V.i.S.d.P Jahrbuch 2006

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2006 V.i.S.d.P. Medienjahrbuch 2006 Seite 37

Herangehensweise, wir recherchieren noch sorgfältiger vor, während und nach der Umsetzung des Beitrages. Wir haben einen Kollegen eingesetzt, der als Fact-Checker alle Aussagen der Filme und Zahlenangaben überprüft. Bemerkt sei allerdings auch: Schon vorher haben wir sehr sorgfältig gearbeitet. Es gab in den letzten knapp vier Jahren unter meiner Verantwortung keine einzige Gegendarstellung und keinen einzigen Prozess vor Gericht gegen uns. Das ist für ein kritisches, offensives und durchaus konfliktorientiertes Reportage-Magazin sicherlich bemerkenswert. Das Wichtigste aber ist: Unsere Glaubwürdigkeit bei den Zuschauern hat nachweislich nicht gelitten, unsere Seriosität nicht, und ebenso nicht die Authentizität der Beiträge. V.i.S.d.P.: Was würden Sie heute anders machen? Lehmann: Natürlich alle Fehler vermeiden, die wir damals gemacht hatten. Aus Fehlern kann man bekanntlich lernen, und das haben wir auch. Wir wollten damals in einer vielschichtigen, differenzierten Reportage die Lebenswirklichkeit junger Menschen und ihres sozialen Umfeldes in Hamburg-Mümmelmannsberg abbilden und zeigen, wie ihnen positive Zukunftsperspektiven eröffnet werden können. Das ist uns auch gelungen – nur ging dies alles im Tohuwabohu um einen Teil unserer Reportage unter. Seitdem weiß ich, was das Lebensmotto unseres Alt-Intendanten Professor Karl Holzamer wirklich zu bedeuten hat: „An das Gute glauben – und mit dem Bösen rechnen.“

Foto: DER SPIEGEL/Frank Schumann

Die am häufigsten angeklickten Themen bei SPIEGEL ONLINE im März Landtagswahlen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt Im SPON-Forum wird die niedrige Wahlbeteiligung bei den Wahlen diskutiert. „peekas“ Analyse: „Das Wahlergebnis spiegelt meiner Ansicht nach eher das Desinteresse an der Politik als eine Abneigung selbiger gegenüber wider.“ Das Patentrezept von „Kritischer Leser“: „In manchen Ländern herrscht einfach Wahlpflicht. Warum nicht?“ „Arne Lund“ hat nur noch Verachtung übrig: „Du trittst ein Recht mit Füßen, für das jahrhundertelang gekämpft und gestorben wurde, Du bist Nichtwähler, Du bist NICHT Deutschland!“

PETER HANDKE

11. März Slobodan Miloševic stirbt an Herzversagen Peter Handke hält am Grab von Slobodan Miloševic während der Beisetzung eine Rede, die für viel Empörung sorgt. Hier sind seine Worte vom 18. März „Ich hätte gewünscht, hier als Schriftsteller in Pozarevac nicht allein zu sein, sondern an der Seite eines anderen Schriftstellers, etwa Harold Pinters. Er hätte kräftige Worte gebraucht. Ich brauche schwache Worte. Aber das Schwache soll heute, hier recht sein. Es ist ein Tag nicht nur für starke, sondern auch für schwache Worte. Die Welt, die so genannte Welt, weiß alles über Jugoslawien, Serbien. Die Welt, die so genannte Welt, weiß alles über Slobodan Miloševic. Die so genannte Welt weiß die Wahrheit. Deswegen ist die so genannte Welt heute abwesend, und nicht bloß heute, und nicht bloß hier. Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ich weiß die Wahrheit nicht. Aber ich schaue. Ich höre. Ich fühle. Ich erinnere mich. Deswegen bin ich heute anwesend, nah an Jugoslawien, nah an Serbien, nah an Slobodan Miloševic.“

KLAUS BRINKBÄUMER

März Afrikanische Flüchtlinge auf den Kanaren SPIEGEL-Reporter Klaus Brinkbäumer erzählt, wie er das Schicksal der Flüchtlinge während der Arbeit an seinem Buch „Afrikanische Odyssee“ erlebte Mit dem Thema Flüchtlinge kam ich zum ersten Mal während des Kosovo-Kriegs in Berührung, über den ich für den SPIEGEL berichtete. In den albanischen Flüchtlingslagern Frauen zu befragen, die bei der Erschießung ihrer Ehemänner zusehen mussten, das hat mich erschüttert und in eine andere journalistische Richtung geführt. Bereits vor fünf Jahren war ich dann mit

dem Fotografen Markus Matzel in Spanien, wo über die Meerenge von Gibraltar viele Boote mit Afrikanern ankamen und wir Interviews mit den Flüchtlingen führten. Dabei lernten wir John Ampan kennen, einen Ghanaer, der jetzt seit zehn Jahren in Andalusien lebt, neun

« Zum ersten Mal überhaupt traf er seine fünfzehnjährige Tochter, sprachlos standen sie voreinander » afrikanische Sprachen beherrscht und der bei unseren Interviews dolmetschte. Ich glaube, dass die Flüchtlingstragödie eines der großen Themen des 21. Jahrhunderts wird, und Markus und ich beschlossen, eines Tages die Geschichte der afrikanischen Odyssee von Anfang an zu erzählen, beginnend in Afrika. Also hielten wir Kontakt zu John, ich las alles, was ich über Afrika in die Finger bekam, und diskutierte mit Thilo Thielke, dem Afrika-Korrespondenten des SPIEGEL. Wir beschlossen, die Geschichte von Johns Flucht nach Europa nachzuerzählen – eine fünfjährige Reise, denn John wurde inhaftiert und deportiert, seine Schlepper ließen ihn allein, und immer wieder brach er aufs Neue auf. Als wir John vorschlugen, gemeinsam mit ihm diese Reise zu wiederholen, erschrak er zunächst – die Qualen der Fahrt waren ihm natürlich in Erinnerung. Aber dann überwog die Sehnsucht, seine Familie in Ghana wieder sehen zu können. Am Flughafen von Accra war John wie erschlagen, als er vor seiner Familie stand – zum ersten Mal überhaupt traf er seine fünfzehnjährige Tochter, sprachlos standen


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