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COVID-19 – DER UNIVERSELLE SÜNDENBOCK?

In unserem Interview mit Herrn Rechtsanwalt Dr. Matthias Brand haben wir über die Auswirkungen von Covid-19 auf bestehende Verträge gesprochen.

SCHLOSSSEITEN: Viele Menschen in Österreich beschäftigt folgende Frage: Wer hat Schuld, wenn ein Vertrag wegen des Ausbruchs von Covid-19 nicht erfüllt wird? Muss man es einfach hinnehmen, wenn bestellte Lieferungen monatelang „wegen Corona“ nicht zugestellt werden?

Dr. Brand: An Covid-19 hat niemand Schuld. Das gilt aber nicht zwingend auch für die mangelhafte

Vertragserfüllung. Covid-19 ist also kein universeller Sündenbock, der jeden Vertragsbruch entschuldigt.

SCHLOSSSEITEN: Müssen Verträge somit auch während der Pandemie eingehalten werden?

Dr. Brand: Grundsätzlich ja. Auch während der Pandemie gilt das Prinzip der Vertragstreue. In der Praxis kommt es allerdings häufig vor, dass Verträge aus unterschiedlichsten Gründen nicht erfüllt werden können: Der gekaufte Fernseher wird auf dem Transport beschädigt, der Mietwagen hat einen Motorschaden etc. Wenn der konkrete Vertrag hierfür keine Regelung vorsieht, schafft die Rechtsordnung den Interessenausgleich. Hier wird üblicherweise darauf abgestellt, welchem Vertragspartner die Vertragsstörung zuzurechnen ist. Hinterfragt wird also, in wessen „Sphäre“ die Vertragsstörung fällt. Grundsätzlich gilt: Nur, weil in der Sphäre des einen Vertragspartners etwas schiefgegangen ist, soll der andere Vertragspartner nicht darunter leiden müssen.

SCHLOSSSEITEN: Und in wessen Sphäre fällt nun Covid-19?

Dr. Brand: Manche Vertragsstörungen fallen in die Sphäre keines Vertragspartners. Dies ist dann der Fall, wenn die Vertragsstörung selbst bei größter Sorgfalt nicht zu verhindern ist. Dann liegt ein Fall von höherer Gewalt vor. Klassische Fälle von höherer Gewalt sind Naturkatastrophen, Kriege oder Terroranschläge. Laut einer Entscheidung des OGH gilt im österreichischen Recht auch der Ausbruch von SARS als Fall höherer Gewalt. In Anlehnung an diese „SARS-Entscheidung“ wird man daher auch für den Ausbruch von Covid-19 sagen können, dass ein Fall von höherer Gewalt vorliegt. Rechtlich gesehen trägt am Ausbruch von Covid-19 somit niemand Schuld – dieser Umstand fällt also in die Sphäre keines Vertragspartners.

SCHLOSSSEITEN: Sie sagten vorher, Covid-19 sei kein universeller Sündenbock. Wie meinen Sie das?

Dr. Brand: Covid-19 ist zwar ein Fall von höherer Gewalt, das bedeutet aber nicht zwingend, dass niemand Schuld daran hat, wenn ein Vertrag wegen des Ausbruchs von Covid-19 nicht erfüllt werden kann.

SCHLOSSSEITEN: Können Sie uns hierfür ein Beispiel geben?

Dr. Brand: Sicherlich gibt es Fälle, in denen ein Vertrag allein wegen Covid-19 nicht erfüllt werden kann. Ein Beispiel: Ein Unternehmen muss seinen Produktionsbetrieb einstellen, weil alle seine Mitarbeiter an Covid-19 erkrankt sind oder eine Betriebsschließung angeordnet wurde. Ein Fall von höherer Gewalt wird in solchen Konstellationen aber nur dann vorliegen, wenn das Unternehmen von Covid-19 oder seinen Folgen so stark betroffen ist, dass die Vertragsstörung nicht mehr verhinderbar war. Nur dann kann dem Unternehmen kein Vorwurf gemacht werden.

Es wird aber auch Fälle geben, in denen Unternehmen zwar von Covid-19 betroffen sind, die entstandene Vertragsstörung aber keine unvermeidbare Folge gewesen ist. Bleiben wir beim obigen Beispiel: Erkranken etwa nicht alle Mitarbeiter des Unternehmens und besteht keine allgemeine Betriebsschließung, kann es durchaus zumutbar sein, dass das Unternehmen trotz Covid-19 ordnungsgemäß liefern muss. Hier wird man sagen: Ein sorgfältiger Unternehmer muss darauf vorbereitet sein, dass ein gewisser Anteil seiner Mitarbeiter – auch ohne Vorliegen einer weltweiten Pandemie – wegen Krankheit ausfällt. Für einen solchen Fall muss das Unternehmen Vorkehrungen treffen. Unterlässt das Unternehmen entsprechende Vorkehrungen und kommt es deshalb zu Produktions- und Vertragsstörungen, ist es die „Schuld“ des Unternehmens – und nicht die Schuld von Covid-19. Das Unternehmen kann sich also nicht auf Covid-19 ausreden, wenn es bereits unter ganz gewöhnlichen Umständen die versprochene Leistung nicht erbringen hätte können.

SCHLOSSSEITEN: Gilt das heute – also fast zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie – immer noch?

Dr. Brand: Tatsächlich wird das Argument „Säumigkeit wegen Covid-19“ heute wohl anders zu beurteilen sein als noch vor zwei Jahren. Am Anfang der Pandemie hat Covid-19 die Unternehmen hart und überraschend getroffen. Vertragsstörungen waren damals sicher häufig eine Folge von Covid-19 und damit ein Fall von höherer Gewalt; der vertragsbrüchige Vertragspartner war somit entschuldigt. Problematisch ist allerdings, dass aufgrund der Länge der Pandemie eine gewisse neue Normalität eingetreten ist. Säumigen Unternehmen wird man daher heute vermehrt den Vorwurf machen können, dass sie sich inzwischen gut auf die unmittelbaren und mittelbaren Folgen von Covid-19 einstellen konnten und entsprechende Vorkehrungen treffen hätten können. Die „Covid-19-Ausrede“ wird heute also strenger zu beurteilen sein als am Anfang der Pandemie.

INFOBOX

Dr. Matthias Brand Rechtsanwalt in Wien www.ra-brand.at