Auktion 65 - November 2015 - Hauptkatalog, Teil 1

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Handschriften

besonders nützlich für die Exegese der Bibel angesehen wurden. Gegenüber anderen Handschriften der gleichen Texttradition weist unser Manuskript folgende Besonderheiten auf: a) Die Reihenfolge der „Excerpta“ weicht ab von der üblichen Anordnung, die der maßgeblichen Edition zugrundeliegt (P. Knöll, CSEL 9,1, 1885). b) Vier Texte außerhalb des Kanons sind hinzugefügt, davon basieren drei auf Augustinus. c) Auf die „Excerpta“ folgen noch fünf Texte aus der Kirchenväterzeit, darunter drei von Augustinus. Die Datierung unseres Codex in das späte neunte Jahrhundert und die Lokalisierung in Norditalien gehen auf Bernhard Bischoff zurück. Der herausragende Paläograph hatte die Handschrift in der privaten Schweizer Kunstsammlung Irma Rutishauser in Teufen entdeckt. Bischoff brachte das Manuskript Michael Murray Gorman für seine Forschungen zur Texttradition der „Excerpta“ des Eugippius zur Kenntnis, so daß er seine wesentlichen Merkmale beschreiben und in die Überlieferung einordnen konnte. Das Urteil von Bischoff und Gorman wird in der neueren Literatur bestätigt, zuletzt (2015) von Jesse Keskiaho, Dreams and Visions in the Early Middle Ages, S. 85 und 232. Zur Bedeutung des Haupttextes Eugippius schuf in seiner Amtszeit als Abt des SeverinusKlosters im Castrum Lucullanum nahe Neapel ein bedeutendes Zentrum biblischer Studien. Wohl nachdem er 511 sein Hauptwerk, die Vita seines verehrten Lehrers, des hl. Severinus von Noricum vollendet hatte, entstanden seine „Excerpta“ aus über 40 verschiedenen Werken von Augustinus. Der einleitende Widmungsbrief ist an die gebildete römische Aristokratin Proba gerichtet, auf deren Bibliothek mit einer umfangreichen Sammlung von Augustinus-Handschriften er sich stützen konnte. Proba war eine Schwägerin von Boethius und verwandt auch mit Cassiodor, der das Werk von Eugippius in seinen „Institutiones“ als wichtige Grundlage klösterlicher Bibelstudien empfiehlt. So leistete Eugippius einen wesentlichen Beitrag zur Vermittlung der spätantiken exegetischen Tradition und der Lehren des Kirchenvaters. Trotz der hoch anzusetzenden Verlustquote sind aus dem 7. bis 11. Jahrhundert zahlreiche Handschriften mit den von Eugippius zusammengestellten Exzerpten bis heute erhalten. Gorman hatte unseren Codex als das weitaus interessanteste Beispiel einer Auswahl aus den „Excerpta“ bezeichnet („by far the most interesting manuscript of this type“), die als Hilfsmittel für das Bibelverständnis im klösterlichen Milieu geschaffen wurden. Erst mit der Verbreitung der scholastischen Bibelauslegung im 13. Jahrhundert verlor das einflußreiche Werk des Eugippius an Bedeutung. Provenienz, Renovierung und Rasur Bereits 1789 wurde die Handschrift von dem gelehrten Priester Giacomo Eugenio de Levis in seinen „Anecdota sacra“ ausführlich gewürdigt (S. XXIII-XXVI). Er hatte sie auf seinen Bibliotheksreisen im Piemont, Aostatal und im Wallis eingesehen, nämlich in den von uns nicht identifizierbaren „archiviis D. Drun de Grassis“. Auf Grund seiner profunden Kenntnisse oberitalienischer Handschriften ordnete er sie dem piemontesischen Kloster San Genuario di Lucedio bei Crescentino im Piemont zu. Die von Bischoff und Gorman angenommene Lokalisie-

rung wird dadurch gestützt. Auch ein nur teilweise entschlüsselbarer (Besitz)vermerk auf dem vorderen Papiervorsatz, der bereits von De Levis beschrieben wird (S. XXV), weist auf das Kloster San Genuario („SS. Januarii“): „In tegumento ligneo Vineae Domini / Mon: SS. Januari: Grassis... / Hildebrandus. MA. / Solid: pp. LX C / S Michael. Arch.: defender .... ut felices. / Joseph: Abbas solotu... carixio.“ Offenbar wurde der Text bei der Erneuerung des Einbandes in Halbpergament mit Deckeln aus Pappe aus der alten Holzdecke („In tegumento ligneo“ = Auf dem hölzernen Einband) auf den neuen Vorsatz übertragen. Die Bindung und die Inschrift werden wohl aus dem 17. oder frühen 18. Jahrhundert stammen. Die Punkte sind hier wie im Original wiedergegeben; sie zeigen, daß der Text schon damals nicht mehr vollständig lesbar war. Der Weg des Codex in die Sammlung Rutishauser in Teufen ist heute nicht mehr nachzuvollziehen. Texte und Gliederung des Codex (zusammenfassend auch beschrieben bei Gorman, 1982, S. 259) Der Haupttext mit den Eugippius-Exzerpten (fol. 1v-191r): Die Überschrift auf fol. 1v lautet: „In nomine domini nostri Ihesu Christi. Incipit liber Eugepii scarsum ex dictis sancti Augustini.“ Am Beginn stehen der Widmungsbrief an Proba (fol. 1v-3r) und das Kapitelverzeichnis (fol. 3r-8r). Wie in einigen der ältesten Handschriften der „Excerpta“ wird es eingeleitet mit den Worten: „Explicat praefatio. Incipiunt capitula“, und vor dem ersten Exzerpt findet sich die Überschrift „Expliciunt capitula. Incipit corpus libri“ (fol. 8r). Der Eugippius-Text mit den 170 bekannten Auszügen (bis fol. 191r) hat eine nur in dieser Handschrift nachweisbare, besondere Anordnung (siehe dazu bei Gorman das Diagramm auf S. 259). Die Auszüge wurden mit einer fortlaufenden Numerierung versehen, in die auch vier sonst nicht für Eugippius nachgewiesene Exzerpte aus Kirchenvätertexten eingeordnet sind, darunter drei von Augustinus: Nr. 102 „Sanctus Ieronimus presbiter de hac re similiter exponit“ (aus Hieronymus, In Jonam prophetam, Kap. II, 2). Nr. 129 „Quomodo intelligendum sit illud apostoli in quibus deus seculi huius excecavit mentes infidelium“ (aus Augustinus, Contra Faustum, Buch XXI). Nr. 143 „De miraculis quae ut mundus in Christo crederet facta sunt et fieri mundo credente nun desinunt“ (aus Augustinus, De civitate dei, Buch XXII, Kap. VIII). Nr. 144 „Unius esse personae quia non hoc est ei esse quod haec habere“ (aus Augustinus, De trinitate, Buch XV, Kap. XXII). Auf den Text des Eugippius folgen fünf Texte aus patristischen Werken (fol. 191r-251v): 1. Der Sermo CCCVI „In natali martyrum Massae Candidae“ aus Augustinus, Sermones de Sanctis (fol. 191r194v). 2. Der Sermo XCIII „De conversione Magdalenae“ aus den Sermones des Petrus Chrysologus (ca. 380-451). Der Text bricht kurz vor dem Ende ab mit „ut unguamur ungento quod de pedibus“ (fol. 194v-196v). 3. Der Sermo XVII „De Salomone“ des Maximus von Turin (gest. um 420). Am Ende ist ein vierzeiliger Zusatz angefügt (fol. 197r-199r). 4. Die Epistula 147 „De videndo deo“ (ad Paulinam) des Augustinus (fol. 199v-225r). 5. Augustinus, De fide et operibus, bis Kapitel XXVII, 49. Der Text endet mit „ut a quolibet redargui facillime posset (fol. 225r-252v).


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