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4 Armer „Schneider“ für die Bibel
Diese Kritik war gewiss nicht unbegründet und unterstreicht Castellios Moralismus und seinen hohen Anspruch an das Predigtamt. Für Calvin war das „eine ganz blutrünstige Rede“, typisch für alle Häretiker.29 Trotzdem äußerte er sich damals noch – mit gewissen Einschränkungen – positiv über Castellios Begabung und Gelehrsamkeit und seinen „im Übrigen nicht schlechten Charakter“:
Ich schätze seine Begabung und Gelehrsamkeit. Nur wünschte ich, seine Begabung wäre mit einer besseren Urteilsfähigkeit verbunden, seine Gelehrsamkeit durch Einsicht geleitet und das maßlose Selbstvertrauen, das sich in der Überschätzung seiner doch nur mittelmäßigen Gelehrsamkeit zeigt, gäbe es nicht bei ihm.30
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4 Armer „Schneider“ für die Bibel
Seit 1545 lebte Castellio in Basel, als Korrektor des Druckers Johannes Oporin, in bitterer Armut und Not. Castellio bestätigt selbst seine Armut, und er machte dafür die Calvinisten verantwortlich:
Ich befand mich in den letzten Jahren, in denen ich, wie du sagst, ein Holzdieb gewesen bin, [so schrieb er 1558 an Calvin], in jener Armut, in die mich, wie alle wissen, das Gift eures Geredes versetzt hatte.31
Castellio bezieht sich hier auf die Genfer Angriffe, die nach der Toleranzkontroverse, seit 1556 (wegen der Prädestinationslehre und Castellios Bibelübersetzungen), gegen ihn geführt
29 CO 11, 720 f. (Calvin – Farel, 31. 5. 1544); Anhang 1, 1.6. 30 CO 11, 688, 690 f. (Calvin – Viret, Anfang März und 26. 3. 1544); Anhang 1, 1.4 und 1.5. 31 Verteidigung 1558, 249 f.
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wurden,32 und er verdeutlicht seine Armut durch eine Anekdote:33 Einige junge Franzosen, die in Straßburg lebten, hätten von den dortigen Calvinisten so viel Negatives über Castellio gehört, dass sie ihn für einen reichen, mächtigen Mann gehalten hätten; „reich an Gütern und Einfluss und gewissermaßen von einer Schar Leibwächtern umgeben, deren Nachstellungen niemand so leicht entgehen könne.“ Doch als sie dann nach Basel gekommen seien, hätten sie den realen Castellio erblickt: „ein Menschlein, ärmlich, verachtet, verzagt, still und tatenlos, ganz ohne Glanz und Ansehen“, und sie seien Castellios Freunde geworden. Mögen diese Attribute teilweise auch als humanistische Übertreibung zu verstehen sein (trotz des ernsten Hintergrundes, in welchem sie geschrieben wurden), so gibt es an Castellios Armut in Basel – nicht nur in den ersten Jahren bis zur Übernahme der Griechischprofessur, sondern auch darüber hinaus – wohl keinen Zweifel. Man muss sich nicht auf Karl Marx’ These berufen, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, wenn man annimmt, dass für Castellio das Bewusstsein seiner Armut, ebenso wie das seiner Herkunft aus einfachen Verhältnissen, die er mehrfach betonte,34 Teil seines Selbstverständnisses gewesen ist. Es ist wohl kein Zufall, dass sich der Ruf von Castellios Armut noch Jahrzehnte nach seinem Tod gehalten und Michel de Montaigne dazu veranlasst hat, Castellios Lebensverhältnisse in Basel als die „große Schande unsres Jahrhunderts“ zu bezeichnen.35
32 Vgl. Guggisberg, Sebastian Castellio, 153–158; 162 ff., Plath, Castellio, 52–62. 33 Verteidigung 1558, 272 f. 34 Vorwort an Eduard VI., 297: „der ich aus einfachsten Verhältnissen stamme“; Verteidigungsschrift 1563, 219: „Ich aber bin ein geringer, einfacher Mensch, aber auch die geringen nimmt Gott auf […].“ 35 Kaegi, „Castellio und die Anfänge der Toleranz“, (Teuteberg), 166; (Litwan), 15.
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