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Soziale Ungleichheit in deutschen Städten – ein Einblick in neue Studien

Im Rahmen der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung „Lebenslagen in Deutschland“ sind eine Reihe interessanter Studien als Begleitforschung zum aktuellen Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erschienen. Nicht alle können hier vorgestellt werden, unter folgendem Link sind die Verö entlichungen zum Armuts- und Reichtumsbericht downloadbar: https://www.armuts-undreichtumsbericht.de/DE/Service/Studien/studien.html Von Interesse sind in diesem Zusammenhang auch einige Verö entlichungen über den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und der Verbreitung des Corona-Virus in deutschen Städten. Zwei Studien sollen hier vorgestellt werden. Darüber hinaus hat die Wissenschaftsstadt Darmstadt ihren neuen Sozialatlas verö entlicht.

Soziale Lagen in multidimensionaler Längsschnittbetrachtung

Auf der Basis des sozioökonomischen Panels (SOEP) haben Olaf Groh-Samberg, Theresa Büchler und Jean-Yves Gerlitz eine neue Analyse vorgestellt, die mit mehr Indikatoren als bisherige Studien zur Armuts- und Reichtumsermittlung in Deutschland arbeitet: „Das Konzept der multidimensionalen Lagen verbindet Informationen zu Einkommen, Vermögen, Wohnen und Erwerbsarbeit. Die multidimensionalen Lagen bilden damit die Gestalten materieller Lebensbedingungen und deren Ungleichheit in Deutschland ab. Es werden sechs Lagen unterschieden, die sich im Hinblick auf ihre Einkommens- und Lebenslagen systematisch entlang einer vertikalen Achse der sozialen Schichtung unterscheiden: Die Lagen der Armut, der Prekarität, der unteren Mitte, der Mitte, des Wohlstands und der Wohlhabenheit.“ (Groh-Samberg u.a., Seite 1) Die Studie stellt eine Typologie sozialer Lagen für Deutschland vor, die Informationen zu Einkommen, Vermögen, Wohnen und Erwerbsarbeit über einen Zeitraum von fünf Jahren erfasst. Die Autorin und die Autoren kommen zu folgender Feststellung: „Analysen zur Entwicklung sozialer Armut seit 1984 verweisen auf eine deutliche Polarisierung sozialer Lagen. Die Risiken bzw. Chancen sozialer Lagen sind dabei ungleich zwischen Bevölkerungsgruppen verteilt und sie sind mit ungleichen gesellschaftlichen Teilhabechancen verbunden, die sich mit den sozialen Lagen auseinanderentwickelt haben. In Deutschland ist es über die letzten 30 Jahre zudem zu einem systematischen Rückgang der Aufstiegsmobilität aus unteren sozialen Lagen der Armut oder Prekarität gekommen.“ Zwischen einer Lage der Armut, in der Menschen dauerhaft mit geringen Einkommen auskommen müssen und mit schwierigen Lebenslagen zu kämpfen haben, und einer Lage des Wohlstandes, in der dauerhaft hohe Einkommen mit privilegierten Lebenslagen zusammentre en, lassen sich – nach Analyse der Autorin und der Autoren – Lagen der Prekarität, der unteren Mitte, der Mitte und des Wohlstands unterscheiden. „Zudem nden wir dynamische bzw. inkonsistente Zwischenlagen zwischen Armut und Mitte sowie zwischen Wohlhabenheit und Mitte.“ Aus Stadtforschungssicht sind die verwendeten Indikatoren von Interesse: Nicht nur die „klassischen“ Indikatoren wie Einkommen, Wohnraumversorgung etc. sind von Interesse, sondern auch die Daten nach sozialen Lagen, z.B das Bildungsniveau, der Gymnasialbesuch 12–15-Jähriger, berufsquali zierende Abschlüsse 25–30-Jähriger, die subjektive Gesundheitszufriedenheit, Beeinträchtigung durch Lärmbelästigung, der Besuch populärkultureller oder hochkultureller Veranstaltungen und die Häu gkeit ehrenamtlichen Engagements. Die Ergebnisse wurden neben den Ergebnissen aus der Forschung des sozialökonomischen Panels durch Interviews ermittelt. Ferner stellen die Verfasserin und die Verfasser eine deutliche Zunahme regionaler Ungleichheiten zwischen ländlichen und städtischen Regionen fest: „So sehen wir für die Fün ahresperiode 1993/97 noch relativ gering ausgeprägte Ungleichheiten mit etwas geringeren Anteilen privilegierter Lagen in Gemeinden unter 5.000 Einwohner*innen und einer etwas stärkeren Polarisierung der sozialen Lagen in größeren Städten mit mehr als 100.000 Einwohner*innen.“ (S. 102) Die lesenswerte Studie ist aus stadtforschericher Sicht von besonderer Qualität und Tiefe der Argumentation und sollte für Forschungsarbeiten in der eigenen Kommune als Ideengeber genutzt werden.

Link zur Verö entlichung:

Olaf Groh-Samberg, Theresa Büchler, Jean-Yves Gerlitz (15.02.2021): Dokumentation zur Generierung Multidimensionaler Lagen auf Basis des Sozio-Oekonomischen Panel, Bremen. https:// www.socium.uni-bremen.de/ueber-das-socium/ mitglieder/olaf-groh-samberg/aktuelles/

Soziale Folgen der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse einer repräsentativen Befragung

Jule Adriaans, Sandra Bohmann, Stefan Liebig, Maximilian Priem und David Richter haben die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung zu den sozialen Folgen der COVID-19-Pandemie veröffentlicht. Die gesundheitliche und wirtschaftliche Krisensituation, die durch die COVID19-Pandemie ausgelöst wurde, stellt eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, denn alle Einwohnerinnen und Einwohner Deutschlands sind von der COVID-19-Pandemie entweder direkt oder indirekt betro en. Auf Basis der 2. Welle des ARB-Surveys sowie der SOEPCoV Studie nimmt dieser Forschungsbericht die subjektiv wahrgenommenen sozialen Folgen der Pandemie in den Blick und untersucht, ob mögliche Folgen bestimmte soziale Lagen stärker belasten als andere. Mit Bezug auf die eigene Lebenssituation zeigt sich: Inbesondere Personen in schwächeren Einkommens- und sozialen Lagen sind von den unmittelbaren nanziellen Folgen der Pandemie stärker betro en. Es sind diese Gruppen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt – eine relevante Größe für die Bewältigung der Pandemie – deutlich negativer bewerten. Damit scheinen die Folgen der Pandemie auch entlang einer sozialen Schie age zu verlaufen: denn insgesamt zeigt sich im Kontext der Pandemie über alle sozialen Lagen hinweg eine zunehmende Relevanz sozial-familiärer Lebensbereiche sowie der sozialen Dimension von Armut, wie die Autorinnen und Autoren feststellen. Leitend für diesen Forschungsbericht ist die Frage, ob und wie sich Einstellungen im Zuge der COVID-19-Pandemie zwischen sozialen Lagen in Deutschland unterscheiden. Die zentrale Analysekategorie „soziale Lage“ wird unter anderem anhand der oben vorgestellten SOEPStudie vorgenommen. Die soziale Lage wird durch Indikatoren aus vier materiellen Dimensionen abgebildet: Einkommen, Vermögen, Wohnen und Erwerbstätigkeit. Zu beachten ist jedoch, dass Einkommenseinbußen und akute sowie antizipierte Zahlungsschwierigkeiten besonders die bereits vulnerablen sozialen Lagen tre en. Und auch die Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Lage im Kontext der COVID-19-Pandemie insgesamt sind deutlich gestiegen. Insbesondere in einkommensschwachen Gruppen und den unteren sozialen Lagen ndet sich eine deutlich pessimistischere Einschätzung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und auch des Zusammenhalts in der unmittelbaren Wohngegend. Auch Personen mit angeschlagener Gesundheit bewerten den Zusammenhalt deutlich negativer. Letztlich haben 885 Personen die Online-Zusatzbefragung im Sommer 2020 vollständig abgeschlossen. Damit ist die Studie zwar nicht aktuell, verweist aber auf die Zusammenhänge von COVID-19 und der sozialen Lage in der bundesdeutschen Gesellschaft.

Link zur Studie:

Jule Adriaans, Sandra Bohmann, Stefan Liebig, Maximilian Priem und David Richter (29.03.2021): Soziale Folgen der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse einer repräsentativen Befragung. Berlin. https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/ SharedDocs/Downloads/Service/Studien/7studie-diw-econ.pdf

Soziale Ungleichheit und Corona: Corona-Hotspots in deutschen Großstädten

Eine aktuellere Studie hat die Redaktion der Wochenzeitschrift Die Zeit in Auftrag gegeben: Bestätige Corona-Fälle auf kleinräumiger Ebene von zehn der 15 größten Städte in Deutschland wurden mit soziodemogra schen Daten verknüpft. Die Zahlen zum Haushaltseinkommen, Abituranteil und der Haushaltsgröße wurden nach Angaben der beteiligten Städte von Infas 360 bereitgestellt. Die Redaktion von ZEIT ONLINE hat nun erstmals diese kleinräumigen Daten aus zehn deutschen Großstädten vorgestellt. Zu sehen ist jeweils die kumulierte Inzidenz, also die Gesamtzahl der Fälle seit Beginn der Pandemie je 100.000 Einwohner. Folgende Städte hatten sich mit Daten beteiligt und wurden kleinräumig genauer untersucht: Stuttgart, Düsseldorf, München, Berlin, Essen, Dortmund, Hamburg, Köln, Nürnberg und Dresden. Unter dem unten angegebenen Link können sowohl die Rohdaten als auch städtische Karten in kleinräumiger Au ösung geladen werden. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit, sich mit SarsCoV-2 zu in zieren, stark von verschiedenen Faktoren abhängt – wie bereits auch andereStudien und Datenauswertungen zeigen. Die verö entlichten Daten und Karten liefern einen Einblick, in welchen Sozialverhältnissen sich die Seuche besonders stark verbreitet: Die Inzidenzwerte der einzelnen Stadtteile ließen sich nach Angaben der Untersuchung mit verschiedenen soziodemogra schen Merkmalen abgleichen. „Wenn dabei Muster auftreten, ist das ein Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang.“ Die Redaktion kommt zu dem Schluss, dass die Inzidenzen in Kombination mit den Sozialdaten einzelner Stadtteile zeigen, dass Wohnviertel mit hohen Anteilen sozial benachteiligte Menschen am stärksten von der COVID 19-Pandemie betroffen sind. Mit Ausnahme von Dresden, wo die Datenlage nicht so eindeutig ist, tri t dies nach Meinung der Zeit-Redaktion auf alle übrigen untersuchten Städte zu. Diese spannende Untersuchung sollte unbedingt genauer rezipiert und mit den in der Städtestatistik und den Stadtforschungsabteilungen der Städte vorhandenen Daten kritisch abgeglichen werden. Die Zeit-Redaktion hat die Daten frei zugänglich gemacht, die Rohdaten können als CSV-Datei heruntergeladen werden: https://interactive.zeit.de/2021/ corona-stadtteile/rohdaten-coronastadtteile-zeit-online.csv

Der Artikel selbst und die Gra ken und begleitenden Texte stehen unter https://www.zeit.de/ wissen/2021-05/soziale-ungleichheit-coronainfektionen-aermere-stadtteile-datenanalysesoziale-brennpunkte zur Verfügung.

Darmstadts neuer Sozialatlas

In der Wissenschaftsstadt Darmstadt wurde der Sozialatlas 2021 verö entlicht, der die Sozialberichterstattung und die statistische Bestandsaufnahme der sozioökonomischen Lage der Darmstädter Bevölkerung fortschreibt und der in der Tradition der Sozialatlanten seit Ende der 1990-er Jahre steht. „Der Sozialatlas liefert ein facettenreiches Bild der Sozialstruktur der Menschen in Darmstadt. Er zeigt, wie sich die unterschiedlichen

Merkmale der Lebensumstände über die Stadtviertel und Statistischen Bezirke verteilen“, erläuterte die Darmstädter Sozialdezernentin Akdeniz. Durch die kontinuierliche Beobachtung anhand statistischer Kennzahlen zeigt der Bericht wie seine Vorgänger, in welchen kleinräumigen Bezirken der Stadt Menschen besonders von Armut betroffen sind. Mit dem Sozialatlas wird die Beobachtung, Bewertung und Bereitstellung von Daten zur sozialen Lage in Darmstadt fortgesetzt. Kernstück der Datengrundlage und damit der Analyse ist ein Sozialindex, der für die 37 statistischen Bezirke Darmstadts gebildet wird. Anhand von fünf Indikatoren wird ein Index gebildet, der als Grundlage der Analyse der sozialen Lage in den statistischen Bezirken dient. Die Daten des Sozialatlas werden durch weitere kleinräumige Daten und Analysen ergänzt, die unter anderem ein genaueres Bild der sozialen Lage von Kindern, Jugendlichen und Familien ergeben. Dadurch lassen sich sowohl Stadtteile bzw. kleinräumige Bereiche mit besonderem Handlungsbedarf identi zieren, ferner auch Stadtteile, die geringe Werte des Sozialindex‘ aufweisen. Der Sozialatlas und seine Daten haben sich auch bei der Analyse besonders betro ener Bezirke mit hohen Inzidenzen bei der COVID 19-Pandemie bewährt, um Strategien für Impfungen in besonders belasteten Quartieren durchführen zu können, wie dies auch andere bundesdeutsche Großstädte bereits getan haben.

Der Bericht ist online auf https://bit.ly/3s9ousf abrufbar.

Günther Bachmann

Gra k: Karte zum Sozialbericht 2021

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