Schnüss 2012/05

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23.04.2012

7:31 Uhr

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Diogenes aus München »Die Banalität ist so eine große Welt und bietet sehr viel.« Zu Gerhard Polts Siebzigstem indes hat Herlinde Koelbl auf Bitten des Verlegers Peter Haag doch versucht, dem »Jahrhundertkünstler« (Jürgen Roth) Definitionen zu entlocken, »der Person Gerhard Polt anhand mehrerer Gespräche ein wenig genauer auf den Grund zu gehen« (Koelbl). Es ist ihr auf höchst lesenswerte Weise nicht gelungen. Wo Polts Horizont derzeit sei? Sagt er nicht, der Polt. Was Humor ist? Sagt er auch nicht (»Das müsste ich jetzt wieder zu definieren versuchen, und ich definiere ungern.«) – aber dann erzählt er doch eine ganze Menge über das »interessante, aber leider Gottes schwierige Thema«. Was bereitet ihm Genuss? Es ist eine schöne Wendung, dass Polt zu dieser Frage, nachdem seine Gesprächspartnerin die Frage hin und her gedreht, quasi ausgequetscht hat, auf Loriots Sketch zu sprechen kommt, in dem es eine Gattin nicht erträgt, dass der Mann einfach nur sagt: »Ich sitze da«. Nein, Herr Polt macht es Frau Koelbl nicht leicht, seiner Person ›auf den Grund‹ zu gehen – und warum sollte er auch. Schließlich hat er nach eigenem Bekunden selbst wenig Lust, durch »die dunklen Gassen seiner Seele« zu streifen. Lieber bleibt er »ein bisschen in Camouflage«, lieber schaut er, der sich als Chronist versteht, anderen aufs Maul und die Verhaltensweisen. »Ich suche nicht, ich finde«, hat Picasso einmal gesagt – auch Polt ist so ein Künstler, auch er ein Seismograph von Gnaden, von der Art eines Valentin, eines Loriot, eines Jaeger, die ja allesamt ebenfalls nicht nur Humoristen, sondern zugleich Chronisten der Vergeblich- und Absonderlichkeiten menschlichen Seins und Strebens waren. Vermutlich kann Koelbs einiges Verständnis für Polts Neigung zur Camouflage aufbringen, auch sie richtet als Fotografin ja ihre Aufmerksamkeit auf die Menschen vor ihrer Linse und bleibt als Privatperson nicht nur im Hintergrund, sondern kontrollierende Instanz, wird als Persönlichkeit und Künstlerin sichtbar durch ihre Arbeit. So war sie also doch die Richtige, auf ihre Fragen manchmal eben doch Antworten zu bekommen, in denen Polt etwas ausführlicher davon zu erzählen beginnt, wie er seine Arbeit sieht, wie die Welt, das Leben, was ihn freut (das Leben!) und auch, was ihn resignieren lässt (der »Circus Maximus«, wie er die Auswüchse der modernen Mediengesellschaft nennt): »Aber wie gesagt vital. Wenn ich merke, ich kanns nicht ändern, dann trinke ich als Zeichen meiner Resignation im Höchstfall einen Schnaps.« Es gibt Kluges, das zu Polts Kunst gesagt wurde, viel Kluges auch steht in dem luziden Aufsatz, den Jürgen Roth (seinerseits Chronist, siehe seine akustischen Wehner-, Strauß- und Schmidt-Porträts) für das Booklet zu Opus Magnum verfasst hat. Denn es versteht sich ja, dass zum Siebzigsten eine schmucke Geburtstagsbox erscheint, die sämtliche großen und bekannten Nummern von Gerhard Polts Anfängen bis heute versammelt. Die muss man haben und hören, denn das Klügste zu Polts Kunst, hier wird Roth nicht widersprechen, ist in ihr selbst zu finden. Und dass man beim Zuhören auch noch Tränen lacht, ist das große Geschenk. »Also all solche Sachen, die sind heute nirgends mehr auffindbar. Aber nicht, dass ich deshalb nostalgisch werde«, hat er zu Herlinde Koelbl gesagt, als sie über »Verschwundenes« sprachen, über Wirtshäuser, Frisörstuben und andere kleine Läden, über Straßenfußball, »Orte des der Begegnung und des Handelns«. Also, es ist ein Glück, dass Gerhard Polts famose Sprach-, Erzähl-, Beobachtungs- und Wiedergabeartistik weiterhin sehr auffindbar ist. Wir müssten [ G I T TA L I S T ] sonst sehr, sehr nostalgisch werden. Gerhard Polt: Gerhard Polt und auch sonst. Im Gespräch mit Herlinde Koelbl. Kein & Aber 2012, 208 Seiten, 19,90 Euro ders.: Opus Magnum. Kein & Aber 2012, 9 CDs im Schuber, Spieldauer: ca. 8 Std. 30 Min., 49.90 Euro

2012 | 05 · SCHNÜSS

»Dit iss’n navösa Rauchahustn, is ooch nich bessa jewordn inne Jahre« oder Das Leben, meine Herren, kann auch schön sein Rudolf Lorenzen, ein Mann aus dem Norden, (geboren 1922 in Lübeck, aufgewachsen in Bremen und Hamburg) ist gelernter Schiffsmakler, Grafiker, Werber – und hat sich im Leben auch als Literat einiges aufs Kerbholz geschafft. So trieb er sich ab Mitte der 50er Jahre, nachdem er nach Berlin gezogen war, dort als »Boulevardier« durch die Straßen und versorgte diverse Zeitungen mit Reportagen und Glossen aus Berlin West. Er machte sich einen Namen auch als Autor von Essays und Kurzgeschichten, gewann 1957 für seine Erzählung Der junge Mohwinkel (später erweitert in den Roman Alles andere als ein Held, 1959) gar einen Schreibwettbewerb der Süddeutschen, als die noch Schreibwettbewerbe auslobte. Der Roman wurde von der Kritik hoch geschätzt – und ist dennoch nicht in den ›Kanon der deutschen Romane‹ aufgenommen; die stupende Authentizität von Sprache und Stoff war Literaturbetrieb und Leserschaft, die Krieg und Duckmäusertum nur zu nah erlebt hatte und gern vergessen wollte, wohl doch nicht genehm. Lorenzen, weder kultureller Matador noch literarisches Großmaul, ist seit je Einzelgänger (bei der Gruppe 47 wollte er, obzwar eingeladen, nicht mitmachen – sowas rächt sich) und also auch kein ›Großer‹ der Zunft. Ungeachtet dessen ist er ein großer Könner der kleinen Form, wie sie im deutschen Literaturbetrieb eher rar gesät sind – und einer, der echte Sprache schreibt. Das ist jetzt wieder nachzulesen in Die Hustenmary, gesammelten Texten aus fünf Jahrzehnten, die – wie viele weitere seiner Werke – im Verbrecher Verlag erscheinen. Die gleichnamige Titelgeschichte (von 1966) ist ein ununterbrochener O-Ton: Eine Wilmersdorfer Prostituierte erzählt ihr Leben – und da gibt es einiges zu erzählen, von »ausjebombt«, von »Soldatnpuff«, davon, wie sie »jeschuftet un’ jeabeitet« hat »dit janze Leben. Wat könnt ick allet haben, drei Häusa könnt ick haben, aba allet vasoffn«. »So müsste man schreiben«, hat Walter Kempowski über Lorenzen gesagt, den er als eines seiner literarischen Vorbilder nannte. Stimmt – aber das nutzt leider auch nicht immer was, denn da sind ja noch die Verleger, »anscheinend das Unkraut im Garten der Literatur, eigens von der Gesellschaft gezüchtet, dem Autor die Lebensbedingungen zu erschweren« (»Ruiniert mir der brutale Hund alle Hoffnungen«, 1971). Sehr lobenswert, dass die Verbrecher aus der [G.L.] Gneisenaustraße das anders handhaben. Rudolf Lorenzen: Die Hustenmary. Berliner Momente. Verbrecher Verlag 2012, 116 S., 18 Euro

LITERATUR

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