
Diskussionspapier
Grüner Wasserstoff – ein Beitrag zur Versorgungssicherheit und Dekarbonisierung der Schweiz
Eine Übersicht der wichtigsten Fragen und Empfehlungen für Entscheidungsträger:innen aus Politik, Verwaltung, Forschung und Wirtschaft.
Autor und Projektleitung: Christian Holzner (SATW)
Beratende Expert:innen SATW-Energiegruppe: Marco Berg (Stiftung Klimaschutz und CO₂ Kompensation KliK), Konstantinos Boulouchos (ETH Zürich), Bernhard Braunecker (Schweizerische Physikalische Gesellschaft SPG), Brigitte Buchmann (ehem. EMPA), Rita Hofmann (ehem. BFH), Wolfgang Kroeger (ETH Zürich), Christian Schaffner (ETH Zürich), Karin Schröter (Electrosuisse), Andreas Züttel (EPFL)
Dieses Dokument ist verfügbar unter https://www.satw.ch/de/publikationen/gruener-wasserstoff-ein-beitrag-zur-versorgungssicherheitund-dekarbonisierung-der-schweiz
Dezember 2024
Reiner Wasserstoff und seine Syntheseprodukte können zur Dekarbonisierung verschiedener Prozesse und Sektoren beitragen, in denen eine direkte Elektrifizierung oder andere kohlenstoffarme Lösungen technisch oder wirtschaftlich schwer umzusetzen sind. Als chemischer Energieträger ermöglicht Wasserstoff, Strom aus erneuerbaren Energien zu speichern und zu einem späteren Zeitpunkt für vielfältige Anwendungen zu nutzen.
Um das Potenzial von Wasserstoff für die Schweizer Energieversorgung realisieren zu können, müssen verschiedene Herausforderungen wie nötige Infrastruktur für Produktion, Speicherung und Transport gezielt angegangen und Fragen zur Nutzung, Sicherheit, Gesetzgebung und Normierung rasch geklärt werden. Weiter sollte die langfristige Perspektive einer Wasserstoffwirtschaft sowie die Verfügbarkeit dieser Energieträger insbesondere für die Industrie geprüft werden.
1 Was kann Wasserstoff der Schweiz bieten?
Wasserstoff lässt sich flexibel einsetzen (Abbildung 1), mit geeigneter Infrastruktur transportieren und auch speichern. Sofern der Wasserstoff mittels erneuerbarer Energie produziert wird (sogenannt «grüner» Wasserstoff, siehe Seite 7 «Woher kommt der Wasserstoff?»), ist sein Beitrag zum Treibhauseffekt klein und sein Einsatz zur Substitution fossiler Energieträger und Rohstoffe geeignet. Die Nutzung von grünem Wasserstoff in diversen Sektoren wird zurzeit erforscht und in einigen Pilotprojekten – auch in der Schweiz – erprobt und umgesetzt. Die folgenden Anwendungsbereiche von Wasserstoff gelten als besonders vielversprechend:
1.1 Treibstoff für die Mobilität (direkte Nutzung)
Hier steht der Güter- und Langstreckenverkehr auf der Strasse im Vordergrund, weil die hohe massenspezifische Energiedichte von Wasserstoff Vorteile für die Reichweite und Transportkapazität schafft. Bei Personenwagen und für kürzere Strecken ist der Ersatz fossiler Treibstoffe mit batterieelektrischen Antrieben meist energetisch effizienter und kostengünstiger, viele Lösungen dafür sind am Markt verfügbar. Zusätzlich wird Wasserstoff auch als Treibstoff für die Schifffahrt, Eisenbahnen und Flugzeuge erforscht und erprobt. Dies ermöglicht es der Schweiz – als Hauptsitzstandort einiger grosser Hochseereedereien und als wichtiger Knotenpunkt im europäischen Flugverkehr –eine Rolle in der Innovation und Entwicklung von Wasserstofftechnologien zu spielen, darauf Einfluss zu nehmen und davon zu profitieren.
Im ÖV-Netz der Schweiz verkehren derzeit rund 6000 Dieselbusse. Aufgrund der Vorgaben zu Klimaschutz und Energieeffizienz sollen diese Busse durch CO2-neutrale Alternativen ersetzt werden, konkret durch Batterie- und Wasserstoffbusse. Eine Studie des Bundesamtes für Verkehr BAV zeigt, dass Wasserstoffbusse im Regionalverkehr, wo längere und gerade in der Schweiz topografisch anspruchsvollere Strecken zu überwinden sind, geeignet wären.
1.2 Grundstoff für synthetische Energieträger (Umwandlung)
Zusammen mit Kohlendioxid, welches direkt aus der Luft oder von Punktquellen gesammelt wird (Carbon Capture), kann Wasserstoff als Ausgangsstoff für die Synthese gasförmiger oder flüssiger Brenn- und Treibstoffe dienen (beispielsweise synthetisches Methan, Methanol oder andere Kohlenwasserstoffe). Weiter wird Wasserstoff bei der Produktion von synthetischen Brenn- und
Treibstoffen aus Pflanzenölen oder zur Herstellung von wasserstoffreichen Substanzen wie Ammoniak genutzt. Diese Derivate sind einfacher zu transportieren und zu speichern als Wasserstoff und bieten Vorteile, weil sie oft ohne oder mit relativ geringen Anpassungen in den bestehenden Infrastrukturen und Maschinen als Ersatz fossiler Energieträger eingesetzt werden können.
1.3 Energieträger für die Wärmeerzeugung sowie Rohstoff in der Industrie
Um zukünftig in ausreichenden Mengen CO2-neutrale Hochtemperatur-Prozesswärme in der Industrie bereitzustellen, ist Wasserstoff ein entscheidender Energieträger. Wasserstoff wird heute in grossen Mengen als Rohstoff in der chemischen Industrie eingesetzt, insbesondere für die Herstellung wichtiger Grundchemikalien wie Methanol und synthetischen Dünger. Weitere wichtige Anwendungsbereiche sind die Zementindustrie, Stahlindustrie, Kunststoffindustrie, Pharmaindustrie und Lebensmittelindustrie. Wenn in diesen Industrien vollständig klimaneutraler Wasserstoff genutzt wird, wäre dies ein grosser Schritt zur Defossilierung der Produktion.
1.4 Wasserstoffproduktion aus erneuerbaren Energien und Speicherung
Wasserstoff ist unter den chemischen Energieträgern derjenige, welcher am effizientesten aus erneuerbarer Elektrizität hergestellt werden kann. Damit ist er eine Alternative, wenn Elektrizität nicht direkt genutzt bzw. in Batterien oder Pumpspeicherkraftwerken gespeichert werden kann. Gasförmiger Wasserstoff kann in Druckspeichern mit geringen Verlusten über einige Monate gespeichert werden. Deshalb könnte Wasserstoff zukünftig auch genutzt werden, um zu Zeiten hoher erneuerbarer Energiegewinnung und geringer Nachfrage indirekt Strom zu speichern und bei Bedarf an der Stelle von fossilen Energieträgern für die Mobilität, Strom- oder Wärmeerzeugung zu nutzen (Power-to-X).
Beispielsweise kann durch die Installation von Elektrolyseuren am Ort der erneuerbaren Stromproduktion, die nicht direkt nachgefragte Elektrizität für die grüne Wasserstoffproduktion genutzt werden. Auch könnte eine hohe Solarstromproduktion im Sommer der Wasserstoffproduktion dienen. Durch Speicherung und spätere Rückverstromung könnte Wasserstoff insbesondere zum saisonalen Ausgleich in der Energieversorgung und allenfalls auch zum Ausgleich von Produktions- und Lastspitzen im Stromnetz beitragen.
Wasserstoff könnte für die Energiespeicherung auch bei Abkühlung auf -253 Grad Celsius verflüssigt oder in Metallhydridsystemen eingelagert werden (siehe Beispiel auf Seite 12), sowie in synthetisches Methan, flüssige Kohlenwasserstoffe oder Ammoniak umgewandelt werden, welche eine höhere volumetrische Energiedichte haben (d.h. für den gleichen Energieinhalt ein geringeres Speichervolumen benötigen).

Abbildung 1: Die Herstellung von grünem Wasserstoff und Nutzung in verschiedenen Anwendungsbereichen.
2 Weshalb ist die Frage nach dem Einsatz von Wasserstoff wichtig und dringend?
Die oben aufgezeigten Anwendungsmöglichkeiten von Wasserstoff in der Mobilität, Industrie und Energieversorgung können zum Ziel beitragen, bis 2050 CO2-Neutralität zu erreichen, wenn sie rasch zur Umsetzungsreife gebracht werden.
Seit mehr als hundert Jahren wird in der Schweiz aus fossilen Ressourcen hergestellter und zu einem geringen Teil grüner Wasserstoff in chemischen Prozessen verwendet. Seit wenigen Jahren wird mit erneuerbarem Strom produzierter Wasserstoff auch für den Betrieb einer kleinen Flotte von Wasserstoff-Lastwagen genutzt. Der Wasserstoff wird in Elektrolyseanlagen hergestellt, welche Flusskraftwerken angegliedert sind und anschliessend mit Strassentransporten an Wasserstofftankstellen verteilt. Im Sommer 2024 waren in der Schweiz 18 solcher Tankstellen in Betrieb. Der Wasserstoff wird in LKWs und einigen PKWs genutzt, welche mit Brennstoffzellen den Wasserstoff wieder in Strom umwandeln und mit Elektromotoren angetrieben werden. Inzwischen ist die Flotte auf 50 Wasserstoff-LKWs angewachsen, die in den letzten 5 Jahren insgesamt über 10 Millionen Kilometer gefahren sind. Die aktuelle Nischenanwendung von Wasserstoff für die Mobilität lässt nur bedingt Schlüsse auf die Möglichkeiten der zukünftigen Wasserstoffnutzung in der Schweiz zu. Am Ende des vorliegenden Dokuments werden Schritte vorgeschlagen, um eine breitere Nutzung von grünem Wasserstoff in der Schweiz zu ermöglichen. Die Energiepreisschwankungen und geopolitischen Krisen der jüngsten Zeit haben die Frage der Versorgungssicherheit in den Vordergrund gerückt. Wenn fossile Energieträger mit Wasserstoff ersetzt werden, könnte damit eine bessere Ausgangslage bezüglich Versorgungssicherheit geschaffen werden. Die Abhängigkeit von Erdgas- und Erdöllieferungen würde stark zurückgehen oder
wegfallen, aber man wäre auf eine hohe Verfügbarkeit von Wasserstofferzeugung, Transport und Speicherung angewiesen.
Eine lokale Wasserstoffproduktion (Abbildung 2) kann in der Schweiz aus erneuerbarem Strom erfolgen und reduziert damit die Auslandabhängigkeit im Vergleich zum Import fossiler Energieträger, insbesondere im Sommer, wenn die Schweiz in der Regel mehr Strom produziert als im Inland verbraucht wird. Statt Strom zu exportieren, könnte dieser in der Form von Wasserstoff saisonal gespeichert und später rückverstromt oder in der Industrie und Mobilität genutzt werden. Voraussetzungen dafür sind, dass die notwendige Infrastruktur (Elektrolyseure, Speicher und Transportsystem) rechtzeitig aufgebaut und längerfristig wirtschaftlich betrieben werden kann. Zukünftig könnte möglicherweise auch Strom aus neuen Kernkraftwerken für die Wasserstoffproduktion mit geringen CO2-Emissionen in der Schweiz genutzt werden, falls das geltende Verbot zum Erteilen der Rahmenbewilligung für neue Kernkraftwerke aufgehoben wird.
Gemäss einem Postulatsbericht des Bundesrats von November 2023 zur Auslegeordnung und zu Handlungsoptionen für die Schweiz hinsichtlich Wasserstoff kann die Nachfrage in der Schweiz voraussichtlich bis 2035 mehrheitlich durch die inländische Produktion gedeckt werden. Spätestens ab 2035 wird erwartet, dass Wasserstoff importiert werden muss, um den steigenden Bedarf zu decken. Der grüne Wasserstoff könnte aus Regionen importiert werden, die bessere Voraussetzungen (beispielsweise eine höhere Sonneneinstrahlung) für kostengünstige Produktion im grossen Massstab haben. Dies erfordert aber die Anbindung an ein grenzüberschreitendes Wasserstoffnetz und eine internationale Koordination analog zum Strombereich (insbesondere Lieferabkommen mit Produzentenländern), um die Importmöglichkeiten von Wasserstoff in ausreichender Menge und Qualität sicherzustellen.
Der Transport bzw. Import von Wasserstoff kann in verschiedenen Formen erfolgen (gasförmig, verflüssigt oder als wasserstoffreiche Derivate wie Ammoniak), wobei die Verflüssigung oder Umwandlung in Wasserstoff-Derivate zusätzliche Energie benötigen. Weiter kommen unterschiedliche Transportinfrastrukturen in Frage (Pipelines, Strassentransporte mit LKW, Flüssiggastanker etc.), welche aber spezifisch für Wasserstoff aufgebaut oder angepasst werden müssen. Der zukünftige Einsatz der verschiedenen Transportformen und -infrastrukturen muss aufgrund ihrer energetischen und technischen Anforderungen beurteilt werden. Grundsätzlich würden die Möglichkeiten zur Diversifikation des Transports aber zur Versorgungssicherheit beitragen.
Die Umsetzung von Wasserstoffsystemen in der Schweiz und der Export entsprechender Technologien eröffnen vielfältige Möglichkeiten für die Schweizer Industrie, wenn entsprechende Innovationen vorangetrieben werden und rechtzeitig auf den Markt gebracht werden können. Schweizer Firmen entwickeln beispielsweise Verfahren und Technologien zur Produktion und Speicherung von Wasserstoff, sowie Antriebe für Hochseeschiffe oder Gasturbinen, welche Wasserstoff als Treibstoff nutzen können oder bauen Elektrolyseanlagen. Einige Anwendungsbeispiele werden in diesem Dokument vorgestellt (siehe Seite 11 ff.).
Um die Chancen der Wasserstoffanwendungen zu nutzen und die Entwicklung der notwendigen Technologien zu fördern, formulieren diverse Organisationen, Staaten und Staatengemeinschaften mittel- bis langfristige Wasserstoffstrategien. Eine schweizerische Strategie, welche von vielen Akteuren im Wasserstoffbereich als dringend erachtet wird, wurde von der Bundesverwaltung angekündigt, aber noch nicht publiziert. Die Europäische Union (EU) hat bereits 2020 ihre Strategie verabschiedet, die den Aufbau eines europaweiten Wasserstoff-Ökosystems anstrebt. In diesem
Zusammenhang wird unter anderem der Aufbau eines internationalen Transportnetzes (European Hydrogen Backbone), eine gemeinsame Normung vorangetrieben und diverse Projekte entlang der Wasserstoffwertschöpfungskette im Rahmen der EU- Industriepolitik gefördert.
3 Woher kommt der Wasserstoff?
Wasserstoff ist das leichteste und häufigste Element im Universum. Unter Normalbedingungen liegt Wasserstoff als Molekül in der Form von Wasserstoffgas (H2) vor. Wasserstoffgas ist ungiftig, farb- und geruchlos. Bezüglich der chemischen Eigenschaften ist Wasserstoff hoch reaktiv und bildet Verbindungen mit den meisten Elementen. Bezogen auf die Masse hat Wasserstoff von allen Brenn- und Treibstoffen die höchste Energiedichte, benötigt aber als Gas ein grosses Volumen zur Speicherung (d.h. hat eine sehr geringe volumenbezogene Energiedichte). Zur Wärmegewinnung kann Wasserstoff verbrannt oder in einer Brennstoffzelle elektrochemisch durch Redoxreaktionen zu Strom umgewandelt werden. In beiden Fällen entsteht als Produkt Wasser.
Wasserstoff kommt als geologischer Wasserstoff in eisenhaltigen Gesteinen vor, ist aber auf der Erde grösstenteils mit Sauerstoff zu Wasser gebunden. Um reinen Wasserstoff für die Nutzung im Energiesystem oder als chemischen Rohstoff zu gewinnen, werden heute diverse Produktionsprozesse genutzt (Abbildung 2). Diese unterscheiden sich insbesondere aufgrund der bei der Erzeugung genutzten Energiequelle und den verursachten Kohlendioxidemissionen (CO2). Wasserstoff wird je nach Produktionsverfahren nach unterschiedlichen Farben klassifiziert (hier werden die gebräuchlichsten Klassen beschrieben, teilweise sind in der Literatur aber noch weitere Farbeinteilungen zu finden):
- «Grüner» Wasserstoff wird entweder durch Konversion von Biomasse oder durch Elektrolyse von Wasser mit erneuerbarem Strom hergestellt. Die Produktion ist somit CO2-neutral.
- «Grauer» Wasserstoff wird aus fossilen Rohstoffen (Dampfreformation von Erdgas oder Kohlevergasung) produziert. Das dabei entstehende CO2 gelangt in die Atmosphäre. Aktuell wird der grösste Teil des weltweit genutzten Wasserstoffs aus fossilen Quellen gewonnen, mit erheblichen Treibhausgasemissionen.
- «Blauer» Wasserstoff wird ebenfalls aus fossilen Rohstoffen hergestellt, das anfallende CO2 wird jedoch zu grossen Teilen eingefangen und gespeichert (Carbon Capture and Storage, CCS).
- «Türkiser» Wasserstoff entsteht durch die thermische Spaltung von Erdgas. Ein grosser Teil des CO2 wird in festen Kohlenstoff umgewandelt, der dauerhaft im Untergrund gelagert werden kann.
- «Rosa» Wasserstoff wird durch Elektrolyse mit Strom aus Kernenergie hergestellt.
- «Weisser» Wasserstoff stammt aus natürlichen Vorkommen im Untergrund.
Die Wasserstoffproduktion kann grundsätzlich im Inland oder Ausland erfolgen. Welche Produktionsverfahren an welchen Standorten geeignet sind, hängt vor allem von der Verfügbarkeit der benötigten Energiequellen und Rohstoffen sowie der Möglichkeit ab, CO2 bzw. festen Kohlenstoff im Untergrund einzulagern. Aktuell wird in der Schweizer Industrie mehrheitlich grauer Wasserstoff genutzt, der aus dem benachbarten Ausland importiert wird. Gemäss der Internationalen Energieagentur IEA dürfte die jährliche weltweite Wasserstoffproduktion Ende 2024 beinahe 100 Millionen Tonnen erreichen, weniger als ein Prozent davon ist emissionsarm (mit CCS) produziert. Unter
einem Promille der weltweiten Produktion stammt aus Wasser-Elektrolyse, dafür wird sowohl Strom aus erneuerbaren Energien als auch aus anderen Quellen verwendet.
In der Schweiz sind einige – im internationalen Vergleich kleinere – Elektrolyseanlagen für die Produktion von grünem Wasserstoff in Betrieb oder im Bau, häufig bei Flusswasserkraftwerken (siehe Beispiel auf Seite 11). In Europa existieren grössere Elektrolyse-Projekte, die beispielsweise Strom aus Windparks nutzen. Weltweit hat sich gemäss IEA die Elektrolysekapazität (installierte Leistung) für die Wasserstoffproduktion zwischen 2022 und 2023 beinahe verdoppelt, wobei China führend beim Zubau ist. Mit dem für 2024 zusätzlich geplanten Ausbau dürfte China beinahe 70 Prozent der weltweiten Kapazität erreichen, vor Europa mit 15 Prozent und den Vereinigten Staaten mit 6 Prozent.
Mit dem raschen Ausbau der Elektrolyseanlagen ist auch ein deutlich höherer Bedarf an erneuerbaren Energien verbunden, wenn diese zukünftig grünen Wasserstoff erzeugen sollen. Zur Dekarbonisierung des Energiesystems der Schweiz und zur Erreichung des Ziels von Netto-Null Treibhausgasemissionen leistet grüner Wasserstoff den effektivsten Beitrag. Die Wasserstoffproduktion mit erneuerbarem Strom ist aber heute am teuersten, laut IEA sind die Kosten je nach Produktionsort 1.5- bis 6-mal höher als diejenigen für «grauen» Wasserstoff ohne Kompensation für den CO2-Ausstoss. Andere Produktionsformen mit geringen CO2-Emissionen (wie «blauer» oder «türkiser» Wasserstoff) könnten in einer Übergangsphase den Aufbau einer nachhaltigen Wasserstoffversorgung unterstützen. Je nach Strategie zur zukünftigen Kernenergienutzung in der Schweiz könnte auch «rosa» Wasserstoff genutzt werden.

Abbildung 2: Farbklassifizierung von Wasserstoff anhand von Herstellungsverfahren, Energiequellen und CO2-Emissionen.
4
Wie wird Wasserstoff für die Schweizer Energieversorgung bedeutend?
Um Wasserstoff in grösserem Mass in der Schweiz produzieren und nutzen zu können, müssen verschiedene Herausforderungen angegangen werden, die nachfolgend in vier Handlungsfelder gegliedert sind. In vielen dieser Bereiche lässt sich heute noch nicht abschliessend beurteilen, wie sich wichtige Einflussfaktoren entwickeln und wie sich der Aufwand für die Einführung und die Vorteile von Wasserstoff gegeneinander abwägen lassen.
4.1 Aufbau der Wasserstoffinfrastruktur und Investitionssicherheit
Ein umfassendes Wasserstoffsystem benötigt Produktionsanlagen, Systeme oder Netze für den Transport und Verteilung, sowie Speicheranlagen. Der Aufbau oder die Umnutzung bestehender Infrastrukturen (wie beispielsweise Erdgas-Pipelines und Speicher) für Wasserstoff stellt neue und in der Regel höhere Anforderungen an die verwendeten Materialien und Technologien, u.a. bezüglich Dichtigkeit.
Die Effizienz, der Nutzen und die (zeitliche) Realisierbarkeit verschiedener Lösungen müssen gegeneinander abgewogen werden. Sei dies beim Transport auf der Strasse gegenüber Leitungsnetzen, bei verschiedenen Produktionsanlagen oder Speichersystemen für Wasserstoff oder dessen Derivate (synthetische Kohlenwasserstoffe oder Ammoniak). Der Infrastrukturaufbau für Wasserstoff erfordert grosse Investitionen und benötigt geeignete Standorte, wo neue Anlagen erstellt werden können. Hier spielt auch die Akzeptanz des neuen Energieträgers bei Unternehmen und Gesellschaft mit hinein, was sich auch auf die Investitionsbereitschaft und Dauer von Bewilligungsverfahren auswirkt.
4.2 Sicherheit und Umgang mit Risiken
Hier ist besonders die hohe Reaktivität von Wasserstoff und damit die Gefahr von Bränden oder Explosionen zu beachten. Zudem kann das Gas zur Versprödung von Metallen führen und beeinträchtigt deren Lebensdauer. Wasserstoff wirkt an sich nicht als Treibhausgas, hat aber indirekt negative Klimaauswirkungen, weil es die Wirkung anderer Treibhausgase verstärkt. Schon deshalb müssen Wasserstoffaustritte in die Atmosphäre bei Herstellung, Transport und Speicherung minimiert werden. Das Syntheseprodukt Ammoniak ist reaktiv, explosiv und ätzend. Es weist das höchste Gefahrenpotential der Wasserstoffderivate auf und erfordert entsprechende Sicherheitsvorkehrungen.
4.3 Kosten, Wirtschaftlichkeit und Konkurrenzfähigkeit
Grüner Wasserstoff ist aktuell ein knappes Gut mit hohen Preisen und könnte es längerfristig bleiben. Dies führt kostengetrieben zu einer Einengung der Anwendungsmöglichkeiten von Wasserstoff bzw. zu Priorisierung zwischen Chemie, Industrie, Mobilität etc. Dem stehen deutliche Fortschritte bei der Elektrifizierung, etwa bei der Elektromobilität und Batteriespeichern gegenüber. Ob und in welchem Ausmass Wasserstoff für die saisonale Speicherung erneuerbarer Energie genutzt werden soll, muss auch im Hinblick auf die grossen Speichermöglichkeiten in der Schweizer Wasserkraft und Gesamteffizienz der Umwandlungsprozesse beurteilt werden. Ein Wasserstoffspeichersystem muss erst aufgebaut werden und in Kombination zu den bestehenden (Pump-)Speicherwasserkraftwerken und anderen flexiblen Anbietern, Verbrauchern sowie
Speichermöglichkeiten im Stromnetz (wie Batterien für die kurzfristige Speicherung) konkurrenzfähig betrieben werden können. Wegen Energieverlusten bei der Wasserstoffproduktion und Rückverstromung können Gemäss Abschätzungen der IEA auch nur ungefähr 25-30 Prozent des ursprünglich eingesetzten Stroms am Ende wieder genutzt werden.
4.4 Politische Rahmenbedingungen, Regulierung und Normierung
In welcher Form die Schweiz in die internationale Zusammenarbeit zu Wasserstoff eingebunden ist, sowie eine schweizerische Strategie zur Wasserstoffversorgung und -speicherung und deren rechtliche Verankerung (beispielsweise im Gasgesetz) dürften die Entwicklung stark beeinflussen. Eine gesetzliche Grundlage würde die nötige Planungssicherheit für Schweizer Unternehmen schaffen, um sich für den Aufbau der Wasserstoffnutzung zu engagieren. Um den Aufbau von Wasserstoffproduktionsanlagen zu erleichtern, müssten die entsprechenden Bau- und Betriebsbewilligungsverfahren vereinfacht werden. Im Bezug zu Europa sind die Bedingungen für den Anschluss der Schweiz an ein europäisches Wasserstoff-Transportnetz (European Hydrogen Backbone) zu klären. Internationale Transportnetze und gesicherte Lieferverträge mit sonnenreichen Ländern und guten Bedingungen für die Wasserstoffproduktion könnten kostengünstige Importe von Wasserstoff ermöglichen. International abgestimmte Technik- und Sicherheitsnormen zum Umgang mit Wasserstoff könnten die Anwendung von neuen Wasserstofftechnologien in der Schweiz sowie den Export von Schweizer Innovationen auf den internationalen Märkten erleichtern.
5 Was tun, damit die Schweiz beim Wasserstoff den Anschluss nicht verliert?
Allgemeine Empfehlungen, damit Wasserstoff (und/oder dessen Derivate) einen wesentlichen Beitrag zum zukünftigen Energiesystem der Schweiz leisten können:
- Relevanz von grünem Wasserstoff für das zukünftige CO2-neutrale Schweizer Energiesystem erkennen, um zur Dekarbonisierung, Versorgungssicherheit und auch Wirtschaftlichkeit (in gewissen Anwendungen) beizutragen, sowie Chancen für die Schweizer Forschung und innovative Unternehmen im Land zu schaffen.
- Grünen Wasserstoff aus erneuerbaren Energien verwenden, um die Abhängigkeit von fossilen Energien möglichst stark zu reduzieren. Ergänzend mit geringen Klimaauswirkungen produzierten Wasserstoff nutzen (beispielsweise «blauen» oder «rosa» Wasserstoff), abhängig von der zukünftigen Position der Schweiz zu Carbon Capture und der Nutzung von Kernenergie.
- Wasserstoff dort einsetzen, wo dieser am meisten Nutzen stiftet, aus Sicht der energetischen und Kosteneffizienz, sowie der Reduktion von CO2-Emissionen. Prioritär Wasserstoff als Rohstoff und für Hochtemperaturanwendungen nutzen, um den Treibhausgasausstoss der Industrie zu minimieren (Dekarbonisierung). In der Mobilität auf den Langstrecken- und Schwerverkehr (ggf. auch Schiff- und Flugverkehr) fokussieren. Wo dies aber möglich ist, sollte die direkte Elektrifizierung bevorzugt werden (z.B. bei Personenwagen)
- Die Wasserstoffversorgung in der Schweiz muss als Gesamtsystem entwickelt werden, welches Produktion, Speicher und Transportinfrastruktur umfasst. Der Aufbau muss international eingebettet in die Transformation des gesamten Energiesystems und abgestimmt auf die Nachfrage
nach Wasserstoff (für die Energieversorgung und Industrie) erfolgen. Zu berücksichtigen ist auch der mögliche Beitrag von Wasserstoff zur saisonalen Speicherung von Strom aus erneuerbarer Energie.
Relevante Akteure der Schweiz können folgendermassen zur Entwicklung der Wasserstoffnutzung beitragen:
5.1 Forschung und Entwicklung
- Einsatzmöglichkeiten von Wasserstoff aus Gesamtsystemsicht, sowie Machbarkeit und Effizienz aufzeigen. Insbesondere die Eignung und das Potential von Wasserstoff als (saisonales) Speichermedium in der Schweiz klären. Den mittel- und langfristig zu erwartenden Bedarf abschätzen und Wege zu dessen Deckung aufzeigen.
- Umfassende Beurteilung der Vor- und Nachteile einschliesslich Nachhaltigkeit und Kosten von Wasserstoff und seiner Synthesestoffe (SWOT-Analysen).
- Technologieentwicklung und Materialforschung für Elektrolyseure, Speicher, Transportsysteme, Verbrennungsaggregate und Brennstoffzellen vorantreiben.
5.2 Schweizer Industrie und Verbände
- Konzepte entwickeln und Pilotprojekte umsetzen, um die Nutzung von grünem Wasserstoff mit erfolgreichen Anwendungsbeispielen in der Schweiz konkret voranzubringen, z.B. Produktionsanlagen und Industrieanwendungen realisieren.
- Bestehende Kompetenzen aus der Entwicklung von Hightech-Komponenten, der Maschinenindustrie (Kraftwerke, Turbinen, Motoren), oder als Automobil-Zulieferer auf Wasserstoffwirtschaft übertragen.
5.3 Regulatoren und Verwaltung
- Chemische Energieträger weiterverfolgen, im Hinblick auf die Entwicklung synthetischer Alternativen zu den fossilen Energieträgern.
- Rahmenbedingungen und politische Massnahmen für den Infrastrukturaufbau (und bei Bedarf dessen Förderung), die Entwicklung eines Wasserstoffnetzwerks (inkl. internationaler Anbindung) und Sicherheit klären, sowie allfällige administrative Hürden beseitigen. Eine entsprechende Roadmap bezüglich Schweizer Wasserstoffstrategie veröffentlichen.
- Normierung in Anlehnung an internationale Standards entwickeln und aktualisieren.
6 Schweizer Anwendungsbeispiele zur Wasserstoffnutzung
6.1 Elektrolyseanlagen für die Wasserstoffproduktion
Axpo und Rhiienergie betreiben beim Wasserkraftwerk Reichenau im bündnerischen Domat/Ems die aktuell grösste Produktionsanlage für grünen Wasserstoff in der Schweiz mit einer Jahresproduktion von bis zu 350 Tonnen. Das Gas wird in der Anlage stark verdichtet und per Lastwagen an die Kunden geliefert, die diesen für Brennstoffzellen-Lastwagen oder Hochtemperaturprozesse in der Industrie nutzen. Drei weitere Schweizer Elektrolyseanlagen produzieren ebenfalls mit
Wasserkraft grünen Wasserstoff. Daneben sind knapp zehn weitere Projekte – mit teilweise deutlich grösserer Leistung – bekannt, welche sich in der Planung bzw. in der Umsetzung befinden. https://www.axpo.com/ch/de/energy/generation-and-distribution/hydrogen/reichenau.html
6.2
Motoren für die Hochseeschifffahrt
Das Schweizer Unternehmen WinGD ist aus der Firma Sulzer hervorgegangen, gehört heute weltweit zu den Marktführern bei Verbrennungsmotoren für grosse Handelsschiffe und entwickelt diese für synthetische Treibstoffe weiter. Die internationale Schifffahrt verursacht heute über 2 Prozent der globalen anthropogenen CO2-Emissionen. In der Hochseeschifffahrt wird reiner Wasserstoff als Treibstoff in absehbarer Zukunft keine bedeutende Rolle spielen und als Ersatz für fossiles Schweröl und Flüssiggas wird sich eher ein Mix von verschiedenen synthetischen Energieträgern (wie synthetisches Methan, Methanol oder Ammoniak) durchsetzen, die aber unter der Verwendung von grünem Wasserstoff hergestellt werden. Erste Schiffsmotoren, die Ammoniak als Treibstoff nutzen können, sollen ab 2025 ausgeliefert werden können.
https://www.wingd.com/en/technology-innovation/environmental-technologies/development-forclean-liquid-fuels/
6.3 Gasturbinen für die Stromproduktion
Das italienische Technologieunternehmen Ansaldo Energia – mit einer Schweizer Tochterfirma und Testanlagen im aargauischen Birr – hat 2016 einen Teil der Gasturbinen-Entwicklung von ABB in Baden übernommen. Das Unternehmen entwickelt Gasturbinen für die Stromproduktion, die heute mit Erdgas betrieben werden, für den Betrieb mit Wasserstoff als Brennstoff weiter. Erfolgreiche Tests lassen erwarten, dass die Systeme bis 2030 Marktreife erlangen werden.
https://www.ansaldoenergia.com/know-how-enablers/research-development-1
6.4 Speicher und Kompressoren für Wasserstoff basierend auf Metallhydriden
Gruyère Energie SA in Bulle produziert Wasserstoff durch Elektrolyse mit erneuerbarem Strom aus Wasserkraft und speichert diesen in einem Metallhydridspeicher, welcher von GRZ Technologies entwickelt und gebaut wurde. Dieses Schweizer Unternehmen in Avenches entwickelt und vertreibt Speicher und Kompressoren für Wasserstoff welche auf Metallhydriden basieren. In Metallhydriden können ohne Kühlung und bei kleinem Überdruck im selben Volumen mehr Wasserstoffatome gespeichert werden als in verflüssigtem Wasserstoff.
Die sicheren und kompakten Metallhydridspeicher lassen sich auch in dichtbewohntem Gebiet einsetzten, weil keine Explosionsgefahr besteht. Der Wasserstoffkompressor von GRZ verdichtet den Wasserstoff direkt in einen Tank oder Lastwagenanhänger, ohne Druckkaskaden und nur mit Wärmeenergie. Diese hocheffizienten, sicheren und kompakten Kompressionen erzeugen im Betrieb keine störenden Lärmemissionen und Vibrationen. Die Messer Schweiz AG in Lenzburg nutzt eine Wasserstofftankstelle mit einem Metallhydridkompressor, um Gabelstapler zu betanken. Diese Anlage wurde von GRZ mit Messer entwickelt.
https://www.gruyere-energie.ch/news/inauguration-de-gruyere-hydrogen-power-sa-2147
https://grz-technologies.com/
https://www.messer.ch/wasserstofftechnologien
Über die SATW und ihre Energiegruppe
Die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften SATW ist das bedeutendste Expertennetzwerk im Bereich Technikwissenschaften in der Schweiz und im Kontakt mit den höchsten Schweizer Gremien für Wissenschaft, Politik und Industrie. Das Netzwerk besteht aus gewählten Einzelmitgliedern, Mitgliedsgesellschaften sowie Expertinnen und Experten.
Die SATW identifiziert im Auftrag des Bundes industriell relevante technologische Entwicklungen und informiert Politik und Gesellschaft über deren Bedeutung und Konsequenzen. Als einzigartige Fachorganisation mit hoher Glaubwürdigkeit vermittelt sie unabhängige, objektive und gesamtheitliche Informationen über die Technik – als Grundlage für eine fundierte Meinungsbildung. Die SATW fördert auch das Technikinteresse und -verständnis in der Bevölkerung, insbesondere bei Jugendlichen. Sie ist politisch unabhängig und nicht kommerziell.
In der Energiegruppe befassen sich Fachexpert:innen aus dem SATW-Netzwerk mit aktuellen Fragen und neuen Technologien zur Transformation des Energiesystems in der Schweiz. Diese Themen werden in einer Serie von Publikationen dokumentiert oder an Anlässen mit weiteren Expert:innen diskutiert. Im Frühjahr 2024 hat die SATW ein Diskussionsforum zu Anwendungen von Wasserstoff und synthetischen Energieträgern für Mobilität, Dekarbonisierung und Energiespeicherung durchgeführt. Künftige Entwicklungen zu Wasserstoff und die damit verbundenen Herausforderungen für die Schweiz werden von der SATW weiterverfolgt und allenfalls mit weiteren Anlässen und Publikationen begleitet.