Human Resources Manager 02 2011

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RECHT

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n Ermangelung eines einheitlichen Arbeitsgesetzbuchs findet das Arbeitsrecht seine Grundlagen in einer wahren Flut verschiedenster Gesetze. Selbst Taschenbuchausgaben von Arbeitsgesetzen verzeichnen von A (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) bis Z (Auszüge aus der Zivilprozessordnung) kaum weniger als 70 Gesetze und erreichen einen Umfang von tausend klein bedruckten Seiten. Trotz vieler Versuche, ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch zu schaffen, ist dieses Vorhaben immer wieder gescheitert. Ein Blick nach Frankreich zeigt jedoch, dass eine weitgehend einheitliche Kodifizierung im Arbeitsrecht (Code du travail) sehr wohl möglich wäre. Im deutschen Arbeitsrecht hingegen sind die Normierungen nicht nur „verstreut“, sondern teilweise noch immer lückenhaft. Dies eröffnet dem Bundesarbeitsgericht (BAG) einen außerordentlich großen Einfluss, der sich eben nicht nur auf die Konkretisierung bestehender Gesetzeslücken beschränkt, sondern auch die Schaffung vollkommen neuer und von gesetzlichen Regelungen mehr oder weniger losgelöster Institute umfasst. Die Kenntnis um die Existenz und Anwendung gerade dieser Grundsätze ist für die arbeitsrechtliche Praxis unerlässlich. Dieser Beitrag soll daher eine kleine Auswahl der ungeschriebenen und doch wirtschaftlich oft bedeutsamen „Schöpfungen“ arbeitsgerichtlicher Rechtsprechung zum Gegenstand haben.

Betriebliche Übung Ein in der Arbeitgeberwahrnehmung wohl besonders „gefährliches“ Institut ist die vom BAG geschaffene „betriebliche Übung“. Ohne ausdrückliche (oder gar schriftliche) Vereinbarung mit den Arbeitnehmern schafft sie rechtsverbindliche Ansprüche auf bestimmte Leistungen auch für die Zukunft, welche allein aus einem regelmäßigen und gleichförmigen „Verhalten“ des Arbeitgebers in der Vergangenheit abgeleitet werden. Das BAG begründet dies mit einer rechtsgeschäftlichen Übereinkunft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, also einem echten Vertrag. Die Arbeitnehmer sollen aus einer regelmäßigen Wiederholung von Verhaltensweisen des Arbeitgebers schließen können, dass ihnen eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer eingeräumt wird. Dieses Verhalten des Arbeitgebers bildet folglich das Vertragsangebot, das durch die Mitarbeiter stillschweigend angenommen wird. Dabei gehen die von der Rechtsprechung anerkannten Gegenstände der betrieblichen Übung deutlich über die in diesem Zusammenhang häufig genannten Gratifikationszahlungen hinaus. Sie reichen von Freistellungsansprüchen, über die dauerhafte Nichtanrechnung von Tariflohnerhöhungen und Gewährung bestimmter Zusatzvergütungen, bis hin zur Begründung weitreichender Ansprüche auf Ruhegehaltszahlungen. Auch die dauerhafte Gewährung tariflicher Leistungen kann zu echten Ansprüchen der Mitarbeiter auf Anwendung von Tarifverträgen im Wege betrieblicher Übung nebst fortlaufender Weitergabe von Tariflohnerhöhungen führen, unabhängig von einer echten Tarifbindung oder ausdrücklichen Vereinbarung im Arbeitsvertrag. Eine zuverlässige Unterbindung der betrieblichen Übung ist von Arbeitgeberseite am leichtesten durch eine Vermeidung der erforderlichen Gleichförmigkeit und Wiederholung zu erreichen. Dies kann durch die Gewährung A P R I L / M A I

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von „freiwilligen“ Leistungen in unterschiedlicher Höhe und zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgen. Häufig sollen jedoch gerade bestimmte Leistungen fortlaufend und gleichförmig erbracht werden, um zum Beispiel Mitarbeiter zu motivieren. Hier ist dann unbedingt mit jeder einzelnen Gewährung auf die Freiwilligkeit der Leistungen zu verweisen und auch ausdrücklich darauf, dass keine Rechtsansprüche begründet werden sollen. Schließlich kann auch eine gut formulierte und nach AGB-Prüfung wirksame doppelte Schriftformklausel „neuesten Standes“ im Arbeitsvertrag einige wertvolle Dienste bei der Vermeidung einer betrieblichen Übung leisten.

Allgemeiner Gleichbehandlungsgrundsatz Neben diversen spezialgesetzlichen Benachteiligungsverboten und dem grundrechtlichen Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 Abs. 1 GG), das trotz vieler „Ausstrahlungen“ in der Regel nicht unmittelbar zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern gilt, erkennt die Rechtsprechung auch einen allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz an. Dieser bildet eine Art „Fangnetz“ für Ungleichbehandlungen, die nicht bereits von spezielleren Normen erfasst werden. Für einen echten Anspruch ist neben der eigentlichen Ungleichbehandlung erforderlich, dass im Wesentlichen gleiche Sachverhalte vorliegen und kein sachlicher Grund die unterschiedliche Behandlung rechtfertigt. Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz soll nur eine willkürliche Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer gegenüber anderen, vergleichbaren Arbeitnehmern aus sachfremden Gründen verhindern. Eine Begünstigung ist hingegen keineswegs ausgeschlossen. Vor allem im Bereich der Vergütung herrscht in weitem Umfang Vertragsfreiheit. Gelingt es zum Beispiel einem Arbeitnehmer eine höhere Vergütung auszuhandeln, so ergeben sich hieraus noch keine Rechte für andere Mitarbeiter. In der Praxis besteht bei Arbeitgebern oft die Sorge, dass es in der Folge der Aufnahme neuer Mitarbeiter durch Betriebs(teil)übergang zu einer umfassenden Gleichbehandlung, gegebenenfalls noch zu einem „Aufschaukeln“ unterschiedlicher Arbeitsbedingungen, auf dem jeweils höchsten Niveau kommen müsse. Die unterschiedliche Behandlung von nach § 613a BGB übernommenen Arbeitnehmern ist in der Regel aber sachlich gerechtfertigt. Der Arbeitgeber tritt kraft Gesetzes in die bereits bestehenden Verträge der übernommenen Mitarbeiter ein, wohingegen die Verträge seiner „alten“ Mitarbeiter unverändert fortbestehen. Es wäre widersprüchlich, hier eine Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund anzunehmen, da das Gesetz die Ungleichbehandlung in § 613a Abs. 1 BGB letztlich gerade selbst vorschreibt.

Grundsätze der privilegierten Arbeitnehmerhaftung Zum Schutz des Arbeitnehmers vor existenzvernichtenden Schadensersatzansprüchen des Arbeitgebers hat das BAG schon früh zwingende Grundsätze entwickelt, nach denen ein Arbeitnehmer bei betrieblich veranlassten Tätigkeiten nur einer eingeschränkten Haftung unterliegt. Danach ist grundsätzlich die Haftung des Arbeitnehmers für solche Schäden ausgeschlossen, die 99


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