SISSY siebzehn — Homosexual’s Film Quarterly

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kino

»In der Liebe wird man zur Kinofigur« von Ch r ist oph M e y r i ng

s „Ich weiß nicht, ob mein Film pessimistisch oder optimistisch ist“, sagt der belgische Drehbuchautor und Regisseur David Lambert, ein eher ruhiger und unaufgeregter 39-Jähriger, im Interview am Rande des Filmfests Hamburg 2012, in dessen Programm sein erster abendfüllender Spielfilm Jenseits der Mauern (Hors les murs, 2012) zu sehen war. Ihre viel beachtete Uraufführung erlebte die belgisch-kanadisch-französische Koproduktion bereits einige Monate zuvor im Rahmen der „Semaine de la Critique“, einer Nebensektion der Internationalen Filmfestspiele von Cannes, in der ausschließlich Debütfilme gezeigt werden und in der Vergangenheit schon solche Regiegrößen wie Bernardo Bertolucci, Ken Loach, Wong Kar Wai, François Ozon und Alejandro Gonzalez Iñarritu mit ihren Erstlingen vertreten waren: kein schlechtes Omen und für Lambert ein Grund, sich zumindest hinsichtlich seiner Karriereaussichten für den Optimismus zu entscheiden. Auch deshalb, weil sein Film von einigen Beobachtern an der Côte d’Azur in eine Reihe mit Andrew Haighs Weekend (2011, SISSY zwölf) und Ira Sachs’ Keep The Lights On (2012, SISSY fünfzehn) gestellt wurde und somit zu einem Vorreiter der vom britischen „Guardian“ ausgerufenen „New Wave Queer Cinema“ geadelt wurde, „die“, so formuliert Spiegel Online, „klassische Coming-Out-Geschichten als mittlerweile auserzählt annimmt und sich unaufgeregt mit der schwulen Gegenwart beschäftigt“. „Ja“, bestätigt Lambert, „Jenseits der Mauern wurde schon in Cannes mit diesen Filmen verglichen, obwohl ich beide zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesehen hatte. Insofern stellt der Film sich nicht von sich aus in diese Reihe, aber ich sehe auch die Ähnlichkeiten und glaube auch, dass hier etwas Neues entsteht. Schwulsein ist hier nicht mehr das Thema, es geht nicht darum, Identität zu erzählen − aber es ist notwendiger Bestandteil dessen, was erzählt wird, es gehört unbedingt zur Geschichte dazu. Das ist eine neue Entwicklung in der Form und in den Inhalten, wie wir ‚unsere Geschichten‘ erzählen.“ Die Geschichte, die Jenseits der Mauern erzählt, ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei Männern, „die zwar − wie jede Liebesgeschichte − ihre Eigenheiten hat, einen eigenen Ton, eine eigene Art der Kommunikation etc., und die sicher auch deswegen eigen ist, weil sie sich zwischen zwei Männern ereignet, die sich jedoch so ähnlich genauso gut zwischen zwei Frauen oder zwischen einer Frau und einem Mann abspielen könnte“: Eines Abends nimmt der Barkeeper Ilir einen jungen Mann, der sich fast bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hat, kurzerhand mit in seine Wohnung und lässt ihn in seinem Bett übernachten. Paulo, so dessen Name, verschwindet am 6

Edition Salzgeber

Eine Begegnung mit Filmemacher David Lambert, ein Gespräch über sein formal klassisches, aber in vielen Momenten in improvisatorische Leichtigkeit abhebendes Liebesdrama „Jenseits der Mauern“.


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