Stadtforschung Statistik - Ausgabe 2/2016

Page 3

Schwerpunkt Wählen oder Nichtwählen?

Zielsetzung und Organisation Die GLES (http://www.gles.eu/) wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen ihres Langfristprogramms für Sozial- und Geisteswissenschaften gefördert. Mit einem im zeitlichen Quer- und Längsschnitt multimodal organisierten Forschungsdesign untersucht sie die Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017. In ihren wissenschaftlichen Ambitionen und ihrer methodischen Komplexität geht die GLES weit über herkömmliche Wahlstudien hinaus. Auch im weltweiten Vergleich gibt es wenige vergleichbare Studien. Sie ermöglicht nicht nur die Analyse einer einzelnen, gerade anstehenden Bundestagswahl, sondern mehrerer aufeinander folgender Wahlen, die durch die integrierte Untersuchungsanlage des Projektes im Zusammenhang erforscht werden können. Die GLES versteht sich als Projekt der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft der deutschen Wahlforscher/innen. Das spiegelt sich zunächst einmal in der Organisationsstruktur des Projekts. Die GLES kam zustande als Resultat des Bestrebens der Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft der deutschen Wahlforscher/innen, dem Vorbild anderer Länder folgend in Deutschland eine institutionalisierte nationale Wahlstudie zu begründen. Die hierfür geschaffene organisatorische Basis ist die eines eingetragenen Vereins. Die Deutsche Gesellschaft für Wahlforschung (DGfW; vgl. http://www.dgfw.info/ de/) wurde 2007 als Selbstorganisation der an Universitäten und vergleichbaren Einrichtungen tätigen Wahlforscher/innen in Deutschland mit der dezidierten Mission gegründet, auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Die Organisationsstruktur der DGfW stellt ein mehrstufig gegliedertes Netzwerk bereit, über das einerseits Informationen über alle Entwicklungen im Zusammenhang mit der GLES an die wissenschaftliche Gemeinschaft verbreitet werden, deren Datenbedarf das Projekt letztlich dient, und andererseits Feedback aus dieser an die Projektverantwortlichen zurückfließt. Während die vier Vorsitzenden der DGfW als Primärforscher/innen die Verantwortung für die Entwicklung und Leitung der Studie übernommen haben1, fungiert das Präsidium der DGfW als permanentes Bindeglied zur wissenschaftlichen Gemeinschaft (vgl. http://www.dgfw. info/de/praesidium/). Zudem bekennt sich das Projekt grundsätzlich zu einer Politik der offenen Tür hinsichtlich der Konzipierung der Studie und der Verbreitung der im Projekt erzeugten Daten. Wissenschaftler/innen aus dem In- und Ausland wurde auf Basis von Ideenwettbewerben mehrfach die Gelegenheit gegeben, an der Gestaltung der Erhebungsinstrumente mitzuwirken. In Kooperation mit GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften werden die erhobenen Daten nach technischer Prüfung und Bereinigung umgehend allen Interessent/innen kostenfrei und auf unkomplizierte Weise zugänglich gemacht (http://www. gesis.org/wahlen/gles/). Als bislang umfangreichste deutsche Wahlstudie orientiert sich die GLES selbstverständlich nicht zuletzt an den früheren deutschen Bundestagswahlstudien und schreibt diese fort. In vielerlei Hinsicht fügt sie sich aber auch in breitere Entwicklungstrends der internationalen wahlsoziologischen

Forschung ein. Traditionell orientierten sich Wahlstudien an einem schmalen Satz von Forschungsfragen: Wer beteiligt sich an einer Wahl, und aus welchen Gründen? Welche Kandidaten und/oder Parteien werden gewählt und, wiederum, aus welchen Gründen? Befragungen national repräsentativer Stichproben wahlberechtigter Personen (überwiegend in Form von Vorwahl- oder Nachwahlquerschnitten, gelegentlich auch als Kurzfristpanels, selten ergänzt um Langfristpanels) waren die kanonische Methode, um diese Fragen zu beantworten. Auch in Deutschland hat dieser Ansatz die Wahlforschung lange geprägt (mit der bemerkenswerten Ausnahme der Wahlstudie 1961; vgl. Scheuch u. Wildenmann 1965). In den letzten Jahren wurden jedoch von einigen nationalen Wahlprojekten in unterschiedlicher Weise erweiterte Perspektiven eingenommen und der Fokus so über die punktuelle Betrachtung von Wahlentscheidungen und ihren individuellen Einstellungshintergründen hinaus erweitert. Zunehmend werden Wahlen auf umfassendere Weise in den Blick genommen, nämlich als Teilaspekte politischer Repräsentationsprozesse, die mehrere Ebenen politischer Systeme miteinander verbinden und sich dynamisch entwickeln. Diese adäquat zu untersuchen erfordert, die vielfältigen Interaktionsbeziehungen zwischen Bürgern und Amtsinhabern sowie Kandidaten für politische Ämter nicht unbeachtet zu lassen. Außerdem müssen Parteiorganisationen und Massenmedien als Vermittlungsinstanzen Berücksichtigung finden. Damit einher geht ein intensiviertes Interesse an der Dynamik der Kommunikationsprozesse zwischen den am Wahlgeschehen beteiligten Akteuren. In Reaktion auf das zunehmend volatile, „individualisierte“ Verhalten der Wähler verbreitet sich in der Wahlforschung die Einsicht, dass ideale Forschungspläne zur Analyse heutiger Wahlen einerseits spezifische Komponenten zur Erfassung der kurzzeitigen Bewegungen im Vorfeld von Wahlen, andererseits aber auch ein methodisches Sensorium zum Aufspüren langfristiger Veränderungen über einen oder sogar mehrere Wahlzyklen hinweg beinhalten müssen. Überdies wird zunehmend erkannt, dass Wahlstudien in Mehrebenensystemen dem vielschichtigen Charakter des wahlpolitischen Geschehens mit seinem Wechselspiel von „Haupt-“ und „Nebenwahlen“ (Reif u. Schmitt 1980), in Deutschland also Bundestagswahlen sowie Europa- und Landtagswahlen, verstärkte Beachtung schenken müssen. Alle diese Entwicklungen spiegeln sich im Forschungsplan der GLES, der anlässlich der Bundestagswahl 2009 erstmals implementiert wurde. Um den Kern einer klassischen Querschnittsumfrage einer repräsentativen Stichprobe wahlberechtigter Personen gruppieren sich Komponenten, welche die Bandbreite der Analysemöglichkeiten auf unterschiedliche Weise erweitern und dadurch erheblich reichhaltigere Erkenntnisse ermöglichen als herkömmliche Wahlstudien. Die GLES beinhaltet mehrere längsschnittliche Komponenten, die auf Individual- und auf Aggregatebene sowohl kurzfristige Dynamiken während des Wahlkampfes als auch langfristige Wandlungsprozesse über den Wahlzyklus hinweg erfassen. Überdies beschränkt sich die GLES nicht auf Wählerumfragen, sondern schließt auch mehrere Teilprojekte ein, die erlauben zu studieren, wie das individuelle Wählerverhalten in den

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2016

3


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.