Dokumentation des Projekts
Zur Umsetzung meines Lehrprojektes habe ich mich für ein journalistisches Feature entschieden. Dazu inspiriert hat mich das kürzliche Ableben meiner Grossmutter Malaka, die im November 2023 verstorben ist. Ihre Lebensgeschichte ist ein Sinnbild für die Gewalt, welche Frauen in Ägypten bis heute widerfährt und dient als roter Faden für das Aufzeigen der strukturellen Probleme, mit denen Frauen in Ägypten konfrontiert sind.
Für das Feature habe ich ausführlich recherchiert und stütze mich auf Studien und Statistiken, die ein umfassendes Bild der Gewalt zeichnen, mit der Frauen in Ägypten konfrontiert sind. Besonders relevant sind Zahlen zu FGM (weibliche Genitalverstümmlung), sexuelle Gewalt, Kinderheirat und psychischen Erkrankungen als Folge von Gewalt. Weiter habe ich meine Mutter, die Tochter von Malaka, zu deren Leben befragt.
Die Geschichte baut auf Aussagen von Malaka und ihrer Tochter auf. Der Text wechselt zwischen den wesentlichen Ereignissen in Malakas Leben und dem Gesamtbild der Gewalt an Frauen in Ägypten . Ziel war es, die emotionale Seite ihrer Biografie aufzuzeigen und die Lesenden darin einzubinden. Es war mir wichtig, das Leid eines Individuums für die Lesenden verständlich zu machen, damit das Ausmass der Konsequenzen für Gewalt betroffene Frauen erkennbar wird. Nichtsdestotrotz habe ich versucht, Pausen in die Geschichte einfliessen zu lassen, um den Lesefluss durch die emotionale Schwere nicht zu unterbrechen. Momentaufnahmen aus Malakas Leben habe ich auch zeichnerisch festgehalten. Die Skizzen ergänzen die ebenfalls eingebundenen Fotografien aus Malakas Leben.
. Dieses Projekt liegt mir persönlich sehr am Herzen und ich habe eine grosse Leidenschaft dafür entwickelt. Meine Gefühle während der Umsetzung schwankten zwischen grossem Spass beim Schreiben und dem Layouten einerseits und tiefer Berührung vom Leben meiner Grossmutter andererseits. Aus diesem Grund ist dieses Lehrprojekt meiner Grossmutter, Malaka, gewidmet.
Geboren, geträumt, unterdrückt, zerbrochen.
Gebürtig heisst sie Bilkes Hamza. Doch schon früh verdient sie sich durch ihre herzliche, gütige Art den Spitznamen Malaka, also Engel, und wird bis an ihr Lebensende so genannt. Für die meisten in ihrem Umfeld ist sie tatsächlich ein Engel – ein Engel, dessen Flügel jedoch bluten mussten.
Malaka wird als eines von insgesamt elf Kindern geboren. Die Mutter, Saiada Abdullah, stammt aus Ägypten, ihr Vater, Hamza Amer, ist aus dem Jemen nach Ägypten eingewandert. Die Familie lebt in tiefer Armut. Als Tochter übernimmt Malaka schnell eine Verantwortungsrolle, passt auf ihre jüngeren Geschwister auf und macht den Haushalt. Doch die kleine Malaka träumt davon, eines Tages Schauspielerin zu werden. Nicht von ungefähr, denn sie erweist sich in der Schule als sehr talentiert in der Schauspielerei, tanzt, singt gut und weiss ganz genau, wie mit ihrem Charme umzugehen.
Sie ist eines von vielen Mädchen in Ägypten. Als Malaka ein Kind ist, leben ca. 14.5 Millionen Frauen im Land. Die 1950er und 60er Jahre sind eine spannende Zeit für die Frauen. Die Frauenbewegungen sind im Aufwind. 1956 erlangen sie durch die Bemühungen vieler Frauenrechtskämpferinnen das Stimmrecht. Schon zuvor hatten sie bemerkenswerte Errungenschaften erzielt, wie zum Beispiel gleiche Bezahlung und Zugang zu kostenloser Bildung. Alles neue Chancen, in die Malakas Generation als erste hineingeboren wird. Obwohl Ägypten damit vielen Ländern voraus ist und die Hoffnung auf Gleichheit so gross wie nie zuvor scheint, sehen die Schicksale der Individuen grösstenteils anders aus.
Genug geschnitten
Malaka ist mittlerweile acht Jahre alt und kehrt von der Schule zurück. Später wird sie erzählen, dass sie schon beim Ankommen zu Hause eine gewisse Anspannung verspürt. Obwohl alles gleich scheint wie sonst, merkt sie, dass die Erwachsenen etwas vorzubereiten scheinen. Als sie ins Wohnzimmer eintritt, sieht sie Nachbarsfrauen auf dem Sofa sitzen und eine weitere, streng aussehende Frau, die sie nicht kennt. Der Blick der Unbekannten durchbohrt den ihren und ein mulmiges Gefühl breitet sich in Malaka aus. Ihre Mutter, die nun neben ihr steht, streichelt ihr zärtlich über die Schulter. Ein unbekanntes Gefühl, diese Art der Zärtlichkeit, besonders als eines von elf Kindern. Malakas Mutter bringt sie in ihr Schlafzimmer und bittet sie aufs Bett, bevor sie den Raum wieder verlässt. Die strenge Frau aus dem Wohnzimmer, die man in Ägypten «Al Kabela» nennt, und die Nachbarsfrauen betreten den Raum. Malakas Kleider werden von der Hüfte nach unten ausgezogen und die «Al Kabela» holt eine Schere heraus. Erst später wird die achtjährige Malaka verstehen, dass das, was ihr in den nächsten Minuten widerfährt, ihre Genitalbeschneidung wird. Während die Nachbarinnen mit Mühe den Kinderkörper nach unten ins Bett drücken und ihn zu fixieren versuchen, erfährt Malaka einen kaum auszuhaltenden Schmerz. Sie schreit, tobt und findet mit letzter Kraft die Gelegenheit, der «Al Kabela» einen starken Fusstritt ins Gesicht zu verpassen. Sie windet sich aus den Armen der anderen und rennt aus dem Zimmer. Eine Blutspur folgt ihr zu ihrer Mutter. Es sind keine Worte nötig, um das pure Entsetzen, die Verwirrtheit und den Vertrauensbruch auf Malakas Gesicht für ihr Mutter verständlich zu machen. Diese erwidert die lautlose Kommunikation mit einem Gesichtsausdruck, der schwierig zu deuten ist. Aber die Scham über sich selbst kann Malaka klar erkennen. Die Beschneiderin rennt ins Zimmer, wo sich Mutter und Tochter befinden.
Sie will Malaka mitzerren, diese vergräbt sich aber in den Armen der Mutter. «Genug! Ihr habt genug geschnitten», schreit die Mutter und schliesst die Arme um ihr schwer verletztes Kind.
Die Frauen hatten tatsächlich genug geschnitten. Besser gesagt verletzt. Malaka wird niemals sexuelles Vergnügen empfinden können. Vor Ihrer Hochzeitsnacht wird sie von viel Blut im Intimbereich gewarnt und die Erinnerung an diesen Tag würde sie in einem Meer aus Angst ertränken. Des Weiteren wird sie ihr Leben lang mit schweren Blasenentzündungen zu kämpfen haben, die zum Teil beinahe tödlich ausgehen werden.
Die Weibliche Genitalverstümmelung (FGM), kurz für Female Genital Mutilation, ist ein weltweit praktiziertes rituelles Beschneidungsverfahren, bei dem Klitoris und Vulvalippen ohne medizinische Notwendigkeit teilweise oder vollständig entfernt werden. Besonders in Afrika ist dieses Vorgehen stark verbreitet. Die Weibliche Genitalverstümmelung ist eine Praxis, die in der Regel bei Mädchen im Alter von vier bis acht Jahren, meist ohne medizinische oder betäubende Massnahmen, durchgeführt wird. Der Ursprung dieser Praxis bleibt bis heute stark umstritten. Es wird jedoch vermutet, dass es sich um eine vorislamische und vorchristliche Tradition handelt, welche in Afrika entstanden ist. Die Begründungen der weiblichen Genitalverstümmelung sind sehr divers und abhängig vom Ort der Durchführung. Ein zentraler und Regionen übergreifender Aspekt ist mit grosser Sicherheit die Kontrolle über die weibliche Sexualität, die weitgehend als unkontrollierbar und unbändig gilt. Die Exzision der Klitoris führt in der Regel dazu, dass Frauen ein vermindertes sexuellen Lustempfinden verspüren. In den meisten Fällen, in denen während des Geschlechtsverkehrs überhaupt noch Empfindungen vorhanden sind, erleben beschnittene Frauen Schmerzen aufgrund der lebenslangen Verletzungen, die durch diese Praxis verursacht werden. Dazu spielt die «Reinheit» und Ästhetik des Genitalbereichs der Frauen eine weitere Rolle, welche ebenfalls durch die Beschneidung gewährleistet werden soll. Dieser letzte Aspekt wird oft mit dem Islam begründet, da ein verbreitetes Verständnis vorherrscht, der Prophet Mohammed habe die Genitalverstümmelung befürwortet. Doch die «Reinheit» der Frau als Anforderung und Pflicht ist nicht auf den Islam beschränkt.
Im christlichen Kontext repräsentiert Maria, die Mutter Jesu Christi, symbolisch die vollständige Unberührtheit und verkörpert die Reinheit der jungfräulichen Frau. Im ägyptischen Kontext kann die Praxis damit begründet werden, dass FGM auch unter der koptischen Bevölkerung ein altes und verbreitetes Vorgehen ist. Die Weibliche Genitalverstümmelung hat mehrere schwerwiegende Auswirkungen auf Frauen, darunter weitverbreitete direkte Folgen wie Verbluten, lebensbedrohliche Infektionen, lebenslange Schmerzen, Komplikationen bei Geburten und posttraumatische Störungen. Obwohl dieses Vorgehen in Ägypten seit 2008 gesetzlich verboten ist, sind nach wie vor 91% der Frauen von der Genitalbeschneidungen betroffen und FGM wird weiter praktiziert.
Malaka hat die Beschneidung überlebt. Sie macht weiter. Die frische Luft in der ägyptischen Bevölkerung füllt auch ihre Lungen. Sie spielt mit anderen Kindern in ihrem Alter auf der Strasse und versucht sich trotz beschränkten Möglichkeiten hübsch zu machen. Ihre ältere Schwester Afaf und sie streiten sich immer wieder um das einzige schöne Kleid, das sie besitzen. Wenn sich Malaka durchsetzt und es tragen darf, geht sie stolz durch das Quartier. Fühlt sich schön und selbstbewusst. Sie fühlt sich dem näher, was sie sein will. Ein Star. Wie die in den Filmen, die sie heimlich mit ihren Freundinnen in den Kinos schauen geht. Nicht selten schleicht sie sich aus dem Haus, trotz der Verachtung ihres Vaters Hamza gegenüber dem Kino. Er will nicht, dass seine Tochter moderne Filme sieht, in denen es um Liebesromanzen geht. Doch Malaka kann und will nicht widerstehen. Sie träumt von der Leinwand, von den glänzenden Lichtern der Kameras. Sie träumt davon, sich von der Masse abzuheben und frei zu sein.
Als sie etwa neun Jahre alt ist, spielt Malaka im Abschlusstheater ihrer Schule die Hauptrolle. Ein ägyptischer Filmregisseur sitzt im Publikum. Nach der Aufführung erkundet er sich nach Malaka. Wenige Tage später erscheint er im Haus ihrer Familie. Während er sich mit ihrem Vater unterhält, steht Malaka hinter der Tür und lauscht dem Gespräch. Der Regisseur versucht Hamza zu erklären, dass seine Tochter ein Ausnahmetalent sei. Er vergleicht sie mit der berühmtesten ägyptischen Kinderdarstellerin Fayrouz, die zu jener Zeit ein Superstar ist und auch später für ihre Rollen berühmt bleibt. Er versucht Hamza zu überreden, Malaka die Chance zu geben Schauspielerin und damit «die nächste Fayrouz» zu werden. Er wolle sie gross machen. Die Hoffnung in Malakas Brust wächst so schnell, wie sie auch wieder in sich zusammenfällt. Mit dem «Nein» ihres Vaters, bleibt ihr die Erfüllung ihres Traums verwehrt. Eine andere talentierte Mitschülerin hat mehr Glück. Nach dem der Regisseur Malakas Familie angefragt hatte, versuchte er es bei der Familie des anderen Mädchens. Sie, Safia El-Amri, wird durch das Angebot zu einer berühmten Schauspielerin im arabischen Raum und wird ihr Leben lang von ihrer Karriere leben können.
Malaka hört niemals auf, über die einmalige Chance nachzudenken. Ohne jemals schlecht über ihren Vater zu sprechen, lässt sie der Entscheid über ihr Schicksal nie ganz los.
Schönheit ist Gefahr
Sie ist elf Jahre alt, als ihr Vater ankündigt, dass sie jemenitische Gäste beherbergen werden. Hamza ist als Kontaktperson für Jemeniten bekannt in der Gegend. Er schaut zu ihnen. Und so kommen auch jetzt wieder zwei junge Männer aus dem Jemen ins Haus der Familie. Sie beginnen ein Studium an einer Mittelschule und brauchen als Übergangslösung eine Bleibe. Die ersten Tage verstreichen. Die jungen Männer sind dankbar für die Unterkunft. Doch für einen der beiden Studenten bleibt Malakas Schönheit nicht unbemerkt. Ein Mädchen mit ihrer Offenheit kennt er aus dem erzkonservativen Jemen nicht. Ein Verhängnis für Malaka.
Sie liegt eines Nachmittags allein auf ihrem Bett im Zimmer, das sie und ihre Geschwister sich teilen. Sie schläft tief und fest, als sie auf einmal einen Körper über sich spürt, und eine Männerstimme hört, die ihr immer wieder zu sagen versucht, ruhig zu bleiben. Wieder wird Malaka in das das selbe Bett gedrückt, wie drei Jahre zuvor.
Wieder kämpft sie mit all ihren Kräften. Trotz der Panik in ihr gelingt es Malaka, ihre Stärke beizubehalten. Erneut schafft sie es, sich aus den Klammern eines Angreifers zu befreien. Sie rennt raus zu ihrem Vater und erzählt unter Tränen, was gerade passiert ist. Er glaubt ihr und wirft die beiden Studenten aus dem Haus.
In Ägypten ist das Ausmass an sexuellen Belästigungen und Übergriffen sehr gross.
Während im Land oft den Frauen die Schuld dafür gegeben wird auf Grund ihrer Kleidung, Augenkontakten oder Lächeln, gibt es unterschiedliche Theorien, wieso das Problem gerade in Ägypten so besonders gross ist. Als häufige Gründe werden Langeweile der Männer, sexuelle Frustration und Beweis der eigenen Männlichkeit genannt.
Weitere Ursachen sind die mangelnde Intervention der Regierung, die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen und fehlende Bildung. Was unbestritten bleibt, ist der mangelnde Respekt vor der Selbstbestimmung von Frauen aufgrund ihres gesellschaftlichen und religiösen Status. Die Wahrscheinlichkeit eines sexuellen Übergriffs lässt sich nicht auf bestimmte Alltagssituationen eingrenzen.
Es ist nicht der letzte Fall eines versuchten sexuellen Übergriffs, den Malaka überstehen werden muss. Als sie 13 Jahre alt ist, versucht auch ihr Lehrer, sie zu vergewaltigen. Malaka scheint ein Talent dafür zu haben, sich aus den Situationen zu befreien. Doch Hamza, ihr Vater, sieht in ihrer unüberschaubaren Schönheit die Ursache für die Angriffe auf seine Tochter. Er fällt einen Entscheid, der Malakas Leben auf den Kopf stellen wird. In seinen Augen kann er sie am besten vor sexuellen Übergriffen schützen, indem er sie verheiratet. 13 Jahre ist schon zu dieser Zeit ein zu junges Alter für eine Eheschliessung. Zumindest rechtlich. Ihre Mutter fleht Hamza an, dies seiner Tochter nicht anzutun. Doch das Familienoberhaupt hat sein letztes Wort bereits gesprochen. Die Rechtslage in Ägypten steht Zwangs-und Kinderehen bis heute nicht im Weg. Zu viele Rechtslücken erlauben es den Familien, die Gesetze zu umgehen. Das macht auch Hamza.
Malakas Verlobter heisst Mohammed Manea. Er stammt aus dem Jemen und ist etwa 15 Jahre älter als Malaka. Obwohl er selbst als Waisenkind in tiefer Armut gelebt hatte, verschaffte er sich Zugang zu Bildung. Er hatte sich bereits einen Namen gemacht und arbeitet als jemenitischer Diplomat.
Zwar hat Malaka im Grunde Angst vor ihm, freut sich aber auf ihre Hochzeit. Sie versteht noch nicht wirklich, was dieses Bündnis für sie bedeuten wird, und denkt primär an die Geschenke, die Kleider und den Schmuck, die ihr versprochen werden.
Als der Tag der Vermählung anbricht, lächelt Malaka während der ganzen Zeremonie. Sie fühlt sich wie eine Prinzessin. Ihre Mutter weist sie immer wieder darauf hin, nicht so erfreut zu wirken.
Sie will nicht, dass die Leute denken mögen, ihre Tochter freue sich auf den Ehevollzug. Doch Malaka hat keine Ahnung, was sie erwartet. Die Zeremonie beginnt, und Mohammed Manea und Malaka Hamza werden zum Ehepaar. Kurz nach der Zeremonie erklären ihr ältere Mädchen, dass an jenem Abend noch etwas passieren würde, dass sie in ihrem Intimbereich bluten würde. Worum es sich genau handelt, verschweigen sie Malaka jedoch. Schlimme Erinnerungen kommen in Malaka hoch. Eine starke Anspannung verdrängt ihr Glück über die Geschenke, die sie erhalten hat.
Mohammed und Malaka sind jetzt allein in ihrem neuen Zuhause. Ihre Angst sieht man ihr an. Mohammed versteht. Er schenkt ihr Wein ein. Ein Glas nach dem anderen, während sie verkrampft auf dem Bett sitzt. Ihr Köper signalisiert klare Zeichen. Mohammed will ihr nicht weh tun. Obwohl er sie geheiratet hatte, sieht er jetzt das erste Mal ganz klar, wie jung das Mädchen vor ihm ist. Er entscheidet sich um. Er will warten, bis sie bereit ist, mit ihm zu schlafen. Über die nächsten Tage wird Mohammed aber schnell bemerken, dass dies nicht seine Entscheidung sein wird. Malakas Familie will den Beweis dafür sehen, dass ihre Tochter nun eine Frau ist und vorher noch nie Verkehr mit einem Mann hatte. Üblich ist es, ein weisses Tuch mit den Blutspuren des ersten Geschlechtsverkehrs vorzuweisen, um die bisherige Jungfräulichkeit festzustellen. Der nächste Abend wird genau gleich wie der vorgängige verlaufen. Wieder schenkt er ihr Wein ein, wieder wird Malakas Angst sie einnehmen und der Wein nicht die gewünschte Wirkung zeigen. Die Familie, insbesondere Malakas Mutter, macht jetzt immer mehr Druck.
Sie hört nicht auf zu fragen und beginnt seine Fähigkeiten als Mann in Frage zu stellen. Auch am dritten Abend wird es nicht zum Verkehr kommen. Dann, am vierten Tag, gibt er nach. Er schenkt Malaka wieder Wein ein. Und diesmal bringt er es hinter sich. Zu Malakas Überraschung war es gar nicht so schlimm, wie sie später erzählen wird. Doch seine wütende Art während des Akts verunsichert sie. Auch wenn sie es noch nicht weiss, gilt Mohammeds Wut nicht ihr. Am nächsten Tag übergibt er das blutbeschmierte Tuch nicht nur, sondern wirft es direkt ins Gesicht seiner Schwiegermutter, bevor er wutentbrannt davon stampft.
Der Versuch, wie bei Malaka auf weibliche Bedürfnisse einzugehen, ist bei Kinderehen und Zwangsehen eine Seltenheit. Sexuelle Frustration und die gesellschaftlichen Pflichten einer Ehefrau stehen in den häufigsten Fällen über den Bedürfnissen und dem Willen des Mädchens oder der Frau. Kinderehen können mehrheitlich mit Zwangsehen gleichgestellt werden, sind gerade unter sozial schwächeren Familien verbreitet. Die Heirat einer Tochter geht oft mit einem Preisgeld für die Familie einher und entlastet die Familie auch im finanziellen Unterhalt des Kindes. Noch heute ist mindestens jedes 20. Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 verheiratet oder bereits geschieden. Die Dunkelziffer wird mit grosser Sicherheit um einiges grösser sein. Seit 2008 ist es in Ägypten rechtlich verboten, unter 18 Jahren zu heiraten. Es war aber nicht nur in den 1950er Jahren einfach, das damalige Mindestalter zu umgehen. Auch heute sind Kinder- und Zwangsheiraten keine Seltenheit, schädigen unzählige Mädchen und Frauen langfristig. In den meisten Fällen haben sie unzureichende Bildung genossen, kennen ihre Rechte nicht und finden in den Ehemännern keinen Schutz vor Gewalt.
Malaka lernt ihren Mann immer besser kennen. Er ist anders als alle Menschen, die sie bisher kennengelernt hatte. Trägt verwirrende Einstellungen nach aussen. Er will beispielsweise keine Kinder. Die politische Situation in seinem Heimatland, dem Jemen, kann seiner Meinung nach, einem neuen Leben nicht gerecht werden. Er ist Atheist, ein Begriff, den Malaka noch nicht einmal kennt. Und er will, dass sie ihrer Bildung weiter nachgeht.
Das tut sie auch. Sie holt die Sekundarschule in Ägypten nach. Die Lehrpersonen und auch Mohammed merken, dass sie schnell im Denken und Lernen ist. Dann zieht das Paar zum ersten Mal nach Deutschland, wo Malaka die Möglichkeit nutzt, das Gymnasium durch ein Fernstudium nachzuholen. Nur für die Prüfungen muss sie jeweils zurück nach Ägypten reisen. Währenddessen übernachtet sie bei ihrer Familie, die immer sie wieder versucht daran zu erinnern, dass gute Ehefrauen Kinder kriegen. Der 17-Jährigen leuchten die Mahnungen ihrer Familie ein. Sie versucht Mohammeds Wunsch zu umgehen und will Mutter werden. Nur wenige Monate später wird Malaka schwanger. Mohammed insistiert auf eine Abtreibung. Auch wenn ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland zu dieser Zeit noch nicht legal ist, gelangt Mohammed schnell an eine medizinische Lösung für sein Problem. Malaka soll Pillen schlucken. Doch sie hat anderes im Sinne. Ohne sein Wissen, spült Malaka die Pillen die Toilette hinunter. So erwartet das Paar sein erstes Kind gegen den Willen Mohammeds. Mit Malakas kindlicher Perspektive auf das Muttersein freut sie sich auf die Aufgabe. Sie fühlt sich wichtiger, kann einer, in ihren Augen, göttlichen Aufgabe nachgehen. Sie spielt zum ersten Mal eine gesellschaftlich anerkannte Rolle. Mohammed hingegen ist wütend. Malaka gebärt in Ägypten bei ihrer Familie. Im selben Bett, in dem sie beschnitten wurde und im selben Bett in dem sie den Übergriff durch den jungen Jemeniten abwehren konnte. Ihr Sohn, Ossam, wird am 12. Mai 1963 ohne die Anwesenheit von Muhammed geboren.
Es geht nicht lange, bis Malaka merkt, dass sie die Aufgabe unterschätzt hatte. Sie ist überfordert und fühlt sich allein. Mohammed ist in New York und geht seinen diplomatischen Verpflichtungen nach. Er will, dass sie zu ihm reist. Sie lässt Ossam, nicht ohne Erleichterung, bei ihrer Mutter und jüngeren Schwester in Ägypten.
In New York findet Malaka eine neue Rolle. Sie wird zur perfekten Diplomatenfrau. Die Menschen dort nennen sie «The Egyptian Jacqueline Kennedy». Mit ihrer Schönheit verzaubert sie alle, die ihr begegnen. Sie ist pflichtbewusst, feinfühlig im Umgang und steht treu hinter ihrem Mann. Zusammen arbeiten sie für den Jemen, geniessen Privilegien und leben ihre Freiheiten. Ohne zu vergessen, dass sie eigentlich ein gemeinsames Kind in Ägypten haben, das auf sie wartet. Sie entschliessen sich zurückzureisen und wollen Ossam ein Geschwister schenken.
Am 19. März 1966 wird ihre Tochter Elham geboren. Sie ziehen erneut nach Deutschland. Malaka schaut zu ihr und Ossam, kocht, arbeitet mit Mohammed zusammen und lebt eine Perfektion des damaligen Rollenbildes. Er arbeitet mittlerweile mit wichtigen Politikern zusammen. Er begegnet dabei unter anderem auch dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt. Durch Mohammeds Arbeit wird Deutschland eines der ersten Länder, dass die neue Jemenitische Republik als solche anerkennt, nach dem die Monarchie gestürzt worden ist. Es sind schöne Zeiten. Im Jemen herrscht eine revolutionäre Stimmung. Die Hoffnung auf ein besseres System beflügelt das Paar.
Mohammed diktiert seine Texte und Malaka tippt sie auf der Schreibmaschine ab. Hauspartys für die Kollegen ihres Mannes gehören zum Alltag der Familie. Malaka kocht mindestens eine Woche im Voraus. Gleichzeitig kümmert sie sich um die Familie. Mohammed und sie sind ein unzertrennliches Paar geworden. Er liebt sie und sie ihn. Er ermutigt Malaka, Gedichte zu schreiben. Ihre Poesie zeigt das kreative Talent in Malaka auf. Voller Stolz liest Mohammed ihre Gedichte während den Hauspartys seinen Kollegen vor.
Nach fünf Jahren ziehen sie wieder nach Ägypten, später in den Jemen. Sie wird zur ersten Frau, die dort jemals Auto gefahren ist. Auch wird Malaka zur Pionierin durch das Tragen von Hosen, eine Seltenheit unter Frauen im Jemen. So gilt sie zum einen als Vorbild, doch zum anderen bleibt sie den Menschen nah. Malaka hilft allen, die weniger haben als sie. Die Armut, in der sie einst gelebt hat, vergisst sie nie. Sie bedankt sich bei allen Personen, die ihr einen Dienst erweisen. Sie hilft Frauen in Themenbereichen wie Aufklärung und kümmert sich regelmässig um Kranke. Das Paar ist bekannt für seine Güte. Doch besonders Malaka wird von vielen als Engel bezeichnet. Sie verkraftet das Leid anderer kaum. Die Blicke der zum Teil hungernden Kinder zerreissen sie innerlich. Die Grenze zwischen Helfen und Ausgenutztwerden wird schwammig. Mohammed merkt das. Doch für diese Seite liebt er sie. Was er nicht weiss: Malakas fehlende Fähigkeit sich abzugrenzen, ist der Anfang einer langen Leidensgeschichte. Mauern in ihr beginnen zu bröckeln.
Gerade im Jemen und in Ägypten, aber auch in anderen Staaten im Nahen Osten, leben die Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten in Parallelwelten. Während für finanziell schwächere Menschen der Luxus anderer erkennbar ist, laufen viele der Elite mit Scheuklappen durch den Alltag. Die finanziellen Unterschiede sind enorm. Das von Korruption geprägte autokratische Staatssystem begünstigt nur die Menschen, die Macht und Geld besitzen. Wer keine Privatschule besucht, hat später kaum Chancen, eine Arbeit zu finden, die ausreichend bezahlt wird. Obwohl alle Kinder in Ägypten ein Recht auf Schule haben, ist die Präsenz der Lehrpersonen in den Klassenzimmern eine Seltenheit. Ein Aufstieg aus der Armut ist daher kaum möglich.
1978 zieht die Familie nach Marokko. Doch zuerst macht die vierköpfige, junge Familie einen Zwischenstopp in Kairo. Bei der Verabschiedung der Familie erwähnt eine ältere Schwester Malakas, dass marokkanische Frauen bekannt für ihre Verführungskünste seien. Die Chance, dass Mohammed Malaka betrügen könnte, sei dementsprechend hoch. Kein seltenes Phänomen in Diplomaten-Kreisen, das weiss Malaka. Obwohl sie die Vorhersage bestreitet, hatte der Gedanken einen Samen in ihrem Kopf gepflanzt. Langsam, aber stetig wächst er, während die Monate in Marokko verstreichen. Ihre Sorgen werden immer grösser. Sie bemerkt die Schönheit seiner neuen Sekretärin, die ihm auf Schritt und Tritt auf ihren langen Beinen folgt. Die Worte ihrer Schwester hallen nach wie vor in Malakas Kopf.
Mohammed und sie fangen an sich zu streiten. Sie versucht zu kontrollieren, was nicht zu kontrollieren ist. Allein in Marokko wird ihr ihre Abhängigkeit von der Beziehung immer bewusster. Würde er sie verlassen, hätte sie nichts. Sie hätte keinen Anspruch auf die Kinder, keinen Anspruch auf Geld und ihr Zuhause. Sie wird paranoid. Versucht die Kinder für sich zu mobilisieren. Sie will, dass sie ihm sagen, er solle seine Frau nicht betrügen. Mohammed sagt daraufhin in einer von vielen Streitereien: «Du halluzinierst!». Täglich schaut sie in den Spiegel. Obwohl sie erst 33 Jahre alt ist, meint sie Falten in ihrem Gesicht zu erkennen. Die Angst, die Blüte ihres Lebens sei vorbei, überschwemmt sie. Sie will ihren Wert nicht verlieren. Den Wert, der Mohammed in ihren Augen nicht mehr sieht. Ein häufiger Gedanke in der letzten Zeit. Die Streitereien werden häufiger und lauter. Malakas Gedanken rattern und kreisen und die Vergangenheit holt sie ein. Die Ungerechtigkeiten, die Abhängigkeit, ihr Schmerz und der Anderer. Das Tempo der Gefühlswellen nimmt zu, Angst und Hilflosigkeit nehmen sie ein. Eine Dunkelheit legt sich über ihren Blick und verdrängt den Glanz aus ihren Augen.
Der Knick im Blumenstil
Malaka wacht eines Morgens auf und hört jemanden sprechen. Sie ist verwirrt, versteht erst nach einigen Momenten, dass die Laute aus ihrem Kopf erklingen. Panik erfüllt sie in den ersten paar Minuten. Sie drückt ein Kissen über ihre Ohren. Hofft, dass sie träumt. Die Stimme wird nicht leiser. Im Gegenteil, Malaka einwickelt ein Vertrauen in die Worte des Unbekannten. Sie glaubt, Gott zu erkennen, der zu ihr spricht. Sie hört die klare Ansage: «Engel, betet zu deinem Gott». In ihren späteren Erzählungen beschreibt sie ein plötzliches Urvertrauen. Sie meint in dem Moment zu wissen, dass sie nur die Anweisung zu befolgen hat. Sie steigt vom Bett, kniet auf den Teppich und betet. Später wird Malaka erzählen, dass sie durch das Gebet die Verbindung zu Gott wieder aufgenommen hat. Aber das eben dieses auch die Verbindung zu ihrem nicht gläubigen Mann getrennt habe. Sie entscheidet sich für die andere Seite und richtet Ihre Treue an Gott. Er habe ihren Wert erkannt und ihr ihre Macht und Selbstbestimmung endlich zurückgegeben. Für Malaka steht von nun an fest, dass sie von Anfang an die Auserwählte gewesen sei, der Star, der sie sein wollte, der auf niemanden Menschliches mehr angewiesen ist. Sie fühlt sich gelöst von ihrer Rolle als Frau an der Seite eines Mannes und glaubt von Gott gehört zu haben, dass sie Malaka, der Engel, ist.
Malaka wird später mit einer bipolaren Schizophrenie diagnostiziert. Ihre Wahnvorstellungen und Psychosen sind sehr ausgeprägt und gewinnen Überhand über die Familie. Die Ehe bröckelt. Nicht nur Malaka, sondern auch Mohammed und insbesondere die Kinder leiden.
Der Bruch von Malakas Psyche geht in der Masse unter. Forschungen zeigen, dass FGM eine direkte Auswirkung auf die psychische Gesundheit der Betroffenen hat. Eine Studie aus Deutschland deutet daraufhin, dass die weibliche Genitalverstümmelung ein erhöhtes Risiko vielerlei psychischer Krankheiten zur Folge haben kann.
Unter den Frauen und Mädchen, die nach der Genitalverstümmelung psychische Beschwerden aufwiesen, ist das posttraumatische Störungsbild (PTSD) am häufigsten verbreitet. 44 Prozent der untersuchten Frauen seien davon betroffen gewesen. Die Studie vergleicht diese Zahl mit früheren Erkenntnissen über die Verbreitung von PTSD bei Menschen, die frühkindlichen Missbrauch erlebt haben. Laut der Studie stimmen die Zahlen überein und liessen darauf schliessen, dass die Auswirkung von FGM ähnliche Folgen auf die Psyche des Menschens habe wie erlebter Kindesmissbrauch. Auch Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Schlafstörungen und ein vermindertes Selbstwertgefühl liessen sich klar von diesem traumatischen Brauch ableiten.
Eine ägyptische Forschung hat 2022 die allgemeinen psychischen Effekte von Gewalt gegen Frauen untersucht und zeigt ein klares Ergebnis auf: Jegliche Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt können die psychische Gesundheit der Betroffenen beeinflussen. Dies deckt sich mit Erkenntnissen anderer Forschungsprojekte, die aufgezeigt haben, dass allgemein traumatische Erfahrungen, insbesondere in der Kindheit erlebte Traumata, posttraumatische Störungen wie auch Schizophrenie hervorrufen, oder zumindest begünstigen können.
Malakas Halluzination und ihre Abspaltung in eine eigene Welt sind ein Schutz, der ihr das Gefühl von Selbstbestimmtheit schenkt. Die Krankheit und sie werden zu einer Person. Malaka will sich von Mohammed scheiden lassen. Er gibt ihrem Willen nach. 1980 trennt sich das Paar – es sollte aber nicht die letzte Trennung sein. In den Hochphasen der Psychosen sucht sie die Unabhängigkeit, will weg von ihrer Familie. Sie will frei sein und «ihrem Schicksal nachgehen können, das Gott ihr zuflüstere». Dann stabilisiert sich ihr Zustand aufs Neue und sie kehrt zurück zu Mohammed und den Kindern. Mindestens dreimal geht das so. Zwischenzeitlich zieht Malaka während einer ihrer Episoden zur Familie einer ihrer Brüder im Jemen. Die Phase, die sie bis zum Schluss als die schönste Zeit ihres Lebens beschreiben wird.
In diesem Zeitraum arbeitet sie als Sekretärin in einer Firma und beginnt ein Soziologiestudium an der Universität Sanaa. Das erste Mal in ihrem Leben lebt sie auf eigenem Fuss, arbeitet selbständig und kann frei über ihre eigene Zeit entscheiden. Obwohl sie über weit weniger finanzielle Ressourcen verfügt als die Jahre zuvor, nicht mehr von Bediensteten umgeben ist und unter minimalen Bedingungen lebt, empfindet sie ihre Freiheit als grössten Luxus. Stolz erfüllt ihre Brust, wenn sie mit ihrem selbstverdienten Geld Kleider kaufen geht. Sie ist frei, neugierig und lebt ihre Ungebundenheit. Eine über Jahrzehnte kleingehaltene Seite in ihr fängt an zu wachsen. Sie blüht auf, will nicht, dass sich andere in ihr Leben einmischen. Zum Missfallen ihres Bruders. Die neue emanzipierte Seite Malakas wirkt unkontrollierbar auf das konservative Umfeld. Aus seiner Sicht hatte sich ein neuer Krankheitsschub entwickelt. Die Frau sei wieder nicht mehr bei Sinnen. Die Familie ihres Buders bringt Malaka nach Ägypten und steckt sie in eine psychiatrische Anstalt. Ein Höllenhaus mitten in Kairo.
Zu dieser Zeit arbeiten ägyptische Einrichtungen unter anderem mit «Elektroschock-Therapien». Es ist nur einer von unzähligen Aufenthalten in psychiatrischen Institutionen. Und mit jeder Entlassung lässt Malaka ein Stück von ihr in der Klinik zurück. Ihr Zustand verschlechtert sich immer stärker.
Die Blüten lösen sich
Mohammed besucht sie in der Klinik. Ihr Leid ist nicht zu übersehen. Er will auf sie aufpassen, und so zieht sie zu ihm. Nach einiger Zeit kommt das Paar zum wiederholten Mal zusammen und der Teufelskreis beginnt von vorne. Bis sie 1996 eine weiter Episode erlebt. Sie fürchtet um die Sicherheit ihrer Tochter Elham und verdächtigt Mohammed, ihr etwas antun zu können. Im Anschluss zerschneidet sie alle Elektrokabel im Haus und zertrennt damit auch die letzte Verbindung zwischen ihr und Mohammed.
Er und sie können nicht mehr zusammenleben. 14 Jahre nach Ausbruch der Schizophrenie gewinnt die Krankheit. Er bleibt im Jemen, sie kehrt nach Ägypten zurück.
Anfangs der 2000er Jahre erlebt Malaka eine fast krankheitsfreie Zeit. Sie ist glücklich, bringt die Menschen mit ihrem Humor zum Lachen. Sie besucht ihre Kinder und Enkelinnen. Und dann nimmt sie eine weitere Psychose ein. Von nun an lebt sie die meiste Zeit zwischen Psychiatrien und ihrer jüngeren Schwester Amira. Ihr Sohn Ossam lebt in den vereinigten Staaten und ihre Tochter Elham in der Schweiz. Auch wenn sie die Kinder, so oft es geht, besuchen, zieht sich Malaka immer mehr in ihre Welt zurück. Ihre Episoden werden zu einem Dauerzustand. Doch wer sie besucht, kriegt neben paranoiden Warnungen und verwirrender Konversationen auch das schönste Lächeln geschenkt. Ihre Liebe fehlt zu keiner Minute, wenn man mit ihr spricht. Und wenn ihre Tochter oder ihre Enkelin ihre Hand halten, schaut sie ihnen tief in die Augen, grinst sie an und sagt: «Inti Nour Anaya. Inti ya Gamila», was übersetzt so viel heisst wie: «Du bist das Licht meiner Augen. Du Wunderschöne».
Malakas Erfahrungen und Liebe haben sie über ihr Leben hinweg veranlasst, viele andere von ihrem Leid zu verschonen. So hat sie beispielsweise dafür gesorgt, dass ihre 10 Jahre jüngere Schwester Amira nicht beschnitten wird. Dank Malaka ist sie auch die Einzige der Geschwister, die aus Liebe heiraten konnte. Und auch ihrer eigenen Tochter hat sie einen anderen Weg geebnet. Selbst wenn Elham das Leid durch Malakas Krankheit nicht erspart wird, so sorgt ihre Mutter doch dafür, dass sie niemals auf Grund ihres Geschlechts Gewalt erleben muss oder sonst eingeschränkt wird. Ein Glück, das den meisten ägyptischen Frauen nach wie vor verwehrt bleibt.
In Malakas Augen sieht man die Müdigkeit. Sie hat einige Schlachten in ihrem Leben gewonnen. So viele Angriffe abgewehrt wie möglich. Und doch hat sie den Krieg verloren. Die Menge an Schlägen, die sie in ihrem Leben auf Grund ihres Geschlechts einstecken musste, haben ihren Schaden angerichtet. Sie weiss, dass es keine Erholung davon gibt.
Dann, nach insgesamt 40 Jahren in ihrer eigenen Welt, wird Malaka im Alter von 79 Jahren schwer krank. Sie erlebt einen septischen Schock und kämpft ihren letzten Kampf. Am 15. November 2023 darf Malaka, der Engel, endlich ihre Flügel entfalten und sich wahrscheinlich zum ersten Mal ganz frei und unabhängig auf ihre letzte Reise begeben.
Autorin: Selma Knecht