Literatur aus dem Dunkeln

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andreas Brüning (Hg.)

unkeLn d m e d s u a Literatur ein inkLusives Literatur-projekt

Elisabetta Abbondanza Larissa Boehning Michaela Gericke Jutta Heinze Mechthild Lutze Daniela Preiß Birgit Schönberger

Schibri-Verlag

Berlin • Milow • Strasburg 3


Impressum: Biografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet und über http://dnb.de abrufbar. © Schibri-Verlag 2014 Milow 60 • 17337 Uckerland Tel.: 039753/22757 E-Mail: info@schibri.de www.schibri.de Umschlaggestaltung und Satz: Larissa Boehning Redaktion: Andreas Brüning Projektassistenz: Josefine Günther Korrektur: Iris van Beek

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch darf nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung des Verlages vollständig oder teilweise vervielfältigt werden. Das gilt auch für die Speicherung in einem Datenerfassungssystem und die Weiterverarbeitung mit elektronischen oder mechanischen Hilfsmitteln, wie Fotokopierer und andere Aufzeichnungsgeräte. Insbesondere die Übersetzung und Verwendung in Schulungsunterlagen bedürfen der Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

ISBN: 978-3-86863-129-6

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inHaLt

Vorwort ........................................................................................... 7 Prof. Dr. Lutz von Werder .............................................................. 9

Elisabetta Abbondanza ................................................................. 11 Larissa Boehning .......................................................................... 35 Andreas Brüning ......................................................................... 63 Michaela Gericke .......................................................................... 71 Jutta Heinze ................................................................................. 81 Mechthild Lutze .......................................................................... 93 Daniela Preiß ............................................................................. 115 Birgit Schönberger ..................................................................... 159

Epilog .......................................................................................... 171 Danksagung ................................................................................ 172 Die Förderer des Projektes .......................................................... 172

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vorwort

Literatur aus dem Dunkeln hält die Wahrnehmungswelt von blinden und sehbehinderten Menschen literarisch fest. Die hier entstandenen Erzählungen enthalten prägende Momente der Biografiepatinnen und Biografiepaten. Sie vertrauten sich den Schriftstellerinnen an und beschrieben Krisen, wie Hochgefühle, die Zeit des Erblindens selbst oder die Zeit danach. Ich sehne mich schon eine lange Zeit nach einem Buch, das autobiografische Spuren von blinden und sehbehinderten Menschen in ihrer Komplexität sowie einer literarischen Form aufzeigt. In den Jahren 2012/2013 habe ich nunmehr den Raum gefunden, das inklusive Literaturprojekt „Biografiepaten“ zu initiieren. Dieses Literaturprojekt ist somit eine Herzensangelegenheit, die in den letzten 20 Jahren gereift ist und im Jahr 2013 ihren literarischen Ausdruck fand. Die Biografiepatinnen und Biografiepaten und Autorinnen haben gemeinsam ein Stück Geschichte geschaffen, eine andere Wahrnehmungswelt, die von blinden und sehbehinderten Menschen, die für ein größeres Publikum ihren Ozean der Zeit beschreiben. Anderssehende Menschen bewegen sich in einer abenteuerlichen Wahrnehmungswelt. Die Sprache ist eine zentrale Brücke zwischen Sehenden und Anderssehenden. Worte tragen unsere Wahrnehmung in Form von inneren Bildern, Erinnerungen und Emotionen mit sich auf dem Fluss des Lebens. Je mehr wir in die Wahrnehmungswelt der Anderssehenden eintauchen, desto kleiner werden die vermeintlichen Hindernisse, die uns trennen.

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Sie, die blinden und sehbehinderten Biografiepatinnen und Biografiepaten, stehen im Mittelpunkt des inklusiven Literaturprojektes und sind damit namensgebend: „Biografiepaten“. Die Schriftstellerinnen fragten, hörten zu und verwandelten die autobiografischen Texte dieser neun blinden und sehbehinderten Menschen in Literatur. Die Erzählungen und Kurzgeschichten wurden in der Lesereihe „Literatur aus dem Dunkeln“ in Berlin Tempelhof-Schöneberg präsentiert. Ich selbst habe viele Autobiografien und biografische Texte von blinden und sehbehinderten Menschen gelesen, doch nur wenige literarische Darstellungsformen. Sie tauchen als hilfsbedürftige oder als magische Figuren in den literarischen Formen auf. Viele blinde und sehbehinderte Menschen haben einen abenteuerlichen Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung gestritten. Sie sind Revolutionäre, die sich für eine Gesellschaft der Vielfalt engagieren. Diese Revolutionäre, diese Menschen aller Generationen werden gebeten, ihre Persönlichkeit, ihren Charakter in eine literarische Figur zu gießen, um sie einem größeren Publikum vorzustellen. Die Erzählerinnen und Erzähler von heute stehen in der Tradition von der taubblinden Helen Keller. Sie war Autorin, politische Aktivistin und Lehrerin. Sie hat das Leben als Abenteuer betrachtet und erhielt den ersten Bachelor of Arts als taubblinde Frau in den 1920er Jahren in Amerika. Der blinde Literaturprofessor Jacques Lusseyran, der als Widerstandskämpfer gegen Nazi-Deutschland in Frankreich kämpfte, hat seine Lebensgeschichte selbst aufgeschrieben. Dieses Buch möchte anregen, in der eigenen Lebensgeschichte über Sprünge, Ausgrenzung, Mut, Freiheitswillen und einen anderen Ozean des Denkens und Fühlens nachzusinnen.

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Prof. Dr. Lutz von Werder Schirmherr des Projekts

Erinnern und Durcharbeiten. Zur Poetisierung des Autobiografischen

Erinnern ist eine wichtige Methode zur Behauptung der Identität in der heutigen Risikogesellschaft. Es gibt viele Methoden des Erinnerns, kleine und große Übungen und auch das biografische Gespräch zwischen Biografie-Spender und Biografie-Gestalter. Entscheidend ist aber die Transformation des Erinnerten in poetische Formen. Erst in der poetischen Form gewinnt und vermittelt das Erinnerte ästhetischen Lustgewinn, Aufarbeitung und Distanzierung von Ängsten und Träumen, Erschließung von Sprachressourcen der Hoffnung. Viele Dichter sprechen von der Kraft der Schreibtherapie über ihr Leben. Johann Wolfgang von Goethe sah in der Poetisierung seiner autobiografischen Erfahrungen eine Befreiung vom inneren Leidensdruck, eine Entstehung innerer Klarheit. Man schreibt sich nicht nur etwas von der Seele, sondern man gestaltet diese Befreiung in der Form des Gedichtes oder der Szene oder der Kurzgeschichte. Die Lebenskrise wird bewältigt, wenn eine gestaltete und geformte Sprache, wenn Figuren und Anti-Figuren des Lebens in komische oder tragische Muster verwandelt werden. Goethe schrieb nach der Abfassung seiner Liebeskrise in „Werthers Leiden“ in der Form eine Briefromans „Wieder froh und frei, und zu neuem Leben berechtigt“. Auch moderne Dichter stimmen Goethe zu. Günter Eich schreibt seine Krisen in Gedichte um, „um mich in der Wirklichkeit zu orientieren“. Für Dieter Wellershoff ist Dichten eine erweiterte poetische Selbsterfahrung“. 9


Die Poetisierung des Autobiografischen leistet die erträgliche Erschließung des Unbekannten. Sie leitet zur Schau der eigenen Identität in verfremdeter Gestalt an. Sie löst die gewohnten und quälenden Selbstbilder auf. Der Prozess der Poetisierung des Autobiografischen durchläuft bestimmte Phasen der Kreativität. Zuerst muss der Autobiograf seine wichtigen Erlebnisse wahrnehmen und mit dem Schreib-Paten kommunizieren. Darauf folgt die Phase der Inkubation, die das Material verwandelt. Es wird emotional aufgeladen und dann in die Gesetze der poetischen Textstruktur transformiert. Bei diesem Prozess gibt es oft einen ständigen Austausch zwischen Autobiografen und SchreibPaten. Das Ziel dieses Prozesses ist die öffentliche Vorstellung des fertigen poetischen Textes. Pate und Autobiograf stellen sich der Öffentlichkeit, holen Dunkelheit in Literatur, decken Verborgenes auf, ohne sich schämen zu müssen, ohne narzisstische Störung. Die Zuhörerschaft bzw. Leserschaft wird beschenkt, erweitert ihrerseits ihr Bewusstsein. Sie hat im Text die Möglichkeit, diese Befreiung mehrfach zu wiederholen. Der Text begleitet so das weitere Leben des Autobiografen, des Poeten und der Leser und Hörer. Es entstehen Brücken zwischen Lebensentwürfen und Lebenswelten. Es entsteht eine Kultur der Zivilisation. Dezember 2013

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Lutz von Werder


Die Autorin: Elisabetta Abbondanza

Elisabetta Abbondanza wurde 1963 in Perugia (Italien) geboren und wuchs in einem deutsch-italienischen Elternhaus auf. Sie studierte Neuere Deutsche Literatur und Philosophie in München, promovierte, begann dann Gedichte, Geschichten, Essays und Drehbücher zu schreiben. Sie veröffentlicht auf Deutsch und auf Italienisch. Zudem unterrichtet sie seit 2002 kreatives Schreiben, seit 2012 therapeutisches Schreiben in Berlin und Umbrien. Bücherauswahl: Arancina (2001, Märchen); Qualcosa 2005, Poesie/ Gedichte); In fuga restare (2007, Poesie); Venere e oltre (2009, Storie), Oltre il necessario silenzio (2009, Poesie); R. Borchardt, Scritti Volterrani (2010, Übersetzung).

Die Biografiepatin: Silja Korn

Ich heiße Silja Korn, wurde 1966 in Berlin geboren und bin das dritte von fünf Kindern. Im Brutkasten erlitt ich eine Sehbeeinträchtigung. Mit sechs Jahren wurde ich in die „Hermann-Herzog-Schule für Sehbehinderte“ eingeschult. Durch einen schweren Autounfall mit 12 Jahren erblindete ich fast völlig. Daraufhin musste ich zur Blindenschule wechseln (August-Zeune-Schule). Dort absolvierte ich die mittlere Reife und eine Grundausbildung in Bürokommunikation. Anschließend begann ich die Ausbildung zur Erzieherin an einer Erzieherfachschule (Oberlinseminar). Nach der Ausbildung zur Erzieherin wurde ich im Öffentlichen Dienst als erste blinde staatlich geprüfte Erziehe11


rin eingestellt und bin heute noch in diesem Bereich tätig. Ich wählte diesen Berufszweig, weil ich feststellen musste, dass sehende Pädagogen sich nicht so recht in Kinder hineinversetzen konnten, die spät ihr Augenlicht verloren haben. Meine Vorstellung war es, zwischen blindem Kind und sehendem Pädagogen ein Katalysator zu sein. Sie ging nicht in Erfüllung. Heute unterstütze ich die Kolleginnen im Bereich der Spracherziehung, ziehe aus den Gruppen ein bis zwei Kinder heraus und übe mit ihnen zusätzlich zum Kitaalltag den Spracherwerb. Dadurch, dass ich nichts sehen kann, müssen die Kinder mehr mit mir sprechen. Es reicht nicht nur, z. B. auf den Gegenstand zu zeigen oder zu nicken. Denn so lernen sie auch auf spielerische Art und Weise den Umgang mit einem gehandicapten Menschen. Diese Aufgabe erfüllt mich mit tiefer Zufriedenheit, weil ich nun so etwas dazu beitragen kann, dass sie später Menschen mit Beeinträchtigungen konfliktfreier begegnen können. Ich bin verheiratet, und wir haben einen Sohn. In der Freizeit spiele ich Tischball und Theater. Ich schreibe hin und wieder Kurzgeschichten und kleine Beiträge, die ich auf anderen Webportalen und auf meiner Seite (http://siljakorn.de) sowie bei der Hörzeitschrift „Kultur und Freizeit“ veröffentliche. Ich wirkte bei einem Buchprojekt bei der Autorin Jennifer Sonntag „Hinter Aphrodites Augen“ mit einem Beitrag mit. Fotografieren und Malen sind ebenfalls Leidenschaften von mir. Auf der Webseite Insider-Art.de sind seit sieben Jahren einige meiner Fotoarbeiten ausgestellt. Seit geraumer Zeit bin ich Schirmherrin von Insider Art. Auf der Webseite handicapnet24.de wurden meine Fotoarbeiten mehrfach zum Foto des Monats ernannt. Mein Motto: Höre nicht nur auf andere, höre auch auf Dich! Meine Welt ist nicht dunkel, sie ist kunterbunt.

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Elisabetta Abbondanza

Claras Abenteuer Ich habe mich gefunden. Es war nicht leicht, aber jetzt ist es soweit. Ich sehe halt anders. Silja I Ich schließe die Augen. Ist nur ein Experiment, aber es funktioniert: Ich kann riechen, wie Mama auf dem Stuhl vor dem Fenster unseres Berliner Zimmers sitzt. Vorher hat sie gebügelt. Jetzt strickt sie die dunkelrote Schurwolle, die sie in Westdeutschland bestellt hat, sie riecht nach Honig und Lavendel. Ich rechne mir aus, wie viele Schritte ich gehen muss, um Wolle und Mama zu erreichen. Fünfeinhalb Schritte vom Schreibtisch neben dem Kachelofen, an dem ich sitze und Hausaufgaben machen will. Die Küche riecht heute nach Buttermilch, Karotten und Filterkaffee, davor schwebt der Geruch von Mama, das Mamaparfum. Nina kann das nicht riechen und findet es doof, dass ich in unserem Zwillingsbett vor dem Gutenachtkuss „Mamaparfum!“ bestelle, aber Nina kann auch alles sehen. Sie bekommt noch schlechte Zähne, wie Papa sagt, denn sie kann das Naschen nicht lassen. Meine Zähne wachsen super, sagt der Zahnarzt, ich werde auch keine Zahnspange brauchen, wie der Tom, das kostet auch einen Haufen Geld; ich bin nicht so teuer. Ich sehe halt schlechter. Meine Ärzte, OPs und Brillen zahlt aber die Kasse. Ich bin fast immer brav, esse fast keine Süßigkeiten, trage Brillen mit den dicken Linsen, und manchmal sehe ich auch schon besser, wie gestern den großen 13


Kastanienbaum. Seine Blätter sind so gelb geworden und fallen blitzartig herunter, man muss richtig aufpassen, den Baum anstarren, um das Fallen der Blätter nicht zu verpassen. Die frisch gefallenen Blätter haben frischere Farben, ich sammle die schönsten und lege sie in mein Heft zum Austrocknen. Sie riechen ein wenig nach Autostaub und altem Glas, sagt Charlie. Es macht Spaß zu raten. Ich rate mit Charlie aus der Sonderschule. Das, sagt Frau Hesse, ist super, alle spielen das jetzt in der Klasse. Wenn man alles richtig geraten hat, bekommt man ein Plus. Ich gehe mit geschlossenen Augen durch den Raum und finde Mama, ohne sie einmal zu öffnen. Fünf Schritte haben gereicht. Große Schritte, denn ich werde größer. Habe schon mit elf meine Tage bekommen. Einen Tag vor dem blöden Unfall, als mich das Auto auf der Straße erwischte. Schädelhirntrauma hieß es. Danach wurde alles eine Stufe dunkler. Aber, sagt Mama, die Perlenzähne hast nur du. Wenn die Nina weniger Süßigkeiten essen würde, könnte sie genau so schön sein wie ich, sie ist ja meine Zwillingsschwester. Ich berühre die Wolle: Sie ist weich wie ein Tier. So schade, dass wir keine Haustiere haben. Mama sagt, Hunde müssen Gassi gehen, auch Vögel brauchen Futter, und Katzen erst recht, plus Katzenklo, und auch wenn sie so selbständig tun, brauchen sie Liebe und kosten was. Sie hat schon genug um die Ohren, mit uns. „Clara! Ich habe dich gar nicht gehört, stehst hinter mir leise wie eine Katze, was? Bist Du meine Katze?“ „Was wird aus der Wolle, Mami?“ „Ein Pulli für Papa. Ich muss mich beeilen, er hat übermorgen Geburtstag. Was hast Du für ein Geschenk?“ „Ich habe eine Geschichte geschrieben, schon letzte Woche, in der Schule.“ „Das wird ihn freuen.“ „Hat sie nicht!“, schreit die Nina dazwischen, die eigentlich Hausaufgaben machen muss. „Sie hat abgeschrieben! Ich weiß das!“ Sie schreit wirklich superschrill, die dumme Kuh. 14


Ich sage: „Ich habe die Geschichte abgeschrieben. Na und? Hab ich aber ganz allein gemacht.“ „Was für eine Geschichte?“, fragt Mama, und die fiese Nina fällt ihr ins Wort. „Na, rate mal, Claras Lieblingsgeschichte. Dornröschen.“ Ich drücke den Wollknäuel fester zusammen. „Dornröschen?“, fragt Mama und sieht mich mit ganz lieben Augen an. „Und drei Bilder habe ich gemalt.“ „Zeigst du sie mir?“ „Frau Hesse hat mir ein extra Heft dafür geschenkt.“ Nina geht in den Flur, damit Mama sie nicht sieht. Sie holt sich einen Lakritzenring aus der Schultasche. Das kann ich hören. Ich gehe zu meinem Schulranzen und hole mein Heft heraus, ich habe mein Bild von Dornröschen als Baby mit der Hexe auf den Deckel geklebt. Das Bild fühlt sich fein und frisch an, ich spüre die gerundeten Ränder des geklebten Blattes und die samtigen Wachsfarben drauf. „Liest du mir vor?“, fragt Mama. Ich öffne das Heft. Oje, der Titel ist verwischt, da muss Wasser draufgefallen sein. Aber wann? „Dornröschen“, sage ich und blättere um. Ich kann es nicht glauben, das nächste Blatt ist auch verwaschen. Wie ist das passiert? Ich habe mir so viel Mühe mit dem Schreiben gemacht. „Clara, was ist?“ Mir ist zum Weinen. Hat Nina was gemacht? Sie kommt und reißt mir das Heft aus der Hand. Sie riecht nach Lakritze, natürlich. Sie beginnt zu lesen: „Vor langer Zeit, als das Wünschen noch half, wünschten sich ein König und eine Königin so sehr ein Kind, doch sie bekamen keins. Eines Tages kam ein Frosch zur Königin, welche gerade ein Bad nahm, und versprach, dass ihr Wunsch in Erfüllung gehen werde und sie innerhalb eines Jahres eine Tochter zur Welt 15


bringe. Und der Wunsch wurde tatsächlich erfüllt, die Königin gebar ein Mädchen. Das Mädchen war so schön, so schöööööön!“ „Nina!“, sagt Mama sauer. Nina muss immer übertreiben. „Bitteschön!“ Nina bringt mir das Heft und zeigt die Stelle zum Weiterlesen. Ich drücke meine Brille näher an die Augen dran. Ich höre Mama stricken. Ich sehe wieder nur weiß. Ich gehe wieder fünf Schritte zu ihr und frage sie, wo die Worte hingegangen sind. Mama sieht mich an und sagt: „ Clara, die Worte sind alle da, sehr, sehr schön hast du sie geschrieben.“ Sie blättert weiter, „Und die Bilder die sind erst recht schön! Nina komm, sieh sie dir auch an!“ Aber Nina ist wieder in den Flur gegangen. II „Sie ist wach“ – hat eine unbekannte Frauenstimme gesagt. Sie muss mich beobachtet haben. Ich habe nur meinen Kopf gedreht: Ein Mal den Kopf zum Licht gewendet. Wo das Licht ist, das weiß ich, auch wenn ich es mit dem Verband nicht sehen kann. Zum Licht wende ich mich immer, wenn ich aufwache und wenn ich etwas suche. Ich liebe das Licht, vor allem die Wärme des Lichtes. Ich kann die Wärme spüren, auch wenn ich das Licht, wie jetzt, nicht wirklich sehe. Es ist eine andere Wärme als die der Heizung oder des Feuers – die spüre ich mehr als Hitze, als Brennen. Auch bei einer Glühbirne spüre ich mehr die Hitzewellen. Das natürliche Licht der Sonne ist Lebenswärme. Und dennoch fließt deren Leben zu uns hinüber. Leise, leicht, fließend durch Luft und Wind, auch durch Schnee und Regen, auch wenn der Himmel bewölkt ist. Ich spüre das Licht wie eine Pflanze die Luft. Ich will es. Das Licht ist 16


nicht da, um nur zu sehen, sondern um wahr zu leben, hat der Pater Albertus in der Messe gesagt. „Da geht es aber um ein anderes Licht“, hat Mama gesagt. Ich glaube nicht, ich kenne das Licht in meinen Gefühlen, das ist manchmal stark und manchmal weniger stark. Ok, heute muss es draußen heiter sein, der Himmel wolkenlos, kaltblau, mit dem Silberschimmer vom Januar, wenn alles seine Ruhe will. Es ist früh am Morgen. Es ist sehr frisch. Jemand hat das Fenster geöffnet. Ich höre eine Frau und einen Mann unten auf der Straße reden. Seit dem Unfall sehe ich mehr durch das Hören, habe eh von Geburt an mehr Schatten als Dinge gesehen. Es ist nicht besser geworden, trotz der vielen Arztvisiten, Kuren, Tropfen und Sehtests. Die Krankenschwester weiß das. Ihre Stimme ist schlimm für mich. Sie ist hart und schneidig, zu hoch, zu ungeduldig und verschlossen. Paps Stimme antwortet: „Ich weiß.“ Wie anders, wie herzlich und stark ist seine Stimme, sie hält mich umfangen, ich freue mich, sie zu hören. „Papa“, sage ich, „wie spät ist es?“ „Gleich halb acht. Clara, wie geht es dir?“ „Wo ist die Mami?“ „Zuhause, sie kommt noch, später.“ „Ok“, sage ich, „ich bleib ja, komme hier nicht so schnell weg, oder? Wann kommt die Binde weg?“ „Das dauert“, sagt die blöde Krankenschwester. „Ich werde mit dem Oberarzt sprechen“, sagt Papa, „dann gehe ich zur Arbeit.“ „Ich hab Hunger.“ Papa schließt das Fenster. „Dann bring ich das Frühstück. Helfen Sie Ihrer Tochter?“, fragt die blöde Kuh. „Nein! Ich kann allein essen.“ „Schon gut.“ 17


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