Offenbarung

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BARUNG Ich hatte Glück. Die Schule, die ich besuchte, war lausig und wir Schüler waren renitent. Unsereins schickte man nicht ins Theater. Uns schickte man in die Bergdörfer, wo wir den Bauern die Steine von den Weiden zu tragen hatten. Statt unsere Sitten durch Kunstgenuss zu verfeinern, steckte man uns in die Schule der körperlichen Ertüchtigung. Ich erlebte ein anderes Theater, jenes, das vom Kunsttheater immer bekämpft wurde, jedenfalls in meinem Land, das Bauern- oder Volkstheater, von Laien gespielt, in der schweizerischen Mundart, auf den Bühnen der Gasthofsäle mehr getanzt und geschrien als gesprochen oder deklamiert, im Stumpenrauch, zwischen dem Geklirr der Gläser und der Teller, nach den Gesängen der Jodlerchöre und vor der Tombola, bei der es Schinken im Brotteig und Brezeleisen zu gewinnen gab. Die Stücke waren plumpe Verwechslungskomödien, grob gezimmerte Schwänke, die ihren hauptsächlichen Reiz aus der Tatsache bezogen, dass sich vernünftige Menschen auf der Bühne zum Hanswurst machten. Mein Großvater, ein Sattlermeister, verwandelte sich in den Giiztüfel, den Geizteufel; mein Onkel, ein braver Ehemann, in einen ungeschickten Liebhaber, der überdies das französische Wort »Cortaillod« nicht richtig aussprechen konnte, worüber sich meine Mutter während der ganzen Probenzeit und lange Jahre danach ärgerte, bis sie schließlich doch noch darüber lachen konnte. Sie war als junges Mädchen als »jeune fille« bei einer vornehmen Familie in Vevey gewesen und hielt sehr viel auf die korrekte Aussprache.

nur in Strumpfhose und Unterhemd, aber schon frisiert und geschminkt. Das Parfüm, Shalimar von Guerlain, vermischte sich mit dem ordinären Geruch der Teddy-Bügelstärke. Eine Verwandlung, ja, aber ich wurde niemals Zeuge ihrer vollständigen Metamorphose. Denn erst wenn Mutter hinter dem Tresen jener mondänen Bar in der Innenstadt stand, wo sich die Halbwelt mit den Honoratioren vermischte, die Windeier Seite an Seite mit den Ehrbaren tranken; erst zwischen den Gin-Fizz und den Manhattans, zwischen den steifen Käppis der höheren Offiziere und den fettigen Krawatten der konkursiten Kleingewerbler, erst dort war die Hausfrau restlos in dieses Wesen verwandelt, von dem ich nur ein unvollständiges Abbild zu Gesicht bekam. Wenn sie mir beim Abschied einen Kuss gab, war hinter dem Kostüm und der Maske immer noch etwas von meiner Mutter erkennbar, jene Person, die das Essen kochte, die Wäsche machte und die Hausaufgaben kontrollierte. Etwas von dieser gewöhnlichen Frau blieb sichtbar, wenigstens für mich, und ich hätte die Welt darum gegeben, einmal die Königin in ihrem Reich zu sehen, um diese Zaubergestalt im Mittelpunkt der Nacht vollständig und vollendet zu erleben, und vielleicht ist es »dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt«, was sich mir wiederholt, im Theater und in der Dichtung. Erstmals erschienen in: Lukas Bärfuss: Stil und Moral, Wallstein Verlag, Göttingen 2015.

Darin liegt kein Geheimnis, höchstens die Erinnerung an ein Gefühl. Vielleicht ist das Geheimnis in jenen Nachmittagen kurz vor vier Uhr zu finden, wenn ich in unserem Badezimmer in den Genuss eines Schauspiels kam, für mich größer und erhabener als alles, was auf den Brettern der näheren Umgebung zu sehen war: In der Hauptrolle meine Mutter, die sich für ihre Arbeit in der American Bar umzog und sich von einer gewöhnlichen Hausfrau in die Königin der Nacht verwandelte. Sie besaß die wunderbarsten Kostüme. Ich erinnere mich an Hosenanzüge in goldgrünem Wechselspiel, an weinrote Plisseekleider und an Blusen mit unendlichen Rüschenkragen, und ich erinnere mich, wie sie am Bügelbrett stand und jede Rüsche einzeln bügelte, in Dampfschwaden und

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