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Kompetenzen überzeugte Pädagoge
Dass sich Castellio als Mitglied der neuen evangelischen Kirche verstand, hebt er auch an anderem Orte hervor.16 Für seine Zugehörigkeit zur Basler Kirche gibt es mehrere Belege; unter anderem die guten Beziehungen zu Simon Sulzer, dem Antistes der Basler Kirche,17 der ihn nicht nur gegen Vorwürfe Calvins verteidigte, sondern mehrfach seine Hand schützend über ihn hielt. Nicht ohne Grund wird Castellio ihn als Pate für eines seiner Kinder ausgewählt und ihm ein Exemplar seiner Verteidigungsschrift Defensio suarum translationum Bibliorum mit persönlicher Widmung geschenkt haben.18
3 „Maßloses Selbstvertrauen“ gegenüber Calvin. Der von seinen philologischen und theologischen Kompetenzen überzeugte Pädagoge
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Die Auseinandersetzung Castellios mit Calvin begann in Genf.19 Es ist daher sinnvoll, kurz auf Castellios dortige Tätigkeit und auf die Gründe einzugehen, die zu dem Bruch mit Calvin und zu Castellios Fortgang aus Genf geführt haben, zumal sie Licht auf Castellios Selbstverständnis werfen. Das Interessante dabei ist, dass wir uns bei diesem Versuch nicht auf Aussagen Castellios stützen können, sondern nur auf Aussagen Calvins; auf private Aussagen, die wir vor allem in seinem Briefwechsel mit Pierre Viret, dem Reformator von Lausanne, finden.20 Castellios
16 De haereticis non puniendis, 27: Nos quoque sumus ab orthodoxa ecclesia, in quam si grassaremur, in nos ipsos grassaremur. 17 Über ihn: Plath, „Simon Sulzer“, 43–48. 18 Sulzer schützt Castellio z. B. im Zusammenhang mit der Vandel-Affäre oder bei den Angriffen von Borrhaus (Plath, Der Fall Servet, 199; Calvin und Basel, 171) oder im Zusammenhang mit der Defensio suarum translationum Bibliorum, s. Guggisberg, Sebastian Castellio, 156 f.; Abb. 9; Veen, Die Freiheit, 196 f. 19 Vgl. dazu Guggisberg, Sebastian Castellio, 29–37; Veen, Die Freiheit, 44 ff. 20 Vgl. den Castellio betreffenden Briefwechsel in Anhang 1.
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einzige die Genfer Zeit betreffende Notiz besteht aus dem bereits erwähnten Zitat aus dem Zeugnis Calvins über ihn.21 Als Castellio im Juni 1541 Rektor der Genfer Schule (Collège de Rive) wurde, war er gerade 26 Jahre alt. Diese Aufgabe, zu der auch das Predigtamt in Vandœuvres vor den Toren Genfs gehörte, stellt in der Tat einen außergewöhnlichen Vertrauensbeweis Calvins für Castellio dar, den dieser mit großem pädagogischen Eifer rechtfertigte. Es scheint, dass Castellio in Genf seine pädagogische Begabung entdeckte und zum Pädagogen wurde. Scire est scire facere. Wenn man etwas weiß, muss man sein Wissen auch weitergeben,22 so hat er es einmal formuliert und damit die Aufgabe des Pädagogen treffend definiert. Dass er selbst ein begeisternder, angesehener Lehrer war, haben später einige seiner Studenten in Basel bezeugt. Sie lobten nicht nur seinen Fleiß und seine große Gelehrsamkeit, sondern auch seine Güte, Frömmigkeit und Menschlichkeit.23 Als Castellio 1563 starb, wurde sein Leichnam „auf den Schultern seiner Schüler, unter einem sehr zahlreichen Geleite“ im Kreuzgang des Basler Münsters beigesetzt. Polnische Studenten stifteten das Epitaph, auf welchem sie „die vielseitige Bildung und den unbescholtenen Lebenswandel […] des besten und tüchtigsten Lehrers“ priesen.24
In Genf war es Castellios besonderes Anliegen, seine Schüler nicht nur für die lateinische Sprache zu begeistern, sondern sie auch mit den Gestalten der Bibel vertraut zu machen und ihnen
21 Verteidigung 1558, 255 f. Das ganze Zeugnis ist gedruckt in CO 11, 674–676; Deutsch: Schwarz 1, 264–266; Anhang 1, 1.2. 22 Castellio, De haereticis an sint persequendi, 25: Nam scire est scire facere, et qui clementer agere nescit, de clementia nescit, […]. 23 Vgl. Guggisberg, Sebastian Castellio, 172 ff.; beachtenswert für die 50er Jahre sind die Zeugnisse der beiden niederländischen Studenten Hessel Aysma und Jan Utenhove. 24 Mähly, Sebastian Castellio, 79 f., Litwan, „Eine ‚Damnatio memoriae‛ im Kreuzgang des Basler Münsters“, 231–248, bes. 242 f.
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damit Vorbilder für das eigene christliche Leben zu geben. So verfasste er die Dialogi sacri (Heilige Dialoge), lateinische biblische Erzählungen in Dialogform mit moralisierender Tendenz. Sie wurden 1543 zuerst in Genf gedruckt und später in Basel in erweiterter Gestalt nachgedruckt. Bereits zu Castellios Lebzeiten erschienen über zwanzig Neuausgaben. Nach seinem Tod gab es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weitere Nachdrucke in ganz Europa, kein anderes seiner Werke fand eine solche Verbreitung.25 Außerdem wollte Castellio im Jahre 1542 eine französische Übersetzung des Neuen Testamentes herausgeben. Doch Calvin verweigerte die Druckerlaubnis, weil er Korrekturen für erforderlich hielt. Viret gegenüber sprach er von einigen „dummen Fehlern“. Er war jedoch dazu bereit, die Übersetzung durchzusehen und zu korrigieren. Aber das lehnte Castellio ab; er schlug stattdessen vor, er wolle zu Calvin kommen und ihm die Übersetzung vorlesen. Doch dazu war Calvin nicht bereit; denn er befürchtete, er müsse dann „zwei Stunden lang mit ihm über ein Wörtlein streiten.“26
Dies ist ein bemerkenswertes Dokument, denn es zeigt Castellio als einen selbstbewussten, von sich und seinen sprachlichen und theologischen Kompetenzen überzeugten jungen Mann: Nicht Calvin sollte, nein er selbst wollte bei der Übersetzung die Prioritäten setzen, zumindest aktiv an der Korrektur beteiligt sein, auf Augenhöhe mit dem Genfer Reformator verkehren. Das schien auch Calvin erkannt zu haben, da er Viret gegenüber äußerte: „Ich weiß, er ist davon überzeugt, dass ich
25 Dialogi Sacri, latinogallico, ad linguas moresque puerorum formandos […], Genf 1543; Dialogues sacrés. Dialogi sacri, 18 ff.; Guggisberg, Sebastian Castellio, 33 ff., 264 f.; van Veen, Die Freiheit, 44 ff. 26 CO 11, 439 (Calvin – Viret, 11. 9. 1542); Plath, Castellio, 14 f.; vgl. Anhang 1, 1.1.
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das Sagen haben will. Ob er das zu Recht oder zu Unrecht über mich denkt, darüber soll Gott urteilen.“27 Die dadurch eingetretene Entfremdung vertiefte sich noch, als Castellio, um sein Gehalt zu verbessern, ein Predigtamt anstrebte und das Schulamt aufgeben wollte. Bei der üblichen Befragung vor den Genfer Pastoren (Vénérable compagnie des Pasteurs) sprach er sich gegen Calvins Auslegung der Höllenfahrt Christi als einer Gewissensprüfung aus und leugnete auch den kanonischen Charakter des Hohelieds Salomos, das er nicht (wie Calvin) als Beispiel der Liebe Christi für seine Kirche, sondern als „schlüpfriges und obszönes Gedicht“ ansah, in welchem Salomo „seine schamlosen Liebesgeschichten“ beschrieben habe. Auf den Hinweis der Genfer Geistlichen, er könne doch die dauernde Übereinstimmung der Kirche über das Hohelied (also die Kanonizität und Schriftautorität) nicht einfach ablehnen, antwortete er, „er wolle keiner Sache zustimmen, die er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne.“28
Wir sehen: Während sich Calvin und die Genfer Geistlichen um die Einheit und die gemeinsame Lehrauffassung der im Aufbau befindlichen Genfer Kirche sorgten, beharrte Castellio auf seinem Recht, Aussagen der Bibel zu hinterfragen, zu bezweifeln und – nur seinem Gewissen folgend – darüber zu entscheiden.
Der endgültigen Bruch erfolgte, als Castellio auf einer Pfarrversammlung (Ende Mai 1544) Calvins Schriftauslegung über 2. Korinther 6,4 unterbrach und die Amtsführung und den Lebenswandel der Genfer Geistlichen heftig kritisierte, die in jeder Hinsicht das Gegenteil des Apostels Paulus darstellten.
27 CO 11, 691 (Calvin – Viret, 26. 3. 1544): Scio hoc illi esse persuasum me cupere eminere. Iure ne an iniuria hoc de me sentiat, Domini esto iudicium; Anhang 1, 1.5. 28 CO 11, 675 f. (Zeugnis für Castellio); s. Anhang 1, 1.2; vgl. Engammare, „Der ‚sensus litteralis‘ des Hohen Liedes“, 5–30; bes. 22 ff.
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