Die überraschende Prosperität der Schweiz
Antworten auf die Frage, weshalb die Schweiz eigentlich so reich geworden ist

Gemessen am Bruttoinlandprodukt pro Kopf ist die Schweiz eines der reichsten Länder der Erde. Das überrascht, wenn man bedenkt, dass die Schweiz zu 70 % aus Berggebiet besteht und man hier praktisch keine natürlichen Rohstoffe findet. Es gibt keinen Meeranstoss für den internationalen Handel und das Land hatte auch nie Kolonien. Wie lässt sich die Prosperität der Schweiz dennoch erklären? Im Folgenden wird argumentiert, dass dies massgeblich auf fünf Faktoren zurückzuführen ist: die geografische Lage (in Brunets «Blauer Banane»), die historische Abwesenheit von königlichen Herrscher:innen und damit von Aristokratie und Sozialklassen, die stabile Staatsform (nach Acemoglu/ Robinson), der opportunistische Umgang mit konkurrierenden Grossmächten und das Glück, in kritischen Momenten von starken Kräften gerettet worden zu sein.
Die Blaue Banane
Bei einem Blick auf eine Europakarte bemerkte der französische Wirtschaftsgeograf Roger Brunet 1989 eine zusammenhängende Kette von dichtbevölkerten Ballungsräumen. Diese reicht von Südengland über das Ruhrgebiet und den Rhein hinunter bis nach Norditalien.
Weil die Farbe Europas blau ist und diese Kette von Ballungsräumen Bananenform hat, nannte Brunet das Gebiet die «Blaue Banane» [1]. Seit vielen Jahrhunderten herrscht in der bevölkerungsreichen Blauen Banane tatsächlich ein reger Austausch von Gütern, Ideen, Technologien und Talenten (inkl. Arbeitsmigration).
Damit erklärt sich die dichte Besiedlung und der wirtschaftliche Erfolg dieser Grossregion – und die Schweiz liegt mittendrin.
London
Rotterdam
Antwerpen
Brussels
Amsterdam
Düsseldorf Köln
Frankfurt
Mannheim/ Ludwigshafen
Strasbourg
Basel
Bern
Zürich
Milano
Genova
Europakarte mit der Blauen Banane [2]
Finden wir heute Indizien dafür, dass die Arbeits(im)migration aus dem Ausland die Schweizer Wirtschaftsentwicklung beeinflusst hat? Dieser Frage geht eine neuere Studie von Avenir Suisse nach, die zu erstaunlichen Ergebnissen kommt, unter anderen [3]:
Illustration von 20 im SMI enthaltenen Firmen, wobei die Fläche der Rechtecke proportional zum Unternehmensmarkwert ist (Stand 30.6.2023). Blau unterlegte Firmen haben ausländische (Mit-)Gründer; rot unterlegte sind rein schweizerische Gründungen [3].
– 13 von 20 im SMI (Swiss Market Index) enthaltenen Unternehmungen wurden ursprünglich von Nicht-Schweizer:innen (mit-)gegründet. Zusammen machen sie über 80 % der SMI-Börsenkapitalisierung aus, wie in Abb. 2 illustriert.
– Ausländer:innen waren in den Analysejahren 2019–2021 zu 42 % an Unternehmensgründungen beteiligt.
– Im Jahr 2022 wurden 73 % der Startups von Ausländer:innen gegründet oder mitgegründet.
– Bei den Unicorns, d. h. Startups mit einer Bewertung von mehr als 1 Milliarde Franken lag der Ausländeranteil der (Mit-) Gründer:innen sogar bei 88 %.
– Der Anteil von Ausländer:innen in der Schweizer Privatwirtschaft und an den Schweizer Hochschulen beträgt über 50 %.
– Bei 45 % aller Patentanmeldungen beim europäischen Patentamt für in der Schweiz gemachte Erfindungen war in den Analysejahren 2002–2015 mindestens ein:e ausländische:r Miterfinder:in beteiligt.
Bis in die 1990er Jahre war die britische Queen Elizabeth II die reichste Frau des Vereinigten Königreichs. Der reichste König der Welt, Maha Vajiralongkorn von Thailand, verfügt über ein Vermögen von schätzungsweise 60 Milliarden Euro. Die reichste Familie der Welt ist diejenige von Mohammed bin Zayed Al Nahyan, dem Herrscher über Abu Dhabi, mit einem geschätzten Vermögen von 305 Milliarden Dollar. Tatsächlich sind unter den 10 reichsten Familien der Welt drei Königshäuser zu finden [4]. Die wohlhabendste Familie ist die Herrscherdynastie der Saudis über Saudi-Arabien, mit einem geschätzten Gesamtvermögen von etwa 1.4 Billionen Dollar [5].
Natürlich können Herrscher:innen ihr Land nicht komplett selbst verwalten. Dafür setzen sie treue Mitglieder der eigenen Familie und loyale Vasallen ein, welche sich die Verantwortung für das Funktionieren des Reiches teilen und das Land im Namen des Herrschers verwalten. Diese loyalen Vasallen sind aufgrund ihrer Funktion, ihrer familiären Abstammung oder ihres Besitzes privilegiert, und die Herrschenden zeichnen sie oft damit aus, dass sie sie in den Adelsstand erheben. Diese Auszeichnung wird innerhalb von Adelsgeschlechtern meist innerfamiliär weitervererbt.
In gewissen Kulturen geht diese gesellschaftliche Schichtbildung so weit, dass die ganze Gesellschaft in relativ undurchlässige Klassen (wie etwa in England) oder in Kasten (wie in Indien) geordnet ist. In einer starken Monarchie oder Autokratie teilen sich die Herrschenden und ihre Aristokratie den Reichtum auf und sorgen durch extraktive Massnahmen dafür, dass Werte, die in der Gesellschaft geschaffen werden, in erster Linie den Herrschenden und ihrer Aristokratie zugutekommen.
Die Erfolgsformel für Nationen
Eigentlich könnte man die Frage «Warum ist unsere Nation so reich?» auf die ganze Welt ausdehnen und nach generellen Faktoren für die nationale Prosperität suchen. Genau diese Problemstellung haben sich D. Acemoğlu und J. A. Robinson in «Why Nations Fail – The Origins of Power, Prosperity and Poverty» [6] vorgenommen. Nach ihrer Analyse von gegen hundert Beispielen aus allen Epochen der Weltgeschichte kommen die Autoren zum Schluss, dass drei Hauptfaktoren für die nachhaltige Prosperität von Staaten nötig sind:
Offenheit: Die Gesellschaft respektiert eine Vielzahl freier Individuen und eine Vielfalt von gesellschaftlichen Kräften, die miteinander konkurrieren. Diese pluralistische Vielfalt ermöglicht eine grosse Zahl von verschiedenen Ideen, Vorstellungen und Werten, die alle untereinander im Wettbewerb stehen. Eine
Es ist offensichtlich, dass gutes Management nur mit einer Pyramide von fähigen Menschen möglich ist, meist unter Leitung eines einzelnen «Geschäftsführers». Auch in einer starken Monarchie oder Autokratie existiert eine solche Machtpyramide, aber mit dem zentralen Unterschied, dass nicht Fähigkeiten den Platz in einer solchen Hierarchie sichern, sondern Loyalität zum Herrscher, familiäre Herkunft und Geburtsrechte. Deshalb sorgen autokratische Machtpyramiden zwar dafür, dass die obersten Gesellschaftsschichten enormen Reichtum anhäufen können, dass aber das wirtschaftliche Gesamtsystem aufgrund seiner extraktiven Natur nicht so effektiv funktioniert wie eine inklusive Gesellschaftsordnung.
Die eidgenössischen Kantone gewannen erst im Jahr 1648 formell die Souveränität vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Aber schon vorher hatten sich die 13 alten Orte weitgehende Autonomie vom Kaiser erkämpft, indem sie ihm «reichsunmittelbar», d. h. direkt und nicht über einen Landesherren, unterstellt waren. So konnte sich die föderale Tradition der Schweiz entwickeln, ohne dass ein ausbeuterisches Gesellschaftssystem aufgrund einer «göttlichen Ordnung» dafür sorgte, dass der Reichtum nur einer dünnen Gesellschaftsschicht zugutekam.
Allerdings war auch die mittelalterliche Schweiz nicht klassenfrei, denn die politische Macht konzentrierte sich damals vor allem auf Patrizierfamilien, die hauptsächlich in den Städten residierten. Diese Patrizier wurden erst durch die Helvetische Republik um 1800 und definitiv durch die liberalen Revolutionen in den Jahren 1830–1850 entmachtet.
offene, pluralistische Gesellschaft zwingt niemandem eine bestimmte Überzeugung auf oder verhindert die Wahl einer beruflichen Tätigkeit. Jeder und jede darf seine/ihre Talente frei entwickeln und für wirtschaftliche Zwecke einsetzen.
Inklusivität: Das politische System erlaubt es breiten Gesellschaftsschichten, sich im politischen Leben und bei der Ausgestaltung staatlicher Institutionen zu beteiligen. So können gemeinsame Entscheidungen gefällt werden, von denen eine Mehrheit wirtschaftlich profitieren kann. In Gesellschaften, welche diese Inklusivität nicht kennen, dominiert typischerweise eine kleine Minderheit die politischen Institutionen, wodurch die Machtverhältnisse so geändert werden, dass nur doch diese kleine Minderheit – die gesellschaftliche «Elite» – wirtschaftlich profitiert.
Eigentumsschutz: Ein stabiler Staat ist um die Sicherheit aller Mitbürger:innen besorgt. Nicht zuletzt schützt er die Eigentumsrechte, sowohl ihr Hab und Gut, aber auch ihre immateriellen Güter (Patente, Marken, Designs, Gedanken, künstlerische Werke usw.). Damit wird sichergestellt, dass alle Mitbürger:innen von den Früchten ihrer Arbeit und ihres kreativen Wirkens selbst profitieren können und nicht nur eine kleine, extraktive Elite.
Die Schweiz war nicht immer ein perfektes Beispiel für eine offene, inklusive und partizipative Nation. So waren etwa die äusserst
strengen Judengesetze, welche den jüdischen Mitbürger:innen seit dem frühen Mittelalter enorm diskriminierende Restriktionen auferlegten, ein Grund dafür, dass jüdische Familien auswanderten – und dann manchmal im Ausland dank ihren Talenten enorme Reichtümer erwirtschafteten. Ein Beispiel dafür ist die Guggenheim-Dynastie, die ihren Ursprung im aargauischen Lengnau hatte [7]. Trotzdem ist die direkte, das ganze Volk einbeziehende Demokratie, welche sich in der Schweiz mit der Zeit entwickelte, eine ausgezeichnete Voraussetzung für die drei obigen Erfolgsfaktoren für nachhaltige Prosperität.
Der opportunistische Umgang mit konkurrierenden Mächten
Aufgrund ihrer kleinen Fläche war die Schweiz nie wirklich ein militärisches Schwergewicht in Europa, obwohl das Söldnertum während Jahrhunderten der zweitwichtigste Wirtschaftszweig der Schweiz nach der Landwirtschaft war; zeitweise kämpfte jeder zehnte Eidgenosse in einer fremden Armee [8]. Trotzdem stand die Schweiz – mit Ausnahme der Helvetik während 1798–1803 – nie unter fremder Herrschaft. Wie war das möglich?
Das Muster dafür wurde schon 1231, noch vor der Gründung der Eidgenossenschaft, vorgelebt [9]: Um 1200 wurde der Gotthardpass passierbar gemacht. Da die Habsburger zu diesem Zeitpunkt schon einen grossen Teil der nördlichen Handelsroute – Strassen, Brücken, Zollstationen, Schiffsanlegestellen – beherrschten, wollten sie ihren Plan verwirklichen, einen Passstaat am Gotthard unter ihrer Kontrolle aufzubauen. Dazu erhielten die Habsburger 1218 von Kaiser Friedrich II. die Reichsvogtei in Uri.
Das war ein prima Geschäft für die Habsburger, wie die Urner mit Unmut feststellten. Aber im Jahr 1231 war ihre Stunde gekommen: Der neue Kaiser Heinrich VII. war ein Staufer, aus der Familie von Hohenstaufen, die mit den Habsburgern damals rivalisierte. So entzog Heinrich VII. den Habsburgern die Reichsvogtei Uri, und er machte im Urner Freiheitsbrief von 1231 Uri «reichsunmittelbar», d. h. er unterstellte die Urner direkt dem fernen Kaiser. Natürlich war das auch ein gutes Geschäft für den Kaiser, denn die Urner bezahlten ihm eine bedeutende Ablösesumme [9].
Dieses strategische Vorgehen des «divide et impera» hat die Schweiz immer wieder erfolgreich eingesetzt, indem miteinander konkurrierende grosse Mächte gegeneinander ausgespielt oder allen «gute Dienste» angeboten wurden. So wurde etwa im 16. Jahrhundert den Franzosen ein vorteilhafter Söldnervertrag angeboten, um den französischen Bedarf nach Soldaten als gutes Geschäft zu decken und die Franzosen gegenüber der Schweiz freundlich zu stimmen. Aber auch mit den Spaniern, den Engländern, den Holländern, den Venezianern, dem Papst und sogar dem deutschen Kaiser wurden solche Söldnerverträge abgeschlossen.
Im Zweiten Weltkrieg plante Nazideutschland die Invasion der Schweiz erst nach dem erhofften Sieg im Ostfeldzug. Bis dann sollte die Neutralität der Schweiz – im Gegensatz zu derjenigen von Belgien und den Niederlanden – respektiert werden, denn die Dienste der Schweiz waren für Nazideutschland sehr nützlich, vor allem die Rüstungslieferungen und die Goldtransaktionen durch das Schweizer Bankensystem: Etwa 75 % des ins Ausland gehenden Devisentausches wurde vom Dritten Reich über die Schweiz abgewickelt [10].