SISSY siebzehn — Homosexual’s Film Quarterly

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Edition Salzgeber / Victor Arnolds

kino

s Schilf und Gras, so weit das Auge reicht. Ein paar Schafe, Gräben mit dunklem Wasser, ein Deich. Dort ein Horizont, unbedeutend, weil die Landschaft dahinter vermutlich genauso leer ist wie die davor. Helmers Blick schweift, ohne zu suchen. Er ist ein großer Mann in der Mitte des Lebens, das seinem Gesicht markante Züge verliehen und ihm das dichte schwarze Haar nicht genommen hat. Trotz seines kräftigen Körpers bricht er auf der steilen Treppe fast zusammen, als er den kranken Vater hinaufschleppt, über die Schultern gelegt wie ein totes Stück Vieh. Er schafft ihn zum Sterben nach oben, in das Stockwerk, wo Helmer zuvor selbst gewohnt hat. Die alte, stehengebliebene Standuhr kommt mit. Die Geräusche des Umzugs im Haus, das Rumpeln und Renovieren, dominieren die ersten Filmminuten und erzählen all das, was Vater und Sohn, die sich noch nie viel zu sagen hatten, nicht miteinander ausmachen: den Überdruss, die Langeweile, die Angst vor dem Tod, der gleichzeitig, als durch den Zimmertausch endlich Bewegung in das Haus kommt, zum Weg wird, eine Perspektive – Tapetenwechsel. Und doch bleibt es merkwürdig still auf diesen Bildern, es ist die Stille des Wartens, der geblähten Zeit. Helmer räumt auf. Doch wie er energisch alte Erinnerungsstücke und blühende Zimmerpflanzen auf den Misthaufen wirft, wirkt sein Trotz hilflos, verzweifelt; dieses Haus lässt sich nicht mehr modernisieren, die alten Geister wohnen tief im Gemäuer. Ein Ölgemälde mit Schafen, alte Fotos an der Wand des Zimmers, wo einst der Bruder wohnte, das vergilbte Bild einer Schöpfmühle, die für die beiden Brüder einmal eine Bedeutung gehabt haben muss, all die Gegenstände, die einst zu nahestehenden Menschen gehörten und diese noch immer verkörpern, heute sind sie seelenlos, Avatare aus einer versunkenen Welt, ohne Geschichte, die sie erzählen könnten, weil sie nur noch Vergangenheit sind, kondensiert zu Staub und Stille. Zu Beginn seines gleichnamigen Romans beschreibt Gerbrand Bakker diesen Blick, der sich im Erinnern aus dem Jetzt rückwärts richtet und dabei, gespiegelt von einem Ding oder Menschen, der uferlosen Gegenwart eine Richtung verleiht, Grenze oder Horizont; es ist das Gesetz des biographischen Erzählens. In der Romanszene 26

steht Helmer vor dem Wohnhaus, als an einem Sommertag zwei Jungen mit entblößtem Oberkörper in einem Kanu auf einem der Kanäle vorbeifahren, die, gespeist vom Ijsselmeer, das Waterland durchziehen. Sie betrachten den Hof, der „zeitlos“ sei, sagt der eine, „der könnte von heute sein, aber genauso gut von 1967 oder 1930.“ Die Esel, die auf der Koppel stehen, nennt der andere „altmodisch“. Dabei sieht er Helmer vorm Haus, „einen Bauern schon recht fortgeschrittenen Alters in einem verschossenen blauen Overall (…), der an der Seitenmauer eines Bauernhofs stand, im Schatten, und dort nichts zu tun hatte, außer zu beobachten, reglos, mit angehaltenem Atem“, so beschreibt der Ich-Erzähler, was der rotblonde Junge wahrnimmt; es ist der von den Augen des anderen zurückgeworfene und so erst mit Leben gefüllte Blick Helmers auf sich selbst, die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Damals und dem Heute, zwischen dem Jungen und dem Alten, zwischen Begehren und Erstarren, Bewegung und Stillstand. Die Jugendlichen ziehen mit sonnenverbrannten Schultern weiter, Helmer, immer noch an der Mauer, bleibt zurück. „Der Rest des Nachmittags“, heißt es im Roman, „war unwirklich und leer.“

Die Natur geht verschwenderisch mit dem Leben um, doch sie geizt mit dem Glück Dieser gebrochene und gespiegelte Blick auf die Hauptfigur ist das einzige, was die niederländische Regisseurin Nanouk Leopold direkt aus Bakkers Roman übernimmt, in dem die Vergangenheitserzählung mehr als die Hälfte der Geschichte beansprucht. Ihrer Biographien fast gewaltsam entrissen und in ein ewiges Jetzt gesperrt, wo nur die Gegenstände lose Eckpunkte eines früheren Lebens markieren, bewältigen die Protagonisten im Film ihren Arbeitsalltag auf dem Bauernhof, ihre schwerfälligen Bewegungen stemmen sich gegen die Zeitlast, die sie zu erdrücken scheint; auch Ada, die Nachbarin, hat sich längst dem Trott ergeben, und ihre Kinder tragen nicht wirklich eine Hoffnung: Wie sie ganz im Hier und Jetzt spielen, die Esel strei-


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