuelle Wörterbuch umfasst alle drei Gebärdensprachen der Schweiz: die schweiStella Zurkirche n

zerdeutsche, die französische und die italienische. Die Begriffe werden in einem Video vorgeführt, schriftlich erläutert und mit einem Anwendungsbeispiel ergänzt. Viel Vergnügen beim Entdecken!

Familien fördern

Passend zum Thema dieser Ausgabe von

> Die Unterstützung von gehörlosen Kindern und ihren Familien zählt zu unseren wichtigsten Anliegen.

Deshalb bieten wir den Betroffenen viele hilfreiche Dienstleistungen.

Heimkurse: Sich verstehen In unseren Heimkursen lernt ein gehörloses Kind zusammen mit seinen hörenden Eltern, Geschwistern und Angehörigen die Gebärdensprache – eine gemeinsame Familiensprache.

Familienwochenenden: Sich austauschen Für Familien mit gehörlosen Kindern ist der Austausch wichtig. Im Forum und an Wochenendkursen lernen hörende Eltern und Geschwister und das gehörlose Kind

andere Familien kennen. Sie lernen und üben die Gebärdensprache und können wichtige Fragen besprechen.

ganzOHR zeigen wir Ihnen die Gebärden für «Eltern» und für «Sohn/Tochter» – auch für gehörlose Menschen von grosser Bedeutung.

Kinderlager: Gemeinsam viel erleben In unseren Kinderlagern erleben gehörlose und hörende Kinder gemeinsam Abenteuer und schliessen Freundschaften. Die gehörlosen Kinder sind für einmal voll dabei und fühlen sich nicht ausgeschlossen.

Das macht Spass, und wie!

CODA-Elternwochenenden: Zwei Kulturen zusammenbringen An den CODA-Elternwochenenden lernen gehörlose Eltern, die hörende Kinder haben, die Kommunikation in ihrer Familie sicherzustellen. Sie erhalten Wissensgrundlagen und können Erfahrungen austauschen. Drei wertvolle Tage! <

Eltern

Mit Ihrer Spende helfen Sie auch

Familien mit gehörlosen Mitgliedern, ihren All tag zu meistern. Dafür danken wir Ihnen von Herzen.

1-mal: Sohn

2-mal: Tochter

«Sich austauschen und informieren ist enorm wichtig!»

Stéphane Beyeler organisiert die Familienwochenenden der Westschweiz > Stéphane Beyeler ist Assistent der

Wie hilft der Schweizerische

Regionaldirektion Westschweiz beim

Gehörlosenbund den betrof-

Schweizerischen Gehörlosenbund.

fenen Familien?

Er kennt die Hürden und Chancen der

In unseren Familienwochenenden können sich hörende Eltern untereinander, aber auch mit gehörlosen Eltern austauschen. Zudem erhalten sie von Fachleuten wichtige Informationen zu Kommunikations- und Erziehungsfragen. Das gibt ihStéphane Beyeler ist 37 Jahre alt und wohnt nen Sicherheit für das Zusammit seiner Familie in Lausanne. Die Rechte menleben in der Familie und gehörloser Kinder liegen ihm am Herzen. Dazu für die Zukunft ihrer Kinder. zählt für ihn die zweisprachige Erziehung in Die Kinder treffen an diesen der Gebärden- und der gesprochenen Sprache.

Familienwochenenden andere gehörlose Kinder. Dieser Kontakt unter Gleichen ist wie gesagt sehr Sie organisieren seit acht Jahren wichtig. Zudem bieten wir Heimkurse an. Familienwochenenden. Welches Dabei lernen alle Familienmitglieder ge- Erlebnis ist Ihnen besonders geblieben? meinsam die Gebärdensprache.

Die Begegnung einer Familie aus Kap Verde mit einem 14-jährigen gehörlosen Mädchen. Bis dahin ist die Kommunikati«Für unsere Familienon in der Familie eher oberflächlich geweangebote sind wir auf sen. Während des Wochenendes konnte der Vater seiner Tochter über einen DolSpenden angewiesen.» metscher das erste Mal erzählen, warum sie aus Kap Verde fliehen mussten. Das Was kann Familien daran hindern, an ist ein sehr bewegender Moment gewesen.

Kommunikation in Familien mit gehörlosen Mitgliedern – aus seiner beruflichen Tätigkeit und als gehörloser Vater von zwei hörenden Kindern.

Was empfehlen Sie Eltern, die erfahren, dass ihr Kind gehörlos ist?

Dass die ganze Familie die Gebärdensprache so schnell wie möglich erlernt, um die zweisprachige Kommunikation in der Familie zu ermöglichen. So kann das Kind seine kognitiven Fähigkeiten am besten entwickeln und mit den Eltern bestmöglich kommunizieren.

Welche Sorgen und Unsicherheiten haben solche Eltern?

90% der gehörlosen Kinder haben hörende Eltern. Solche Eltern hatten meistens noch keinen Kontakt zur Welt der Gehörlosen und wissen nicht, was es heisst, gehörlos zu sein. Deshalb fühlen sie sich hilflos, wenn bei ihrem Baby Gehörlosigkeit diagnostiziert wird. Sie haben Fragen zum Familienleben sowie zur medizinischen Situation und Zukunft ihres Kindes.

Wo liegen die Probleme für die Kinder?

Gehörlose Kinder in hörenden Familien haben kaum Kontakt mit gleichaltrigen Gehörlosen. Sie leben isoliert von der Welt der gehörlosen Menschen. Dies erschwert es ihnen, ihre eigentliche Identität zu finden und zu entwickeln.

Familienwochenenden teilzunehmen?

Vor allem finanzielle Gründe. Denn einige Familien können sich die Teilnahme nicht leisten. In solchen Fällen übernehmen wir, nach Prüfung des Antrags, die Kosten. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert und versuchen, die Preise für unsere Angebote so tief wie nur möglich zu halten.

Deshalb sind wir dringend auf Spenden angewiesen. Sie ermöglichen es uns, Familien weiterhin zu unterstützen.

Was können Hörende von Gehörlosen lernen?

Die Hörenden entdecken einen anderen Blick auf die Welt, eine reiche Kultur und eine neue visuelle Sprache. Wir gehörlosen Menschen haben eine unsichtbare und unbekannte Behinderung. Wir können alles – ausser eben hören. Eine Welt, zu der wir voll Zugang haben, wäre etwas menschlicher. Das käme allen zugute. <

«

Dank Gebärdensprachkursen verstehe ich meine gehörlose Tochter besser – und sie mich.»

Steffi Zbären, Böckten

Ideen für sinnvolle Weihnachtsgeschenke > Erhältlich in unserem Online-Shop: www.gehörlosenbund.ch/shop

Stadt – Land – Hand Unterhaltsames und lehrreiches Familienspiel Wer kennt eine Gebärde zum Meer? Klar doch! Aber auch mit einer der aufgedeckten Handformen? Wer sie am schnellsten erkennt, gewinnt! Doch keine Angst, es gibt 30 verschiedene Kategorien – da bist du sicher einmal der Schnellste. Das spannende Familienspiel rund um Handformen und Gebärden eignet sich für 2 bis 25 Spieler von 5 bis 99 Jahren.

Preis: CHF 25.–

Mein Leben als Mime: Der Taube, der sich ins Rampenlicht wagte Eine ungewöhnliche Lebens-, Künstler- und Familiengeschichte In diesem neuen Buch erzählt Christoph Staerkle von seinem Leben und seiner 40-jährigen Karriere als Pantomime, Komiker und Improvisationskünstler ohne Worte. Er zählt zu den grossen Pantomimen der Gegenwart.

Seine Ausbildung erhielt er unter anderem bei Roy Bosier, Bernie Schürch, Andres Bossard, Christoph Marthaler, Samy Molcho und Jacques Lecoq.

Die Kunst des nichthörenden Mimen – Staerkle ist von Geburt an gehörlos – besticht durch ihre treffende Interpretation menschlicher Alltagssituationen und Verhaltensweisen. Aufgezeichnet von Johanna Krapf, 224 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und 12 Abbildungen.

Preis: CHF 29.90

Impressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Räffelstrasse 24, 8045 Zürich Verantwortlich: Peter Schläfli, T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.gehörlosenbund.ch Redaktion: Stefan Meier, Peter Schläfli Fotos: Stephan Engeler, Benjamin Hofer Gestaltung: www.designport.ch Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 60 000 Ex. in Deutsch und Französisch.

Spendenkonto: 80-26467-1