CHRISTIAN JOST – Eine Einführung zu den Bühnenwerken | A Guide to the Stage Works

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Christian Jost

Eine Einführung zu den Bühnenwerken · A Guide to the Stage Works

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Einführung / introduction Wege ins Innere. Der Komponist Christian Jost 4 Journeys into the Interior. The composer Christian Jost 7 Werke / Works Phoenix resurrexit 10 Vipern 13 Angst 17 Die arabische Nacht 23 Hamlet 28 Mikropolis 32 Rumor 36 Heart Sutra 40 Lover 44 Rote Laterne 48 Dichterliebe 52 Egmont 57 Chronologie / Chronology 62 hinweise / remarks, international Contacts, impressum / imprint 67
inhaLt / ContEnts

Wege ins innere

Der Komponist Christian Jost

Christian Jost (geboren 1963) ist ein musikalischer Weltbürger. Die westliche Tradition ist sein Zuhause, aber seine Musik öffnet sich auch außereuropäischen Formen. Dass er sowohl in einer der Hochburgen der Neuen Musik in Köln studiert hat, dann aber nach Amerika an das San Francisco Conservatory of Music ging, ist bereits ein Hinweis zum Verständnis seiner Werke. Jost hat sich schon früh mit amerikanischer Musik, mit Minimal Music, mit Filmmusik und vor allem mit Jazz beschäftigt. Für das „Musik-Tanz-Theater“ Lover (UA 2014 Berlin, Kraftwerk) kombinierte der Komponist abendländische Vokalpolyphonie mit traditionellen Klängen asiatischer Trommeln und Gongs.

Eine besondere Rolle spielt die chinesische Kultur in seinen Werken. Die Oper Rote Laterne (UA 2015, Opernhaus Zürich) basiert auf dem Roman „Wives and Concubines“ des Schriftstellers Su Tong. Mit der Kammeroper Heart Sutra (UA 2013 Taipei, National Concert Hall) vertonte er die gleichnamige Kurzgeschichte der chinesischen Schriftstellerin Eileen Chang. Durch das Wirken als Komponist und Dirigent, seine gewachsenen Beziehungen im Kulturbetrieb und durch die rasante mediale Verbreitung seiner Konzerte ist Christian Jost zu einer festen Größe im chinesischen Klassikmarkt geworden.

Jost wuchs in einer Zeit auf, in der die sogenannte Ernste Musik stärker ideologisiert wurde als heute. Die Generation um Pierre Boulez, dem „heiligen Geist“ der Avantgarde, befand sich auf einem späten Höhepunkt ihres Einflusses. Josts Bekenntnis zum Erzählerischen in der Musik, zum Wohlklang und zum direkten Ton entspringt dem Bedürfnis, sich von jeglichen ideologischen Zwängen zu befreien. Entscheidend für seine Kompositionsweise sind aber nicht die musikalischen Vorbilder oder Gegenpositionen, sondern die Entwicklung einer eigenen Sprache. Jost gebraucht dafür den Begriff

des Dritten Wegs, eine postmoderne Kompositionstechnik, die im Jazz als Modern Creative bezeichnet wird: „Für mich war es von Anfang an das Ziel, den Dritten Weg zu gehen. Nicht Donaueschingen, nicht die tonalen Amerikaner, nicht Boulez oder Stockhausen und auch nicht Reimann oder Henze. Der dritte Weg bestand darin, aus der Verbindung von Ligetis Atmosphères und Bitches Brew von Miles Davis eine eigenständige kompositorische Form zu etablieren. Nicht hier ein bisschen Jazz, da ein bisschen Klassik und hier ein bisschen musikalische Avantgarde, sondern eine Musik, die der Hörerin und dem Hörer das Gefühl der strukturierten Improvisation vermittelt.“

Gegenwelten

Christian Jost verwendet die musikalischen Errungenschaften der Neuen Musik, vermischt sie mit scheinbar gegensätzlichen musikalischen Elementen und bringt beides in eine transparente Struktur. Obwohl die Musik notiert ist, bekommt das Publikum das Gefühl, sie entstehe frei und spielerisch aus dem Moment heraus.

Der Komponist arbeitet ohne Particell, notiert musikalische Ideen auf einem Notenblock und schreibt dann die Stimmen in den Computer. Jost komponiert nach eigenen Worten „direkt am Klang“. Seine Musik klingt voll. Sein Ideal von Komposition besteht darin, organisch zu sein. Manche Phrase entwickelt sich so, wie sich ein Farn entrollt. Josts Musik wächst oft aus kleinen Zellen, sie wuchert, sie fließt, sie pulsiert.

Sein Opernschaffen ist untrennbar mit seiner Frau, der Mezzosopranistin Stella Doufexis, verbunden, die im Dezember 2015 mit 47 Jahren verstarb. Für sie komponierte er die Titelpartie seiner Oper Hamlet (UA 2009, Komische

Oper Berlin). Seine Kenntnis der Stimme und der Bedürfnisse des klassischen Opernsängers haben sich durch den täglichen Kontakt mit der Sängerpraxis immer weiter ausgebildet.

Josts Inspirationsquellen für das Musiktheater sind Romane, Filme, Theaterstücke und moderne Kunst. Seine Opern sind voller Atmosphäre und halten die Spannung zwischen realer, gegenwärtiger Geschichte und ihrer mythischen, oft surrealistischen Überhöhung. Immer gibt es etwas, das den Realismus der Handlung unterläuft.

Das Erschaffen neuer Handlungsräume hängt eng mit der Kompositionsweise des Komponisten zusammen. Deutlich wird dies in seiner Choroper Angst (UA 2006, Ultraschall Berlin –Festival für neue Musik). Die Verwendung von Friedrich Hölderlin-Versen und der Untertitel „5 Pforten einer Reise in das Innere der Angst“ machen deutlich, dass es nicht um das bloße Nacherzählen der Geschichte des Bergsteigers geht, der seinen Kletter-Partner vom Sicherungsseil abschneiden muss, um sein eigenes Leben zu retten. Den verschneiten Bergen ausgeliefert, so scheint es, wird der Körper klein und die Innenwelt breitet sich aus: Der fünfte Satz von Angst besteht aus einem 64-stimmigen a cappella-Satz. Er führt in die weitverzweigten Nervenbahnen des Protagonisten, in denen vielfältige Stimmen seine Angst, seine Schuldgefühle, aber auch seinen Überlebenswillen zum Ausdruck bringen.

In einem Interview zu seiner Oper Hamlet, die genauso mit inneren (Chor-)Stimmen arbeitet, sagte Jost: „Ich glaube nicht, dass unser Bewusstsein chronologisch funktioniert. Wir nehmen die Geschehnisse, in die wir verstrickt sind, nicht als geordnetes Nacheinander von Vorfällen wahr, sondern erst im Nachhinein können wir aus den Mosaikteilen unseres Erlebens ein Ganzes konstruieren. Und das versuche ich, zur Grundlage der Struktur meines Stücks zu machen. Ich will der Darstellung zusätzliche Ebenen geben, die einen Hauch des Unerklärlichen einbringen.“

Mehrere Werke von Christian Jost lassen sich sowohl im Konzertsaal als auch auf der Opernbühne aufführen. Hierzu zählen die fragile eggshell mind. an epic story in 3 parts (UA 1989, San Francisco), Phoenix resurrexit. Odyssee in vier Teilen (UA 2001, Kamp-Bornhofen, Pilgerhalle) sowie die erwähnten Mischformen Lover (UA 2014, Kraftwerk Berlin) und Angst. Auch Dichterliebe (UA 2017, Konzerthaus Berlin) nach Robert Schumanns berühmtem Liederzyklus wurde bereits an verschiedenen Opernhäusern in Musiktheater verwandelt.

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© Joe Quiao

Journeys into the interior

The composer Christian Jost

Christian Jost (born 1963) is a citizen of the world. He is at home within Western traditions, but his music is also open to non-European forms. The fact that he studied in one of the strongholds of contemporary music in Cologne and then immediately continued his studies at the San Francisco Conservatory of Music in the USA is a key to understanding his music. Jost began to develop an interest in American music, minimalism, film music, and, first and foremost, jazz at an early age. In his ‘music dance theatre’ work Lover (WP 2014 Berlin, Kraftwerk), the composer combined Western vocal polyphony with the traditional sounds of Asian drums and gongs.

Chinese culture plays a prominent role in Jost’s works. The opera Rote Laterne (WP 2015, Opernhaus Zürich) is based on the novel ‘Wives and Concubines’ written by Su Tong, and the composer’s chamber opera Heart Sutra (WP 2013 Taipei, National Concert Hall) is an operatic adaptation of the eponymous short story by the Chinese author Eileen Chang. Christian Jost has become an established figure in the Chinese classical music scene on account of his flourishing relationships within cultural circles and the rapid proliferation of his works through media channels.

Jost grew up in a period in which so-called ‘serious music’ was ideologised to a greater degree than is the case today. The generation identifying with Pierre Boulez, the ‘holy spirit’ of the avant-garde, found themselves at the pinnacle of its influence. Christian Jost’s commitment to narrative qualities in music, sonority and tonal clarity has been shaped by his desire to liberate himself from any form of ideological constraint. His compositional method is however not so much dominated by musical models or counter-positions, but primarily through the

development of his own individual language. The composer describes this method as the ‘third way’, a post-modern technique which is known as ‘modern creative’ in jazz: ‘Right from the start, my objective was to follow the third way. Not Donaueschingen, not the tonal Americans, not Boulez or Stockhausen and also not Reimann or Henze. The third way entailed the establishment of a new independent form of composition uniting elements of Ligeti’s Atmosphères with those of Bitches Brew by Miles Davis. This was not merely a bit of jazz here and a bit of classical music there, alternating with a bit of musical avant-garde, but music which communicates the feeling of structuralised improvisation to listeners, focused on the freedom of jazz paired with classical structure.’

Counterworlds

Jost’s masterly amalgamation of contemporary music techniques with seemingly divergent musical elements, brings both components into a clear, transparent structure. Although the music is notated, listeners have the feeling that it is being created spontaneously on the spur of the moment. This technique of calculated immediacy is what generates the unique allure of his compositions.

The composer will jot down a few musical ideas in manuscript and then move immediately to full score, notating all the individual parts. He describes this technique as working ‘directly on the sound’. His music is rich in instrumental color and his preferred method of composition is to work organically. Some of his musical phrases develop in the manner of a fern leaf unfurling and his music frequently germinates from small cells, running rampant, flowing and pulsating.

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Jost’s operatic compositions are irrevocably linked to his wife, the mezzo-soprano Stella Doufexis, who died at the age of 47 in December 2015. He created the title role of his opera Hamlet (WP 2009, Komische Oper Berlin) especially for her. His knowledge of the voice and the requirements of classical opera singers have been continuously honed through daily contact with vocal practice.

Jost’s sources of inspiration for his music theatre works include novels, films, stage dramas and modern art. His operas are highly atmospheric and maintain the tension between a real and modern story and its mythical and frequently surrealist exaltation. At the same time, there is always an element which undermines the realism of the plots.

The creation of new types of plot interaction is closely linked to his method of composition. This becomes clear in his choral oratorio Angst (WP 2006, Ultraschall Berlin – Festival für neue Musik). The composer’s use of verses by Friedrich Hölderlin and the subtitle ‘Five gateways of a journey into the interior of angst’ make it clear that this work is not merely a retelling of the anguished mental calculation a mountain climber must make when forced to cut through the rope linking him to his climbing partner in order to save his own life. Once exposed to the snow-covered mountains, it appears that one’s own physical being pales into insignificance and interior thoughts and emotions push themselves to the fore. The fifth section of Angst consists of a 64-voice a cappella movement literally submerging itself in the extensive ramifications of the protagonist’s neural pathways in which multiple voices express his anxiety, feelings of guilt and also his will to survive.

In an interview on Jost’s opera Hamlet which also utilises internal (choral) voices, the composer stated: ‘I don’t believe that our consciousness functions chronologically. We do not perceive events we are involved in as an orderly sequence of incidents and are only able to construct an overall view from the individual elements of our experience in retrospect. I attempt to use this notion of multi-level perception as a foundation for my composition. My aim is to provide a representation of the multiple levels of our consciousness in order to hint at the inexplicable.’

A number of Christian Jost’s works can be performed equally well in the concert hall or on the opera stage. These compositions include fragile eggshell mind. an epic story in 3 parts (WP 1989, San Francisco), Phoenix resurrexit. Odyssee in vier Teilen (WP 2001, Kamp-Bornhofen, Pilgerhalle), the music-dance theatre work Lover (WP 2014, Kraftwerk Berlin) and the previously mentioned oratorio Angst. The composition Dichterliebe recomposed (WP 2017, Konzerthaus Berlin) based on Robert Schumann‘s well-known song cycle was transformed into music theatre at several opera houses.

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© Kartal Karadegik

Phoenix resurrexit

HANDLUNG

Phoenix resurrexit ist ein großes, oratoriumhaftes Werk für Orchester, Chor, Sopranistin und Sprecher, bei dem der Komponist die Weite der Schöpfung neben die Enge der Raumkapsel, die Natur neben die moderne Technik, Transzendenz neben Konkretion stellt. Das Werk beginnt mit den Worten des Sprechers wie ein Schöpfungsmythos, der sich als authentischer Bericht aus einer startenden Rakete entpuppt, die in die Nacht, in die Einsamkeit des Weltalls, in die Sphärenklänge der Sterne entschwindet und am Ende unter Hochdruck auf die Erde zurückkehrt. Das Publikum begegnet dazwischen der Schöpfung aus der Sicht von Astronauten.

SYNOPSIS

Phoenix resurrexit is a large-scale work, similar to an oratorio, scored for orchestra, choir, soprano and narrator in which the composer presents and contrasts the expanse of creation with the confines of the space capsule, nature with modern technology and transcendency with concretion. The composition commences with the words of the narrator almost in the tone of a creation myth, but actually reveals itself to be an authentic commentary during the launch of a rocket which disappears in the night into the solitude of the universe and the ethereal sound of the stars, ultimately returning to earth under the high density of the atmosphere. During the progress of the work, the audience encounters creation from the view of astronauts.

KOMMENTAR

Seit seiner Kindheit war für Christian Jost die Raumfahrt ein Faszinosum. „Mit meiner Mutter erlebte ich 1969 siebenjährig die Mondladung vom heimeligen Wohnzimmer aus. Beim Eintauchen der „Apollo 11“-Kapsel in den Pazifischen Ozean stand mein Entschluss fest: Ich wollte Astronaut werden.“ Als Komponist und Klangerzähler ist Jost seither oft auf die Raumfahrt zurückgekommen – oft gepaart mit dem Motiv der beschwerlichen Reise, der Odyssee. Während seine späteren Werke zügig von der Hand gingen, war Phoenix resurrexit auch in der Entstehungsgeschichte eine Odyssee und dauerte vier Jahre voller Höhen und Tiefen im kreativen Schaffensprozess. „So wurde der Titel zum kompositorischen Programm aus wiederkehrender Zerstörung, Schöpfung und Erneuerung, mit einer einzigen Konstante: Nichts hätte mich davon abbringen können, den Phoenix zu schreiben. Im Laufe der vier Jahre entrückte das Stück in weitere Ferne als das Sternbild des Pegasus, um dann wieder Mondesnah greifbar zu sein, um sich am Ende als Erfüllung eines Kindheitstraumes zu entpuppen.“

COMMENTARY

Christian Jost has held a lifelong fascination for space travel. ‘I experienced the moon landing in 1969 at the age of seven with my mother in our living room. When I saw the ‘Apollo 11’-capsule touching down on the Pacific Ocean, my decision had already been made: I wanted to become an astronaut.’ It is therefore not mere serendipity that the composer and tonal narrator Jost has repeatedly returned to the theme of space travel – often paired with the motif of a difficult journey, an odyssey. While many of his later works were created effortlessly, Phoenix resurrexit itself became an odyssey throughout the duration of its composition, an unceasing creative process full of ups and downs over a period of four years. ‘The title became programmatic for the composition: recurring destruction, creation and renewal with a single constant: nothing could have prevented me from writing Phoenix Over the course of these four years, the piece receded into the distant background as the constellation of Pegasus, only then to appear almost as tangible as the moon. Ultimately, it revealed itself as the fulfilment of a childhood dream.’

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Christian Jost stellte die Textvorlage aus verschiedenen Interviews und Reiseberichten großer Astro- und Kosmonauten zusammen, wie zum Beispiel von John Glenn Jr. (USA), Aleksandr Wolkow (UdSSR), Dumitru Prunariu (Rumänien), James Irving (USA), Neil Amstrong (USA, Apollo 11, Mondlandung, 1969) und von Juri Gagarin (UdSSR, Wostok 1, 1961). Außerdem verwendete er Texte aus der Bibel, Ovids Metamorphosen, Hildegard von Bingens, Mythische Texte der Gottesordnung sowie Texte von Conrad Ferdinand Meyer, Joseph Conrad, Richard Rhodes und Passagen aus dem Phoenixmythos des Ägyptischen Totenbuchs. „Dem Urgedanke von Schöpfung folgend, diesem permanent stattfindenden Zustand, zeitgleicher Kreation und Zerstörung von Leben, habe ich eine entsprechende Handlung geschaffen, die ich als Odyssee in vier Teilen bezeichnet habe. Aufgabe des Sprechers ist es, diese vierteilige Odyssee verinnerlicht zu tragen und zu verdeutlichen. Die übergeordnete Großform besteht aus einer Exposition, einem Adagio, einem Scherzo und einem apotheotischen Finale. Hierbei erklingen die jeweiligen musikalischen Bausteine, aus denen das ganze Netz gewebt ist, in ständig veränderten Zusammenhängen neu.“

Christian Jost compiled the text from a variety of interviews and reports by renowned astronauts and cosmonauts, including John Glenn Jr. (USA), Aleksandr Volkov (USSR), Dumitru Prunariu (Romania), James Irving (USA), Neil Armstrong (USA, Apollo 11, moon landing, 1969) and Juri Gagarin (USSR Vostok 1, 1961). These were augmented by texts from the Bible, Ovid’s Metamorphoses, Hildegard of Bingen’s Mythical Texts of the Divine Order, texts by Conrad Ferdinand Meyer, Joseph Conrad and Richard Rhodes and passages from the ‘Phoenix myth’ of the Egyptian Book of the Dead. ‘In adherence to the original concept of creation – this permanently occurring state of simultaneous creation and destruction of life – I created a corresponding plot which I termed as an Odyssey in four parts. The narrator’s role is to relate, illuminate and internalise this four-part odyssey. The overarching large-scale form consists of an exposition, an Adagio, a Scherzo and an apotheistic final movement. The woven network of sound in this composition reveals individual musical elements in a constant state of flux within everchanging new contexts.’

WERKINFORMATIONEN / FACTS

Phoenix resurrexit

Odyssee in vier Teilen (2001)

Textzusammenstellung von Christian Jost und Oliver Buslau für Sprecher, Sopran, Chor und Orchester (dt.)

orchester / orchestra: 1 (auch Altfl. und Picc.) · 0 · 1 (auch Bassklar. und Es-Klar.) · 0

S. (Vibr. · Marimba · Röhrengl. · Plattengl. · Tamt. · gr. Tr. · Drum Set) (6 Spieler) - Cel. · Hfe. · Klav. - Str.

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 31. August 2001 Kamp-Bornhofen, Pilgerhalle (D) Mittelrhein Musik

Momente 2001 · Sprecher / narrator: Klaus Maria Brandauer · Sopran / Soprano: Christiane Oelze · Dirigent / Conductor: Shao-Chia Lü · Staatsorchester Rheinische Philharmonie · Deutscher Kammerchor

Weitere Produktionen / Further productions: 24. Aug 2003 Weimar, ccn weimarhalle (D) · Sprecher / recitation: Daniel Morgenroth · Dirigent / Conductor: Jac van Steen · Staatskapelle Weimar · Chor des Deutschen Nationaltheaters Weimar

1. Juni 2010 Dortmund, Opernhaus (D) · Sprecher / narrator: Christian Jost · Dirigent / Conductor: Jac van Steen · Inszenierung / Staging: Peter de Nuyl

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Vipern Deutsche Oper am Rhein 2005 ©
Eduard Straub

Vipern

HANDLUNG

„Ort der Handlung“, so die Regieanweisung, „ist ein Schloss in der Nähe von Valencia im 17. Jahrhundert oder an irgendeinem anderen Ort zu einer anderen Zeit.“ In den unteren Gemächern ist ein Tollhaus untergebracht. Der Besitzer des Schlosses, Vermandero, will seine Tochter mit ihrem Verlobten Alonzo de Piracquo verheiraten. Doch Beatrice liebt in Wahrheit Alsemero, der ihre Leidenschaft erwidert. Sie bittet ihren Vater, die Hochzeit um drei Tage aufzuschieben und beauftragt heimlich ihren Diener de Flores, den ungeliebten Bräutigam zu töten. Nach dem Mord lässt sich de Flores nicht wie geplant mit Geld bezahlen, sondern begehrt seine schöne Auftraggeberin selbst und nimmt sie schließlich gewaltsam. Der ahnungslose Alsemero hat inzwischen das Vertrauen Vermanderos gewonnen und soll nach dem mysteriösen Verschwinden des ersten Brautwerbers die Tochter des Hauses heiraten. Nun birgt die ursprünglich herbeigesehnte Hochzeitsnacht zwischen Beatrice und Alsemero eine neue Gefahr: Beatrice ist keine Jungfrau mehr. Um Alsemero dies zu verheimlichen, lässt sich die Braut im Bett von ihrer unberührten Zofe Diaphanta vertreten. Weil die Dienerin aber ebenfalls in Alsemero verliebt ist und nur zu gern mit ihm ihre Begierden stillt, stirbt sie von Beatrices Hand. Inzwischen werden die Stimmen der Insassen des Tollhauses immer lauter. Ein traumatisierter Diener verrät Alsemero, welche Schlange er mit Beatrice zu heiraten gedenkt. Von Alsemero zur Rede gestellt, enthüllt Beatrice ihre Abhängigkeit von de Flores und ersticht auch den Diener.

SYNOPSIS

According to the stage directions, ‘the location of the drama is a castle in the vicinity of Valencia in the 17th century or another place in a different era.’ A madhouse is housed in the lower chambers of the castle. The owner of the castle, Vermandero, intends to give his daughter Beatrice in marriage to her fiancé Alonzo de Piracquo, but Beatrice has fallen passionately in love with Alsemero who reciprocates her passion. She asks her father to postpone the wedding for three days and secretly orders her servant de Flores to murder her unloved bridegroom. After the murder however, de Flores is no longer interested in a financial reward and instead desires his beautiful client for himself, ultimately raping her. In the meantime, the unsuspecting Alsemero has gained the trust of Vermandero and is commanded to marry the daughter of the house after the mysterious disappearance of the first suitor. Now the originally much yearned for wedding night harbours a new danger as Beatrice is no longer a virgin. In order to conceal this from Alsemero, the bride orders her virgin maid, Diaphanta, to replace her in the marriage bed. Since the maid is also in love with Alsemero, she is all too happy to satisfy her desires for him, but is then killed by Beatrice. In the meantime, the voices of the madhouse inmates become increasingly louder. A traumatised servant informs Alsemero of the duplicity of his intended bride. When confronted by Alsemero, Beatrice confesses her dependency on de Flores and also stabs the servant to death.

KOMMENTAR

Vipern ist Christian Josts erste großformatige Handlungsoper. Der Komponist hatte sich schon länger mit einem literarischen Opernstoff beschäftigt. Bei seinen Recherchen stieß

COMMENTARY

Vipern was Christian Jost’s first large-scale plot opera. The composer had previously long toyed with the idea of a literary storyline and during his research came across the drama The Changeling

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er auf das 1622 in London uraufgeführte Theaterstück The Changeling [Der Wechselbalg]. Die Tragikomödie von Thomas Middleton und William Rowley ist ein Zeugnis der blühenden Theaterkultur Englands zur Shakespeare-Zeit. Die entscheidenden Handlungsschritte des Dramas – Anstiftung zum Mord, Erpressung durch den Mörder, Austausch der Braut und abschließende Blutrache – haben Jost und sein Co-Autor Tim Coleman übernommen. Die erste Fassung entstand zunächst auf Englisch und wurde später von Rainer G. Schmidt ins Deutsche übertragen. Jost brachte sich aktiv in die Textvorlage ein: „Bei meiner Art der Textaneignung, die später den Duktus der Phrasierung und den Atem der Musik bestimmen wird, lässt es sich gar nicht vermeiden, dass man den Text nicht umformt, neugestaltet und in einen Rhythmus bringt“, sagte er in einem Interview. Der Titel des Originals Der Wechselbalg bezog sich auf den hässlichen Diener de Flores. Mit Vipern verwendet Jost einen atmosphärischen Titel, der für die Doppelzüngigkeit aller Figuren und ihre tödlichen Angriffe steht. Die Gewalt im Stück ist erotisch aufgeladen. De Flores wird zum Mörder, weil er seine Herrin begehrt. Beatrice wehrt sich gegen seine Erpressung, aber am Ende scheint er ihre geheimsten Wünsche zu erfüllen: Mit einer Mischung aus Abscheu und Lust gibt sie sich ihm hin. Ihrer jungen Zofe schließlich gefällt die betrügerische Brautnacht, so dass sie länger bleibt als nötig ist. Und der vermeintlich unbescholtene Alsemero? Hat er den über Stunden dauernden Schwindel mit der Zofe heimlich genossen?

Die Oper lässt zwei Welten aufeinanderprallen, die Oberwelt des Adels und die Unterwelt des Tollhauses. Durch die Gegenüberstellung bekommt die Geschichte eine gesellschaftliche Dimension, und nicht ohne Grund sind sich die Bewohner beider Sphären in ihren dunklen, triebgesteuerten Tendenzen ähnlich. Alle sind Gefangene: „Wir haben nur zwei Arten von Leuten in diesem Haus. Wahnsinnige und Verrückte“ sind die Worte des Vorstehers des Tollhauses.

Jost hat für die Oper einen speziellen fließenden, heißen und flirrenden Klang entwickelt. Das Orchester besteht nur aus Bläsern und Streichern. In den Tollhaus-Szenen klingt eine

which had first been performed in London in 1622. This tragicomedy by Thomas Middleton and William Rowley bears testimony to the flourishing theatre culture in England at the time of Shakespeare. Jost and his co-author Tim Coleman retained the essential elements of the plot: the incitement to murder, the blackmail of the killer, the substitution of the bride and the ultimate vendetta. The first version of the libretto was in English and was later translated into German by Rainer G. Schmidt. Jost played an active part in the compilation of the text: ‘In my method of text acquisition which subsequently determines the characteristic style of phrasing and the breathing of the music, it is impossible to avoid the remodelling, restructuring and rhythmicalisation of the text’, he commented in an interview. The title of the original drama referred to the loathsome servant de Flores. Jost’s new title Vipern is an apt reference to the duplicity of all protagonists and their murderous acts.

The violence of the drama is heightened by eroticism. De Flores commits a murder due to the desires for his mistress and while Beatrice initially fends off his attempts at blackmail, he ultimately appears to fulfil her most secret desires and she succumbs to him in a mixture of revulsion and lust. Her younger maid also seems to take great pleasure in the deceits of the wedding night, remaining longer in bed than would have been necessary. And what about the supposedly blameless Alsemero? Did he perhaps secretly take consummate pleasure in the extended dalliance with the maid?

Two different worlds collide in the opera: the elevated world of the aristocracy and the underworld of the madhouse. This confrontation lends the plot a social dimension and it is no mere chance that the inhabitants of both classes resemble one another in their dark tendencies driven by base instincts. Each and every one of the them is a prisoner: ‘There are only two types of people in this house – lunatics and madmen,’ proclaims the head of the madhouse.

Jost developed a very special flowing, simmering and shimmering sound for this opera and the orchestra only consists of wind and strings and the music in the madhouse scenes is vague-

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hintergründige Reminiszenz von Barockmusik an. Kurz vor der bevorstehenden Hochzeit von Beatrice und Alsemero setzt Jost eine Zäsur: Zu Hochzeitszug und Maskenspiel schlägt ein Jazzensemble eine Brücke in die Gegenwart. „Ich sehe den Stoff wie ein wildes Tier, das –in einem Käfig eingeschlossen – bedrohlich leise und manchmal fauchend seine Bahnen zieht, wobei der Betrachter in ständiger Angst hoffend bangt, er möge das Tier im Käfig halten können. Im übertragenen Sinne wird dies, so hoffe ich, die musikalische Summe meiner Oper sein.“ (Christian Jost in den Notizen seiner Werkeinführung)

ly reminiscent of the Baroque. Just before the imminent marriage between Beatrice and Alsemero however, Jost makes a decisive break: a jazz ensemble for the wedding procession and masque forms a bridge to the contemporary world. ‘I view the plot as a wild animal which –trapped in a cage – threateningly paces largely in silence, occasionally snarling, while the observer is constantly plagued by fear and hopes that the animal will not break out of its cage. I hope that this in a nutshell is the musical sum of my opera.’ (Christian Jost in his introductory notes to the work)

WERKINFORMATIONEN / FACTS

Vipern

Eine mörderische Begierde in 4 Akten (2004) nach Motiven von Thomas Middleton und William Rowley Libretto von Tim Coleman und Christian Jost

Deutsche Fassung von Rainer G. Schmidt

Personen / Cast: Vermandero, ein reicher Edelmann · Bass - Beatrice-Joanna, seine Tochter · dramatischer Sopran - de Flores, ein Diener · Heldenbariton - Alsemero, verliebt in Beatrice · Bariton - Antonio, Diener Vermanderos · hoher lyrischer Bariton - Jasperino, Diener Alsemeros · Tenor - Diaphanta, Zofe von Beatrice · hoher Sopran - Alonzo de Piracquo, verlobt mit Beatrice · Tenor - Tomazo de Piracquo, sein Bruder · Bariton - Alibio, Vorsteher des Tollhauses · Tenor - Isabella, seine erheblich jüngere Frau · lyrischer Sopran - Maria, Wärterin im Tollhaus · Alt - Drei verrückte Dichterinnen, Insassen im Tollhaus · drei Frauenstimmen

orchester / orchestra: 3 (2. auch Picc., 3. auch Altfl.) · 0 · Engl. Hr. · 3 (2. auch Es-Klar., 3. auch Bassklar.) · 3 (2. und 3. auch Kfg.) - 4 · 3 (2. auch Piccolotrp., 3. auch Basstrp.) · 3 · 1 - Str.

Bühnenmusik / on-stage: Altsax. · Vibr. · Drumset (Bass Drum · Side Stick · Snare · 3 Tomt. · Ride · Hi-Hat · Hi-Hat Crash · Crash Cymbal) (1 Spieler) · E-Bass (od. gezupfter akustischer Bass)

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AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 21. Januar 2005 Düsseldorf, Opernhaus (D) · Dirigent / Conductor: John Fiore · Inszenierung / Staging: Eike Gramss · Kostüme und Bühnenbild / Costume and Stage Design: Gottfried Pilz

schweizer Erstaufführung / swiss premiere: 15. April 2007 Bern, Stadttheater (CH) · Dirigent / Conductor: Hans Drewanz · Inszenierung / Staging: Eike Gramss · Kostüme und Bühnenbild / Costume and Stage Design: Gottfried Pilz

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angst

INHALT

Der äußere Rahmen des Stücks geht auf eine wahre Begebenheit zurück: 1985 bestiegen die jungen Bergsteiger Joe Simpson und Simon Yates den 6344 Meter hohen Siula Grande in Peru. Beim Abstieg verunglückte Simpson und brach sich das Knie. Yates seilte den Verletzten ab, doch Simpson rutschte über ein Schneefeld nach unten. Über einer Gletscherspalte hängend, konnte ihn Yates nicht mehr hochziehen. Um das eigene Leben zu retten, kappte er das Seil. In Angst löst sich Christian Jost von jedem konkreten Hinweis auf die historischen Personen. In der ersten Episode (Ab) hören wir die Gedanken eines Bergsteigers, der ins Bodenlose fällt, ohne seinen Namen zu kennen. In der fünften und letzten Szene (Fallen) werden wir Zeuge des Gedankenstroms des Partners, der mit sich ringt, das Seil durchzuschneiden. Das Geschehen rahmt die weiteren Teile, die drei mittleren Pforten der Angst ein. Alle fünf Teile bestehen aus unterschiedlichen Textsorten und schildern die Angst aus dem Blickwinkel verschiedener Figuren. In zweiten Teil Hölderlin vertont Jost die berühmte Ode An die Parzen von Friedrich Hölderlin, in der das lyrische Ich bei den Göttern um weitere Monate Lebenszeit bittet, damit es seine Dichtung vollenden kann. In Kalt schildert Jost einen kindlichen Alptraum, den Sturz in einen Keller, bei dem sich die Furcht vor der Dunkelheit in existenzielle Verlustangst verwandelt und in einem dreimal wiederholten „Lass mich nicht allein“ äußert. Die vierte Pforte besteht aus einem sachlichen Prosatext, in dem die Physiologie eines Angsttraumas beschrieben und in einer nachgeschobenen Szene verdeutlicht wird: Ein in der Wanne Gefolterter kann später nicht mehr sein Badezimmer benutzen, ohne grausame Flashbacks zu erleiden.

SYNOPSIS

The external framework of the work originates from a true event: in 1985, the young mountaineers Joe Simpson and Simon Yates were climbing the 6,344 metre-high Siula Grande in Peru. On his descent, Simpson had an accident and broke his knee. Yates abseiled down to his injured companion, but Simpson had dropped over a snowfield. As he was hanging down above the crevice of a glacier, Yates was unable to haul him up again. In order to save his own life, he was forced to cut the rope.

Christian Jost erased all concrete clues leading to any historical individuals in Angst. In the first episode (Up), we hear the thoughts of a mountaineer who plummets into the depths without knowing his name. In the fifth scene (Fallen) [Falling], we play witness to the stream of consciousness of the partner who wrestles with his conscience to sever the rope. The action frames the other scenes, the three central Pforten der Angst [Gateways of Fear].

All five sections contain different types of texts describing fear or anxiety through the eyes of a variety of different characters. In the second section entitled Hölderlin, Jost creates a setting of the famous ode An die Parzen [To the Fates] by the German poet Friedrich Hölderlin in which the lyrical ego begs the gods for three more months of life in order to come to the end of his poem. In the section Kalt [Cold], Jost depicts a nightmare from childhood, falling into a cellar, in which the fear of darkness becomes transformed into the existential fear of loss, expressed in the phrase ‘Lass mich nicht allein’ [Do not leave me on my own] repeated three times. The fourth Pforte [Gateway] consists of a factual prose text describing the physiology of an anxiety trauma depicted in an inserted scene: an individual who was tortured in a bathtub is subsequently unable to use his own bathroom without experiencing horrific flashbacks.

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KOMMENTAR

Thema dieser ausschließlich für Chor, Chorsolisten und Instrumentalensemble komponierten Mischung aus Oper und Oratorium ist die menschliche Ur-Erfahrung von Angst. Der Chor verkörpert in dem Werk eine Art „singendes Gedankenspiel“ – die Psychodynamik dieses Gefühlzustands. Die Chorstimmen sind anspruchsvoll, der Komponist behandelt die Sänger:innen solistisch.

In Angst dehnt Christian Jost die Zeit. Das Publikum durchlebt die schockierenden Sekunden zwischen Absturz des einen Bergsteigers in der ersten Episode und der folgenschweren Entscheidung des anderen in der fünften Episode quasi in einem extrem gedehnten Augenblick. Zwischen den Ereignissen liegt das HölderlinGedicht, die Keller- und die Folter-Episode. Man könnte sich vorstellen, dass Gedanken an ein zu frühes Sterben, das Verspüren kindlicher Urängste und eine Erfahrung von selbstzerstörerischer Folter bei denjenigen stattfinden, die in Lebensgefahr geraten sind. Jost wendet damit eine charakteristische Technik an, die auch für die nachfolgenden Bühnenwerke gültig ist. Der äußeren Handlung ist eine innere entgegengestellt, die Personen reisen nicht nur durch einen äußeren Raum, sondern auch durch ihre innere Vorstellung. Die Erlebnisse sind, das verdeutlichen die Flashbacks, im Innern nicht minder aufwühlend als im Äußeren.

Obgleich das Werk thematisch geschlossen ist, bleibt seine Form offen. Zur Musik können eigens für dieses Werk gedrehte Filme projiziert werden. Das Werk kann szenisch (mit oder ohne Filmprojektionen) oder konzertant aufgeführt werden. Tiefe Einblicke in die Werkgestalt bietet das Programmheft der Berliner Uraufführung mit Abdruck des Librettos, ausführlichen dramaturgischen Erläuterungen und mit Kommentaren des Komponisten.

COMMENTARY

The theme of this work, a blend of opera and oratorio scored exclusively for choir, choral soloists and an instrumental ensemble, is the primordial human experience of angst [fear and anxiety]. The choir takes on the role of a sort of ‘sung intellectual game’ – the psychodynamics of this emotional state. The choral parts are challenging since the composer treats the singers as soloists.

Christian Jost extends time in Angst. The audience experiences the shocking seconds between the fall of the first mountaineer in the first scene and the ultimately fatal decision on the part of the other mountaineer in the fifth episode as a quasi-extremely extended moment in time. The Hölderlin poem and the two episodes concerning the cellar incident and the torture scene are placed between the two principal events. It is easy to imagine that thoughts of premature death, a recollection of primeval fears from childhood and an experience of self-destructive torture could all be experienced by an individual who has found him- or herself in a situation of mortal danger. Here Jost utilises a characteristic technique which he also employed in his later works for the stage. The external plot is juxtaposed by an internal plot and the protagonists not only travel through external space, but also through their internal imagination. The flashbacks underline the concept that the internal experiences in an individual’s imagination are no less disturbing than those actually experienced in reality.

Despite the thematically self-contained nature of the composition, its form remains open. Film material specially created for this work can be projected to accompany the music. The composition can be performed onstage (with or without the visuals) or alternatively in a concert format. The programme of the World premiere in Berlin provides more detailed information, the text of the libretto, additional dramaturgic details and commentaries by the composer.

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WERKINFORMATIONEN / FACTS

angst

5 Pforten einer Reise in das Innere der Angst (2005) für gemischten Chor, Chorsolistinnen (3S, 3A) und Instrumentalensemble Texte von Friedrich Hölderlin und Christian Jost (dt.)

Personen / Cast: gemischter Chor, Chorsolistinnen (3S, 3A) und Instrumentalensemble / mixed choir, choirsoloists and instrumental ensemble

orchester / orchestra: Fl. (auch Altfl.) · Klar. · Trp. · Vibr. · Klav. · 4 Vc. · E-Bass

60’

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 28. Januar 2006 Berlin, Sophiensaele (D) · Dirigent / Conductor: Simon Halsey · Ensemble Musikfabrik · Rundfunkchor Berlin · Inszenierung / Staging: Gottfried Pilz · Bühnenbild / Stage Design: Gottfried Pilz

Weitere Produktionen / Further productions: 9. Januar 2009 Berlin, Komische Oper (D) · Dirigent / Conductor: Simon Halsey · Rundfunkchor Berlin · Inszenierung / Staging: Jasmina Hadziahmetovic

24. September 2010 Weimar, Deutsches Nationaltheater, e-Werk (D) · Dirigent / Conductor: Stefan Solyom · Choreinstudierung / Choir Staging: Markus Oppeneiger und Andreas Klippert · Inszenierung

/ Staging: Karsten Wiegand · Kostüme / Costume Design: Andrea Fisser · Bühnenbild / Stage Design: Bärbl Hohmann

21. April 2016 Darmstadt, Staatstheater (D) · Dirigent / Conductor: Thomas Eitler-de Lint · Inszenierung / Staging: Karsten Wiegand · Kostüme / Costume Design: Andrea Fisser · Bühnenbild / Stage Design: Bärbl Hohmann

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Angst Deutsches Nationaltheater Weimar 2015
© Maik Schuck

Hochschule für Musik und Theater München 2016

© Thomas Dashuber

Die arabische Nacht

Die arabische nacht

INHALT

Ein Hochhaus am Rande einer deutschen Großstadt. An einem heißen Freitagabend gibt es ein Problem mit der Wasserversorgung oberhalb des siebten Stocks. Das Wasser scheint hier nicht mehr anzukommen. Bei seinen Untersuchungen trifft Hausmeister Lomeier auf Franziska Dehke und ihre arabische Mitbewohnerin Fatima Mansur, die jeden Abend von ihrem Freund Kalil besucht wird. Auch Peter Karpati aus dem benachbarten Wohnblock wird magisch von der Wohnung der beiden jungen Frauen angezogen. Franziska fällt, wie immer nachdem sie von der Arbeit nach Hause kommt und geduscht hat, in einen langen Schlaf. Schlafend wird sie heimlich von Karpati und von Lomeier geküsst, erwachend küsst sie ihrerseits Kalil. Die Küsse führen zu Eifersucht und lösen neue Fantasien und Träume aus. Karpati findet sich in der Cognacflasche wieder, aus der er eben noch getrunken hat. Lohmeier wird in die Zeit zurückversetzt, in der er seine erste Frau verlor. Kalil flüchtet vor der eifersüchtigen Fatima durchs Haus. Franziska träumt, sie sei die Geliebte des Scheichs von Kinsh el Sar. Der Wüstenwind der arabischen Nacht weht durch die Wohnanlage und die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwimmen

SYNOPSIS

On a hot Friday evening in a block of flats on the outskirts of a German city, there is a problem with the water supply which has stopped working above the seventh floor. During his inspection, caretaker Lomeier meets Franziska Dehke and her Arabian flatmate Fatima Mansur. Fatima’s boyfriend Kalil visits her every evening. Peter Kaparti, a neighbor from the next block of flats, is irresistibly drawn to the two women’s flat. Every day after coming home from work and taking a shower, Franziska falls into a deep sleep. She is secretly kissed by Karpati and Lomeier whilst still asleep, and on awakening, she kisses Kalil. These kisses lead to jealousy which in turn unleashes new fantasies and dreams. Karpati for example finds himself inside the cognac bottle from which he has just drunk whereas Lohmeier is transported back to the time when he lost his first wife. Kalil flees from the jealous Fatima through the entire block of flats. Franziska dreams that she is the beloved of the Sheikh of Kinsh el Sar. The desert wind of the Arabian night blows through the apartment block, blurring the lines between dream and reality.

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KOMMENTAR

Das Stück ist ein vertrautes und zugleich fremdländisches Kaleidoskop im Stile von Tausendundeine Nacht, ein offener, erotischer Reigen, dessen Figuren sich in Vergangenheit, Gegenwart und Traum begegnen. Es basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Roland Schimmelpfennig, das 2001 in Stuttgart herauskam und zu den erfolgreichsten Stücken des Autors zählt. Christian Jost richtete sich selbst das Libretto ein. Das Orchester aus 18 Musiker:innen ist geteilt, so dass eine „Klangarena“ (Jost) entsteht: eine Versuchsanordnung, bei der sich Melodien, Rhythmen und Cluster befragen und ergänzen. Von hier nimmt die multiperspektivische Dramaturgie der Oper ihren Ausgang. Die Partitur sieht große solistische Aufgaben einzelner Musiker:innen vor. Klingende Instrumente wie Marimbaphon, Vibraphon und Klavier stehen im Zentrum. Die Poesie des Textes kommt der Musik entgegen. Bestimmend ist das Motiv des Wassers, das Jost musikalisch transzendiert. Dadurch entsteht ein soghafter Duktus, ein klingendes Rauschen; aber es gibt auch das Tröpfeln und den gurgelnden Strudel. Alle Szenen gehen fließend ineinander über. „In leichtem, surrealem Gewand erleben wir Träume und Alpträume fünf einsam-verliebter Städter. Ich musste daraus ein polyphon-swingendes Ensemblewerk komponieren. Ein Stück, das, einmal begonnen, alles zum Fließen bringt, aufblüht und vergehen lässt, um wieder von Neuem entstehen zu können. Die Figuren, die jede für sich ein Höchstmaß an Identifikationsmöglichkeit bereithalten, habe ich so miteinander verwoben, dass sie sich im Fluss der musikalischen Ereignisse ihren eigenen (Alp-)Träumen hingeben können.“ (Christian Jost)

COMMENTARY

The work is a simultaneously familiar and foreign kaleidoscope in the style of the Arabian Nights: an open-ended, erotic chain whose characters encounter one another in the past, present and future. It is based on a drama of the same name by Roland Schimmelpfennig which was first performed in Stuttgart in 2001 and became one of the author’s most popular theatre works. Christian Jost arranged his own adaptation of the libretto. The orchestra consists of eighteen musicians who are positioned to form a ‘tonal arena’ (Jost), an experimental design in which melodies, rhythms and clusters augment and question one another, forming the starting point for the multi-perspective dramaturgy of the opera. The score provides space for largescale solo sequences by individual musicians. Percussive instruments such as marimbaphone, vibraphone and piano are placed at the centre. The poetry of the text complements the music. The dominant feature is the water motif which Jost musically transcends, creating a maelstrom and a sonorous murmuring juxtaposed by dripping effects and a gurgling vortex. Each scene flows seamlessly into the next. ‘We experience the dreams and nightmares of five lonely city dwellers in love within a light and surreal framework. I had to combine these elements to create a polyphonically swinging ensemble work, a piece that once unleashed, allows everything to flow, flourish and wither, only to recommence anew. I have interwoven the characters, each of whom are easily identifiable to the extent that they are able to surrender themselves to their own (bad) dreams within the musical flow of events.’ (Christian Jost)

WERKINFORMATIONEN / FACTS

Die arabische nacht

Oper nach dem gleichnamigen Schauspiel von Roland Schimmelpfennig (2007) Libretto von Christian Jost (dt./engl.)

Englische Textfassung von Minou Arjomand nach der Übersetzung von Melanie Dreyer

Personen / Cast: Hans Lomeier · Bariton - Fatima Mansur · Mezzosopran - Franziska Dehke · SopranKalil · Tenor - Peter Karpati · Tenor - Katja Hartinger · Sopran - Narbenfrau / Helga / Frau Hinrichs · Alt - Marion Richter · Sopran

orchester / orchestra: 1 (auch Altfl.) · 1 · 1 · Bassklar. · 0 - 1 · Flhr. · 0 · 0 · 0 - Vibr. · Marimba · Cel. · Klav. (Flügel) - Str. (2 Vl. · 2 Va. · 2 Vc. · 2 Kb.)

90’

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 26. April 2008 Essen, Grillo Theater (D) · Dirigent / Conductor: Stefan Soltesz · Inszenierung / Staging: Anselm Weber · Kostüme / Costume Design: Irina Bartels · Bühnenbild / Stage Design: Jörg Kiefel

Weitere Produktionen / Further productions: 11. September 2009 Halle, Neues Theater (D) · Dirigent / Conductor: Karl-Heinz Steffens · Inszenierung / Staging: Florian Lutz · Bühnenbild und Kostüme / Stage and Costume Design: Sebastian Hannak

21. März 2013 Hamburg, Hochschule für Musik und Theater (D) · Studierendenorchester · Dirigent / Conductor: Felix Pätzold · Inszenierung / Staging: Stephan Krautwald · Kostüme / Costume Design: Annika Lohmann · Bühnenbild / Stage Design: Monika Diensthuber

15. Juni 2016 München, Theaterakademie August Everding und Hochschule für Musik und Theater, Reaktorhalle (D) · Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz · Dirigent / Conductor: Eva Pons · Inszenierung / Staging: Balázs Kovalik · Bühnenbild und Kostüme / Stage and Costume Design: Angelika Höckner

25
Hamlet Komische Oper Berlin 2009 © Monika Rittershaus

hamlet

INHALT

Beim Versuch sich umzubringen, erscheint Hamlet der Geist seines Vaters. Die Botschaft dieses sechsstimmigen Wesens ist ungeheuerlich: Der neue König Claudius, Hamlets Onkel, ist durch Mord an die Macht gekommen. Er hat Hamlets Vater heimlich umgebracht und dessen Gattin, Hamlets Mutter, zur Frau genommen. Nun soll der Sohn den Vater rächen. Die Nachricht verstört Hamlet und weckt Rachegefühle in ihm. Seiner Mutter und ihrem Mann, ja sogar seinem wohlmeinenden Studienfreund Horatio gegenüber erscheint Hamlet misstrauisch und zynisch, sodass man ihn für verrückt hält. Seine Freundin Ophelia weist er sogar an, sich von ihm abzuwenden und ins Kloster zu gehen. Doch Hamlet ist nur scheinbar wahnsinnig. Er erkennt, dass sein Onkel die Gesandten Rosenkrantz und Güldenstern auf ihn angesetzt hat und entzieht sich ihrem Komplott.

Hamlet inszeniert ein Spiel im Spiel und entlarvt den Brudermord seines Onkels. Claudius verfällt in tiefe Zweifel über sein Verbrechen. Hamlet könnte die Gelegenheit nutzen, um ihn zu töten, aber er zögert. Während Hamlet seine Mutter zur Rede stellt, wird er von Polonius überrascht und tötet diesen. Polonius war nicht nur ein enger Vertrauter des neuen Königs, sondern auch der Vater von Ophelia. Hamlets schroffe Abweisung und der Tod ihres Vaters treiben Ophelia in den Selbstmord. Ihr Bruder Laertes sinnt auf Rache an Hamlet. Am Grab von Ophelia kommt es zum Kampf zwischen den beiden, der alle in den Strudel der Vernichtung zieht.

KOMMENTAR

Jost gliedert seine Fassung des berühmten Shakespeare-Dramas in zwölf Tableaus. Trotz der extremen Verdichtung der Handlung bleibt das Gerüst der Geschichte bestehen. Hamlet

SYNOPSIS

When Hamlet tries to kill himself, the ghost of his father appears to him. The message of this six-voiced being is outrageous: The new King Claudius, Hamlet's uncle, has come to power through murder. He secretly killed Hamlet's father and took his wife, Hamlet's mother, as his wife. Now the son is to avenge his father. The news disturbs Hamlet and awakens feelings of revenge in him. Hamlet appears to be mistrustful and cynical to his mother and her husband, and even to his well-meaning schoolfriend Horatio, so that he is thought to have gone mad. He even orders his girlfriend Ophelia to turn her back on him and enter a convent. Hamlet is however only seemingly insane. He realises that his uncle has sent the envoys Rosenkrantz and Guildenstern on his trail and succeeds in extricating himself from their conspiracy. Hamlet stages a play within a play and reveals his uncle's fratricide. Claudius falls into grave doubt about his crime. Hamlet could use the opportunity to kill him, but he hesitates. While Hamlet confronts his mother, he is ambushed by Polonius and kills him. Polonius was not only a close confidant of the new king, but also Ophelia's father. Hamlet's brusque rejection and the death of her father drive Ophelia into suicide. Her brother Laertes seeks revenge on Hamlet. At Ophelia's grave, a fight ensues between the two, drawing everyone into the vortex of destruction.

COMMENTARY

Jost divides his version of Shakespeare's famous drama into twelve tableaux. Despite the extreme condensation of the plot, the framework of the story remains unchanged.

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zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Textverteilung und einen besonderen Umgang mit der Sprache aus. Durch Hamlets Monologe führt die Handlung immer tiefer in das Innere der Charaktere. Jost hat sich für die deutsche Übersetzung von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck entschieden, welche er an vielen Stellen durch das englische Original erweitert, sodass eine beinah durchgängige Zweisprachigkeit entsteht. Manchmal werden einzelne Sätze gesprochen, vielfach entstehen an- und abschwellende Flüsterteppiche. Jost verzichtet darauf, Hamlets berühmte Monologe opernhaft zu reproduzieren, sondern verwendet sie als musikalisches Material. So erscheint zum Beispiel der berühmte Sein oder Nichtsein Monolog nicht als verklärende Innenschau, sondern wird vielfach musikalisch in den Chorstimmen aufgefächert, verwebt sich mit dem Orchester und bildet so die orchestrale Grundlage zum Strudel der finalen Vernichtung. Somit erzählt Jost das Drama nicht mit allen Morden der Originalvorlage zu Ende, sondern fasst den Strudel der Gewalt über dem Grab Ophelias zusammen. Dass es an keiner Stelle bloß um die äußere Handlung gegangen ist, wird hier endgültig deutlich. In diesem Finale treten nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch der Chor der Soldaten auf, welche schon zuvor ihrer realistischen Funktion enthoben und im ganzen Stück als kommentierende Masse und als innere Stimmen der Hauptfigur präsent waren. Krieg und Politik, Herrschaft und Unterwerfung legt Jost buchstäblich in den Kopf der Hauptfigur. Dass Hamlet von einer Mezzosopranistin gesungen wird (bei der Uraufführung: Stella Doufexis) zeugt davon, dass Jost Abstand vom historischen Realismus gewinnen und eine Figur schaffen wollte, in der sich allgemein Menschliches ereignet. Die inneren Stimmen in der Titelfigur treiben sie zur Rache, wollen sie zugleich aber auch zurückhalten und in den Selbstmord drängen. Welchem Impuls soll sie nachgehen?

Hamlet is characterised by the unusual distribution of the text and its unique use of language. Through Hamlet's monologues, the plot leads deeper and deeper into the soul of the characters. Jost decided in favour of the German translation by August Wilhelm Schlegel and Ludwig Tieck, to which he has added many a passage from the English original, thus creating an almost continuous bilingualism. At times, individual lines are spoken and often there are tapestries of whispers increasing and decreasing in loudness. Jost refrains from reproducing an opera-like setting of Hamlet's famous monologues, instead utilising them as musical material. For example, the famous To Be or Not to Be monologue does not appear as a glorifying introspection, but often musically fans out into the choral voices, becomes interwoven with the orchestra and thus forms the orchestral basis of the vortex of final destruction. Hence, Jost does not tell the drama with all the murders of the original version to the end but summarises the maelstrom of violence over Ophelia's grave. Ultimately it becomes clear that at no point does the work merely focus on the external plot. In this finale, not only the main characters appear, but also the choir of soldiers, who have been relieved of their realistic function and are present throughout the opera as a commenting crowd and internal voices of the main character. Jost has placed the topics of war and politics, dominance and submission literally inside the main character’s head. The fact that Hamlet is sung by a mezzo-soprano (at the premiere: Stella Doufexis) demonstrates Jost’s objective of creating distance from any historical realism in order to create a figure in whom something generally human was taking place. The internal voices of the main character drive them to take revenge, while at the same time also holding them back and driving them into suicide. Which impulse should the protagonist pursue?

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WERKINFORMATIONEN / FACTS

hamlet

12 musikdramatische Tableaux nach William Shakespeare (2008) Libretto vom Komponisten (dt./engl.) unter Verwendung des englischen Originaltextes und der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel

Personen / Cast: Hamlet · Mezzosopran - Horatio · Bariton - Geist · 6 Männerstimmen (3 Tenöre, 3 Bässe) - Claudius · Bass - Gertrud · Sopran - Polonius · Tenor - Rosenkrantz / 1. Clown · Alt - Güldenstern / 2. Clown · Tenor - Ophelia · Sopran - Laertes · Tenor - Innere Stimmen · 2 Soprane, 2 Mezzosoprane, 2 Alti , 2 Tenöre, 2 Baritone, 2 Bässe - Soldatenchor · gemischter Chor

orchester / orchestra: 3 (alle auch Picc., 3. auch Bassfl.) · 0 · 3 (2. auch Es-Klar., 3. auch Bassklar.) · 1 · Kfg. - 4 · 0 · 2 · Basspos. · Kb.-Pos. · 0 - S. (Beck. · Tamt. · 3 Tomt. · 4 Rototoms · gr. Tr.) (2 Spieler)Klav. - Str. (8 Vl. · 8 Va. · 8 Vc. · 4 Kb.)

orchester links / orchestra on the left: 3 Fl. (auch Picc., 3. auch Bassfl.) · Fg. - 2 Hr. · Pos. · Basspos.S. (Beck. · Tamt. · 3 Tomt.) (1 Spieler) - Klav. - Str. (4 Vl. · 4 Va. · 4 Vc. · 2 Kb.)

orchester rechts / orchestra on the right: 3 Klar. (2. auch Es-Klar., 3. auch Bassklar.) · Kfg. - 2 Hr. · Pos. · Kb.-Pos. - S. (4 Rototoms · gr. Tr.) (1 Spieler) - Str. (4 Vl. · 4 Va. · 4 Vc · 2 Kb.)

Bühnenmusik / on-stage: Flhr. · Vibr. · Gläserspiel · Vc.

145’

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 21. Juni 2009 Berlin, Komische Oper (D) · Dirigent / Conductor: Carl St. Clair · Inszenierung / Staging: Andreas Homoki · Bühnenbild und Kostüme / Stage and Costume Design: Wolfgang Gussmann

Weitere Produktionen / Further productions: 30. April 2011 Dortmund, Theater (D) · Dirigent / Conductor: Jac van Stehen · Inszenierung / Staging: Peter de Nuyl · Bühne und Kostüme / Stage and Costume Design: Sebastian Hannak

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Mikropolis

INHALT

Schön haben es die Spinne Natalie, die Ameise Annabelle, die Stubenfliege Kostas, die Bremse Erdal, der Marienkäfer Kurt und der Tausendfüßler Olli – sie leben auf einem Grünstreifen in der aufregenden Großstadt, das Futter liegt auf der Straße und das Leben ist voller Abenteuer. Dann aber wird die Grille Gesine durch einen Wirbelwind auf die kleine grüne Oase mitten in der Stadt geweht und verdirbt mit ihren deprimierenden Erinnerungen an die heimatliche Wiese Natalie und Annabelle gründlich die Laune. Also ab mit ihr in den Laubsauger, denken die Jungs. Das aber finden Annabelle und Natalie gar nicht fair – und so helfen alle zusammen, Gesine zu retten. Im riesigen Laubsauger kann ihnen zum Glück das Glühwürmchen den Weg zeigen, denn man sollte nicht im Häckselausgang der Maschine landen. Weit weg gepustet landen die Freunde in einem Laubhaufen. Eine Gottesanbeterin nimmt Gesine in die Fänge und es braucht Marienkäfersekret, Tausendfüßlertritte und Spinnwebfesseln bis das gierige Tier besiegt ist. Endlich können die Freunde Gesine zurück auf ihre Wiese bringen.

SYNOPSIS

The spider Natalie, the ant Annabelle, the house fly Kostas, the horse fly Erdal, the ladybird Kurt and the millipede Olli all have a great life – they live on a green strip in the exciting big city, their food is plentiful on the road and life is full of adventures. That is until the grasshopper Gesine is whirled through the air by the wind, landing on the small green oasis in the middle of the city, and spoils the fun completely for Natalie and Annabelle with her gloomy reminiscences of her home meadow. The boys decide she belongs in the leaf blower, but Annabelle and Natalie consider this to be unfair – ultimately, they all join forces to save Gesine. Luckily for them, the firefly is able to light their way in the gigantic leaf blower so that they avoid landing in the shredder. The friends are then blown far away, landing in a heap of leaves. A praying mantis grasps Gesine in her jaws and is only overpowered by ladybird secretion, millipede kicks and the sticky fibres of a spider’s web. In the end the friends are able to accompany Gesine back home to her meadow.

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KOMMENTAR

Die Großstadtinsekten sind eine sympathische Clique. Erdal quatscht mit türkischem Akzent. Kostas leidet unter der Vorstellung, er sei eine Eintagsfliege und glaubt, jeden Tag zu sterben. Kurt wird von allen Kung gerufen, weil seine Ahnen aus China stammen. (Er kann nicht oft genug wiederholen, dass er ein deutscher Marienkäfer mit chinesischem Migrationshintergrund ist.) Alle nehmen sich gegenseitig hoch und bestätigen zugleich das Glück, verschieden zu sein. Dem Librettisten Michael Frohwin gelingt es, eine Gruppe von Kindern zu zeichnen, die man aus Berlin zu kennen meint, und die es in jeder europäischen Großstadt gibt. Ihren Egoismus überwinden die Gefährten, indem sie eine gemeinsame Aufgabe meistern. Die Oper handelt nicht nur von Diversität, Solidarität und Mut, sondern auch von einer bedrohten Umwelt. „Die Menschen fressen nicht mehr, um zu leben. Sie leben, um zu fressen.“

Christian Josts Musik ist erzählerisch und voller Witz. Er spielt mit den Gegensätzen der groovigen Stadt und dem elegischen Landleben. Einzelne Stücke wie zum Beispiel der Eintagsfliegenblues sind applausverdächtige Solonummern. Nach den formalen Experimenten vorheriger Stücke erlaubt sich Jost die klassischen Formen der Oper – Arie, Duett, Ensemble – zu bedienen. Der Komponist erweist sich nach den düsteren Stücken wie Vipern und Hamlet als ein Meister des Leichten. Eine Nähe zum Jazz, ja auch zum Musical, gibt dem Stück eine eigene, unterhaltsame Note. Die Autoren haben die Bezeichnung Kinderoper vermieden, denn das Stück funktioniert auch für Erwachsene. „Die staunende, offenen Mundes begeisternde Faszination, die ich als kleiner Junge beim ersten Besuch einer Oper erfahren hatte, wollte ich selbst als Komponist auf das Publikum übertragen wissen. Die Verantwortung war daher eine große, sind doch die ersten Erfahrungen gleichermaßen fragil und prägend. Wenn ich heute von damaligen Besucherinnen und Besuchern freudigst auf Mikropolis angesprochen werde und dass dies ihre erste Berührung mit Oper markierte, bin ich sehr glücklich über eines der schönsten Komplimente für mein künstlerisches Schaffen.“ (Christian Jost)

COMMENTARY

The insects of the big city are a likeable clique. Erdal chats with a Turkish accent and Kostas suffers from the delusion that he is a mayfly and believes he is going to die every day. Kurt is known by everyone as Kung as his ancestors originated in China. (He cannot reiterate enough that he is a German ladybird with a Chinese migrational background.) They are constantly making fun of each other while simultaneously being glad that they are all different. The librettist Michael Frohwin suceeds in sketching out a group of children whom you could have encountered on the streets of Berlin, but could equally be at home in any big city in Europe. The friends overcome their egoism by mastering a common task. The opera not only focuses on diversity, solidarity and courage, but also on the threatened environment. ‘Nowadays, humans don’t eat just to live: they live to eat.’

Christian Jost’s music is narrative and full of wit. He plays with the opposites of a groovy city and an elegiac life in the country. Individual sections such as the mayfly blues are applause-worthy solo numbers. Following the experimentation in form in earlier works, Jost allows himself to employ classical operatic forms such as arias, duets and ensembles in this composition. After bleak works such as Vipern und Hamlet, the composer reveals his skills as a master of light entertainment. The proximity of jazz and even musicals colours the work with its own entertaining sense of fun. The authors avoided the term children’s opera as it is equally enthralling for adults. ‘My intention was to transfer the open-mouthed fascination I experienced on my first visit to the opera to the audience in my capacity as a composer. For this reason, the responsibility was immense, particularly as first experiences can be both fragile and formative at the same time. When I talk to members of audiences today who happily recall Mikropolis as their first contact with opera, I am very happy to accept one of the greatest compliments for my artistic creativity.’ (Christian Jost)

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WERKINFORMATIONEN / FACTS

Mikropolis

Die abenteuerliche Insektenoper (2010)

Libretto von Michael Frowin (dt.)

Personen / Cast: Grille Gesine · Sopran - Ameise Annabelle · Sopran - Glühwürmchen Finn · SopranKreuzspinne Natalie · Mezzosopran - Gottesanbeterin · Alt - Marienkäfer Kung (Kurt) · Tenor - Stubenfliege Kostas · Tenor - Bremse Erdal · Bass - Tausendfüßler Olli · Bass

orchester / orchestra: 1 (auch Picc.) · 1 · 1 · Bassklar. · 1 - 2 · 1 · 1 · Kb.-Pos. · 0 - Vibr. · Marimba · Hfe. · Cel. · Klav. · E-Bass (fünfsaitig) - Str. 80’

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AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 30. Oktober 2011 Berlin, Komische Oper (D) · Dirigent / Conductor: Christian Jost · Inszenierung / Staging: Nadja Loschky · Bühnenbild und Kostüme / Stage and Costume

Design: Esther Bialas · Choreographie / Choreography: Zenta Haerter

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Mikropolis Komische Oper Berlin © Wolfgang Silveri

INHALT

Ramón hält die Leiche von Adela im Arm – die Frau, die er von Ferne begehrte, ist tot. Schnell ist das gesamte Dorf davon überzeugt, dass die beiden ein Paar waren, obwohl sie nie ein Wort miteinander gesprochen hatten. Die Eltern Adelas geben Ramón die Tagebücher ihrer Tochter und darin meint er zu erkennen, dass auch Adela in ihn verliebt war. Nach und nach lässt er sich davon überzeugen, Rache zu nehmen. Der Verdacht fällt auf den Fremden, der ein geheimes Verhältnis mit einer Frau – der Geliebten – unterhält. Die Geliebte ahnt die Bedrohung, fürchtet aber zugleich, als Ehebrecherin entdeckt zu werden und bereitet durch ihr Schweigen die nächste Katastrophe vor. Auch der mit der Lösung des Falls betraute Alte scheint kein Interesse daran zu haben, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Erst von der verstorbenen Adela erfährt das Publikum, dass Ramón doppelt getäuscht ist: Ermordet wurde Adela nicht vom Fremden und geliebt wurde sie von einem viel älteren Mann als Ramón, der sie täglich besuchte. Ohne dass am Ende klar wird, wer Adela umgebracht hat – der Schlachter des Ortes, Adelas geheimer Liebhaber selbst, der wissende Alte, das Dorf gemeinsam? – zieht der erste Mord einen zweiten nach sich: Aufgestachelt von den Dorfbewohnern und getrieben von Liebe und Rachegefühlen tötet Ramón den Fremden.

SYNOPSIS

Ramón holds Adela’s body in his arms – the woman he longed for is dead. The entire village is quickly convinced that the two were a couple, even though they never exchanged a single word with one another. Adela’s parents give Ramón the diaries of their daughter and he believes from reading them that she was also in love with him. He gradually allows himself to be persuaded to avenge her death. Suspicion falls on the Stranger who has a secret relationship with a woman – the Beloved. The Beloved recognises the danger, but simultaneously fears that she will be revealed as an adultress and in her silence, builds the foundations for the next catastrophe. The Old Man entrusted with solving the case also seems to have no interest in actually bringing the truth to light. The audience only hears from the deceased Adela that Ramón has been doubly deceived: Adela was not murdered by the Stranger and she was loved by a far older man than Ramón who visited her every day. Without the truth ultimately being revealed as to who really killed Adela – the Butcher, Adela’s secret lover, the knowledgeable Old Man or the whole village together? – the first murder leads to a second: egged on by the inhabitants of the village and driven by love and feelings of revenge, Ramón murders the Stranger.

36 rumor

KOMMENTAR

Beim Libretto ging Christian Jost von dem Roman Der süße Duft des Todes des mexikanischen Schriftstellers Guillermo Arriaga aus, der die Drehbücher zu den großen Filmen des Regisseurs Alejandro González Iñárritu Amores Perros, 21 Gramm und Babel schrieb. Rumor beginnt wie ein klassischer Krimi mit dem Auffinden der Leiche. Das Publikum rechnet damit, dass der Mörder ermittelt und der Fall aufgeklärt wird, aber das Gegenteil passiert: Gerüchten (engl. rumors), ungesicherten Beobachtungen und Verdächtigungen folgend wird immer unklarer, wer Adela umgebracht haben könnte. Fake News ersetzen Tatsachen. Alle Figuren verstecken etwas, sitzen falschen Fährten auf und betrügen sich. Außerdem springt die Handlung vor und zurück, an drei Stellen laufen Szenen sogar parallel. Das Genre des Krimis wird sozusagen nur benutzt, um die Zuschauer:innen in die Geschichte hineinzuziehen, dann werden die Regeln des Krimis über den Haufen geworfen. Es gibt keine zentral ermittelnde Person, je näher man der Wahrheit kommt, desto weiter rückt sie weg. Alles mexikanische Lokalkolorit ist zurückgenommen, so kann das Stück auch in anderen Ländern und in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus spielen. Lediglich die Hitze, die wie ein Menetekel über dem Schauplatz schwebt, und das vergebliche Warten auf erlösenden Regen, hat Jost in der Fassung gelassen. Auch die Musik nimmt das Flirrende des Spielorts auf. Der Orchesterpart ist ansonsten äußerst effektiv und prägnant. Es gibt kaum Zwischenspiele und die Szenen gehen attacca ineinander über, manche sind nur wenige Takte lang und wirken wie Schuss und Gegenschuss im Film. Dass die ermordete Adela als eine Art Todesengel in Erscheinung tritt, ist eine Erfindung des Librettisten. Dadurch entsteht eine Nähe zwischen Erde und Totenreich und ein Liebesband zwischen Ramón und Adela, das es in der Wirklichkeit nicht gegeben hat. „Imagine never fails“ hat Jost als Motto an den Anfang des Stücks gesetzt.

COMMENTARY

Christian Jost’s libretto was based on the novel A Sweet Sense of Death by the Mexican author Guillermo Arriaga who also wrote the screenplay for major films directed by Alejandro González Iñárritu: Amores Perros, 21 Grams and Babel Rumor begins like a classical crime thriller with the discovery of a body. The audience goes on the assumption that the murderer will be identified and the case cleared up, but here the opposite is the case. On the strength of rumours, unsubstantiated observations and suspicions, it becomes progressively unclear who could have murdered Adela: fake news replaces facts. All the figures have something to hide, provide red herrings and deceive themselves. What is more, the plot jumps back and forwards and scenes even run in parallel on three occasions. The crime thriller genre is actually only used to pull the audience into the story, after which the rules of a thriller are swiftly thrown overboard. There is no central investigator and the closer one comes to the truth, the further away it moves.

All Mexican local colour has been erased, meaning that the work can be set in other countries and in a variety of different social milieus. Jost did however retain the immense which hovers over the scene like a warning sign, and the futile wait for the rain to relieve it. The music also picks up on the shimmering heat of the location. The orchestral score is otherwise highly effective and concise. There are few interludes between the scenes which mostly run into each other, some only lasting a few bars, almost like the shots and reverse shots of a film. The murdered Adele appearing as a kind of angel of death is an invention of the librettist, thereby bringing the earth and the realm of the dead into proximity and creating a romantic connection between Ramón and Adela which never actually existed. Jost placed the motto ‘Imagine never fails’ at the beginning of his work.

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WERKINFORMATIONEN / FACTS

rumor

Oper in 15 Szenen (2011) nach dem Roman „Un dulce olor a muerte“ von Guillermo Arriaga in der deutschen Übersetzung von Susanna Mende Libretto vom Komponisten (dt.)

Personen / Cast: Ramón · Tenor - Adela · Sopran - Die Geliebte · Mezzosopran - Der Fremde · BaritonDer Alte · Bass - Der Jäger · Tenor - Der Schlachter · Bariton - Die Gefährtin · Mezzosopran - Der Vater / Der Richter · Bariton - Die Mutter / Wirtin / Witwe C · Alt - 6 Frauen / 6 Männer · kleiner gemischter Chor

orchester / orchestra: 2 · 2 · 2 · 2 - 4 · 1 · 3 · 1 - Glsp. (auch Vibr.) · Marimba - E-Bass · Hfe. · Cel. · Klav. - Str. 100’

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 23. März 2012 Antwerpen, Vlaamse Opera (B) · Dirigent / Conductor: Martyn Brabbins · Choreinstudierung / Chorus Master: Franz Klee · Inszenierung / Staging: Guy Joosten · Kostüme / Costume Design: Eva Krämer · Bühnenbild / Stage Design: Bettina Meyer

Weitere Produktionen / Further productions: 12. April 2012 Gent, Vlaamse Opera (B) · Dirigent / Conductor: Martyn Brabbins · Choreinstudierung / Chorus Master: Franz Klee · Inszenierung / Staging: Guy Joosten · Kostüme / Costume Design: Eva Krämer · Bühnenbild / Stage Design: Bettina Meyer

Deutsche Erstaufführung / German premiere: 21. März 2014 Heidelberg, Theater (D) · Dirigent / Conductor: Yordan Kamdzhalov · Inszenierung / Staging: Lorenzo Fioroni · Kostüme / Costume Design: Sabine Blickenstorfer · Bühnenbild / Stage Design: Ralf Käselau

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Rumor Theater Heidelberg 2014 © Florian Merdes

heart sutra

INHALT

Xiao-han tastet sich mit ihrer Freundin Lingchin das dunkle Treppenhaus in einem Wohnblock nach oben. Beide spüren die Magie und die Intimität des Ortes. Xiao-han vertraut der Freundin an, dass sie ihr ganzes Leben zu Hause wohnen bleiben möchte, ihre Beziehung zum Vater ist tief. Ling-chin gesteht, dass sie im Vergleich zu Xiao-han aus einer zerrütteten und armen Familie kommt, Vater und Bruder starben. Einen Monat später wartet Xiao-han vergeblich auf den Vater, er hat sich in der letzten Zeit verdächtig oft verleugnen lassen. Xiao-han provoziert ihre Mutter Mrs. Hsu, in dem sie mutmaßt, dass der Vater eine Affäre hat. Der junge Hai-li bestätigt den Verdacht und lüftet das Geheimnis: Xiao-hans Vater hat ein Verhältnis mit Ling-chin. Dass durch diesen Ehebruch des Vaters nun auch an der Tochter Xiao-han ein gesellschaftlicher Makel klebt, gibt Hai-li den Mut, die tiefen Gefühle, die er für Xiao-Han hegt, zu bekräftigen. Würde sie nun von zu Hause ausziehen? Einige Wochen später reflektieren Mutter und Tochter auf einer Rikscha-Fahrt, wie es zum Auszug des Vaters kommen konnte. Die Vorwürfe, die die Tochter damals an die Mutter gerichtet hatte, gibt Mrs. Hsu nun zurück. Der Vater habe immer nur Augen für seine Tochter gehabt, Xiaohan habe beim Erwachsenwerden die Mutter aus ihrer Rolle als Partnerin verdrängt. Um über ihr Verhalten nachzudenken und zu sich selbst zu finden, schickt Mrs. Hsu ihre Tochter aus der Stadt zu einer Tante und versichert, ihre Tochter Xiao-han niemals aufzugeben.

SYNOPSIS

Xiao-han feels her way through the darkness up a stairway of an apartment block with her friend Ling-chin. Both sense the magic and intimate atmosphere of the location. Xiao-han tells her friend that she would like to live the rest of her life here at home as she has a close relationship with her father. Ling-shin reveals that in comparison, she comes from a broken and impoverished family in which her father and brother have died. A month later, Xiaohan waits in vain for her father who has lately been suspiciously economical with the truth. Xiao-han provokes her mother Mrs Hsu as she suspects that her father is having an affair. The young Hai-li confirms the suspicions and reveals a secret: Xiao-han’s father has a relationship with Ling-chin. Now that her father’s adultery has also cast a social slur on his daughter Xiao-han, Hai-li is able to pluck up the courage to express his long-held deep feelings for XiaoHan. Would she now wish to move out of her family home? A few weeks later during a journey in a rickshaw, mother and daughter are reflecting how it could have been possible for the father to have moved out. Mrs Hsu now retaliates for her daughter’s criticism of her mother. The father only had eyes for his daughter and Xiao-han had displaced her mother in her role as partner on achieving adulthood. Mrs Hsu sends her daughter out of town to stay with an aunt to allow her to consider her conduct and find herself, vowing never to give up her daughter Xiao-han.

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KOMMENTAR

Heart Sutra basiert auf der Kurzgeschichte The Love of a Falling Leaf der chinesischen Autorin Eileen Chang (1920–1995). Changs Werk wurde in viele westliche Sprachen übersetzt. Sie lebte in Shanghai und Hongkong und übersiedelte 1955 in die USA. Neben Romanen und Erzählungen schrieb sie auch Drehbücher. „Ich muss gestehen, dass ich Eileen Chang, der wohl bedeutendsten Autorin der chinesischsprachigen Welt des 20. Jahrhunderts, regelrecht verfallen bin. In ihren Erzählungen lotet sie häufig faszinierende Frauengestalten aus. Der Zauber ihrer meist im Shanghai oder Hong Kong der Dreißiger- und Vierzigerjahre angesiedelten Geschichten bietet spannungsgeladenen Raum für eine musikdramatische Umsetzung. Oft ist das Gesagte, das Durchlebte, sind die meist von Liebe und Erotik geprägten Handlungsstränge in der Andeutung von einem unsichtbar-tropischen Schleier überzogen.“ (Christian Jost)

Die zentrale Figur des Stückes ist der Vater, der für alle eine Projektionsfläche darstellt und nie auftritt. Seine Gunst und Zuneigung sind für das Selbstwertgefühl der drei Frauen unerlässlich. Das trifft nicht nur auf die Geliebte Ling-chin, sondern auch auf seine Frau und seine Tochter zu, denn an eine intakte Ehe und Familie knüpft sich sozialer Status. Durch die Darstellung der Abhängigkeit kritisiert die Autorin ein gesellschaftliches Rollengefüge, in dem der Mann das wirtschaftliche Zentrum darstellt. Dennoch sind die Frauen keine passiven Dulderinnen ihrer Beziehungen. Insbesondere die Hauptfigur Xiao-han erweist sich in ihrer fast inzestuösen Bindung an den Vater als ein aktiver Teil der Familiendynamik, aus der sie sich schlussendlich befreit.

Christian Jost verwendet lediglich Vibraphon, Marimbas und einen kleinen Streicherapparat, um allen Schattierungen von Zuneigung, Maskerade, Neid und offenem Hass Ausdruck zu verleihen. Das Stück dauert nur 50 Minuten und lässt sich gut mit einem weiteren Einakter kombinieren. Bei seiner deutschen Erstaufführung stellte ihm das Pfalztheater Kaiserslautern Toshio Hoskawas The Raven zur Seite.

COMMENTARY

Heart Sutra is based on the short story The Love of a Falling Leaf by the Chinese author Eileen Chang (1920–1995). Chang’s work has been translated into many Western languages. The author lived in Shanghai and Hong Kong before emigrating to the USA in 1955. Alongside her novels and short stories, she also wrote screenplays. ‘I must admit that I am totally addicted to Eileen Chang who was probably the most significant female author in the Chinese-speaking world of the 20th century. She frequently features fascinating female figures in her short stories. The bewitching quality of her tales set primarily in Shanghai or Hong Kong in the 1930s and 1940s makes them ideally thrilling for a musical-dramatic setting. What is said and experienced and the various strands of the plot, which are mainly characterised by the themes of love and eroticism, are all shrouded in an invisible tropical veil.’ (Christian Jost)

The central figure in the work is the father who is a projection screen for all other protagonists although he never physically appears. His favour and affections are vital for the self-esteem of the three women and is not only valid for his mistress Ling-chin, but also his wife and daughter, as social status rises and falls with an intact marriage and family life. In her representation of dependency, the author is criticising a social hierarchy in which the man represents the economic core. This does not however mean that the female protagonists merely endure their relationships passively. The main character Xiaohan, in particular, plays an active role within the dynamics of the family in her almost incestuous bond with her father from which she is ultimately able to extricate herself.

Christian Jost limits himself to vibraphone, marimbas and a small string section to express all shades of affection, masquerade, jealousy and undisguised hatred. The work is only 50 minutes in duration, and is therefore suitable in combination with an additional one-act work. In the world premiere at the Pfalztheater Kaiserslautern in Germany, the opera was paired with Toshio Hosokawa’s The Raven.

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WERKINFORMATIONEN / FACTS

heart sutra

Chamber opera in 4 scenes and a prologue (2012)

Based on the short story of the same name and the poem ‘The Love of a Falling Leaf’ by Eileen Chang

Libretto by Joyce Chiou (Eng.)

Personen / Cast: Daughter/Xiao-han · Sopran - Girl Friend/Ling-chin · Sopran - Mother/Mrs. Hsu · Mezzosopran - Boy Friend/Hai-li · Tenor

orchester / orchestra: S. (Vibr. · Marimba) (1 Spieler) - Str.

Heart Sutra National Theater & Concert Hall Taipei 2013

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50’

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 2. März 2013 Taipei, National Concert Hall (TW) · Dirigent / Conductor: Christian Jost · National Symphony Orchestra · Inszenierung / Staging: Huan-Hsiung Li · Bühnenbild / Stage Design: Wei-Wen Chang

Deutsche Erstaufführung / German premiere: 18. Juni 2017 Kaiserslautern, Pfalztheater (D) · Dirigent / Conductor: Johannes Witt · Inszenierung / Staging: Martina Veh · Bühnenbild und Kostüme / Stage and Costume Design: Christl Wein-Engel

Luxemburgische Erstaufführung / Luxembourgian premiere: 7. Dezember 2017 Luxembourg, Théâtre National (L) · United Instruments of Lucilin · Dirigent / Conductor: Jonathan Kaell · Inszenierung / Staging: Martina Veh · Bühnenbild und Kostüme / Stage and Costume Design: Christl Wein-Engel

Weitere Produktionen / Further productions: 29. Mai 2020 Würzburg, Hochschule für Musik (D) · Dirigent / Conductor: Yuuko Amanuma · Inszenierung / Staging: Katharina Thoma · Kostüme / Costume Design: Moritz Haakh · Bühnenbild / Stage Design: Katharina Thoma und Andreas Herold

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Lover

INHALT

Lover ist ein großformatiges Werk für Chor und umfänglichen Schlagzeugapparat. Anders als in Angst gibt es keine Solostimmen. Das Stück wurde zu seiner Uraufführung für das U-Theatre Taiwan geschrieben, das Trommeln mit meditativer Zen-Ausübung verbindet. Das Tanzensemble übernahm also auch den perkussiven Part.

Christian Jost entwickelte das Stück während seiner Zeit als Composer in Residence beim National Symphony Orchestra, Taiwan. Er versteht es als Begegnung von westlicher und östlicher Kultur. Die Ausführenden schlagen und streichen chinesische Trommeln und Klangschalen, darunter auch den Cloud Gong, der aus 38 kleinen, in einem Holzgestell aufgehängten Gongs besteht. Der riesige Monk Gong gibt tiefe, markerschütternde Vibrationen ab, die direkt auf den Körper übergehen.

KOMMENTAR

Christian Jost errichtet sein Werk in sechs Sätzen. Alle Sätze fußen auf jeweils einem Gedicht, nur der fünfte ist ein instrumentales Zwischenspiel. Zwei altchinesische Verse im ersten und sechsten Satz umrahmen drei Gedichte des amerikanischen Dichters Edward Estlin Cummings (1894–1962). Lover beginnt mit einem Text aus dem klassischen Shi-Jing, dem chinesischen Buch der Lieder, das etwa 800 Jahre vor Christus entstand. Darin vergleicht das lyrische Ich einen fliegenden Fischadler mit einem Liebhaber, der in der Dame seines Herzens – der Luft – aufgeht, ohne sie ganz besitzen zu können. Cummings Gedichte spannen den Bogen ins 20. Jahrhundert. In may i feel said he beschreibt der Dichter den intimen Dialog eines Paars bis zum Höhepunkt des Liebesakts. Lover wirkt auf der Bühne nicht nur erotisch, sondern besitzt auch eine rituelle Strenge. „Während die Musik im Westen schon früh den Weg zum Virtuosentum gegangen ist und sich

SYNOPSIS

Lover is a large-scale work for choir and extended percussion group. Unlike Angst, it contains no solo vocal parts. The piece was composed for a world premiere at the U-Theatre Taiwan where drumming is combined with meditative Zen practices. The dancers, who were also percussionists, simultaneously undertook the role of performing musicians. Christian Jost developed the work during his period as composer in residence at the National Symphony Orchestra, Taiwan. He viewed this project as an encounter between Western and Eastern culture. The performers beat and stroke Chinese drums and singing bowls, including the cloud gong consisting of 38 small gongs suspended from a wooden frame. The gigantic monk gong produces low, blood-curdling vibrations which have a direct effect on the body.

COMMENTARY

Christian Jost’s work is divided into six movements. Each of these is based on a poem with the exception of the fifth movement which is a purely orchestral interlude. Two ancient Chinese verses in the first and sixth movements frame three poems by the American poet Edward Estlin Cummings (1894–1962).

Lover begins with a text from the classical Shi-Jing, the Chinese book of songs, which was compiled around 800 BCE. In this poem, the lyrical ego compares a flying osprey to a lover who merges in the lady of his heart the air – without being able to be completely possessed. Cumming’s poetry forges a connection with the 20th century. In may i feel said he, the poet describes the intimate dialogue of a couple up to the climax of their love-making.

In performance, Lover conjures up an atmosphere which is both erotic and yet strict with a ritual feel. ‘Whereas Western music swiftly

auf das solistische Individuum ausgerichtet hat, ist sie im Osten nahezu immer spirituell geprägt und in ein kollektives Ritual eingebunden“, führte der Komponist aus. Als Dirigent in Berlin und Taipeh prägte Jost die theatrale Wirkung seines Werkes maßgeblich mit. Mit Lover – Sky Song legte er 2017 ein instrumentales Stück für Schlagzeug, Klavier, E-Bass und Streichorchester vor, in dem er die perkussiven Elemente von Lover weiterentwickelt.

found its way towards virtuosity with a principal focus on the soloist, Eastern music has largely remained spiritual in nature and integrated in collective ritual’, the composer explains. Jost intensely shaped the theatrical effect of his work in his role as conductor in Berlin and Taipei. In 2017, he produced an instrumental work for percussion, piano, electric bass guitar and string orchestra entitled Lover – Sky Song in which he further developed the percussive elements of Lover

WERKINFORMATIONEN / FACTS

Lover

Music-dance-theatre for mixed chorus and percussion (2013)

Personen / Cast:

orchester / orchestra: S. (Vibr. · chin. Beck. · Hi-Hat · Tibetian Bell · Cloud Gongs · Gings · Pitched Gongs · Magic Gongs · Monk Gongs · Tamt. · Guzheng · 4 Small-High-Drums · 3 Small-Low-Drums · 6 Waist-Drums [12’, 10’, 10’, 8’, 8’, 6,5’] · 4 Mid-Drums [22’, 22’, 20’, 20’] · Big Drum · 2 Woodbl. · 2 Tempelbl.) (16 Spieler) - gem. Chor (SMezATBarB)

60’

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 02. April 2014 Berlin, Kraftwerk (D) · Dirigent / Conductor: Christian Jost · Rundfunkchor Berlin · Inszenierung / Staging: Ruo-Yu Liu · Kostüme / Costume Design: Johan Ku ·

Bühnenbild / Stage Design: Keh-Hua Lin · Scenic Design: Yu-Kai Hsu

taiwanesische Erstaufführung / taiwanese premiere: 25. Februar 2016 Taipei, National Theatre (TW) ·

Dirigent / Conductor: Christian Jost · Rundfunkchor Berlin · Inszenierung / Staging: Ruo-Yu Liu · Choreinstudierung / Choir Staging: Huang Chih-chun

Japanische Erstaufführung / Japanese premiere: 5. März 2016 Hong Kong, Cultural Center (J) · Dirigent / Conductor: Christian Jost · Rundfunkchor Berlin · Inszenierung / Staging: Ruo-Yu Liu · Choreinstudierung / Choir Staging: Huang Chih-chun

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Rote Laterne
Opernhaus Zürich © Monika Rittershaus

rote Laterne

INHALT

Song-Lian kommt als vierte und jüngste Herrin ins Haus vom alten Master Chen. Eigentlich wollte sie weiter studieren, aber nachdem sich ihr Vater selbst ertränkt hat, geriet das Leben der jungen Frau durcheinander. Von Anfang an wird sie beargwöhnt. Die dritte Herrin MayShan beobachtet die neue Frau und Master Chen beim Liebesspiel und schickt die Dienerin Yen-Er, um die beiden zu stören. Die zweite Herrin schenkt ihr zwar Seide für ein neues Gewand, aber ihre Zwillinge beschimpfen sie als Konkubine. Nur mit Fay-Pu, dem erwachsenen Sohn des Masters, versteht sich SongLian. Er ist genauso unglücklich im Haus, doch weist er ihre erotischen Annäherungen zurück. Um der Missgunst der Frauen auf den Grund zu gehen, dringt Song-Lian in die Kammer der Dienerin Yen-Er ein, sprengt vor ihren Augen ein Kistchen und findet darin eine Puppe, die mit Nadeln durchstochen ist, und auf die man „Song-Lian“ geschrieben hat. Song-Lian bringt aus der Dienerin heraus, dass die erste Herrin die Puppe beschrieben hat. Als sich Yu Ru, die erste Herrin, anschließend von Song-Lian frisieren lässt, schneidet sie ihr halb versehentlich, halb absichtlich ins Ohr. Als unstete Verbündete bleibt Song-Lian nur die dritte Herrin, die ein heimliches Verhältnis mit dem Hausarzt unterhält. Getrieben von der allgemeinen Ablehnung des Hauses, aber auch durch grobe Verletzungen der Hausregeln und durch Widerspruch gegen ihre Position verspielt Song-Lian am Ende auch die Gunst des Masters. In umnachteter Wut stopft sie Yen-Er die zerrissene Puppe in den Mund, woran die Dienerin stirbt. Am Brunnen im Hof begegnet sie dem Geist der Verstorbenen – und ihrem eigenen: Ein Bote, durch den sie versteht, wie nah sie dem Totenreich ist.

SYNOPSIS

Song-Lian is the fourth mistress to move into the house of the old Master Chen. Her original ambition was to continue her studies, but since her father drowned himself, the young woman’s life has become disrupted. She is treated with suspicion right from the start. The third mistress, May-Shan, observes the new woman and Master Chen during sexual intercourse and sends the servant Yen-Er to disturb them. Although the second mistress gives Song-Lian silk for a new dress, her twins taunt her, calling her a concubine. Fay-Pu, the adult son of the Master, is the only person who understands Song-Lian. He also feels uncomfortable in the house, but rejects her erotic approaches. In her quest to get to the bottom of the resentment on the part of the other women, Song-Lian forces her way into the chamber of the servant Yen-Er, breaks open a box, and discovers that it contains a doll stuck full of pins which someone has labelled with the name Song-Lian. Song-Lian succeeds in making the servant admit that it was the first mistress who labelled the doll. When the first mistress, Yu Ru, is having her hair done by SongLian shortly afterwards, the latter cuts into her ear, half unintentionally and half deliberately. Song-Lian’s only ally is the third mistress who is having a secret affair with the physician of the house. Driven by her general hostility towards the house but also her gross infringement of its rules and the contradictions of her position, Song-Lian ultimately falls out of favour with the Master. In a fit of uncontrollable rage, she stuffs the torn doll into Yen-Er’s mouth and the servant dies as a consequence. She encounters the spirit of the deceased – along with her own – at the fountain in the courtyard: this is a message, showing her how close she is to the realm of the dead.

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KOMMENTAR

Rote Laterne beruht auf dem Roman Wives and Concubines von Su Tong aus dem Jahr 1990. Aus dem Roman entstand 1991 die Filmadaption Rote Laterne. Die Geschichte spielt in den Zwanzigerjahren. Aber nur die Vorgeschichte Song-Lians, die als Frau studieren durfte, weist auf ein modernes Zeitalter hin. Die Familienstruktur mit einem Mann, der Beziehungen zu mehreren in seinem Haushalt lebenden Frauen unterhält, ist hingegen streng traditionell. Christian Jost erzählt die Geschichte über die Hauptfigur Song-Lian, die durch äußere Einflüsse und eigene Fehler immer tiefer fällt. Alle Figuren sind Gefangene und suchen nach Auswegen aus ihrer Lage. Die erste Herrin flüchtet sich in die buddhistische Religion, die zweite in die Selbstverleugnung. Die dritte Herrin, die schöne ehemalige Opernsängerin May-Shan, stürzt sich in ihre Affäre mit dem Hausarzt. Der offenkundig homosexuelle Fay-Pu, Chens Sohn, zieht sich in sich selbst zurück. Song-Lian, die Hauptfigur, wird wahnsinnig. Sie begegnet ihrem eigenen Geist – ein Duett mit der eigenen (vorher aufgenommenen) Stimme.

Der Titel der Oper bezieht sich auf die Laternen, die im Film den Hof erleuchten, in dem Master Chen die Nacht verbringt. Alle Orte im Stück sind verschlossen und zugleich auf grausame Weise für die Hausgemeinschaft öffentlich. Eine besondere Bedeutung hat der Brunnen, der keiner Frau zugeordnet ist. Er ist ein Ort der Kommunikation, aber auch der Geister und der Dämonen aus der Vergangenheit.

Jost hat sein Orchester durch einige chinesische Becken erweitert und überzieht seine Musik mit einer feinen, fremdländischen Note. Wie so oft gehen die Szenen direkt ineinander über. Bei der deutschen Erstaufführung des Werks

2022 am Prinzregententheater in München stand der Komponist selbst am Pult und sorgte für fließendere Tempi als bei der Uraufführung. „Das Jahr, das Sing-Lian bei Master Chen verbringt, folgt der Logik eines Albtraums, in dem die Jahreszeiten willkürlich wechseln. Die komplette Handlung meiner Oper wird von SongLians Blick auf die Dinge gesteuert. Wie in einem Traum gibt sie sich den Ereignissen hin,

COMMENTARY

Rote Laterne [Red Lantern] is based on the novel Wives and Concubines by Su Tong published in 1990. The film adaptation of the novel entitled Rote Laterne was created in 1991. The story is set in the 1920s, but the only clue setting the tale in modern times is Song-Lian’s backstory of being able to study despite being a woman. In contrast, the family structure consisting of a single man in relationships with a number of different women within the same household harks back to strict traditions. Christian Jost tells the story of the main character Song-Lian who falls progressively deeper into troubled circumstances through external influences but also due to her own mistakes. All of the protagonists are prisoners seeking for solutions to extricate themselves from their situation. The first mistress escapes into the Buddhist religion, the second into a state of self-denial. The third mistress, the former opera singer May-Shan, throws herself into her affair with the house physician. The apparently homosexual Fay-Pu, Chen’s son, withdraws into himself. The main character, Song-Lian, goes mad. She encounters her own soul – a duet with her own (prerecorded) voice.

The title of the opera refers to the lanterns which in the film version illuminate the courtyard in which Master Chen spends his nights. All locations in the work are closed to the outside world and yet cruelly visible to the other members of the household. The fountain which is not allocated to a particular woman plays a prominent role in the story as a place of communication, but also as a receptacle for the spirits and demons from the past.

Jost added several Chinese cymbals to the orchestra and clothes his music in a fine and yet foreign tone. As is frequently the case, the scenes run directly into one another. In the German premiere of the work in 2022, the composer conducted his own work at the Prinzregententheater in Munich, playing faster tempos than in the world premiere.

‘The year Song-Lian spends with Master Chen adheres to the logic of a nightmare in which the seasons alter as they please. The entire plot of

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Rote Laterne Theaterakademie August Everding
© Jean-Marc Turmes

durch die sie erkennt, dass in den Tiefen eines Brunnens das Geheimnis liegt, das sie in dieser Welt festhält.“ (Christian Jost)

my opera is steered by Song-Lian’s view of the world. As if in a dream, she abandons herself to her fate, recognising that the secret keeping her in this world lies at the bottom of a well.’ (Christian Jost)

WERKINFORMATIONEN / FACTS

rote Laterne

Oper nach dem Roman „Wives and Concubines“ von Su Tong (2014) (dt.)

Personen / Cast: Song-Lian · lyr. Sopran - May-Shan · Koloratur-Sopran - Zhuo-Yun · MezzosopranYu-Ru · Alt - Master Chen · Bariton - Fay-Pu · Tenor - Yen-Er · Mezzosopran - Yi-Rong · SprechrolleYi-Yun · Sprechrolle - Der Doktor · stumme Rolle - Anula · stumme Rolle

orchester / orchestra: 2 (2. auch Altfl.) · 1 · Engl. Hr. · Klar. · Bassklar. · 1 · Kfg. - 4 · 0 · 0 · 1 - S. (Vibr. · Marimba · Röhrengl. · 3 Beck. · chin. Beck. · 6 Tomt. · 2 Timb. · gr. Tr. · 2 Woodbl.) (6 Spieler) - Hfe.Solo Vl. - Str.

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 8. März 2015 Zürich, Opernhaus (CH) · Dirigent / Conductor: Alain

Altinoglu · Inszenierung / Staging: Nadja Loschky · Bühnenbild und Kostüme / Stage and Costume Design: Reinhard von der Thannen

Deutsche Erstaufführung / German premiere: 18. März 2022 München, Theaterakademie August Everding und Hochschule für Musik und Theater, Prinzregententheater (D) · Münchner Rundfunkorchester · Dirigent / Conductor: Christian Jost · Inszenierung / Staging: Balázs Kovalik · Bühnenbild und Kostüme / Stage and Costume Design: Angelika Höckner

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90’

Dichterliebe

INHALT

Das Werk basiert auf Robert Schumanns gleichnamigen Liederzyklus, der 1861 in Hamburg von Julius Stockhausen und Johannes Brahms erstmalig in zusammenhängender Folge aufgeführt wurde. Schumann komponierte die Lieder um 1840 auf Texte von Heinrich Heine, die zuvor in Heines Buch der Lieder erschienen waren. Christian Jost tastet die Reihenfolge der 16 Lieder nicht an und lässt auch die Texte bis auf ein paar Wiederholungen und Umstellungen unverändert. Lediglich den von Schumann rein instrumental komponierte Epilog, setzt Jost in die Mitte seiner Dichterliebe und markiert hiermit den Wendepunkt innerhalb seiner Konzeption. Entscheidend anders ist die Besetzung. Schumann schrieb seine Lieder für Singstimme und Klavier. Jost hat die Besetzung auf Flöte, Klarinette, Vibraphon/Marimbaphon, Harfe, Klavier/Celesta, zwei Geigen, Viola und Cello ausgeweitet. Außerdem sind die Lieder untereinander verbunden. Durch Zwischenspiele ist der Zyklus, der bei Schumann etwa eine halbe Stunde dauert, auf etwa eine Stunde angewachsen.

SYNOPSIS

The work is based on Robert Schumann’s eponymous lied cycle which was only performed in its entirety for the first time by Julius Stockhausen and Johannes Brahms in Hamburg in 1861. Schumann actually composed the lieder around 1840, utilising texts by Heinrich Heine which had previously been published in Heine’s Buch der Lieder.

Christian Jost does not alter the sequence of the sixteen lieder and also leaves the texts largely unchanged apart from a few repeats and smaller rearrangements. The only major alteration is Schumann’s purely instrumental epilogue which Jost places at the heart of his own Dichterliebe, thereby indicating the turning point in his own conception. The instrumentation however is completely different. Schumann wrote his lieder for voice and piano, whereas Jost has extended the musical forces to include flute, clarinet, vibraphone/marimbaphone, harp, piano/celesta, two violins, viola and cello. What is more, the individual lieder are interlinked, and the inserted interludes augment the cycle, increasing the duration of Schumann’s original version from around half an hour to a complete hour.

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KOMMENTAR

Christian Jost komponiert die Begleitung aus dichten wellenförmigen Legato-Passagen, aus denen die Solostimme auftaucht – wie ein Schiffbrüchiger, wie ein Ertrinkender, aber auch wie ein wackerer Schwimmer, der um sein Überleben kämpft. Der Komponist benutzt mit Vorliebe Wassermetaphern, um die neu komponierten Übergänge zu beschreiben: „Sie bilden das harmonische Meer, auf dem sich die Lieder wie Inseln ausbreiten können.“ Obwohl Jost genau wusste, dass sein Liederzyklus szenisch realisiert werden sollte – schon die Uraufführung im Berliner Konzerthaus war halbszenisch –, hat er daraus keine Oper gemacht. Es handelt sich bestenfalls um ein surreales Stationendrama, um eine „Inseldramaturgie“. „Alles bleibt im Fluss, einem klanglichen Strom des Unbewussten. Begleitet von assoziativen Visualisierungen öffnet mein Werk überraschend einzelne Fenster in die menschliche Seele.“

Dichterliebe ist auch eine Reflexion darüber, wie wir erinnern. Man wundert sich, wenn man in alte Tagebücher schaut, wie kindlich die Handschrift oder wie naiv der Tonfall ist. Warum? Die Erinnerung daran hat sich verändert. Sie wird ab dem Punkt des Erlebten schneller als man denkt zur fixen Projektion. Die Zwischenspiele in Josts Dichterliebe lösen die bei Schumann kristallin und für sich stehenden Bilder auf und geben sie sozusagen dem Meer des gegenwärtigen und heutigen Lebens zurück. Seine Fassung besagt, dass festgefrorene Erinnerungen aufgelöst werden können. Diese Lesart bekommt eine besondere Brisanz durch die Tatsache, dass Josts Ehefrau Stella Doufexis, für die er eigentlich seine Dichterliebe konzipierte, viel zu früh verstarb. Trauer kann versteinernd wirken, sie kann aber auch gelöst werden. Dichterliebe bringt Erinnerung in Bewegung. Von Dichterliebe ist auch eine Fassung für mittlere Stimme (Mezzosopran oder Bariton) lieferbar. Das Werk ist sowohl mit nur einem Sänger oder einer Sängerin als auch mit vielen Sänger:innen konzertant und szenisch in beiden Fassungen realisierbar.

COMMENTARY

Christian Jost composed the accompaniment in dense wave-like legato passages from which the vocal line emerges – like a castaway almost drowning in a shipwreck, but also like a strong swimmer fighting for survival. The composer chooses metaphors linked with water to describe the newly composed transitional passages: ‘They form the harmonic ocean on which the lieder spread apart like a series of islands.’ Although Jost was aware that his lied cycle could also be staged – the world premiere in Berlin was actually given in a semi-staged version – he has not composed an opera. At best, it could be described as a surreal station drama, a type of ‘island dramaturgy’. ‘Everything remains in constant flux, a tonal stream of the unconscious. Accompanied by associative visualisations, my work opens unexpected individual windows of the human soul.’

Dichterliebe is also a reflection on how our memory works. When we look at old diaries, we are amazed at the immature handwriting and the naive content of the entries. Why is this? Our memories of events have become altered and have been transformed into a fixed perception directly after the point of experience faster than we realised at the time. The interludes in Jost’s Dichterliebe dissolve Schumann’s crystalline, self-explanatory images and allow them as it were to return to the ocean of contemporary life in our time. His version demonstrates that fixed memories can be dissolved. This interpretation is given particular poignance through the extremely premature death of Jost’s wife Stella Doufexis, for whom he specifically conceived his Dichterliebe. Grief can appear to be constructed of stone, and yet can also be dissolved. Dichterliebe sets memories into motion.

A version of Dichterliebe for medium voice (mezzo-soprano or baritone) is also available. Both versions of the work can be performed either by a male or female singer or with multiple voices, either in the concert hall or in a staged version.

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WERKINFORMATIONEN / FACTS

Dichterliebe

nach Robert Schumanns „Dichterliebe“ op. 48 auf Texte von Heinrich Heine Fassung für hohe Stimme (Tenor oder Sopran) und 9 Instrumentalisten (2017) (dt.)

orchester / orchestra: Fl. · Klar. · Vibr. (auch Marimba) · Hfe. · Klav. (auch Cel.) · 2 Vl · Vla. · Vc.

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65’
Dichterliebe Konzerthaus Berlin © Markus Werner

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere (halbszenisch): 21. Oktober 2017 Berlin, Konzerthaus, Werner-OttoSaal (D) · Dirigent / Conductor: Christian Jost

Uraufführung / World premiere (szenisch): 17. Feb 2019 Staatstheater Braunschweig, Kleines Haus (D) · Dirigent / Conductor: Samuel Emanuel · Inszenierung / Staging: Isabel Ostermann · Bühnenbild / Stage Design: Stephan von Wedel

Weitere Produktionen / Further productions: 12. Dezember 2019 Dortmund, Konzerthaus (D) · Dirigent / Conductor: Christian Jost (konzertant)

16. Februar 2020 Saarbrücken, Alte Feuerwache (D) · Dirigent / Conductor: Christian Jost (konzertant)

20. Juni 2020 Darmstadt, Staatstheater (D) Filmisches Musiktheaterprojekt (online)

26. Juni 2020 Darmstadt, Staatstheater (D) · Dirigent / Conductor: Jan Croonenbroeck · Inszenierung / Staging: Franziska Angerer · Kostüme / Costume Design: Carolin Müller-Dohle; Franziska Angerer · Bühnenbild / Stage Design: Fabio Stoll (Live-Konzert mit dem vorher online veröffentlichten Film)

21. August 2020 Konstanz, RathausOper, Rathausinnenhof (D) · Dirigent / Conductor: Eckart Manke · Inszenierung / Staging: Daniel Grünauer

30. Mai 2021 Leipzig, Hochschule für Musik, Großer Saal (D) · Dirigent / Conductor: Matthias Foremny · Inszenierung / Staging: Caroline Gruber

19. Jul 2021 München, Theaterakademie August Everding, Reaktorhalle (D) · Dirigent / Conductor: Joachim Tschiedel · Inszenierung / Staging: Isabel Ostermann · Kostüme / Costume Design: Julia Burckhardt · Bühnebild / Stage Design: Stephan von Wedel

südkoreanische Erstaufführung / south korean premiere: 1. April 2018 Tongyeong, Concert Hall (ROK) · Dirigent / Conductor: Christian Jost (konzertant)

Dänische Erstaufführung / Danish premiere: 8. August 2018 Kopenhagen, Det Kongelige Teater (DK) · Dirigent / Conductor: Christian Jost

Polnische Erstaufführung / Polish premiere: 22. August 2019 Krzyz˙owa, Konzertsaal (PL) · Dirigent / Conductor: Christian Jost

amerikanische Erstaufführung / Us premiere: 14. Februar 2020 Washington DC, Live! @ 10th & G (USA) · Dirigent / Conductor: Alejandro Hernandez-Valdez

Chinesische Erstaufführung / Chinese premiere: 9. Mai 2020 Shanghai (PRC) · Dirigent / Conductor: Christian Jost

schwedische Erstaufführung / swedish premiere: 27. Mai 2021 Stockholm (S), Folkoperan · Dirigentin / Conductor: Marit Strindlund · Inszenierung / Staging: Tobias Theorell

türkische Erstaufführung: / turkish premiere: 20. September 2021 Istanbul, Zorlu Performing Arts Center (T) · Dirigent / Conductor: Christian Jost

schweizer Erstaufführung / swisse premiere: 15. Februar 2023 Biel, Kongresshaus (CH) · Dirigent / Conductor: Yannis Pouspourikas

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Egmont Theater an der Wien 2020 © Monika Rittershaus

Egmont

INHALT

Brüssel im 17 Jahrhundert. Die spanische Krone unter König Philipp hat das Land besetzt. Die Schwester des Königs, Margarete von Parma, berät mit dem beliebten Grafen Egmont, wie man mit dem Freiheitsdrang der Niederländer umgehen soll. Egmont unterstützt den Ruf nach einer eigenen Verfassung, doch der spanische König ist ungeduldig und hat bereits Herzog Alba geschickt. Alba beauftragt den Berater Machiavell, Margarete zu töten. Mit dem Schwert will Alba für die Anerkennung der Krone und die Durchsetzung des katholischen Glaubens kämpfen – es ist ihm recht, dass Philipp in Spanien dabei nicht genau zusehen kann. Alba droht Egmont offen, auch ihn töten zu lassen. Die entwurzelte Clara, Egmonts Geliebte, will er zwingen, ihm zu folgen. Vergeblich hatte die junge Niederländerin zuvor versucht, Egmont zur Flucht zu bewegen. In seiner letzten Stunde beschwört Egmont Albas Sohn Ferdinand, sich an den spanischen König zu wenden, die Vernunft siegen zu lassen und sich gegen den rasenden Vater zu stellen. Zusammen mit Clara beschließt Ferdinand, das Erbe Egmonts anzutreten und für die Freiheit der Niederländer einzustehen.

SYNOPSIS

The location is Brussels in the 17th century which has been conquered by the Spanish crown under King Philipp. The king’s sister Margarete von Parma is seeking advice from her beloved Count Egmont on how to control the urge for freedom on the part of the Dutch. Egmont declares his support for the demand for an individual constitution, but the Spanish king is impatient and has already sent the Duke of Alba who instructed his adviser Machiavell to kill Margarete. Alba is willing to fight with his sword for the recognition of the crown and the enforcement of the Roman Catholic faith – he is glad that Philipp is in Spain and not present to witness his deeds. Alba also openly threatens Egmont with death and attempts to persuade Egmont’s mistress, the uprooted Clara, to follow him. The young Dutchwoman had previously unsuccessfully tried to urge Egmont to flee. In the last hour of his life, Egmont beseeches Alba’s son Ferdinand to consult the Spanish king, allow reason to prevail and stand up to his raging father. Together with Clara, Ferdinand resolves to follow in the footsteps of Egmont and take a stand for the freedom of the Dutch people.

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KOMMENTAR

Christian Jost schrieb das Stück anlässlich des Beethovenjahres 2020, allerdings erklingt keine einzige Note aus Beethovens berühmter Schauspielmusik. Der Bezug zu Beethoven liegt vielmehr im Bekenntnis zu politischer Freiheit und in der Vertonung seines berühmten Briefes an die „Unsterbliche Geliebte“.

„Das Drama gleichen Titels von Goethe diente mir als eine Art Matrix. Das komplett neu verfasste Libretto von Christoph Klimke und mir ist wie ein episches Gedicht, in dem das freiheitliche Gesellschaftsbild Egmonts auf die kalkulierende, rein dem Machterhalt dienende Diktatur des Grafen Alba stößt. Die Personenzahl ist auf sechs reduziert, sämtliche Figuren agieren auf Augenhöhe. Goethes Clärchen wurde zu Clara aufgewertet. Das Stück ist kein reines Drama zwischen Gut und Böse, da aktuelle Fragen und Konflikte verhandelt werden: Inwieweit ist eine Gesellschaft manipulierbar und ab wann kippt ein System unabhängig von seinen moralischideologischen Werten?” (Christian Jost)

Entscheidend für die Anlage des Stücks ist der Eingangschor. Der Vorhang hebt sich über einem „dampfenden Schlachtfeld“. Musikalisch stellt Jost den Blutnebel mit sphärischen Klängen dar. Das mit dem Bogen gestrichene Vibraphon, das Tremolo in den Geigen, das Glissandi der Celli, die Flatterzunge bei den Flöten entziehen dem Publikum die musikalische Orientierung und machen das Bodenlose der Situation deutlich. Hier werden die Konsequenzen von Gewaltherrschaft und Inquisition, aber auch von Aufruhr und Widerstand deutlich, über die später verhandelt werden. Der Text, den der Chor in diesem Tableau singt, ist kein Schlachtengesang, sondern besteht aus neu zusammengestellten Sätzen des erwähnten Briefes: „Mein Engel, mein Alles, mein Ich. Wo ich bin, bist du mit mir.“ Die Verse haben nichts mit einem militärischen Totengedenken zu tun, sondern klingen wie eine persönliche Erinnerung. Schlachtfeld und Seelenraum: Die erste Szene stellt exemplarisch die zwei ineinander verschlungenen Geschichten der Oper dar. Das politische Ringen um Freiheit, bei dem

COMMENTARY

Christian Jost wrote this work during Beethoven’s anniversary year in 2020, although his composition does not contain a single bar of Beethoven’s well-known incidental music of the same name. The actual connection with Beethoven has far more to do with the resolution for political freedom and a musical setting of Beethoven’s famous letter to his Immortal Beloved [Unsterbliche Geliebte].

‘Goethe’s drama of the same name served as a sort of matrix. The completely new libretto that Christoph Klimke and I created is almost like an epic poem in which Egmont’s liberal image of society clashes against the calculating dictatorship of the Duke of Alba who is entirely focused on retaining his power. The cast has been reduced to six figures and all protagonists act on an equal footing. Goethe’s “Clärchen” (diminutive form) has been elevated to the more mature-sounding Clara. This is however no mere drama between good and evil, as topical issues and conflicts are simultaneously addressed: to what extent is a society manipulable and when does a system collapse independently of its moral and idealistic values?’ (Christian Jost)

The opening chorus is decisive for the structure of the work. The curtain rises on a ‘steaming battlefield’. Jost depicts the blood-ridden fog with unearthly sounds: the vibraphone played with a bow, the violin tremolo, the cello glissandos and the flutter-tonguing of the flutes all act as a musical disorientation for the audience, thereby highlighting the utter hopelessness of the situation. Here the consequences of violent despotism and inquisition are impossible to ignore, as are equally the results of civil upheaval and resistance which will subsequently be the subject of negotiation. The text sung by the chorus in this tableau is not a battle song, instead consisting of newly compiled sentences from the above-mentioned letter: ‘My angel, my everything, my Self. Where I am, you are with me.’ These verses have absolutely nothing to do with a military commemoration of the dead, sounding far more like a personal remembrance. The battlefield and the spaces of

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Egmont im Mittelpunkt steht, und der persönliche Kampf um den Erhalt einer Beziehung, bei der Clara die treibende Kraft ist. Analog zu Angst und Rumor lässt sich auch Egmont als Reise ins Innere einer einzigen Figur verstehen. Die sphärischen Chöre, die poetische Referenz an die Natur, das wiederholte Aufrufen des Briefs, die eng verwobene musikalische Struktur erinnern an einen „Stream of Consciousness“. Regieteams ist es freigestellt, Egmont als politisches Ideendrama, als Liebesgeschichte oder als Traum zu inszenieren, in dem Liebe, Freiheit und Aufruhr miteinander verknüpft und aufeinander bezogen sind.

the soul: the initial scene is exemplary for the pair of entwined narratives of the opera. These are the political struggle for freedom in which Egmont stands at the heart, and the personal struggle for the retention of a relationship in which Clara is the driving force. In a similar manner to Angst and Rumor, Egmont can also be understood as a journey into the interior of an individual figure. The unearthly choruses, poetic references to nature, the repeated invocations in the text and the closely woven musical structure are reminiscent of a stream of consciousness. Production teams are free to stage Egmont as a political drama of ideas, a love story, or a dream in which love, freedom and unrest are interlinked with and related to each other.

WERKINFORMATIONEN / FACTS

Egmont

Oper in 15 Szenen (2018–2019)

Libretto von Christoph Klimke und unter der Mitarbeit des Komponisten unter Verwendung von Texten von Johann Wolfgang von Goethe (dt.)

Personen / Cast: Graf Egmont · Tenor - Herzog Alba · Bariton - Clara · Sopran - Margarete von Parma · Alt - Ferdinand, Albas Sohn · Mezzosopran - Machiavell · Bariton - Sechsstimmiger Chor

orchester / orchestra: 2

auch Kfg.)

Mar.) (2 Spieler) - Hfe. · Klav. - Str.

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung: / World premiere: 7. Feb 2020 · Wien, Theater an der Wien (A) · Dirigent / Conductor: Michael Boder · ORF Radio-Symphonieorchester Wien · Arnold Schoenberg Chor · Inszenierung / Staging: Keith Warner · Bühnenbild und Kostüme / Stage and Costume Design: Ashley Martin-Davis

Deutsche Erstaufführung: 23. April 2022 Bielefeld, Theater Bielefeld (D) · Dirigent / Conductor: Alexander Kalajdzic

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2 · 2 · 2 (2.
- 2 · 2 · 3 · 1 - S. (Vibr. ·
·
Egmont Theater an der Wien 2020 © Monika Rittershaus

1963 Geboren am 17. Oktober in Trier Born in Trier on 17 October

1983–88 Studium der Komposition bei Bojidar Dimov in Köln

1988/89 Komposition und Dirigieren bei David Sheinfeld am San Francisco Conservatory of Music

Förderung durch Stipendien der Stiftung Kulturfonds des Deutschen Volkes und der Stiftung Kunst und Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen

1989 Uraufführung von fragile eggshell mind für Sprecher und Kammerensemble in San Francisco

1994 Uraufführung Odyssée surréale für 23 Solostreicher bei den Internationalen Fredener Musiktagen

1996–98 Regelmäßige Reisen in die Volksrepublik China und intensive Zusammenarbeit mit verschiedenen chinesischen Orchestern

1997 Uraufführung von TiefenRausch für Violine und Orchester in Koblenz

1999/2000 Erster Composer in Residence des Orchesters der Beethovenhalle Bonn: Uraufführung von The End of the Game für großes Orchester

Uraufführung von Paradox für Sopran, Englischhorn, Viola, Violoncello und Klavier in Berlin

Studies composition with Bojidar Dimov in Cologne

Studies composition and conducting with David Sheinfeld at the San Francisco Conservatory of Music

Scholarships of the Stiftung Kulturfonds des Deutschen Volkes and the Stiftung Kunst und Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen (Foundation of Arts and Culture of North RhineWestphalia)

World premiere of fragile eggshell mind for speaker and chamber ensemble in San Francisco

World premiere of Odyssée surréale for 23 solo strings at the Internationale Fredener Musiktage

Travels regularly to the People's Republic of China and works intensively with various Chinese orchestras

World premiere of TiefenRausch for violin and orchestra in Koblenz

First Composer in Residence of the Bonn Beethovenhalle Orchestra: world premiere of The End of the Game for large-scale orchestra

World premiere of Paradox for soprano, cor anglais, viola, violoncello and piano in Berlin

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ChronoLoGiE / ChronoLoGY

2001 Uraufführung des Musikdramas Phoenix resurrexit bei den Mittelrhein Musik Momenten

Konzertante Erstaufführung des Einakters Death Knocks nach dem gleichnamigen Stück von Woody Allen in Hannover

Uraufführungen von DiesIrae, Konzert für Posaune und Orchester in Saarbrücken und KOMA für Mezzospran und Klavier in Bern

2002 Uraufführung des Schlagzeugkonzertes Cosmodromion in Stettin

2003 Förderpreis der Ernst von Siemens Stiftung

Uraufführung von LuxAeterna, Konzert für Saxophon und Orchester in Den Haag

2003/04 Composer in Residence der Staatskapelle Weimar, Uraufführung der CocoonSymphonie für Orchester

2004/05 Composer in Residence der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf: Uraufführung der Oper Vipern

Composer in Residence bei der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz: Erstaufführung der kompletten Requiem-Trilogie Pietà, DiesIrae, Lux Aeterna

2006 Uraufführungen der Choroper ANGST –5 Pforten einer Reise in das Innere der Angst in Berlin, des Orchesterwerks Miserere in Kaiserslautern und Mozarts 13097. Tag, Sinfonia concertante für Violine, Viola und Orchester in Winterthur

2007 Uraufführungen von Konzert für Orchester in Brüssel, des Klarinettenkonzerts Heart of Darkness in Berlin und von Sepulchral City für Klarinette, Violoncello und Klavier beim Jerusalem International Chamber Music Festival

World premiere of the music drama Phoenix resurrexit at the festival Mittelrhein Musik Momente

First concert performance of the one-act opera Death Knocks based on Woody Allen’s play of the same name in Hannover

World premiere of DiesIrae, concerto for trombone and orchestra in Saarbrücken and of KOMA for mezzosoprano and piano in Bern

World premiere of the percussion concerto Cosmodromion in Stettin

Encouragement Award of the Ernst von Siemens Foundation

World premiere of LuxAeterna, concerto for saxophone and orchestra in Den Haag

Composer in Residence of the Weimar Staatskapelle, world premiere of CocoonSymphonie for orchestra

Composer in Residence of the Düsseldorf Deutsche Oper am Rhein: world premiere of the opera Vipern

Composer in Residence of the Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz: first performance of the complete Requiem trilogy (Pietà, DiesIrae, LuxAeterna)

World premieres of the choral opera ANGST – 5 Pforten einer Reise in das Innere der Angst in Berlin, of the orchestral work Miserere in Kaiserslautern and Mozarts 13097. Tag, Sinfonia concertante for violin, viola and orchestra in Winterthur

World premieres Konzert für Orchester in Brüssel and of the clarinet concerto Heart of Darkness in Berlin, as well as Sepulchral City for clarinet, violoncello and piano at the Jerusalem International Chamber Music Festival

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2008 Uraufführung der Oper Die arabische Nacht am Theater Essen

2008/09 Composer in Residence an der Komischen Oper Berlin

Uraufführungen des Orchesterwerks Suspense in Bremen, der Oper Hamlet an der Komischen Oper Berlin und des Orchesterwerks CodeNine bei den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern

2009 Die Oper Hamlet wird von der Zeitschrift „Opernwelt“ zur Uraufführung des Jahres gewählt

World premiere of the opera Die arabische Nacht at the Theatre of Essen

Composer in Residence of the Berlin Komische Oper

World premieres of the orchestral work Suspense in Bremen, of the opera Hamlet at the Berlin Komische Oper and of the orchestral work CodeNine at the Mecklenburg-Vorpommern Festival

The opera Hamlet is named to the world premiere of the year by the journal ‘Opernwelt’

2010/11 Composer in Residence am Theater Dortmund Composer in Residence at the Theater Dortmund

2011 Uraufführungen des Concertino für Violine und Kammerorchester Der Zaubergarten bei den AUDI Sommerkonzerten Ingolstadt und der Kinderoper Mikropolis an der Komischen Oper Berlin

2012 Uraufführungen der Oper Rumor an der Vlaamse Opera Antwerpen, des Tanztheaters DnA an der Oper Graz und des Orchesterwerks Taipei Horizon in Amsterdam

2014 Uraufführung des Tanztheaterstücks Lover in Berlin

2015 Uraufführung der Oper Rote Laterne im Züricher Opernhaus und der BerlinSymphonie in Berlin

2016 Composer in Residence beim Grafenegg Festival: Uraufführung des Blechbläserstücks Fanfare und von An die Hoffnung für Singstimme und Orchester

2017 Uraufführung von Dichterliebe in Berlin

Uraufführung von Shanghai Odyssey –the Bund in Shanghai

World premieres of the concertino for violin and chamber orchestra Der Zaubergarten at the AUDI Sommerkonzerte Ingolstadt and of the children's opera Mikropolis at the Komische Oper Berlin

World premières of the opera Rumor at the Vlaamse Opera Antwerp, of the dance theatre DnA at the Oper Graz and of the orchestral work Taipei Horizon in Amsterdam

World premiere of the dance theatre play Lover in Berlin

World premieres of the opera Rote Laterne (Red Lantern) at the Zurich Opera House and of BerlinSymphonie in Berlin

Composer in Residence at the Grafenegg Festival: world premieres of the brass piece Fanfare and An die Hoffnung for voice and orchestra

World premiere of Dichterliebe in Berlin

World premiere of Shanghai Odyssey –the Bund in Shanghai

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2018 Uraufführung des Orchesterstücks The Woman in the Gardens of Suzhou in Suzhou

2019 Uraufführung von Nocturnal Movements in Berlin, Solist am Klavier: Michael Wollny

2020 Uraufführung der Oper Egmont am Theater an der Wien

Uraufführung des Violinkonzerts

Concerto noir redux in Berlin

2021 Uraufführung des Orchesterwerks Urbanica in Berlin

2022/23

Composer in Residence am Theater

Orchester Biel/Solothurn

Uraufführung des Violinkonzerts

Concerto noir in Biel

2022 Uraufführung der revidierten und erweiterten Fassung von Nocturnal Movements in der Berliner Philharmonie

Christian Jost lebt als Komponist und Dirigent in Berlin.

World premiere of the orchestral piece The Woman in the Gardens of Suzhou in Suzhou

World premiere of Nocturnal Movements in Berlin, Piano soloist: Michael Wollny

World premiere of the opera Egmont at Theater an der Wien

World premiere of the violin concerto

Concerto noir redux in Berlin

World premiere of the orchestral work Urbanica in Berlin

Composer in Residence at Theater

Orchester Biel/Solothurn

World premiere of the violin concerto

Concerto noir in Biel

Premiere of the revised and expanded version of Nocturnal Movements in the Berlin Philharmonie

The composer and conductor Christian Jost lives in Berlin.

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Lover Kraftwerk, Berlin 2014 © Matthias Heyde

HINWEISE / REMARKS

Die Aufführungsmateriale zu den Bühnenwerken dieses Kataloges stehen leihweise zur Verfügung, sofern nicht anders angegeben. Bitte richten Sie Ihre Bestellungen per e-Mail an hire@schott-music.com oder an den für Ihr Liefergebiet zuständigen Vertreter bzw. die zuständige Schott-Niederlassung. Alle Ausgaben mit Editionsnummern erhalten Sie im Musikalienhandel oder über unseren Online-Shop, wo Sie ausgewählte Ausgaben auch als Download bekommen. Kostenloses Informationsmaterial zu allen Werken können Sie per e-Mail bei infoservice@schott-music.com anfordern. Alle Zeitangaben sind approximativ.

Dieser Katalog wurde im März 2023 abgeschlossen.

Für die Originalbeiträge und Originalbilder sind alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten.

The performance materials of the stage works of this catalogue are available on hire upon request, unless otherwise stated. Please send your e-mail order to hire@schott-music.com or to the Schott branch or agent responsible for your territory of delivery. All editions with edition numbers are available from music shops and via our online shop, where selected editions are also available for download. Free promotional material on all works can be requested by email at infoservice@schott-music.com. All durations are approximate. This catalogue was completed in March 2023. All rights are reserved for original contributions and original images. Contributors who could not be notified are requested to contact the publisher for the purpose of subsequent copyright clearance.

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IMPRESSUM / IMPRINT

redaktion / Editor: Joscha Schaback

Übersetzung / translation: Lindsay ChalmersGerbracht

Layout: Stefan Weis, Mainz-Kastel

titelbild / Cover: Egmont

Theater an der Wien 2020

© Monika Rittershaus

Hergestellt / Printed in Germany

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