SISSY 9

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Ausgabe neun · März bis Mai 2011 · kostenlos

s Fortissimo: Coming-Out mit Migrationsvordergrund  s Landlieben: Brokeback Brandenburg  s Familienalbum: „Ich bin nicht nur eine Geschichte!“  s Kurzwaren: Wie wäre es, wenn wir uns küssen?  s Die Perle: In Adidas und Kittelschürze  s Wütende Frauen: Beim nächsten Mal wird was verdient!  s Patriotismus: Wo die Glocken hängen  s Abenteuerspielplatz: Das Ende der Welt  s Reizend: Die Tänze der Claire Denis  s Liza und Sally: Bruchbudenzauber  s Himmelskörper: Ästhetik des Begehrens  s Queer Cinema: Positive Gefangenschaft


„Stadt Land Fluss macht glücklich!“ S I E G E S S Ä U L E „Bravo!“ M Ä R K I S C H E A L LG E M E I N E Z E I T U N G „A sweet gay romance!“ VA R I E T Y „Herzerfrischend und wichtig.“ E L S E -J U R Y

Preis der SiegessäuleLeserInnen-Jury beim Teddy-Award 2011

AB 19. MAI IM KINO

IM APRIL IN DER GAY-FILMNACHT


vorspann

Sissy neun SISSY geht ins dritte Jahr, der Spirit und das Konzept haben sich bewährt. Die Filme, die hier besprochen werden, sind keine hippen, entfernten Events, sondern setzen sich auf einfachste Weise einem Publikum aus: im Kino und auf DVD. Was immer hier über sie geschrieben wird, ist prinzipiell überprüfbar und hält Zustimmung und Ablehnung aus. Niemand, das ist ihr wichtigstes Programm, soll von der SISSY vom Filmgenuss abgehalten werden, auch wenn Einzelnen überhaupt nicht gefällt, was und wie manchmal in den Filmen erzählt wird. So, wie die SISSY auf die Entdeckerlust des Publikums setzt, sucht sie selbst immer und überall nach der Schönheit, der Substanz und den Denkwürdigkeiten in den Filmen – und scheitert, wenn die AutorInnen nichts davon in ihnen entdecken können. Wer dafür arbeitet, dass bewegte Bilder ein Publikum begeistern, wird mit der Zeit dünnhäutig, wenn er in der Presse Verrisse liest. Weiß aber natürlich auch, dass niemand hier professionelle Werbetexte lesen will. SISSY hat sich für das Schwärmen entschieden. Und Schwärmen heißt, dass man für etwas eine Schwäche hat. Und eine gute literarische Schwärmerei gibt diese Schwäche zu, anstatt eine pseudo-objektive Urteilshärte anzustreben. Schwarm in Kittelschürze. (Aus „Das Schmuckstück“ von François Ozon, siehe Seite 22.) Auch hier gelingt das nicht immer. Und in diesen Fällen bleibt die Hoffnung, dass auch Enttäuschungen und Ärger zumindest so subjektiv und lustvoll formuliert werden, dass die LeserInnen Lust auf die eigene Auseinandersetzung bekommen. Die AutorInnen dieser Ausgabe haben sich in rosafarbene Pullover verknallt, in 80er-Jahre-Frisuren, in die Kittelschürze von Cathérine Deneuve, in Jungen mit Hasenohren, Mädchen in Bruchbuden, Serienkiller, Klavierlehrer, allgemein in Vieldeutigkeit, Leuchtkraft, Andersartigkeit und Gemeinschaft. Man muss sich nur trauen, schwach zu werden.

Wenn Sie SISSY kostenlos abonnieren möchten: E-Mail an abo@sissymag.de 3


mein dvd -regal

Hugo Vieira da Silva, Filmemacher 4


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hugo vieira da silva


kino

Machos aus Monte­negro von N ena d K r ei z e r

s Der 19-jährige Sascha ist der älteste Sohn der Gastarbeiterfamillie Petrovic. Seine Mutter Stanka kommt aus Zagreb, sein Vater Vlado aus Montenegro. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Boki (Boris) und dem aus Bosnien mitgenommenen Onkel Pero leben sie in dem multikulturellen Kölner Viertel Eigelstein. Sascha hat eine Freundin, Jiao, die mehr von ihm will, als nur am Rhein spazieren zu gehen. Er aber ist nicht in Jiao verliebt, sondern in seinen Klavierlehrer Gebhard, der Saschas Schwärmerei über einen nicht ganz freiwilligen One-Night-Stand hinaus nicht wirklich erwidert. Als wenn das alles nicht schon kompliziert genug wäre, schafft Sascha es darüber hinaus nicht, sein Schwulsein vor der Familie zu verheimlichen. Das Coming-Out entgleist folgerichtig zum Drama: Es kommt zu einem Streit und einer Schießerei. Vlado verletzt seinen Sohn Boki und landet im Gefängnis. Sascha von Dennis Todorovic ist auf dem ersten Blick ein Film über einen jungen Migranten, der Schwierigkeiten hat, in einer traditionellen Familie seine Homosexualität auszuleben. Es ist aber auch ein Film über die Probleme von Gastarbeitern, die sich auch nach Jahrzehnten in Städten wie Köln nicht wirklich heimisch fühlen und ständig von ihrer alten Heimat träumen. Und es ist ein vielschichtiges Beziehungsdrama, das eine unglückliche Liebesgeschichte (zwischen Sascha und Gebhard), ein verschachteltes Beziehungsdreieck (Sascha–Boki–Jiao) und auch das alltägliche Drama von Vater Vlado und Mutter Stanka erzählt, deren Zweckgemeinschaft im Alltag schon längst zur Qual geworden ist. Die Auswirkungen eines Krieges erzählt Sascha subtil durch das Familienleben der Generationen hindurch. Während Sascha die Liebe sucht, haben seine Eltern, beide Kontrollfreaks, ihre Beziehung bereits aufgeben. Eine Scheidung kommt nicht in Frage, denn allein müssten sich beide völlig neu zurechtfinden. Freunde in Deutschland haben sie nicht und alles, was sie in den letzten zwanzig Jahren erreicht haben, wurde in die Ehe und die Kinder gesteckt. Ehen wie diese werden entweder vom Tod geschieden oder durch einen anderen Schicksalsmoment auseinandergerissen. Das Coming-Out des Sohnes hat in dieser Geschichte eine katalytische Wirkung: Die Familie wird aus der Bahn geworfen, es kommt zu Rangeleien und Verletzungen, am Ende muss Vlado ins Gefängnis und wird nach Montenegro abgeschoben – und für die Eheleute ist das nicht zuletzt eine unverhoffte Befreiung von einem Leben, mit dem weder Stanka noch Vlado zufrieden waren. Die Szene, in der Stanka gnadenlos ehrlich am Ende ihrem im Gefängnis sitzenden Mann erklärt, dass seine Rückkehr nach Montenegro und ihr Bleiben in Deutschland „das Beste für beide und für die Jungs ist“, gehört zu den berührendsten Momenten des Films. Ihre jahrelang gepflegten Gastarbeiterträume („Deutsche mit Migrationshintergrund“ waren die beiden nie): gemeinsame Rentnertage im Haus in der Heimat, gemeinsame Urlaube „zu Hause“, wo „alles besser ist, schmeckt und sich anfühlt“, zerplatzen mit einem Schlag. Aber man wird irgendwie zurechtkommen: Die fleißige Stanka kann einen besseren Job übernehmen, weil sie sich nicht mehr um die Familie kümmern muss. Und sie wird weiterhin für ihre Jungs sorgen, vielleicht mehr als diesen lieb ist. Die Jungs werden, trotz allem was geschehen ist, ihr Glück in ihrem Gefühlsleben finden, soviel ist am Ende des Films klar. 6

edition salzgeber

Eigentlich ist „Sascha“, der Erstling des jungen Regisseurs Dennis Todorovic, vor allem eine hervorragend geschriebene und auf den ersten Blick leichte Komödie über ein Coming-Out mit Migrationshintergrund im ansonsten homophilen Köln – und man kann davon ausgehen, dass die Besucher der März-Gay-Filmnacht und die Programmkino-Besucher ab dem 24. März genauso viel Spaß mit Sascha, seinem Klavierlehrer (Tim Bergmann!) und seiner chaotischen Balkanfamilie haben werden wie die Festivalbesucher auf der ganzen Welt. Aber unser kroatische Autor findet in dem Film des Regisseurs tschechisch-montenegrinischer Herkunft auch eine ernsthafte und subtile Auseinandersetzung mit dem Selbstbild der Balkan-Männer vor.


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Klavierlehrer Gebhard (Tim Bergmann)

Die eigentlich tragische Figur innerhalb der Familie Petrovic ist Vater Vlado. Sein Traum wird mit einem Gefängnisaufenthalt, der nach zwanzig Jahren Aufenthalt in Deutschland zu seiner Abschiebung führen wird, ermöglicht und zerstört in einem. Er verliert sein (im wahrsten Sinne des Wortes) wertvollstes Gut, seine Familie – auch wenn ihn seine Söhne und seine Frau in Montenegro besuchen werden. Aber die Menschen zu Hause in der alten Heimat werden Fragen stellen und über kurz oder lang herausfinden, warum er in seinem alten Mercedes nach Montenegro zurückkehren musste. Aber wird das Leben für ihn danach einfacher? Mit einem schwulen Sohn lebt es sich auch heute noch eindeutig besser und einfacher in Köln als auf dem Balkan. Zwar hat er in den Jahren in Deutschland etwas Geld auf die Seite gelegt und eine Rückkehr nach Montenegro theoretisch immer in Erwägung gezogen; letztendlich zeugt sein Verhalten vor den schicksalhaften Ereignissen aber doch eher für seine stille Vorbereitung auf ein Rentnerleben in Deutschland. Vlados Charakter (fabelhaft in allen ethnischen Details dargestellt von Pedja Bjelac) ist ein tragisches 8

Eltern Stanka (Željka Preksavec) und Vlado (Pedja Bjelac)

Abbild vieler Väter, die (im jugoslawischen Raum besonderes verbreitet) in ihrer Zerrissenheit zwischen patriarchaler Tradition und pragmatischen Realitäten moderner Gesellschaften zwangsläufig zu Verlieren werden – und die meistens eine Geschichte parat haben, die erklärt, warum sie nicht zu dem geworden sind, wovon sie immer geträumt haben. Mit Vlado verhält es sich nicht anders. Wegen einer Knieverletzung musste er eine vielversprechende Basketballkarriere abbrechen. Auch Stanka hatte Träume, die sie wegen des Krieges in den Neunzigern nie verwirklichen konnte. Es liegt nun an den Kindern, die verpassten Chancen auszugleichen und nach- und aufzuholen, was die Eltern für sich selbst nicht nutzen und erreichen konnten. Dennis Todorovic zeigt in jedem Augenblick, dass ihm das jugoslawische Milieu bestens vertraut ist. Zeitweise nimmt Slapstick Überhand und immer wieder dominieren ethnische Klischees das Geschehen. Das ist zwar teilweise sehr amüsant, aber für Zuschauer, die mit dem jugoslawischen Kulturraum nicht sehr vertraut sind, oft unverständlich. Der durchschnittliche Kinogänger kann nicht wissen, dass Montenegriner als


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kino

Sascha (Saša Kekez)

besondere Machos gelten und Leute aus Zagreb (Mutter Stanka) als hochnäsig. Zum unklaren Schicksal der Protagonisten passt die melancholische Atmosphäre des Films („in Deutschland regnet es immer“) des Kölner Stadtteils Eigelstein und das klaustrophobisch wirkende Haus der Petrovics. Eine vielleicht ungewollte, aber auf jeden Fall amüsante Hommage an den Videoclip „Smalltown Boy“ von Bronski Beat ist die Szene im Schwimmbad, in der Sascha seinem Schwarm hinterherspioniert. Und doch wäre es verfehlt, Sascha auf einen Coming-Out-Film im Migrantenmilieu zu reduzieren, weil er noch viel mehr zu sagen hat. Es wäre dem Film zu wünschen, dass er auch in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens seinen Weg in die Kinos findet. s

Sascha

von Dennis Todorovic DE 2010, 101 Minuten, dt. OF Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Im Kino

Gay-Filmnacht im März www.gay-filmnacht.de Kinostart: 24. März

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Frauen in Uniform von J e s sic a E l l en

pro-fun media

Don’t ask, don’t tell. Die lesbische Offizierin Alex hat ihre Gefühle in einem Körperpanzer begraben und soll nach ihrer Abmusterung eine junge Ladendiebin auf das harte Leben vorbereiten. Wo dabei die Gefühlserziehung bleibt, ist die Frage. Das vielfach ausgezeichnete Drama „A Marine Story“ mit der großartigen Dreya Weber läuft im März in der L-Filmnacht.

s Die Geschichte, einschließlich ihrer Verfilmungen, kennt viele Frauen, die als Männer getarnt in Armeen kämpften. Ihre Beweggründe waren unterschiedlich: Armut, Abenteuerlust, Patriotismus, der Wunsch, den Zwängen des Frauendaseins zu entkommen. Sie alle gingen diesen Weg aus freiwilligen Schritten und lebten mit dem Risiko der Enttarnung. Eine Ausnahme und zugleich der Prototyp der kämpfenden Frau war Jeanne d’Arc, die Jungfrau, die als Hexe auf dem Scheiterhaufen endete. Ihr Aufstieg hatte ihre Jungfräulichkeit, d.h. ihr Noch-NichtFrau-Sein, und ihren Verzicht auf Sexualität zur Vorraussetzung. Dennoch blieb ihre Mission eine Provokation, die ihr die Männer nicht verziehen. In dem Moment, da sie als lebendes Symbol ausgedient hatte, nahmen sie Rache. Dieses archetypische Muster begegnet uns auch in A Marine Story wieder und beweist die andauernde politische Relevanz des Themas. Grund genug, sich darauf einzulassen. Im zwanzigsten Jahrhundert öffneten sich die Armeen einiger Länder für weibliche Freiwillige oder sahen sogar, wie in Israel, einen regulären Militärdienst 10

vor. Soldatinnen gibt es seit einiger Zeit auch in der USArmee – das ist bekannt. Dass sie aber auch bei der seit dem Vietnamkrieg berüchtigten Elitetruppe, den Marines, zu finden sind, war zumindest mir neu. Alex ist eine von ihnen. Eine herbe Blondine mit langem Haar und durchtrainiertem Körper; trotz Puffärmelblüschen unübersehbar ein Alphatier. Sie hat es bis zum Offizier gebracht. Doch jetzt ist sie abgemustert und zurück in ihrem Heimatort, einer gesichtslosen Kleinstadt. Wir fragen uns, was zum Teufel macht so eine ehrgeizige Frau in diesem verschlafenen Kaff, ohne dass Familie auf sie warten würde? Gab es da einen Karriereknick? Immerhin: Kaum angekommen, ertappt sie ein junges Paar beim Ladendiebstahl und legt den Mann aufs Kreuz, bis der Sheriff kommt. Ihr Übereifer macht Eindruck und empfiehlt Alex für eine neue Aufgabe. Sie soll Safron, die junge Ladendiebin, auf den rechten Weg bringen. Armee statt Knast – so simpel sind hier die Alternativen. Safron ist anfangs nicht begeistert vom vorbereitenden Drill, und auch Alex schafft sich nicht nur Freunde. Den tumben Machos in


kino

der Kneipe zeigt die im Nahkampf Erprobte schnell, wo die Glocken hängen und beweist, dass sie zulangen kann, wenn’s drauf ankommt. Während Alex allmählich Safrons Vertrauen und Fügsamkeit gewinnt, braut sich hinter ihrem Rücken etwas zusammen. Wir erfahren in Rückblenden, warum sie vom Dienst suspendiert wurde: Jemand hat sie bei einem Techtelmechtel mit einer Frau heimlich fotografiert und die Bilder ihrem Vorgesetzten zugespielt. Da hilft kein Leugnen und kein Hinweis auf ihre (Schein)-Ehe: Sie muss sich den väterlichen „Rat“ anhören, sie könne ja durch eine Affäre mit einem Mann ihre Heterosexualität beweisen. Nur knapp entgeht sie einer unehrenhaften Entlassung, indem sie ein halbes Jahr vor der Pensionierung „freiwillig“ den Dienst quittiert. Aber damit nicht genug: Einer der Männer, den sie im Zweikampf besiegt hat, bekommt Wind von der Geschichte und klebt überall Zettel, die nicht nur Alex als Lesbe „outen“, sondern ihr auch eine Affäre mit Safron anhängen wollen. Die verliert nun ihrerseits jeden Mut, als Rekrutin zu reüssieren und taucht erst mal unter. Alex sucht nach ihr und es kommt zu einem regelrechten Showdown. Doch keine Sorge: Dies ist nicht Boys don’t cry. Am Ende hat Alex einen neuen Job als Hilfssheriff, und Safron macht sich fröhlich pfeifend auf den Weg zum Musterungsbüro. So gewöhnungsbedürftig der Schauplatz auch daherkommt – die Geschichte ist spannend und realitätsnah erzählt und die Heldinnen sind ansehnlich und sympathisch. Es finden sich Bilder, die, vielleicht sogar gegen die Intention der Regisseurin, sehr aussagekräftig sind. Alex, die bekennende Nichtwählerin, die mit Politik nichts zutun haben, sondern nur ihren Job machen will, findet ihre Autotür eines Tages mit dem Wort „Fag“ (eigentlich „Schwuler“) beschmiert. In der nächsten Einstellung bedecken zwei riesige Sternenbanner die Türen. Clevere Lösung, gewiss, aber auch eine Sache der Haltung: Die potenziell befreiende Botschaft dieses Kampfbegriffes der Schwulenbewegung wird mit der patriotischen zugekleistert. Alex vermittelt Safron Selbstbewusstsein durch Unterwerfung des Ichs und das Überwinden von Grenzen. Sie kann sich am Ende gegen Männergewalt wehren, aber das könnte sie auch bei einem Selbstverteidigungstraining für Frauen lernen, und zwar ohne disziplinierende Schinderei als Zurichtung für den Dienst am Vaterland. Wenn die Geschichte von Alex und ihrem Schützling eines illustriert, dann dieses: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Die Armee ist weder für Frauen noch für Männer ein Ort der Emanzipation, sondern ihr Gegenteil, aber sie verspricht insbesondere den Unterprivilegierten die Chance zum gesellschaftlichen Aufstieg, finanzielle Sicherheit und Teilhabe am großen Ganzen der Nation. Nach dem Motto: Ich kann nichts, ich bin nichts, gebt mir eine Uniform! Alex gehört zwar nicht der Unterschicht an. Sie ist auch nicht schwarz oder Chicana, sondern setzt eine Familientradition fort, aber auch sie hat eine Schwachstelle: Sie ist Lesbe, ein vermeintliches Manko, dass sie verbergen und kompensieren will. Dafür ist eine Uniform immer gut – und manche finden sie ja auch sexy. s

MÄRZ 2011

A Marine Story von Ned Farr im Verleih von PRO-FUN MEDIA

APRIL 2011

My Normal von Irving Schwartz

MAI 2011

L-Shorts – Die Vierte Kurzfilmnacht

Auch dieses Jahr präsentiert das Team der L-Filmnacht ein umfangreiches Programm aus Kurz- und Spielfilmen beim lesbischen Event des Jahres: L-BEACH.

Wir wünschen Euch viel Spaß! FREITAG, 8. APRIL 14:45–16:15 Uhr Kurzfilmrolle: L-Shorts – Die Dritte 16:15–18:00 Uhr Späte Entscheidung 17:45–18:45 Uhr Frauen im Jazz (Teil 1) 21:15–23:15 Uhr Die singende Nonne – Sœur Sourire SAMSTAG, 9. APRIL 10:00–10:45 Uhr Frauen im Jazz (Teil 2) 20:00–21:30 Uhr Bloomington 21:30–23:00 Uhr Unterwegs mit Kathy K. SONNTAG, 10. APRIL 12:15–13:45 Uhr Kurzfilmrolle: L-Shorts – Die Zweite 14:00–16:00 Uhr Wo waren wir Frauen, als die Männer zum Mond flogen?

A Marine Story

von Ned Farr US 2010, 93 Minuten, OmU Pro-Fun Media, www.pro-fun.de

Im Kino

Die L-Filmnacht ist eine Veranstaltung von L-MAG, CinemaxX und der Edition Salzgeber mit freundlicher Unterstützung durch GAY-PARSHIP

L-Filmnacht im März www.l-filmnacht.de

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FRAU THYMIANS ROSA PULLOVER von A n dr é W en dl e r

Zur Gay-Filmnacht im April und regulär am 19. Mai kommt mit „Stadt Land Fluss“ eine schwule Liebesgeschichte in die Kinos, die unter Auszubildenden in einem großen brandenburgischen Agrarbetrieb spielt. Gerade hat der Film beim Teddy-Award die „Else“, den LeserInnenpreis der „Siegessäule“, erhalten. Unser Autor schrieb eine schwärmerische Analyse der besonderen Methode von „Stadt Land Fluss“, der Dokumentar- und Spielfilmelemente auf einzigartige Weise verbindet. Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns noch eine zweite Liebeserklärung an „Stadt Land Fluss“, geschrieben vom Filmemacher Jan Krüger („Rückenwind“), der selbst auf der Berlinale seinen neuen Film „Auf der Suche“ präsentierte. Wir wollten auf keine der beiden Schwärmereien verzichten.

edition salzgeber

s Stadt Land Fluss ist … eine Maschine. In dem Landwirtschaftsbetrieb, in dem sich der Film hauptsächlich abspielt, treffen künstliche Bewässerung, Traktoren, Mähdrescher, und Förderbänder auf Erde und Pflanzen und machen aus einem Stück Erde einen Acker. Auf Rinder treffen Zäune, Kraftfutter, Ställe, Einzäunung und Ohrmarken und machen aus ihnen bewirtschaftetes Vieh. Nirgends lässt sich dieses Aufeinandertreffen so eindrücklich beobachten, wie in der Möhrenverarbeitung, die mehrfach zu sehen ist. Auf laut ratternden Förderbändern ziehen massenweise und rasend schnell Karotten vorbei, werden nach oben transportiert, vom Grün getrennt und sortiert. Die Karotten wachsen hier auch mehr oder weniger von selbst in der Erde. Um sie allerdings nutzen zu können, müssen sie durch einen maschinellen Prozess, um sie zu den Karotten, die wir dann im Supermarkt kaufen können, überhaupt erst zu machen. Ohne diesen Herstellungsprozess bleiben die Karotten irgendwelche Wurzeln im Boden des Nuthe-Urstromtals. Zusätzlich muss dieser Prozess beobachtet werden: einige der Lehrlinge leiden darunter, dass sie jeden Handgriff in Berichten dokumentieren müssen. Es reicht also nicht Möhren zu produzieren, sondern die Produktion muss verstanden, durchschaut, begriffen werden. Frau Butsch, die Ausbildungsleiterin: „Berichte müssen immer geschrieben werden. […] Du könntest mal aufschreiben, wie so der Arbeitsablauf in der Möhrenaufbereitungsanlage funktioniert.“ Warum aber spielt ausgerechnet dieser Film in diesem Betrieb? Er könnte ja genau so gut in irgendeinem anderen Ausbildungsbetrieb angesiedelt sein. Mit etwas Spaß an der Übertreibung könnte man sagen, Stadt Land Fluss muss hier spielen, weil er genauso funktioniert wie die Karottenherstellung. Er entdeckt in der brandenburgischen Landschaft etwas, das sonst nicht ohne weiteres sichtbar wäre. Er unterwirft es einem Prozess, an dem Maschinen wie Kamera, Tonaufnahmegerät, Kopierwerk, Projektor beteiligt sind. So wie aus den Bergen von Karotten supermarktfähige Kilopakete gewonnen werden, packt der Film diese unübersichtliche Anordnung aus Landschaft, Menschen, Pflanzen und Tieren in handliche und übersichtliche 84 Minuten mit Anfang und Ende. Das alles tut er aber nicht nur einfach so, sondern er beobachtet es: einmal, indem die Möhrenaufbereitungsanlage als sein eigenes Operationsprinzip in ihm enthalten ist. Zum anderen erzeugt er bei mir als Zuschauer Aufmerksamkeit auf allen Kanälen. Der Film ist nämlich kein sauber verpacktes Karottenbündel. Hier klebt Schlamm an den Möhren, in dem noch ein paar sich windende Würmer hausen. Wir packen sie aus und sehen, dass Möhren so wenig aus dem Supermarkt kommen wie Filme aus dem Kino. Das Großartige an dem Film aber ist, dass er eine wunderschöne Maschine ist. Stadt Land Fluss ist ein gelber Wasserfall aus Licht. Vieles in diesem Film ist so wunderbar, dass man es sich nicht ausdenken könnte: Die Erklärung der maßlos bezaubernden Frau Thymian, wie frisch geworfene Kälber einzufangen sind, übersteigt das Vorstellungsvermögen von Drehbuchautor_innen. So etwas kann man sich nicht ausdenken und ich merke, dass es noch hundertmal schwieriger ist, es zu beschreiben. Die Fahrt auf die Kuhweide ist für sie Alltag, für 13


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mich wird es zu Alltag in 16:9 und der Größe einer Kinoleinwand. Das Sonnenlicht bricht sich auf wunderbare Weise in der völlig verdreckten Scheibe und noch der Kontrast zwischen Frau Thymians rosa Pullover und ihrem Blaumann scheint mir die wahnsinnige Erfindung eines zauberhaften Alltagskünstlers zu sein. Kann man so etwas ohne Kino sehen? Dieses Kino erschrickt nicht vor dem ganz Zufälligen und es hat keine Angst vor der selbstverliebten ästhetischen Geste. Immer wieder tauchen in all den Maschinen zum Möhrensortieren und Getreideabfüllen Bilder auf, an die ich mich noch lang erinnern werde. So wie am Anfang, wenn wir vor dem gleißend hellen Himmel kaum einen regelmäßig unterbrochenen Wasserstrahl sehen. Lichtund Ton skandiert den selben Rhythmus. Die Entdeckung, dass es sich hier „nur“ um eine Bewässerungsanlage handelt, macht das Außergewöhnliche nicht banal, sondern versieht das Banalste mit einer fast schon erschreckenden Schönheit. Sommergoldene Traumbilder aus Licht und Wasser, grün rasende Einstellungen aus Wald und Fahrrad sind hier ebenso zu Hause wie spröde Einstellungen, die aus einem landwirtschaftlichen Lehrfilm stammen könnten. All das hängt in großer Notwendigkeit und unbeschwerter Zufälligkeit zusammen. Stadt Land Fluss ist anders: Auch wenn man es Texten wie diesem noch nicht entnommen hat, versteht man schnell, dass dieser Film nicht in einer Welt spielt, die nur für die Kamera geschaffen wurde. Stadt Land Fluss ist Reaktionstraining. Schauspieler reagieren auf Leute, die sonst eigentlich nur sich selbst spielen. Kühe reagieren auf Menschen, die sie einfangen wollen. Schwules Begehren reagiert auf andere Jungs. Die Kamera reagiert auf das, was ihr vor die Linse kommt. Und sie fordert heraus. An wem rasend schnell und zentnerweise Karotten auf einem Fließband vorbeiziehen, der hat keine Zeit über das richtige Kameragesicht, einen passenden Gesichtsausdruck oder schöne Worte nachzudenken. Die Kamera nimmt sie trotzdem auf: die lachenden, gelangweilten, ängstlichen, überanstrengten, unsicheren, heiteren und teilnahmslosen Gesichter. Ein Gesicht auf der Leinwand ist etwas anderes als eine Möhre im Boden. Deswegen 14

sitze ich vor ihnen, starre sie an, frage mich, wer das ist, dem dieses Gesicht gehört, was sie machen, warum sie in diesem Film sind. Niemals hätte ich geglaubt, dass ich mich anderthalb Stunden für Landwirtschaft begeistern kann. Dem Film gelingt das, indem er mein Begehren nicht nur adressiert sondern mit verarbeitet. Er entdeckt nämlich nicht nur lauter verborgene Möhren, Kühe und halb stillgelegte Autos, sondern lässt mit Mutwillen und beinahe nebenbei zwei etwas zu gut aussehende Jungs in den Film spazieren. Beide sind anders. Nicht nur, weil sie der Kamera, mir und einander bereitwillig ihre gestylten Körper zeigen und wir uns alle darüber freuen können und offenbar sollen. Sondern auch, weil sie anders sprechen. Weil sie anders auf die Kamera reagieren, andere Worte aufsagen, sich nicht zwischen Dialekt und Schauspielerhochdeutsch entscheiden können. Sie sind, als Schauspieler auf dem Hof, Andere; sie sind Andere in einer heterosexuellen Gesellschaft. Nicht alle nicht-heterosexuellen Menschen haben solche Erfahrungen gemacht oder würden sie als identitätsstiftend einordnen. Der Film und ich tun das allerdings und deshalb verstehen wir uns auch so gut. Ohne Aufregung treffen die beiden Jungs aufeinander. Die Blicke sind zufällig und flüchtig. Weder der Film noch seine Figuren werfen die große Pathosmaschine an. Liebend gern lasse ich mich von dem Film dazu einladen, die Dinge einmal so zu akzeptieren wie sie sind. Ich kann mit Freude und viel Zeit begreifen: Manche Dinge sind so und andere sind anders. Das klingt viel einfacher als es ist. Der Film lässt mich diese komplizierten Verhältnisse erkennen. Immer wieder frage ich mich, wer eigentlich wen beobachtet. Schauen die Leute im Betrieb dem Filmteam bei seiner Arbeit zu oder werden sie von ihm beobachtet? Fragen sich die Schauspieler, was die Azubis eigentlich wollen oder geben sie diese Frage zurück? Beobachte ich zwei Jungs bei ihrer ersten Liebe oder eine Filmcrew, die darüber einen Film inszeniert? Wenn sich zwei Menschen begegnen, dann heißt ihre schwierigste und manchmal unlösbare Aufgabe: Nähe und Abstand miteinander aushandeln. Stadt Land Fluss leitet mich dazu an, das gleiche mit ihm zu tun, so wie Frau Thymian acht geben muss, dass


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Frisch verliebt, oder: eine Runde „Stadt Land Fluss“

sie den Bullen der Rinderherde nicht zu nah kommt, aber auch nicht zu viel Abstand von ihnen hält; so wie Frau Butsch ihren Auszubildenden gegenüber Empathie und Autorität in eine angemessenes Verhältnis bringen muss. Auch im Kino müssen die Dinge ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Wenn sich am Ende die beiden Jungs, ich bin unsicher, ob ich sie Marko und Jacob oder Lukas und Kai-Michael nennen soll, auf dem Hof in die Arme nehmen, umrundet von der Kamera, ganz bei sich, dann lösen sich von dieser Geste der Nähe die Töne des Hofes ab: das Tuckern der Traktoren, Hammerschläge, undeutliche Stimmen, diffuse Maschinengeräusche. Die Leinwand wird schwarz, das Paar verschwindet, die Töne bleiben aber noch für einige Sekunden. Was die Kinomaschine mühselig synchronisiert hat, wird wieder auseinander genommen, wie ein Möhrenaufbereiter, der gewartet werden muss. Am Ende also kein ganzheitliches Liebesglück, sondern Kinoanalytik der Verhältnisse. Es ist schön, dass die Siegessäule LeserJury das auch so gesehen hat und den großartigen Film mit der „Else“ ausgezeichnet hat. s

Stadt Land Fluss

von Benjamin Cantu DE 2011, 84 Minuten, dt. OF Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Im Kino

Gay-Filmnacht im April www.gay-filmnacht.de Kinostart: 19. Mai 2011

s „Was ist los? Jetzt sag mal, was ist los?“ Jacob und Marko umkreisen einander, weichen einander aus. Im Sommer, in Latzhosen. Vor einem Heuwagen. Die Erinnerung eines Kusses auf den Lippen. Das kann nicht wahr sein, denke ich. Bitte nicht, hundertmal gesehen, da geht nichts mehr. Und dann passiert es doch. Nochmal neu. Ich verliebe mich in einen Film. Das war so nicht geplant. Nochmal neu: die älteste Geschichte der Welt. So lockt man doch heute niemanden mehr hinterm Ofen vor: boy meets girl, oder boy, alles längst vereinnahmt, schön ausgeleuchtet und abgelichtet. Ich will das alles nicht mehr sehen. Ich möchte nicht. Und dann folge ich Jacob und Marko doch in einen Lada Niva hinein, und wieder hinaus. Sehe zum hundersten Mal Wassertropfen auf Haut trocknen – warum nicht? Und lache beim Küssen mit. Aus Lust und Verlegenheit. Aus Lust und Verlegenheit? Hallo? Nochmal neu: das Landleben, die Sehnsucht nach den einfachen Gefühlen. „Wie läuft’s privat? Hast du eine Freundin?“ Einen Freund? Die Dinge sind einfach, auf dem Land. Ganz anders als in der Stadt. Denkt man, und dann denke ich, auch das will ich nicht mehr sehen. Und dann will ich es doch sehen. Sehe Möhrenwaschmaschine, sehe Kulturzimmer, sehe Schlauchanschluss hinten am Trecker. Beginne eine Ausbildung zum Landwirt. Fange wieder an zu rauchen. Verliebe mich in ein neugeborenes Kalb, oder in Frau Thymian. Frau Thymian? Nochmal neu: eine Kamera, die ihren Protagonisten folgt, die einzelne Momente herauslöst; eine Montage, die vorsichtig vorausgeht, dabei Platz lässt für den eigenen Blick. Ich sehe weg, Danke, aus!, ich kann diese Allgemeinplätze nicht mehr hören, Berufskrankheit, fürchte ich. Dann sehe ich wieder hin, und will nichts anderes mehr sehen. Nichts anderes mehr machen. Das geht hoffentlich auch wieder vorbei. Ich überlege, wie das passieren konnte. Irgendetwas ist passiert, was vielleicht so geplant war, was aber nicht zu planen ist. Begegnungen, Loslassen. Echte Neugier auf die anderen, in einer Welt, die noch durchlässig ist. Wo gibt’s denn sowas? Im Film doch ganz sicher nicht. Dann denke ich: Wenn das geht, dann geht vielleicht noch was ganz anderes. Hoffe ich jedenfalls, denke ich, während ich mich in der letzten Reihe vor dem Saaldiener unter dem Sitz verstecke. s Jan Krüger 15


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Nur ein Job von Ja na Sch u l z e

edition salzgeber

Für die einen ist es das Normalste der Welt, mit 30 Jahren zum zweiten Mal Mutter zu werden und ein Häuschen zu besitzen. Andere erleben das Zusammenwohnen in Kommune-ähnlichen Zuständen, als gäbe es nichts Alltäglicheres. Und Menschen wie Natalie (Nicole Laliberte) finden es eben ganz normal, Lesbe und gleichzeitig Domina zu sein. Wem sich nun Fragen über Fragen über das Wieso und Weshalb stellen, der sollte auf jeden Fall den US-amerikanischen Film „My Normal“ von Renee Garzon und Adam Sales anschauen, aber nicht erwarten, auf Alles eine Antwort zu finden. Läuft in der L-Filmnacht im April.

s Groß, umwerfend schön und schlank kommt Natalie, Mitte Dreißig, daher. Ihr langes, wallendes, feuerrotes Haar ist ihr Aushängeschild und Lockmittel zugleich. Sie lebt in der New Yorker Lower East Side, trifft sich regelmäßig mit Mutter und Schwester zum familiären Essen, wo sie von ihren Plänen spricht, in die Filmbranche einzusteigen. Eine ganz normale Familie, Gespräche, wie es sie überall in der Stadt, im Land, auf der Welt gibt. Geschichten aus ihrem schrägen Arbeits­ alltag im New Yorker Underground – Natalie hütet sich, auch nur ein Wort davon ihrer Mutter zu erzählen. Schweigen über die Männer, die sich vor ihr wie ein Hund aufstellen, Latexhöschen tragen und auf ihre Befehle warten. Schweigen über ihren Kunden Nummer Eins, Michael, (hervorragend gemimt von Mark Saturno), den sie – aus Langeweile im Domina-Studio – im Büro anruft und seine Phantasien verbal befriedigt. So kann das Normale ganz einfach neben dem für viele Menschen Ungewöhnlichen bestehen. Niemand möchte von Natalie wissen, 16

wovon sie ihr kühl eingerichtetes LuxusApartment bezahlt. Bis ihr Jasmine (Dawn Noel Pignuola) begegnet, beide Frauen sich ineinander verlieben und in eine Beziehung rutschen. Auch wenn Natalie sich nicht prostituiert, hat Jasmine doch gewaltige Probleme damit, dass ihre neue Liebe fremde Männer erniedrigt und vor allem dazu steht, weil es ihr Spaß macht. Was für die eine ein Job ist, wird für die andere zum Albtraum. Doch diese lesbische Liebesgeschichte ist nicht das, was My Normal in den Vordergrund rückt. Zu weit bleibt er von den beiden hübsch anzuschauenden Hauptdarstellerinnen, ihren Gedanken, ihren Gefühlen entfernt. Wer ist diese Natalie und wer diese Jasmine, die wie eine HipHop-Musikerin erscheint, aber nie von einem Leben für die Musik spricht? Die Tatsache, dass Darstellerin Dawn Noel Pignuola im wahren Leben an der Seite von Madonna und Jenifer Lopez auf der Showbühne gestanden hat, dürfte wohl dafür eine Erklärung liefern. Die Geschichte der beiden Frauen in diesem Film, die ihre

trendigen Kleider wechseln, als müssten sie den Darstellerinnen von Sex in the City – Der Film Konkurrenz machen, erscheint wie eine Affäre und trägt zugleich an Problemen wie eine langjährige Beziehung. Im Vordergrund steht dagegen Natalies Traum von einer Karriere in der Filmbranche. Als Alternative klappt das nicht, aber am Ende kann sie das mit ihren Lebenserfahrungen verbinden: Ihr Film wird die Geschichte einer Domina erzählen, die ein ganz normales Leben führt. Das Erstlingswerk My Normal beeindruckt mit Details aus der SM-Szene, kommt wie ein kleines Bilder-Kunstwerk der beiden Filmemacher daher, jedoch nicht als unbedingtes Lesben-Liebhaber-Stück. Die Drehbuchschreiber und Produzenten Renee Garzon und Adam Sales wollten nach eigenen Angaben in dem Film ihre „politischen, sozialen und romantischen Lebenseinstellungen und Erfahrungen“ verarbeiten. Eine gewaltige Anforderung, die vielleicht ein Stück zu hoch gegriffen war. Dafür aber, so erfährt man auf der Internetseite zum Film, habe das Filmteam während der Dreharbeiten einen gewaltigen, chaotischen Spaß gehabt. s

My Normal

von Irving Schwartz US 2010, 77 Minuten, OmU Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Im Kino

L-Filmnacht im April www.l-filmnacht.de


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kino

Smith (Thomas Dekker)

… and I feel fine von pau l sch u l z

Gregg Araki lässt in „Kaboom“ die Welt untergehen. Zutaten: Jede Menge Sex, eine böse Sekte, lesbische Hexen, fröhliche Drogen, geile Musik und genug Humor, dass es einem ein Fest ist, mit ihm in den Abgrund zu taumeln. Der Regisseur ist auch mit 51 noch der große Handwerker-Punk unter den amerikanischen Indie-Filmemachern. Gut so. „Kaboum“, der Gewinner der Queer Palm (dem Queer Cinema Award der Filmfestspiele von Cannes), läuft im Mai in der Gay-Filmnacht und kommt im Juni in Deutschland und Österreich in die Programmkinos. s Gregg Araki sagt über Kaboom, der Film sei seine „autobiografischste Arbeit bisher“. Irgendwie wünscht man ihm das nicht. Es ist schwierig, die Handlung des Films zusammenzufassen, denn um die geht es Araki, wie schon in Nowhere, Totally Fucked Up oder The Doom Generation, nicht wirklich. Wir versuchen es trotzdem. Der 18-jährige Smith geht in einer idyllischen Stadt in Kalifornien aufs College. Er will Filmemacher werden. Eines Nachts glaubt er auf dem Rückweg von einer Party gesehen zu haben, wie drei Männer mit Tiermasken eine junge rothaarige Frau töten. Unser Held begibt sich auf die Suche nach Opfer, Tätern und Motiv, lässt sich dabei aber, wie das in der Pubertät so ist, ständig ablenken. Von seinem unfassbar attraktiven, aber auch unglaublich dummen Mitbewohner Thor, der schon mal versucht, Smith Tipps zu geben, wie man seinen eigenen Schwanz lutscht. Von seiner schlauen, zynischen besten Freundin Stella, die gerade von einer lesbischen Hexe so intensiv beschlafen wird, dass sie dabei Sterne sieht. Von London, einem Mädchen, 17


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London (Juno Temple)

das er auf der Party vor besagtem Mord kennen gelernt hat und dem egal ist, dass Smith wahrscheinlich schwul ist, solange die Orgasmen, die sie von ihm bekommt, sie vor Prüfungen entspannen. Von seiner Mutter, die besser aussieht als Mütter das tun sollten, und immer im unpassenden Moment anruft. Hauptdarsteller Thomas Dekker (Heroes, Terminator: S.C.C.) nennt Kaboom Arakis „Greatest-Hits-Movie“ und trifft den Nagel damit auf den Kopf. Denn der filmische Raum, den Araki in seinem Œuvre – bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Filme – wieder und wieder absteckt, ist der, in dem sich 16- bis 25-jährige Amerikaner einschließen, um herauszufinden, dass die Welt anders ist, als sie vorgibt zu sein, und um sich selbst zu erforschen. Dazu benutzen sie das Instrumentarium, das ihnen dafür in ihrem Alter zur Verfügung steht: Sex, Drugs and Rock’n’Roll. Den Gegensatz zwischen System und Individuum zeigt Araki ganz praktisch: Viele seiner Filme sind relativ gewalttätig. Mit seinen Teenage-Nightmares hat der Regisseur seit seinem ersten Film The Living End eine Art eigenes Filmgenre geschaffen. Arakis Filme sind sofort identifizierbar. Der Mitbegründer des „New Queer Cinema“ hat schon alles, von alberner Stoner-Komödie (Smiley Face) 18

bis zum hochgelobten Missbrauchs-Drama (Mysterious Skin), gemacht, fremde und eigene Drehbücher verfilmt und mit Millionen von Dollar oder ganz ohne Budget gearbeitet. Und trotzdem weiß man als Fan sofort, ob ein Film von Araki ist. Das liegt, wie bei allen guten Regisseuren, an seiner Sicht auf die Welt und an seinem Umgang mit Sexualität. Was für Hitchcock die eiskalten Blondinen waren, sind für Araki die jungen Menschen, die auf dem Treppenabsatz zwischen Pubertät und Erwachsensein sitzen, erst mal einen bauen und dann eine halbe Stunde knutschen, damit der weitere Aufstieg nicht ganz so langweilig ist. Sex kann man haben, aber wenn, dann richtig und ohne Rücksicht auf Verluste. Das führt dazu, dass es in allen Filmen, die Araki selbst geschrieben hat, Szenen gibt, die einem bleiben, weil sie wie das Echo eines Wunsches oder einer Angst sind, die man selbst sehr gut kennt, wenn man als Jugendlicher nicht allzu langweilig war. In Kaboom erläutert Juno Temple (Julien Temples Tochter) als London einem ihrer Liebhaber, dass ihre Möse keine Pizza ist, und erklärt dann offenherzig, wie man das richtig macht mit den Mädchen und dem Oralverkehr. Araki erzählt in Interviews mit sichtlichem Vergnügen, dass erwachsene Frauen auf Filmfestivals auf ihn zukommen,


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Thor (Chris Zylka)

nur um sich für diese Szene zu bedanken und dass Juno Temples Mutter, die Filmproduzentin Amanda Temple, ihrer Tochter gesagt hat, sie müsse diesen Film machen, und sei es nur wegen dieses einen Monologs – das sei sie den Frauen der Welt schuldig. Als Dank für die Weiterbildung stimmt der so Belehrte zu, Smith an seinem Geburtstag an sein Bett zu fesseln und im Verein mit London dafür zu sorgen, dass es ein unvergesslicher Tag wird. Sexualität ist bei Araki nicht auf so was Albernes wie Identitäten festgelegt und im besten Sinne queer: Der eigene Körper ist ein großer Abenteuerspielplatz, auf dem man viel über sich und andere lernen kann. Ein weiterer Baustein in Arakis Universum ist der ständige Verdacht, die Welt befände sich insgesamt auf dem absteigenden Ast. Auch diesen Gedanken führt er in Kaboom so konsequent zu Ende wie nie zuvor. Michael Stipe würde sagen: „It’s the end of the world as we know it … and I feel fine”. Mit diesem Gefühl verlässt man das Kino. Und was könnte im Mai in Deutschland schöner sein. s

Kaboom

von Gregg Araki US/FR 2010, 86 Minuten, OmU Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Im Kino

Gay-Filmnacht im Mai www.gay-filmnacht.de

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Her mit den wütenden Frauen! I n t e rv i ew: Ja na Sch u l z e

Die L-Filmnacht im Mai wird wieder zur Kurzfilmnacht. Ein abwechslungsreiches Programm ist garantiert, und wer will, kann hier auch auf Entdeckungsreise gehen – denn Kurzfilme sind ja oft erste Talentproben später gefeierter FilmemacherInnen. Jenifer Malmqvist trauen wir jedenfalls zu, eine zu werden – in der L-Kurzfilmnacht im Mai ist ihr neuer Film „Birthday“ zu sehen, in früheren liefen schon „Friedensverhandlungen“ und „Am Ende der Straße“. SISSY hat sie kennengelernt.

sissy: Als ich Ihren neuesten Film „Birthday“ sah, musste ich gleichzeitig lachen, weinen, bekam Fernweh nach Schweden und dachte darüber nach, wie meine Freundin und ich Kinder bekommen könnten. Wollen Sie das alles mit ihren Filmen auslösen? Jenifer Malmqvist: Je nachdem. Generell möchte ich beim Zuschauer Erinnerungen wecken und verborgene Gefühle ansprechen, etwas anrühren, was jeder in sich selbst hat. Das läuft ja in Ihren Filmen über fast alle Sinnesorgane. Wie kriegen Sie das hin? Vielen Dank, ein sehr schönes Kompliment! Ich mag das in anderen Filmen, deshalb versuche ich das auch. Man konzentriert sich ja immer auf Emotionen, aber man sollte auch offen für Wahrnehmungen wie Berühren oder Riechen sein. Ich freue mich immer, wenn Schauspieler mir das anbieten. Mir hilft dabei aber die gesamte Crew, vor allem die Toningenieure! Wie in „The Kids Are All Right“ geht es auch in „Birthday“ um lesbische Familienprobleme. Ist das Thema derzeit „in“? Als Birthday entstand, hatte ich nie zuvor von The Kids Are All Right gehört, erst 2010 auf dem Sundance Film Festival, wo Birthday uraufgeführt wurde. Aber ich denke: Auch wenn er eine ähnliche inhaltliche Basis hat, ist es doch ein ganz anderer Film. Die beiden Hauptdarstellerinnen sind keine typischen Klischee-Lesben mit kurzen Haaren und maskulinen Aussehen. War Ihnen wichtig, sehr feminine Frauen zu zeigen? Ich finde Klischee-Lesben schön! Aber viel wichtiger ist, Darstellerinnen zu finden, die zu ihren Rollen passen. Im Fall von Birthday sind es sehr gute Schauspielerinnen und sie haben zudem eine natürliche Schönheit. Erzählen Sie uns ein bisschen von Ihrem Werdegang – wann haben Sie sich entschieden, Filme zu machen und warum?

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Filme haben mich immer interessiert und meine ersten Vorbilder waren die Schauspieler der Theatergruppe in meiner Heimatstadt Landskrona. Ich habe dann vieles ausprobiert, Musik, Soziologie und Kunst studiert. Als ich dann auf einer Art vorbereitende Filmschule war, verliebte ich mich ins Filmemachen. Mein Leben war damals ein bisschen chaotisch, vielleicht war die Filmkunst meine Rettung …

Gute Filme. Neu auf DVD! Überall im Handel und auf www.goodmovies.de

Sie haben an der renommierten Filmhochschule in Lodz studiert. Wieso sind Sie nach Polen gegangen? Ich hatte viel Gutes über diese Schule gehört, hatte gute polnische Filme gesehen. Ein schwedischer Bekannter, der dort damals studierte, sagte mir, das Studium sei praktisch ausgelegt, sehr gründlich und anspruchsvoll. Das war es, was ich wollte.

London Nights Drei junge Menschen, ein lockiger Spanier, eine bildhübsche Belgierin, ein geheimnisvoller Fremder suchen in Londons vibrierender Musikszene nach dem Vater, dem schönsten Liebeslied, dem Mann, der Frau fürs Leben…

Wie finanzieren Sie Ihre Filmprojekte bislang? Für Birthday habe ich Geld von zwei regionalen Filmförderungen bekommen. Weil meine Filme bisher Studienarbeiten sind, stellte die Hochschule die technische Ausstattung und eine kleine finanzielle Unterstützung. Den Rest habe ich selbst bezahlt, meine Eltern, Bekannte, Freunde und spendable Menschen. Dazu arbeitete fast jeder am Set unbezahlt. Bei meinem nächsten Projekt muss sich das ändern. Die Leute müssen bezahlt werden! Ist es Ihnen wichtig, als lesbische Filmemacherin Filme mit lesbischer Thematik zu machen? Coming-Out-Filme sind ja ein eigenes Genre, das nicht nur schwulen und lesbischen Filmemachern zur Verfügung steht. Man kann das auch als Hetero-Geschichte erzählen, wenn man einen Protagonisten hat, der seine eigentlichen Gefühle geheim hält und nicht nach ihnen lebt. Wie in „Hedda Gabler“ zum Beispiel. In unserer Zeit, in der Bilder so wichtig sind, wollte ich wütende Frauen zeigen. Das war mir ein Anliegen, ich konnte die ewig lächelnden Frauen nicht mehr sehen. Und natürlich will ich Lesben auf der Leinwand zeigen, weil sie ansonsten viel zu wenig sichtbar sind. Man existiert nur, wenn man gesehen wird – in dieser Welt aus Bildern. Wie geht es nach Ihren Kurzspielfilmen jetzt weiter? Nur so viel: Ich schreibe gerade an einem Spielfilm, der von einer wahren Geschichte inspiriert ist. Bislang sind darin allerdings keine Gay-Charaktere vorgesehen. Aber wer weiß, vielleicht tauchen sie plötzlich doch wieder im Drehbuch auf … Zudem habe ich auch eine Idee für einen zweiten Spielfilm, der sich um Lesben dreht, und ein Teil davon soll in Berlin stattfinden. Die Berlinale ging gerade zu Ende. Irgendwie hätte „Birthday“ doch ins Kurzfilm-Programm gepasst oder? Bislang hatte ich keine Gelegenheit, dort teilzunehmen. An Birthday waren sie nicht interessiert, er hatte dann seine Uraufführung auf dem Sundance-Festival. Ist ja auch nicht schlecht … Jedenfalls freue ich mich, dass drei meiner kurzen Spielfilme in Deutschland auf DVD erschienen sind oder noch erscheinen werden.

Frischluft-Therapie

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Hammerhead

Birthday

Tools 4 Fools

You Move Me

von Christoph Scheermann DE 2010, 6 Minuten von Sam Donovan UK 2009, 14 Minuten von Kate Brandt US 2009, 8 Minuten

Lady Pochoir

von Petra Clever DE 2010, 25 Minuten

von Erik Gernand US 2009, 9 Minuten von Jenifer Malmquist SE 2010, 18 Minuten von Gina Hirsch US 2010, 12 Minuten

Im Kino

L-Kurzfilmnacht im Mai www.l-filmnacht.de

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Fish Tank Selten zuvor wurden die Gefühle einer jungen Frau so auf den Punkt gebracht: Mia ist rebellisch und verletzlich, ein gefährlicher Wirbelwind, sensationell lebensecht verkörpert von Katie Jarvis, die von der Straße weg gecastet wurde.

François Ozon: Rückkehr ans Meer Mousse und Louis sind jung, schön, reich und verliebt. Doch Drogen haben ihr Leben verseucht. Eines Tages nehmen sie eine Überdosis und Louis stirbt. Mousse überlebt und erfährt im Krankenhaus, dass sie schwanger ist…


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Stickerei und Gedichte von Ja n K ü n em u n d

In „Tropfen auf heiße Steine“ hat François Ozon ein ätzendes Fassbinder-Stück verfilmt, in „8 Frauen“ einige Diven des französischen Films in eine Krimiklamotte verpackt. In „Das Schmuckstück“ (Kinostart: 24. März) verfilmt er erneut Theater, setzt seine Stars in artifizielle 70er-Jahre-Dekos, lässt sie Türen knallen und sich emanzipieren. Dieser liebevolle höhrere Blödsinn will Camp sein, seine subversive Sprengkraft bleibt aber im unterhaltsamen Knallerbsenbereich.

s Arme Madame Pujol. Vom Kesselflicker-zum-Fabrikanten-Vater hat sie die Fabrik geerbt, sie aber brav an den chauvinistischen Ehemann abgegeben, denn Frauen können 1977 mit Fabriken noch nichts anfangen. Anders als dessen 300 Arbeiter, die wie sie unter ihm arbeiten, kann sie nicht in den Streik gehen. Ihr Platz ist nicht in der Arbeitswelt. Aber auch nicht in der Küche, denn dafür bezahlt ihr Mann Personal. Ihre Position ist die eines repräsentativen Schmuckstücks, das traurig und ungesehen in die Welt schillert. Alles, was ihr bleibt, sind ihre Stickerei und ihre Gedichte. Und diese auf die Spitze getriebene Irrelevanz, diese Ortlosigkeit und Künstlichkeit der Madame Pujol wird schon in den ersten Sekunden dieses Films augenscheinlich, wenn sie aus einem Siebziger-Jahre-Splitscreen-Exzess, aus Sunshine Pop 22

und ländlichem Morgennebel, straff verpackt in einem roten Adidas-Trainigsanzug mit goldenen Streifen durch ihren Wald läuft, in dem sie – wie üblich – nur rammelnde Hasen und flüchtende Rehkitze trifft, ihre Atemübungen macht und eine ungehörte Ode an das befreundete Eichhörnchen deklamiert, das ihr angeblich zuzwinkert. Unter dieser Frau, die sich völlig umsonst für das Leben fit hält, steht in grellem, schattierten Orange: „CATHERINE DENEUVE“. Oh-lá-lá zum ersten. Gerade (im September) hat man François Ozons schwule Schwangerschaftsfantasie Rückkehr ans Meer verdaut, hat das geflügelte Baby Ricky aus der Arbeitersiedlung noch vor Augen, da wird man von ihm mit der ihm eigenen Registerwechselkunst in falsche Siebziger-Jahre, nationales Starkino, Boulevard­


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theater und Frauenbewegung versetzt. Wieder einmal springt einem dieser Filmemacher aus der Kategorienschublade und ist einem wie üblich einen Schritt voraus. Also Szenenwechsel und jetzt: Emanzipation mit Cathérine Deneuve. Zum drittem Mal hat Ozon ein Theaterstück verfilmt, wieder mit wenig Ambitionionen, dessen Bühnenhaftigkeit ins Filmische aufzulösen. Schon im Boulevard-Klassiker taucht der rote Trainingsanzug von Madame Pujol auf. Sie wird ihn ablegen, sich aufgrund der Unpässlichkeit des Fabrikantenmannes, Vertreter eines sehr französischen Typus des Asozialen à la Louis de Funès, für ihre Arbeiter in Pelz und Juwelen werfen, die Firma retten, gemobbt werden, um schließlich im sachlichen Kostüm einer Ségolène Royal erfolgreich in die Politik zu wechseln. Diese herzerwärmende Performance läuft auf eine Liebeserklärung an das Leben und den Triumph über das Schicksal hinaus: Madame Pujol singt „C’est beau la vie!“ von Jean Ferrat, der als jüdisches Kind in Frankreich die Nazis überlebt hat. Und das ist natürlich die Liebeserklärung an eine nationalheilige Schauspielerin, die im Adidasanzug in den Film tritt wie aus der Umkleidekabine von Yves Saint Laurent (die es wahrscheinlich so gar nicht gibt). Und das wird möglich gemacht durch den ungehemmten Zugriff dieses Regisseurs auf alles, was den Franzosen heilig ist. Als Kommentar auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft, ob 1977 oder 2011, ist dieser Film nutzlos. Eine ungerecht behandelte Frau, die sich der ungerechten Behandlung bewusst wird, ihre Schürze ablegt, sich selbstertüchtigt und -ermächtigt, es den Männern und sich selbst zeigt und schließlich die Welt verbessert, ist ein identifikatorischer Tagtraumtypus der Zukurzgekommenen und hat mit gesellschaftskritischer Analyse nichts zu tun. Wahlweise haben wir da filmgeschichtlich Doris Day oder deutschfernsehgeschichtlich Inge Meysel, Witta Pohl oder (passt angesichts der Inszenierung von Deneuve hier besser) Heidi Kabel zur Verfügung gehabt, die im Scheinwerferlicht den Rücken gestrafft und mit leisem Knall die Kulissentür hinter sich zugeschlagen haben. Besetzt man diesen Typ aber noch mit Cathérine Deneuve, die wieder einmal dekorativ und klassenbewusst in diesem Film herumsteht, ohne den Hauch eines Bewusstseins für ihre Figur, an der die Gemeinheiten und Erniedrigungen der Männerwelt abperlen wie Regen von einem Regenschirm aus Cherbourg, macht man überdeutlich, dass man sich für weibliche Emanzipation genauso wenig interessiert wie für die Rechte der Arbeiter (die in diesem Film ohnehin nur für bessere Toiletten streiken) oder der Schwulen (Madame Pujols Sohn wird mit der Künstlerrolle zufrieden gestellt – als Regenschirmdesigner). Und trotzdem (es wäre ja auch wirklich blöd, wenn man Ozon-Filme politisch liest) fährt dieser Film einiges auf, um einen in ihn verliebt zu machen. Allein die Wiedervereinigung von Deneuve und Depardieu, dem merkwürdigsten und doch beständigsten Paar der französischen Filmgeschichte (es ist ihr siebter gemeinsamer Film). Beide werden seit ihrer Zusammenarbeit in Die letzte Metro (1980) nicht müde, sich gegenseitig und bei jeder Gelegenheit Komplimente zu machen – und nun stehen sie hier in diesem Film, als monumental unbewegliche Ex-Liebhaber, und bekommen als nationale Filmheiligtümer vom unverschämten Ozon einen Tanz

geschenkt, nicht ohne vorher von den zweifelhaften Damen des zwielichtigen Tanzsaals als „die Spießerin und der Trampel“ beleidigt zu werden. Dieser Tanz im „Badaboum“ verlässt die oberflächliche Lustigkeit um die Energie der sich oberflächlich emanzipierenden Fabrikantenfrau. Da gleitet die Kamera auf Deneuve und Depardieu zu, sie sehen sich an und eigentlich uns, da verschwimmt alles an den Rändern, die Welt wird unscharf, die Backgroundsängerinnen lassen den Mund offen stehen, Räume lösen sich in Farbe auf, Discokugelreflexe flirren über das sonst gestraffte, jetzt endlich gelöste Gesicht der Schauspielerin, das im Engtanz mit dem Depardieuhintergrund verschmilzt. Ein Gedicht, inmitten der ganzen Stickerei. Der unvermeindliche Kuss findet kurz danach in der Garderobe statt, zu den Bee Gees, im Gegenlicht einer Neonanzeige, das darf tatsächlich die ganz große Liebesszenen-Aufnahme sein. Und als letzte Referenz an dieses Paar klappt später im Film ein Amulett auf, darin zwei Jugendbilder von Deneuve und Depardieu, blond und wild, tatsächliche 70er Jahre. Wie sich Ozons Film überhaupt verbindlich verbeugt vor schönen Dingen, ist auch das eine Verbeugung, die gar nicht mehr sein will. Kein Vergleich zu André Téchiné, der in Les temps qui changent (2004), der sechsten Zusammenarbeit der beiden Schauspieler, ihnen beiden noch mal einen tatsächlichen Liebesdrive, eine Obsession, eine mühelose Beweglichkeit gegeben hat. Deneuve darf bei Ozon Kittelschürze tragen, als „dumme Gans“ bezeichnet werden, Ziel von Gewichtsspekulationen sein, ein klassenübergreifendes Sexinteresse haben (das ist das zweite Oh-là-là). Dafür stellt er seinem Star einen großen Scheinwerfer auf, der die Gesichtshaut glättet. Er inszeniert sie als Schmuckstück, das sie im Film nicht mehr sein will. Er zaubert uns wiederum ein Filmschmuckstück auf die in Schuss gehaltenen Leinwände der Theater in guten Wohnvierteln, macht UnifranceKino, schreibt nationale Filmkultur, so leicht und adrett und unterhaltsam sie auch ausfällt (das soll hier gar kein Abraten vor dem Kinobesuch sein). Und bevor man davon enttäuscht ist, sollte man mit guten Gründen erwarten, dass er im nächsten, spätestens im übernächsten Film wieder etwas machen wird, was wirklich weh tut. Aber bis dahin schafft er sich ein Spiegelbild im schwulen Sohn von Madame Pujol, der Regenschirme und politische Auftritte dekoriert und behauptet, dass auch Kunst, eine Anordnung von Formen und Farben, Revolution sein kann. Der ständig überraschende Ideen hat. Der weiß, wie ein Kleid fallen muss und wie man Diven beruhigt. Auch Ozon wird Deneuves Frage nach dem Sitz der Frisur beantwortet haben wie Laurent die seiner Mutter: „Perfekt – wie immer!“ Und mehr will dieser Film mit seinen Frauen, Schwulen, Chansons und Tapeten auch nicht sein. s

Das Schmuckstück

von François Ozon FR 2010, 103 Minuten, DF/OmU Concorde Filmverleih, www.concorde-film.de

Im Kino

Ab 24. März

Die letzte Metro

von François Truffaut FR 1980, 131 Minuten, DF/OmU

Auf DVD

Concorde Video, www.concorde-home.de

Les temps qui changent

von André Téchiné FR 2004, 95 Minuten, frz. OF

Auf DVD als Import

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kino

Auslösen, auffangen von Pet e r R e h be rg

s Nach der erfolgreichen Vorführung seines Porträts philippinischer Transsexueller, die in Israel tagsüber als Altenpfleger arbeiten – Paper Doll gewann 2006 auf der Berlinale sowohl den Panorama-Publikumspreis und den Siegessäule-Preis – lernt Tomer in der Pano­rama-Bar des Berghains Andreas kennen. Zur Begrüßung wird der blonde Deutsche mit den blauen Augen unter der Dusche gefilmt. So beginnt I Shot My Love. Mit verliebtem Kamerablick schaut Heymann auf seinen neuen Lover, der genauso verliebt zurückschaut. Tomer stellt mit einem sehr süßen Lispeln in gebrochenem Englisch neugierige Fragen und Andreas antwortet manchmal klug, manchmal verträumt. Schon allein wegen diesen ersten Szenen einer Liebesgeschichte ist der Film wunderbar. Andreas nutzt die Bühne, die er angeboten bekommt, charmant: Unschuldig trällert er deutsches Liedgut, verspielt zeigt er seine Kochkünste oder übt konzentriert die Tanzbewegungen für seine neue Choreographie. Aber schnell stellt sein jüdischer Freund hinter der Kamera bohrende Fragen: Bist du gerne deutsch? Hast du mit deinen Großeltern über die Vergangenheit gesprochen? Dieser komplexe Film macht deutlich, dass die Folgen der Gräueltaten der Deutschen an den Juden 65 Jahre später auf der privaten Ebene nicht einfach verschwunden sind, auch wenn Tomers Mutter beteuert, dass es ihr nichts ausmache, dass der Freund ihres Sohnes ein Deutscher sei. Warum auch? Es sind ja auch nicht alle Juden nett, sagt sie. Und doch: So einfach ist es nicht. Heymanns Großeltern sind in den 1930er Jahren aus Berlin nach Palästina geflüchtet und haben so den Holocaust überlebt. Bis heute ist Israel für die Familie Heymann eher Exil als Heimat, so scheint es, wenn Tomers 24

w-film

Tomer Heymann hat einen bezaubernden Freund und eine Mutter, die fast noch bezaubernder ist. Man könnte neidisch werden. Mit seiner Kamera verfolgte der israelische Dokumentarfilmer über ein paar Jahre die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben. Auf diese Weise entstand ein sehr bewegendes filmisches Tagebuch. „I Shot My Love“ läuft ab dem 17. März in den Kinos. Mutter Noa ins Zentrum des Films rückt und von ihrem Leben erzählt. Das Wüstenklima, die Terroranschläge. Das Leben hier als Überlebenskampf. Drei von Tomers Brüdern sind in die USA emigriert. Nach der Trennung von seinem Vater bleibt die Mutter allein in dem Dorf zurück, in dem Tomer aufgewachsen ist. Aus dem Film über die Vergangenheitsbewältigung auf der Ebene einer schwulen, deutsch-jüdischen Liebesbeziehung wird auch eine Meditation über die Frage, wo man zuhause ist. Andreas zieht zu Tomer nach Tel Aviv. Die beiden jungen Männer versuchen zusammen ein Leben aufzubauen. Tomers Mutter fragt: „Is it more based on sex or friendship?“ Von der 65-Jährigen will der Sohn dann wissen, ob sie glaubt, dass sie in ihrem Leben noch einmal Sex haben wird. Die Offenheit, Lebendigkeit und Herzlichkeit zwischen Mutter und Sohn ist überwältigend. Jeder schwule Sohn wünscht sich eine Mutter wie Noa Heymann. Tomer erzählt von seinen Träumen und Noa von ihren Ängsten. Andreas wird im Kreis der jüdischen Familie ganz selbstverständlich aufgenommen. Beim Pesach-Fest zitiert er inmitten von Tomers Verwandten auf Deutsch aus der Haggadah. Tomers Onkel Werner hat sie ihm gegeben. „Die ist noch aus der jüdischen Gemeinde in Emmendigen“ erklärt er auf Deutsch. Auch Onkel Werner war vor den Nazis geflüchtet. Umgekehrt verbringt Tomer zusammen mit Andreas ein Weihnachtsfest bei seiner Familie in Süddeutschland: Bedrückendes Schweigen und ungelenke Herzlichkeiten im Gegensatz zu der jüdischen Fröhlichkeit in Israel. Dabei geht es nicht nur um kulturelle Unterschiede. Im Hintergrund steht eine ganz andere Geschichte: Über Jahre ist Andreas von einem Pfarrer – einem guten Freund

seines Vaters – sexuell missbraucht worden. Seine Eltern haben lange gebraucht, um diese schlimme Erfahrung richtig anzuerkennen. Nicht zuletzt dadurch ist Andreas’ Suche nach einem neuen Zuhause motiviert. Als Andreas vor der Kamera von dem Missbrauch berichtet, ist Tomer in seiner Doppelrolle als Dokumentarfilmer und Partner überfordert. Die Geschichte seines Freundes braucht mehr Aufmerksamkeit, als er ihm als Kameramann und Regisseur in diesem Film zu geben bereit ist – er macht den Vorfall zu einer Episode, was auf der Ebene ihrer Beziehung wie ein Verrat wirkt. Andreas sagt: „I am not just a story. I am your partner.“ Die Probleme des Projektes Filmtagebuch werden aber wiederum zum Thema des Filmtagebuchs selbst, Heymann ist so klug, sie nicht zu vertuschen. Was passiert, wenn man die engsten Menschen um sich herum zum Material seiner Filme macht? Heymann kann oder will als Lover oder Sohn nicht immer emotional auffangen, was er als Dokumentarfilmer durch den aufdringlichen Blick der Kamera auslöst. Insofern müssen sein Freund und seine Mutter manchmal selbst auf sich aufpassen. Aber es geht Heymann ja auch nicht um Idylle oder Versöhnung, sondern um die Wahrheit. Manchmal fühlt man sich wie bei der (ursprünglich israelischen) Fernsehserie In Treatment als Zuschauer einer psychotherapeutischen Sitzung. Vielleicht gibt es sogar einen gewissen Sadismus, mit dem Heymann, versteckt hinter seiner Kamera, zum Beispiel das geschichtliche Täter-Opfer-Verhältnis auf privater Ebene umkehrt, wenn sein deutscher Lover sich vor ihm entblößt. Die Intensität dieses Films hängt aber genau von dem Mut ab, sich auf das verminte Terrain der Beziehungen von Deutschen und Juden zu begeben, von dem Heymann selbst nicht ausgenommen ist. Und von der „Gewalt“, diese vielen intimen Momente mit der Kamera so schonungslos einzufangen. Heymann ist sich dessen natürlich bewusst, wenn er seinen Film I shot my love nennt. Auch wenn man Andreas nicht in jedem Moment darum beneidet, Tomers Lover zu sein, ist das filmische Ergebnis absolut faszinierend. Denn Heymanns große Leistung liegt darin, dass er der Versuchung widersteht, schwule Liebe als Versöhnung der Verbrechen von Deutschen an Juden zu inszenieren. s

I Shot My Love

von Tomer Heymann DE/IL 2010, 70 Minuten, dt. OF W-Film, www.wfilm.com

Im Kino

ab 17. März


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Liebe Lügen von M a i k e Sch u ltz

s Es beginnt mit einem Brief. Irgendwo zwischen leeren Bierflaschen, Schallplatten und Papierstapeln findet Liza (Kat Redstone) den Umschlag mit bedrohlichem Absender: Tina aus Berlin. Doch so rasch, wie ihre Überraschung in glühenden Jähzorn umkippt, zeigt sich auch, dass das Chaos in Lizas Beziehung schon viel früher zuhause war. Die Post von der Ex-Geliebten ist nur ein Samenkorn, das Misstrauen sät. Einmal gewachsen, provoziert es eine längst überfällige Entscheidung. Ob da nun noch was läuft zwischen Lizas Freundin Sally (Sophie Anderson) und der geheimnisvollen Berlinerin, wird nie geklärt. Eigentlich ist es auch unwichtig. Denn die drei Tage und Nächte, in denen die Regisseurin und Drehbuchautorin Kanchi Winchmann in den destruktiven Alltag der beiden eintaucht, bringen noch jede Menge andere verdrängte Probleme ans Licht: eine Bruchbude von Wohnung, die Perspektivlosigkeit zwischen öden Aushilfsjobs und utopischen Musikkarriere-Träumen und mit dem Stricher Vin (Kai Brandon Ly) einen besten Freund, der jede Gelegenheit nutzt, um sich an Sally ranzumachen. Einzig Lizas schwuler Kumpel Jamie (Collin Clay Chace) steht zu ihr, wenn sie mal wieder zu viel getrunken hat, obwohl er sich heimlich nach einem bodenständigen Partner fern des Drogensumpfes sehnt. Letztlich steht sich hier jeder selbst am nächsten. Das ohne jegliche öffentliche Förderung entstandene Drama Break my Fall ist eine echte Entdeckung. Erstaunlich klischeefrei porträtiert die lesbische Filmemacherin Winchmann ein dysfunktionales Paar in all seinen Abhängigkeiten. Ob Kokain-Trip, häusliche Gewalt oder laut in sich zusammenkrachende Lügengerüste – immer ist die 16mm-Kamera ganz dicht am Geschehen, so als würde hier eine Dokumentation gedreht und kein Spielfilmdebüt. Ein Eindruck, den Winchmann durchaus forciert. Wenn es nach dem Musikportal MySpace geht, spielen die Hauptdarstellerinnen Sophie Anderson und Kat Redstone auch im Nicht-Film-Leben in einer Band namens Blanket, deren Songs man online lauschen kann. Neben anderen britischen Indie-Projekten wie Wetdog und Micachu steuerte das fiktive Duo sogar ein paar Stücke für Break my Fall bei, auch wenn sich das Band-Thema im Film auf eine Probenraum-Szene beschränkt. Überhaupt wirkt der ganze Film wie ein einziger, fließender Soundtrack: Sein Schnitt-Rhythmus reflektiert den Rhythmus von Sallys und Lizas Beziehung, mal romantisch verträumt, dann wieder laut und heftig. Dabei hängt der Zuschauer in einem permanenten Raum der Unsicherheit. Nähern sich die beiden Frauen an, gipfelt Zärtlichkeit plötzlich in brutalen Sex, fordert die eifersüchtige Liza ein Liebesgeständnis ein, legt Sally hilflos den Hörer auf. Dieses Nicht-Voneinander-Loskommen verpackt Winchmann in elektrifizierende Bilder, die sich synchron zu den Emotionen der Protagonisten zu einem Rausch steigern – bis Exzesse und Betrügereien schließlich bei einer illegalen Hausparty an Lizas 25. Geburtstag eskalieren.

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In ihrem Spielfilmdebüt „Break my Fall“ beobachtet Kanchi Winchmann ein Londoner Frauenpaar, das nach Harmonien im Dysfunktionalen sucht. Ab 14. April ist das Independent-Drama bundesweit im Kino zu sehen.

So ist Break my Fall auch eine Hommage an jene von Gentrifizierung bedrohten Abbruchhäuser, Bars und Raves, die das Londoner Eastend ausmachen. Vor allem aber an eine Generation, die zwischen Alternativkultur und dem Aufbruch in ein bürgerlicheres Leben wankt, um sich in den Grenzen vermeintlicher Freiheit schließlich selbst zu entzaubern. Sophie Anderson und die gelernte Theaterschauspielerin Kat Redstone, androgyn und ätherisch schön, sind ein Glücksfall für Wichmanns Skizze queerer Lebensentwürfe. Authentisch, leidenschaftlich und hoch professionell spielen sie sich durch die Rollenmuster einer scheiternden Beziehung. Es ist am Ende kaum noch zu ertragen, ihr Festklammern am Abgrund. Aber wiedersehen möchte man diese Frauen so bald wie möglich. Vielleicht mal in einer Komödie? Uns schwebt da so eine Kreuzung aus Happy Go Lucky und XXY vor. s

Break My Fall

von Kanchi Wichmann UK 2011, 105 Minuten, OmU Pro-Fun Media, www.pro-fun.de

Im Kino

ab 14. April

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Endstation Sehnsucht von R i ng o Rösen e r

2005 drehte Adam Salky den preisgekrönten Kurzfilm „Dare – Trau dich!“. Aus der Geschichte einer Verführung des Schulrebellen durch seinen introvertierten Klassenkameraden hat der Filmemacher jetzt seinen ersten Langspielfilm entwickelt, der eine weiter gefasste Geschichte über das sexuellen Erwachen dreier Highschool-Schüler erzählt. „Dare“ läuft ab dem 5. Mai in den Kinos an.

s Wer von uns hätte es nicht gern gesehen, wenn Holden Caulfield aus Der Fänger im Roggen ein wenig mehr schwul gewesen wäre? Vielleicht war er das ja auch – dieser von der amerikanischen gehobenen Mittelschicht satte Junge, der durch Manhattan streift und das einzig Liebenswerte der Welt in seiner Schwester findet und den einzigen Ort, der ihm behagt, als Naturkundemuseum ausmacht. Er ist und bleibt der neurotische Prototyp für das Hin- und Hergerissensein zwischen verspielter Kindheit und dem Scheinernst der Erwachsenenwelt. Dieses Umherirren in jenen wechselvollen Jahren können USAmerikaner simpel unter Highschool subsumieren. Highschool 26

meint Risiko, Herausforderung, Wagnis – es ist die erste Bewährungsprobe zur Behauptung der eigenen Identität. Es ist der holprige Weg vom Dasein zum Sosein. Insbesondere weil wir alle diesen Weg gegangen sind oder gerade gehen, lassen wir uns vielleicht gern in die Geschichten der Charaktere ziehen, die in ihrem Coming-ofAge und manchmal auch in ihrem Coming-Out gefangen sind. In Adam Salkys Filmdebüt Dare läuft das Drama um die Selbstwerdung mit Humor ab. Zunächst erfahren wir vom typisch amerikanischen Traum, via Schauspielkarriere berühmt zu werden. Obwohl es Alexa nicht an Talent fehlt, kommt es selten richtig zur Geltung. Das mag an dem unmotivierten Spielpartner Johnny liegen, dem attraktiven Bad Boy der Schule, der ihr in der Schulaufführung von Tennessee Williams „Endstation Sehnsucht“ an die Seite gestellt wird. Doch der Schauspiellehrer sieht darin nicht das Problem. Alexa ist einfach zu unschuldig. Aufgrund dieser Erkenntnis verführt sie kurzerhand den smarten Schauspielpartner. Ihr bester Freund Ben muss mitansehen, dass seine Schulfreundin zu einem Highschool-Vamp mutiert. Mehr noch, die frische Liebe zwischen Johnny und Alexa, die da vor seinen Augen aufblüht, zieht ihn magisch an. Er geht ebenfalls in die Offensive und reizt Johnny zum homoerotischen Wagnis. Der weiß eigentlich gar nicht, wie ihm geschieht und entdeckt ein Gefühl, das er bisher nicht kannte. Denn zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich aufgehoben. Ist er doch aufgewachsen in einem mondänen Haushalt, in dem eine schnöde Stiefmutter den Ton angibt, da der Vater beruflich abwesend und die Mutter seit langem verschwunden ist. Wahrscheinlich kann er deshalb nicht die Grenzen zwischen Freundschaft, Begehren und Familie ziehen. Er ist plötzlich verliebt in das Gefühl, umgeben von Leuten zu sein. Und an dieser Stelle beginnt das eigentliche Erwachsenwerden. Eines, das ganz unschuldig und von ganz weit weg zunächst auf das Verliebtsein abzielt und sich immer mehr dem eigentlichem Zentrum des Films zuwendet: Johnny. Der verteidigt seinen Ruf als attraktiver, aber einsamer Flegel und ist gern gesehener Gast beim Nachsitzen. Als ihn aber Ben zu einem ersten zwischenmenschlichen Abenteuer verführt, gibt er seine bis dahin gepflegte Antihaltung auf. Kurzzeitig wird er in das Familienleben Bens integriert und darf zwischen Alexa und Ben auf der Couch einschlummern. Die allerdings verstehen den Ernst der Sache nicht und möchten mit ihm jeweils ihre sexuellen Phantasien ausleben. Aber wer begehrt ihn richtig, wer hat das Recht auf den hübschen Johnny und wie entscheidet dieser sich? Man wünscht sich diesem Johnny eine kleine Schwester, die ihm kurzzeitig an die Hand nimmt und die Liebe gibt, die der braucht. Oder eben ein Naturkundemuseum, das ihn daran erinnert, was er wirklich will. Doch dieser Holden Caulfield in Salkys Dare hat beides nicht. Johnny muss seinen Weg allein gehen. Ein Erwachsenwerden ohne Gefühle gibt es genauso wenig wie eines ohne Risiko – auch in diesem Film nicht. s

Dare

von Adam Salky US 2009, 90 Minuten, OmU Pro-Fun Media, www.pro-fun.de

Im Kino

ab 5. Mai


kino

Im Garten blühen die Neurosen von M a i k e Sch u ltz

pro-fun media

Die brasilianische Romanze „Zurück ins Glück“ schildert den Selbstfindungsprozess einer Universitätslehrerin nach dem Ende einer großen Liebe. Am dem 5. Mai kommt der Film von Malu de Martino ins Kino.

s Man darf schon mal etwas skeptisch sein, wenn ein Filmtitel nach Sat1-Movie klingt. Und die Handlung dann anfangs auch noch anmutet wie die zigste Wiederauflage von Mädchen in Uniform: eine Girl-MeetsTeacher-Variante, an der sich auch schon die US-Romanzen Loving Annabelle (2006) und jüngst Bloomington versuchten. Auch in Malu de Martinos brasilianischem Werk Zurück ins Glück, das seine Weltpremiere 2010 auf dem internationalen Filmfestival von Rio de Janeiro feierte, sieht zunächst alles danach aus, als würde Hauptfigur Julia irgendwann dem Charme ihrer Studentin Carmen erliegen. Immerhin geht es bei der Rückkehr ins Glück um jenes der attraktiven Anglistik-Dozentin. Die unerwiderte Leidenschaft und Seelenqual, die Julia in ihren Seminaren über Virginia Woolf und andere literarische Ikonen analysiert, schleppt sie auch selbst mit sich herum: Von ihrer großen Liebe Antonia verlassen, wähnt die 35-Jährige sich schon am Ende ihrer Tage und versinkt zusehends in einer handfesten Depression.

Immun gegen jede noch so aufdringliche Flirt-Attacke ihrer Studentin lässt sie sich allein von ihrem besten Freund Hugo trösten. Selbst vom tragischen Verlust seines Partners gezeichnet, hat der schwule Schauspieler es geschafft, wieder nach vorne zu schauen. Immerhin sei ein Todesfall auch endgültiger und damit letztlich leichter zu verarbeiten als ein Liebesentzug, noch dazu, wenn man der Verursacherin ständig auf der Straße begegnen könne, konstatiert Julia zynisch. Es sei ihr verziehen, immerhin leidet kaum jemand so schön wie Ana Paula Arósio, eine der populärsten Schauspielerinnen Brasiliens. Aber Hugo (Murilo Rosa) gibt nicht so schnell auf. Zum Glück. Warmherzig und humorvoll ist er der heimliche Motor eines Films, der ansonsten sicher am Selbstmitleid seiner Hauptfigur ersticken würde – so omnipräsent ist Julias stahlblauer, liebeskranker Blick. Da hilft nur eine radikale Veränderung, meint Hugo, und überredet seine Freundin zu einem Umzug aufs Land. In einem kleinen Haus mit Garten an der Küste soll das Kapi-

tel Antonia endlich abgeschlossen werden – wäre da nicht die dritte Mitbewohnerin Lisa (Natália Lage) im Bunde, die, schwanger und vom Partner verlassen, nicht gerade zur dringend benötigten Heiterkeit beiträgt. So prallen unterschiedliche Formen der Trauerarbeit innerhalb meist fliederfarbener Wände aufeinander. Während Hugo sich in neue Abenteuer stürzt und Lisa bei lautem Hard Rock eine Abtreibung erwägt, igelt sich Julia ein. Um zu vergessen, arbeitet sie; um den Schmerz nicht zu spüren, lässt sie sich über Stunden an einen Stuhl fesseln. Was der Studentin nicht gelingen will, schafft schließlich Lisas Cousine Helena (Arieta Correia). Lebendig und von Kopf bis Fuß ein Genussmensch, bezirzt sie Julia mit ihren Kochkünsten, ihren Gemälden und schlicht einem tiefen Ausschnitt, bis diese endlich merkt, dass zwar ihr Herz, nicht aber ihre Libido tödlich verwundet wurde. Wie Julia in ihrem Inneren ist auch die Malerin Helena eigentlich nur auf der Durchreise. Nur einen kurzen Blick ins Schneckenhaus der Depression gewährt ihr die Regisseurin Malu de Martino. Dafür erspart sie uns ein kitschiges Happy End: Nach einigen amourösen Verwicklungen gibt es in Zurück ins Glück keine Alles-wird-gut-Gewissheit. Etwas hat begonnen, vielleicht. Aber auch das kann ja schon ermutigend sein. s

Zurück ins Glück

von Malu De Martino BR 2010, 98 Minuten, OmU Pro-Fun Media, www.pro-fun.de

Im Kino

ab 5. Mai

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pro-fun media (3)

dvd

Leuchtkörper von Lu k a s Foe r st e r

Die bildmagischen Meisterwerke von Julián Hernández sind eigentlich für die Leinwand gemacht. Doch in der momentanen Kinorealität kann man davon nur träumen. Immerhin erscheint der letzte, mehr als dreistündige Exzess „Raging Sun, Raging Sky“ (Teddy 2009) jetzt neu auf DVD – und ist außerdem mit den beiden Vorgängern „Mil Nubes“ und „Broken Sky“ in einer Box erhältlich. SISSY stellt den Filmemacher und seine Ästhetik des schwulen Begehrens (oder schwule Ästhetik des Begehrens?) vor.

s Eine junge Frau tritt aus einer Serie kreisrunder Öffnungen in die Stadt Mexico City ein. In leuchtenden Schwarz-Weiß-Bildern folgt Julián Hernández’ neuester Spielfilm Raging Sun, Raging Sky ihr auf ihrer eiligen, aber nicht zielgerichteten Passage durch den urbanen Raum. Manchmal entfernt sich die Kamera, sucht an der Bushaltestelle oder im Bus selbst nach anderen Passanten, verharrt kurz auf Zufallsgesichtern, kehrt wieder zu ihr zurück. Es wird Nacht, die Kamera fährt immer näher an die Frau heran, dann taucht ein junger Mann auf. In der ersten von vielen im starken Sinne choreografierten Szenen des Films kommen sich die beiden nahe, sie lauthals lachend, er schweigend und vehement. Leuchtende Körper, illuminiert durch Weichzeichner, rhythmische Blick- und Bewegungsfolgen. Dann 28

haben sie Sex in ihrer Wohnung, in einer einzigen, langen Einstellung in Aufsicht. Vom Gesicht der Frau am nächsten Morgen schneidet der Film in die Toilette eines Pornokinos. Es entspinnt sich ein Reigen schwuler Sexszenen, die sich ganz langsam zu einer Erzählung um drei Männer fügen: Ein junges Liebespaar (einer davon ist der junge Mann aus der Anfangsszene) und ein Dritter ohne feste Affiliation. Dieser Dritte ist ein obsessiv Suchender, bei dem das Misslingen der Suche schon in dieser selbst angelegt ist und der im Filmverlauf lernen muss, die scheiternde Suche als Wert an sich nicht zu akzeptieren, sondern zu entdecken. Erst drei Spielfilme hat Julián Hernández gedreht. Mit ihnen hat der 39-Jährige sich eine Ausnahmestellung erarbeitet; im mexikanischen Kino sowieso, aber auch im internationalen Festivalbetrieb und in der Queer-Kinoszene. Drei Langfilme, drei ästhetische Statements. Drei Liebespaare, die zerbrechen, drei Liebesobsessionen, die sich nicht mit dem Zerbrechen abfinden wollen: In Mil Nubes (2003) der junge Hustler Gerado und sein erster, namenloser Lover, der von einem Moment auf den anderen verschwindet und eine Wunde in der Welt hinterlässt, die umso weniger verheilt, je länger sie offen liegt. In Broken Sky (2006) wiederum ein Gerado, ein anderer freilich, und Jonas, zwei Studenten, die sich finden, zwischen die ein Dritter tritt. In Raging Sun, Raging Sky Kieri und Ryo, zwei fast schon außerweltliche Gestalten, die auf den Straßen und in Pornokinos eine rauschhafte Liebe teilen, gewaltsam getrennt werden und in einem mystischen Jenseits wieder zusammenfinden. Die kurze Filmografie folgt der Logik der Eskalation: Die Filme werden zunehmend länger (80 Minuten – 140 Minuten – 185 Minuten), zunehmend obsessiver, zunehmend wahnwitziger. Hernández kürzt das Queer Cinema um vieles von dem, was es im Normalbetrieb definiert. Um die Soziologie zum Beispiel. In Mil Nubes gibt es noch etwas ähnliches wie ein Milieu, die rohen,


dvd

unbehauenen schwarz-weißen Bilder einer mexikanischen Armensiedlung wirken fast neorealisitsch, aber Gerado ist kein Opfer der Umstände, er tritt aus freien Stücken aus der Gesellschaft aus. Ein, zwei andere Figuren wundern sich über diesen Schritt, können ihn nicht nachvollziehen. Den beiden Nachfolgern sind solche Nachfragen zutiefst fremd, der zentrale Liebesaffekt strukturiert jeweils den gesamten Film, gewinnt eine Evidenz, der nichts mehr zu entgegnen ist. Keine Coming-Outs, keine Auseinandersetzung mit Homophobie, überhaupt keine Konflikte, die ihren Ort außerhalb der Liebe hätten. Was bleibt, ist Begehren. Früh in Broken Sky, dem einzigen durchweg farbigen der drei Filme, gibt es eine programmatische Szene: Jonas kommt zu Gerado aufs Zimmer, während sie sich lieben, tritt Gerados Mutter in den Flur. Sie steht einen Moment ruhig da, wendet sich um und geht zurück. Die Mutter erkennt, dass nichts, was sie tun (oder gar: sagen) könnte, etwas nützen würde, dass sie keinen Platz hat in diesem Begehren, in diesem Film. Es versteht sich von selbst, dass sich der Film nicht für die Universität interessiert, die Gerado und Jonas besuchen. Die Unibibliothek wird in einer der großartigsten Szenen der gesamten Filmografie zu einem erotischen Labyrinth, in dem Blicke über Buchrücken fliegen und in dem Hernández minutenlang ein rein filmisches Vorspiel zelebriert. Dass die Filme sich nicht zu den geläufigen Utopien fügen, nicht zur sozialen einer befreiten Gesellschaft, aber eben auch nicht zur pornografischen der entfesselten, freigestellten Sexualität, verdanken sie einzig ihrer Form („Die Form ist Begehren“, heißt es bei Serge Daney). Hernández lädt einerseits jede Geste, jeden Blick, jede Kamerabewegung erotisch auf. Andererseits realisiert sich diese Erotik gerade in der unüberwindlichen Distanz des mechanischen Blicks, nicht in der Illusion einer direkten Berührung, einer körperlichen Übertragung. Die Kurzfilme des Regisseurs nähern sich gelegentlich dem Kitsch, der einfachen Übersetzung von Gefühl in ein geschmackvoll ausge-

leuchtetes, von der Kamera sanft aufgerolltes Triebbild-Panorama. Die Langfilme jedoch, insbesondere Broken Sky und Raging Sun, Raging Sky, zerdehnen das Begehren und den Schmerz fast ins Unendliche. Die Sexszenen selbst, gefilmt oft in Totalen, scheinen schon eine Ahnung vom Unheil zu enthalten, das ihnen unweigerlich folgt. Durchsetzt ist Hernández’ Werk von einer sehr grundsätzlichen Sprachskepsis. Alle drei Filme haben etwas von der Ästhetik des Stummfilms beibehalten, von dessen Art, Körper im Raum als unmittelbar bedeutungstragend zu inszenieren. Allerdings verbannt keiner der Filme das Wort vollständig. Stattdessen dissoziiert Hernández das verbale Zeichen von der sinnlichen Gegenwart der Bilder. Schon in Mil Nubes beginnt sich die Stimme von den Körpern zu lösen. Während Gerado durch die Straßen irrt, halluziniert er seinen Liebesrausch auf der Tonspur, aber das Sprechen kommt schon hier von außen. Das Begehren und seine symbolische Artikulation treten auseinander und die wenigen Worte, ohne die es dann eben doch nicht geht, sind eher die Worte des Mythos, als Kommunikationsmedium in der sozialen Gegenwart. In Broken Sky gibt es fast gar keine klassischen Dialoge mehr, fast gar keine Stimmen, die an Körper gebunden sind. Statt dessen wird die Leinwand in unregelmäßigen Abständen ganz weiß und eine Stimme aus dem Off, eine, die keinen Körper, nicht einmal eine Farbe hat, spricht ein paar Sätze über die beiden Liebenden, über ihre Entfremdung, über die Gefühle, die einen innerlich verbrennen, wenn sie nicht mehr erwidert werden. In Raging Sun, Raging Sky existiert Sprache neben der Realität, als Flüstern der Welt, als größtenteils undifferenziertes Raunen auf der Tonspur, das die Liebenden auf ihrem Weg durch den Film begleitet. Selten raunt da nur eine Stimme, meist sind es multiple, sie changieren zwischen materialisiertem Bewusstseinsstrom und Halluzination. Dieser völlig entfesselte und bislang intensivste Film des Mexikaners kippt im letzten Drittel vollständig ins sprachlos Mythische. Kahle Berge, rötlich-grün anstatt, wie vorher, schwarz-weiß leuchtende Bilder. Männerkörper, die noch mehr leuchten als zuvor, Schuppen aus Lehm, tribalistische Bemahlung, eine Priesterin. Hernández ist trotz der sperrigen Oberfläche der Filme kein Modernist. Sein Verzicht auf konventionelle Dramaturgie und den realistischen, an Körper und soziale Situationen gebundenen Gebrauch von Sprache dient nie einer kritischen Distanznahme, eher geht es um Intensivierung, um eine Annäherung an etwas, das entweder nicht mehr unmittelbar gegeben ist, oder zu unmittelbar für geläufigere Modi der Darstellung. Allgemeiner könnte man auch sagen: Seine Filme sind nicht queer im Sinne einer Neubearbeitung von Geschlechterrollen und Entgrenzung sexueller Zuschreibungen, sie suchen nicht die Ambivalenz, sondern eine Ästhetik des schwulen Begehrens (oder eine schwule Ästhetik des Begehrens?) in Reinform, ein Begehren eher diesseits als jenseits seiner Erzählbarkeit. Die Reduktion der Subjektivität auf das sexuelle Verlangen führt, das ist eines von vielen Wundern dieser wundervollen Filme, weder in deren Krise, noch in die Pornographie. s

Raging Sun, Raging Sky

von Julián Hernández MX 2009, 193 Minuten, DF+OmU

Latin Lovers Box

von Julián Hernández MX 2002–09, 437 Minuten, DF+OmU

Auf DVD

beide bei Pro-Fun Media, www.pro-fun.de

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dvd

Wiedersehen mit einem Killer von ja n k ü n em u n d

Das Kino von Claire Denis hat eine sehr spezifische Textur. Da es vor allem an Körpern klebt, ist es immer sexy. „Ich kann nicht schlafen“ von 1994 erscheint jetzt zum ersten Mal in Deutschland auf DVD. Hauptfigur ist ein schwuler Serienkiller, das war Mitte der 90er, als man die positiven, identitätsstiftenden Szenebilder satt hatte, durchaus nicht selten. Doch wie diese Figur eingewebt ist in eine Stadt und wie sie darin zum Tanzen gebracht wird, ist nach wie vor einzigartig. Eine Wiederentdeckung.

s Es ist eine Herausforderung, einen Text über seinen Lieblingsfilm zu schreiben. Oder, frei nach Manfred Salzgeber, „eines der schwierigsten von den schönen Dingen des Daseins“. Ich fange mal tautologisch an: Als ich eines Nachts Mitte der 1990er zum ersten Mal Ich kann nicht schlafen von Claire Denis gesehen habe, konnte ich danach nicht schlafen. Woran das genau lag, kann ich heute nicht mehr rekonstruieren – dem Film ist alles fremd, was auf eine Überwältigung, eine emotionale Manipulation des Zuschauers abzielt. Die großen Gefühle sind da, viele Figuren, die nicht ohne einander und nicht miteinander leben können, Liebe, Trennungen, sogar ein Serienkiller geht um. Doch das ist nur angedeutet, aufgehoben in Stimmungen und Atmosphären, in Songs, Tänzen, der Art und Weise, wie jemand eine Jacke anzieht, in den Blicken, mit denen die Außenseiter dieses Films begafft werden. 1993, im Jahr von Robert Altmans Short Cuts, erzählt der Film parallel die Tage und Nächte dreier Immigranten in Paris, die sich direkt und indirekt im 18. Arrondissement über den Weg laufen. Da ist eine junge Litauerin, die fährt am Anfang mit ihrem alten SowjetAuto in die aufwachende Stadt hinein und am Ende des Films aus der sich schlafen legenden wieder hinaus. Ihr Paris-Abenteuer beruht auf einem falschen Versprechen – sie ist der klassische Festivalflirt eines Theaterregisseurs, der unerwartet und ungewollt plötzlich zu Hause auf der Matte steht. Da der Theaterhimmel bleibt, wo er ist, kommt sie schließlich als Zimmermädchen im Hotel einer Bekannten ihrer Tante unter – aufgefangen vom noch halbwegs intakten Netzwerk der slawischen Immigrantengemeinschaft. Eines Nachts bemerkt sie in einem Café eine schöne rauchende Frau. Das ist Beatrice Dalle, die die Freundin eines Mannes aus Martinique spielt. Dieser Mann, Théo, ist Musiker und lässt sich als ‚schwarz‘ arbeitender Handwerker ausbeuten. Paris hat für ihn jeglichen Glanz verloren – in Momenten der Ruhe setzt er sich auf das Dach des Hochhauses, in dem er lebt, und sieht sich das 18. Arrondissement aus distanzierter Höhe an. Er will zurück in eine nur imaginierte Heimat – seine Familie lebt schon seit Generationen nicht mehr dort, aber Théo glaubt, dass das Leben auf Martinique besser ist als das hier. Unverständlich für Camille, die rätselhafteste und spannendste Figur in Ich kann nicht schlafen. Camille ist Théos Bruder, aber er hat 30

das Leben in Paris vollkommen adaptiert. Soweit man es als schwarzer Immigrant tun kann. Seinen aufwendigen Lebensstil kann er mit Drag-Performances allein nicht bestreiten. Also spielt sich das, was er dafür macht, nicht im warmen Dunkeln der Pariser Nächte ab, sondern im kalten Tageslicht der großstädtischen Anonymität. Camille wird gespielt von Richard Courcet. Kein professioneller Schauspieler. Nach einigen weiteren Auftritten in Claire Denis’ Filmen und einer weiteren Hauptrolle (Black Dju) war’s das wohl auch mit seiner Schauspielkarriere. Ein schöner junger Mann von der Straße, mit kurzen Dreadlocks und heller Stimme, vom Sozialarbeiter aufs Filmset geschickt, um einen schwarzen homosexuellen Transvestiten zu spielen, der mit Drogen dealt und alte Frauen umbringt. Nach historischem Vorbild: Der Fall des Thierry Paulin, Serienkiller, Eartha-Kitt-Impersonator, schwul, HIV-positiv, gestorben, bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte, beschäftigt die französische Skandalpresse bis heute. Camille im Film ist laut Selbstaussage „ein ganz normaler Typ“. Der Lieblingssohn seiner Mutter, ein stylishes Wesen in hippen Anzügen, Fotomodell einer Mapplethorpe-Epigonin, ein Nachtmensch in den Clubs, der schöne Junge beim Abendessen mit reichen Künstlern und Ärzten, ein Drag-Performer in kalten Bars, ein Liebhaber und fremder Bruder. Seine Morde begeht er nüchtern, brutal. Er braucht eben Geld – für Klamotten. Redet seine Mutter verzweifelt vom „Teufel“, den sie geboren hat, weist er auf seine teuren Anzüge hin, die sie nun haben könne. In einem Club trägt er eine schwarze Kappe mit Hörnern, die gab es Mitte der 1990er, ich glaube sie war von Jean-Paul Gaultier. Aber Camille ist auch ein Objekt der Begierde. Er wird angegafft, von Daiga, vom schwulen Publikum im Club, von den Polizisten auf der Straße. Eine Fotografin sagt zu ihm: „Dich bringe ich nur nackt unter“. In seinem Hotelzimmer hängen die Aktbilder von ihm. Auf einem Steckbrief der Polizei sein Konterfei. Es ist der Blick auf ihn, der klar ist – er selbst, sein Körper, seine Psyche, bleiben fremd und unerklärlich. Wo Psychologie fehlt, zählen die Stimmungen. Das ist in Ich kann nicht schlafen ganz präzise inszeniert – man hat eine genaue Orientierung im Tages- und Nachtrhythmus (es sind im Ganzen sechs aufeinander folgende Tage, mit den beiden Nächten davor und danach), jeder Figur ist eine Farbe zugeordnet (Camille blau, Théo rot), die Menschen hängen im Netz ungelöster Situationen, aus denen die ganze Stadt zu bestehen scheint. Gruppen von Einwanderern teilen sich eine Wohnung, alte Frauen sterben unbemerkt, da sich niemand um sie kümmert, Fremdenfeindlichkeit ist überall präsent, Frauen werden auf den Straßen und Theaterbühnen von Männern belästigt, rätselhafte Geräusche dringen aus den Wohnungen der so proper wirkenden Nachbarn, man reicht sich einen Zuckerstreuer und stellt später fest, dass man die Hand eines Mörders gestreift hat… Das Ganze ist ein Sound, eine Atmosphäre, ein Netz aus Zeichen im ständigen erregenden Austausch, aus Oberflächen, hinter denen wer weiß was lauert. Auf ihre Erinnerungen an die Dreharbeiten angesprochen, antwortet Claire Denis mit dem Hinweis auf die besondere Schwierigkeit, in Paris zu drehen: „Der Film gliederte sich in die Stadt ein, ohne Bewusstsein für das Dekorative, für die schönen Aussichten und typischen Paris-Bilder. Ich hatte Angst, von der Stadt vereinnahmt zu werden, von dem, was sie laufend als Bild ihrer selbst produziert. Ich hatte Angst, die physischen, die Sinnes-Eindrücke zu verpassen, um die es mir ging. Ich komme nicht aus Paris. Paris ist für mich keine Schachtel mit Erinnerungen. Mich lässt diese Stadt kalt, ich fühle mich fremd, sobald ich sie betrete.“ Die eingefangenen physischen Eindrücke der Stadt erzeugen eine aufgekratzte und eigene Atmosphäre des Erotischen in diesem Film. Körper, die an einander vorbei gleiten, Blicke, die einander kreuzen, flüchtige Aufregungen und Ablenkungen, Jagdgründe und CrusingAreale („Ich komme ein Stück mit“, sagt Théo zu Camille).


edition salzgeber (2)

dvd

Mona (Béatrice Dalle)

Erotisch sind die Filme von Claire Denis immer, weil sie an den Körpern hängen und mitgehen. Zum einzigen Mal bislang zeigt sie hier dezidiert schwule Erotik – obwohl sie auch einen der schönsten Filme über einen pubertierenden Jungen (Nénette et Bonie) und den vielleicht schärfsten Film über eine Männergruppe (Beau Travail) gedreht hat. Das Schwulsein in Ich kann nicht schlafen hat eine metaphorische Ebene (es passt zur urbanen Fremdheit, zur Außenseiterstudie, zum Thema der ‚gelösten Verbindungen‘ zu Heimat, Kultur, Familie) – aber auch eine konkrete, körperliche. Es erzählt den ausgestellten männlichen Körper, schutzlos und gewalttätig zugleich, objekthaft und narzisstisch mit sich selbst beschäftigt, begehrt und fremd. Man könnte versuchen, das Kino von Claire Denis auf den Punkt zu bringen, indem man die Tanz-Szenen aus ihren Filmen nacherzählt. Genauso wie es z.B. die Essens-Szenen bei Hitchcock und die Gesangs-Szenen bei Weerasethakul sind, in denen sich die Poesie ihres Werks in einzelnen Momenten verdichtet. Berühmt ist der Tanz des Fremdenlegionärs zu „The Rhythm of the Night“ in Beau Travail, der explodierende Denis Lavant in einer mit Spiegeln verkleideten DiscoHöhle. Oder die sich vor dem Regen in Sicherheit bringende Gruppe ineinander verliebter oder eben nicht verliebter Nachbarn im aktuellen Film 35 Rum, die im Tanz zum Commodores-Hit „Night Shift“ zerfließen. Körper, die sich einem Song hingeben. In Ich kann nicht schlafen gibt es vier Tanz-Szenen. Zwei Frauen tanzen miteinander zu „A Whiter Shade of Pale“ von Procol Harum. Die eine, Ninon, ist alt, hat das Leben schon hinter sich und erinnert sich durch die Musik an ihre wilde Zeit. Die andere, Daiga, ist jung, sie kennt das Lied gar nicht, sie hat noch alles vor sich. Beide Frauen sind betrunken und nehmen sich eine Auszeit vom Flirt mit den Männern. Währenddessen, nebenan, zu den gleichen Klängen der Musik, trennt sich das Männerpaar Camille und Raphael. Der Geburtstag von Camilles und Théos Mutter. Mit Ausnahme von Camilles Liebhaber sind alle Gäste schwarz, eine afrokaribische Diaspora. Zum Song „African Music“ („Rhythm avec Coca“) tanzt die Mutter mit ihren beiden Söhnen, von denen einer von einer Rückkehr zu seinen karibischen Wurzeln träumt, der andere längst in der westlichen Metropole angekommen ist. Was sie trennt, ist fundamental. Die Mutter tanzt mit beiden und

Camille (Richard Courcet)

es entsteht die Illusion einer zusammen haltenden Familie, buchstäblich. Théo steht mit der Gruppe Kali auf der Bühne. Sie spielen das Lied „Raçines“ („Wurzeln“). Im Club sind vor allem Immigranten, die miteinander die Sehnsucht nach der Heimat tanzen. Théo spielt ein Geigensolo und schließt die Augen. Er dreht sich leicht von der Kamera weg, er vergisst die Blicke, die auf ihm liegen (die einer schönen Frau zum Beispiel – oder die seines ihm fremden Bruders). Das Lied ist unendlich traurig. Camilles Auftritt im Gay Club. Er bewegt synchron, aber ohne einen Anflug von Imitation, die Lippen zu Jean-Louis Murats Song „Le Lien Defait“ („Die gelöste Verbindung“). Die Augen unzähliger Männer sind auf ihn gerichtet, auf ihn, halbnackt, in einem schwarzen Kleid, leicht geschminkt, mit langen schwarzen Handschuhen. Die Männer sitzen z.T. hinter Gittern über ihm, sind an Wände gelehnt, an denen er vorbei muss, es gibt keine Distanz. Camille schließt die Augen. Er verkörpert keine Drag Queen, er tanzt für sich. Seine Arme vollführen Gesten, die halb so aussehen, als ob sie etwas darstellen, und halb so, als würden sie den Körper schützen. Bei einer dieser Gesten verrutscht das Kleid und gibt den Blicken auf eine männliche, gleichwohl verletzliche Brust frei. („I approached the sequence like a sex scene“, erklärt Claire Denis.) Was die Körper im Tanz erzählen, ist im Gesagten der Dialoge nicht widergespiegelt. Auch die Texte der Songs erhalten nur getanzt Bedeutung. Ich kann nicht schlafen ist ein Film für die Nacht. Man muss nicht mit wachem Verstand der Geschichte folgen. Man braucht nur etwas Reizbarkeit. s

Ich kann nicht schlafen

von Claire Denis FR 1993, 106 Minuten, DF+OmU

Auf DVD

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Beau Travail

von Claire Denis FR 1999,90 Minuten, OF

Auf DVD als Import

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Leben an den Rändern von H a n no St e ch e r

rapid eye movies

Harmony Korine ist so was wie ein Rockstar unter den Filmemachern, was ihn in Zeiten der unterschiedlichen und global geförderten Arthouse-Hauptströme ziemlich einzigartig macht. Dass sein neuer Film Menschen beim Sexualverkehr mit Müll zeigt und sowohl auf VHS gedreht wurde wie auch im Kino gezeigt werden soll, bezeichnet die Grenzen dessen, was man dem Kinozuschauer heute zumuten kann. Wunderbarerweise ist „Trash Humpers“ momentan trotzdem in einigen deutschen Kinos zu sehen und gerade auf DVD erschienen. Ein kleines Porträt des Filmemachers.

Trash Humpers

von Harmony Korine US/GB 2009, 74 Minuten, engl. OF Rapid Eye Movies, www.rapideyemovies.de

Im Kino

Rapid Eye Movies, www.rapideyemovies.de

Mister Lonely

Julien Donkey-Boy

Gummo

von Harmony Korine US 2007, 112 Minuten, engl. OF

von Harmony Korine US 1999, 94 Minuten, engl. OF

von Harmony Korine US 1997, 89 Minuten, engl. OF

Auf DVD

Auf DVD

Auf DVD

als Import

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als Import

als Import

s Ein schlanker Junge mit rosafarbenen Hasenohren, er mag zwölf, dreizehn Jahre sein, sitzt bibbernd auf einer mit einem Maschendrahtzaun gesicherten Autobahnbrücke. Es regnet, der Junge trägt nur Shorts und schmutzige Turnschuhe, mit denen er Müll herum kickt. Er pinkelt von der Brücke, spuckt durch das Gitter, tritt dagegen, raucht. Wenig später wird er von zwei sehr viel kleineren aber ähnlich verwahrlosten Jungs in Cowboykostümen symbolisch mit Platzpastronenpistolen niedergeschossen. Er fällt zu Boden. „I don’t like fucking rabbits coming to my house!“, rufen die Jungs in krassem Südstaaten-Akzent, während sie sich wie Erwachsene in den Schritt greifen. „He looks like a queer rabbit!“ Sie zupfen noch ein wenig an dem wie tot daliegenden Jungen herum und gehen dann weg. Harmony Korines kleines Independent-Meisterwerk Gummo spielt an einen scheinbar gottverlassenen Fleck – einem Südstaaten-Dorf, das, so erzählt es uns ein junger Sprecher am Anfang des Films, von einem Tornado zerstört wurde. Schnell erfahren wir, dass es sich hier um einen Ort handelt, der zwar noch Spuren dessen aufweist, was wir „Zivilisation“ nennen, diese aber längst weit hinter sich gelassen hat und inzwischen nach eigenen Regeln funktioniert. Darüber hinaus wimmelt es hier vor seltsamer Gestalten, die alle auf ihre Art von gesellschaftlichen Normen abweichen. Da sind Figuren wie die beiden ziemlich verwahrlosten Jungs Tummler und Solomon, die ihre Tage mit dem Jagen und Quälen von Katzen verbringen. Da sind zwei Skinhead-Brüder, die sich vor Langeweile gegenseitig verprügeln. Oder die wasserstoffblonden Schwestern Helen und Dot (gespielt von Chloë Sevigny), die ihre Tage damit verbringen, sich aufzuhübschen und über Jungs zu reden. Dabei schont Korine nichts und niemanden: nach und nach macht er klar, dass in Gummo auch noch „selbst die teilnahmsloseste, niedlichste Figur (…) beschädigt“ ist, wie der vor kurzem verstorbene Autor Martin Büsser in seinem Korine-Text 2005 in der Testcard bemerkt hat. Stattdessen gelingen Korine insbesondere durch seine Zusammenarbeit mit (teilweise körperlich oder geistig versehrten) Laiendarstellern verstörende Bilder, bei denen man sich oft nicht recht entscheiden kann, ob man sie nun authentisch oder vollkommen surreal finden soll. Kein Wunder, dass der Film bei seinem Erscheinen 1997 einen kleinen Skandal verursacht hat. Korine wurde vorgeworfen, eine Art „moderne Freakshow“ fabriziert zu haben, die ihre


Darsteller letztlich ausbeute. Eine Kritik, die auch seine späteren Filme wie Julien Donkey Boy, den einzigen amerikanischen DogmaFilm mit einer Gastrolle von Werner Herzog, und Mister Lonely, ein durchgeknalltes und zugleich romantisches Portrait eines MichaelJackson-Imitatoren, traf. Doch derartige Kritik greift klar zu kurz, versteht sich doch Korine auch selbst als Freak, als Außenseiter. Nach langjährigem Drogenentzug und gleich zwei Wohnungsbränden in den vergangenen zehn Jahren (bei denen er jeweils seinen kompletten Hausstand verlor), lebt er heute wieder in seiner Heimatstadt Nashville – fern ab von der amerikanischen Filmindustrie, die ihre Vereinnahmungsversuche ihm gegenüber längst aufgegeben hat; und fern ab von den Journalisten, die oft mehr Spaß daran finden, ihn zu einer Art Enfant Terrible des amerikanischen Independent-Kinos hochzustilisieren, als ihn als ernstzunehmenden Filmemacher zu begreifen. Was insbesondere daran liegen mag, dass Korine nie auf „Sozial­ kino“ gemacht hat und sich bei seiner Beschäftigung mit gesellschaftlichem Außenseitertum nicht moralisch positioniert. Was ihm insbesondere im Zusammenhang mit seinen Drehbüchern für Kids und Ken Park, den beiden Filmen des Fotografen und Filmemachers Larry Clark, von konservativer Seite aus immer wieder angekreidet wurde. Kids ist 1995 erschienen, da war Korine gerade mal 18, Ken Park erschien zwar 2002, das Buch stammt aber aus der gleichen Zeit. Durch seine Bücher wurde Korine zum Bindeglied zwischen den weißen, männlichen Streetkids der Unter- und Mittelschicht, für die Clark seit jeher eine starke Obsession pflegt, und der Welt des Filmemachens. Er lieferte Clark einen lockeren narrativen Rahmen, der es ihm ermöglichte, insbesondere die Sexualität adoleszenter Jugendlicher (sein Lieblingsthema) und deren sexuelle Identitätsfindung aus ihrer eigenen Perspektive zu beleuchten. Sex wird dabei in beiden Filmen als etwas letztlich Grundnaives dargestellt, das noch nicht den Deutungsmustern der Erwachsenenwelt unterliegt und sich deren Disziplinierungsmacht (noch) entzieht. Etwas, das letztlich keine Regeln kennt. Gepaart mit Clarks homoerotischer Inszenierung der Jugendlichen haftet beiden Filme dabei eine nicht von der Hand zu weisende „Queerness“ an, die sich allerdings nur aus dem Subtext der Filme ergibt und letztlich unausgesprochen bleibt. Was übrigens eher an Clarks Problemen mit seiner eigenen Sexualität denn an Korine liegen dürfte. Denn der wird in seinen eigenen Filme konkreter, vor allem in Gummo. Hier ist es der Filmemacher sogar selbst, der als völlig besoffener White-Trash-Boy einem schwarzen, kleinwüchsigen Kumpel seine tragische Lebensgeschichte erzählt. Als sich sein Gesprächspartner ihm gegenüber in diesem Zusammenhang als schwul outet, versucht Korines Filmfigur, sich an ihn heranzumachen, wird jedoch zurückgewiesen. Szenen wie diese zeigen, dass sich Korine „queere Themen“ zwar nicht unbedingt auf die Fahne geschrieben hat, sie jedoch stets in seiner Arbeit mitdenkt, als Teil einer größeren Darstellung des Lebens an den Rändern der Gesellschaft. Damit gelingt in den „queeren Momenten“ seiner Filme etwas, was man sonst gerade im queeren Film vermisst: eine glaubhafte Verschränkung von sexueller Identität mit anderen Formen von Diskriminierung und Außenseitertum. Das dürfte der Grund sein, warum er auch gerade bei queeren Künstlern und Filmemachern eine fast schon kultgleiche Verehrung findet. Auch Korines neuester Film Trash Humpers hat bei genauerem Hinsehen den einen oder anderen dieser „queeren Momente“. Für den komplett auf VHS gedrehte Experimental-Streifen hat sich Korine zusammen mit zwei Schauspielern wochenlang an der Stadtgrenze seiner Heimatstadt Nashville herumgetrieben. Verkleidet mit prolligen Jogginganzügen und Greisen-Masken lassen sie dabei die Grenze zwischen sich selbst als realen Personen und den von ihnen dargestellten Filmfiguren verschwimmen und tun dabei Dinge, die sonst nur gelangweilte Teenager tun: Rumhängen,

rapid eye movies (2)

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Dinge kaputt schlagen, sexistische Witze machen. Aufgenommen wurde das alles mit billigen VHS-Kameras, was dem ohnehin schon durch und durch destruktiven Film eine düstere und zugleich sehr authentische Note verleiht. Die Streuner treffen auf allerlei seltsame Outlaws – durchweg Bekannte aus Korines direkter Nachbarschaft. Alle sind das, was man gemeinhin „gescheiterte Existenzen“ nennt. Korine zeigt sie in ihren meist verwahrlosten Behausungen und portraitiert sie dabei fast beiläufig und frei von jeglichem Pathos. Dabei lässt er allerdings keine Zweifel daran aufkommen, dass diese Menschen trotz ihrer „Beschädigungen“ ein selbstbestimmtes Leben leben, auch wenn sie anderswo als Freaks, als Hilfsbedürftige gelten mögen. Zu den Höhepunkten des sich teilweise bis zur Unerträglichkeit wiederholenden Films gehört dabei der nächtliche Auftritt eines langhaarigen blonden Mannes, der mit Make-Up im Gesicht und ein schwarzes Kleid tragend einen längeren Monolog verliest. Der Text ist eine Art Abgesang auf die weiße Mittelschicht und zugleich ein Manifest für das „Trash Humping“, das Ficken von Müll, das zu den Hauptaktivitäten der Filmfiguren gehört. Es ist einer der wenigen Momente, in welchen Korine einen größeren Zusammenhang eröffnet und das privilegierte Leben innerhalb bestehender Normen jenem Leben an den Rändern gegenüberstellt, das seine Filmfiguren leben. Fast wirkt es dabei so, als wolle er seinen Kritiker entgegen kommen und ihnen deutlich machen, dass seine Filme immer über die bloße Darstellung unangepassten Lebens hinausweist. Nötig gewesen wäre das nicht, liegt doch seine Stärke gerade darin, Orte und Menschen zu ergründen, die in der etablierten Filmindustrie keinen Platz haben. Diese im selben Augenblick in ihrer Prekarität wie auch in ihrer Schönheit zu zeigen, ist ein Verdienst, für das Korine leider bis heute viel zu wenig Wertschätzung erfahren hat. Doch vielleicht liegt das einfach in der Natur der Sache. s 33


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„Tá“ (Felipe Sholl)

„Kostbare Augenblicke“ (Lars Daniel Krutzkoff Jacobsen, Jan Dalchow)

Kurz? Ausgezeichnet! von Di no H eick e r

Eine Sammlung von Kurzfilm-Teddy-Gewinnern aus 25 Jahren in chronologischer Reihenfolge durchzusehen ist ein Ritt durch Film- und Zeitgeschichte. Gibt es Themen, die bleiben? Gibt es Entwicklungen? Enthüllt sich da mehr als nur ein Parcours disparater Einblicke, Themen und Filmsprachen? Unser SISSY-Autor nahm die aktuelle DVD-Veröffentlichung der Teddy-Kurzfilme zum 25. Geburtstag des Queer Film Awards der Berlinale zum Ausgangspunkt eines Selbstversuchs mit Popcorn, Cola und Magenbitter.

s Kurz und queer. Was für eine putzige Kombination, denke ich, als ich die erste von zwei DVDs mit dem etwas sperrigen Titel 25. Teddy Award. Der queere Filmpreis der Berlinale. Die Kurzfilme ihrer Bestimmung zuführe. Ja, seit Anbeginn der Verleihung des „Teddys“ wurden stets auch die kürzeren Streifen bedacht, zum ersten Mal 1987 Gus Van Sants Five Ways to Kill Yourself und My New Friend. Um lesbische, schwule und trans*-Kurzfilme aus den vergangenen fünfundzwanzig Jahren handelt es sich also, samt und sonders mit einem Teddy gekürt. Na, dann schauen wir doch mal. Gut fünfeinhalb Stunden später (und dem Popcornkoma gefährlich nahe) beende ich den Selbstversuch. Insgesamt habe ich 21 Filme aus zwölf verschiedenen Ländern gesehen. Sieben der Filme stammten aus den Vereinigten Staaten, drei aus England, zwei aus Deutschland und je einer aus Australien, Brasilien, Finnland, Frankreich, Kanada, Norwegen sowie Spanien. Hinzu kamen noch eine Gemeinschaftsproduktion Argentiniens und der USA sowie eine Zusammenarbeit von USA und Schweiz. Entstanden sind diese 4 bis 35 Minuten langen Filme im Zeitraum von 1987 bis 2009. Die Bandbreite ist enorm: Sex mit einem Minderjährigen und Eierstockkrebs zählen neben vielen anderen zu den behandelten Themen – Lebenslust und Todesangst auf engstem Raum. Und was bewegt die schwule Welt sonst noch so? Aids, Coming-Out und Diana Ross (die Reihenfolge kann beliebig variiert werden). Im Gegensatz dazu sorgen in lesbischer Hinsicht Brüste, Pfeffermühlen und Pferde für leuchtende Augen vor dem Bildschirm. 34

Ebenso vielfältig wie die Themen sind die filmischen Mittel, die zur Anwendung kommen. Neben klassisch erzählten Handlungsfilmen in Schwarzweiß und Farbe, mit und ohne Ton, gibt es experimentelle Filmkunst, eine Tanzchoreografie in Stop-Motion-Technik, ein Minimusical, aber auch einen Zeichentrickfilm. Kurz gesagt, hier bleibt keine ästhetische Möglichkeit ungenutzt, um die queere Wahrnehmung zu schärfen. Da putzt sich der Rezensent verdutzt die Brille und pickt aufs Geratewohl einen Film heraus. Tá, Brasilien 2007, fünf Minuten, Regie Felipe Sholl: Zwei Jungs koksen auf einer öffentlichen Toilette. „Fühlst du schon was?“, fragt der eine seinen Kumpel. Nein, aber er habe einen Ständer. Das Angebot, sich einen blasen zu lassen, nimmt der junge Mann bereitwillig an. Doch wieder spürt er nichts, also rasch noch eine Nase voll Koks. „Willst du mir einen Finger im Arsch stecken?“, fragt er daraufhin. Doch auch der Finger im Hintern lässt ihn kalt. Also wird die nächste Line gezogen. Vielleicht, druckst der Jüngling nun herum, vielleicht könne man ja … Doch er will nicht so recht mit der Sprache heraus. Erst als der andere insistiert, fasst er sich ein Herz. „Wie wäre es, wenn wir uns küssen?“ Das scheint ein Tabu zu streifen, denn sein Gegenüber überlegt länger, bevor er einwilligt: „Tá“ – Okay. Und nun springt der Funke endlich doch noch über und es wird nach Herzenslust geknutscht, wie der neiderfüllte Zuschauer auch zum Abspann noch als entsprechende Geräuschkulisse vernehmen kann. Die Pointe des Films: Der einzig wirklich erotische Moment in dem insgesamt sexuell stark aufgeladenen Film ist


edition salzgeber (4)

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„A Horse Is Not a Metaphor“ (Barbara Hammer)

„On qué la lavaré“ (Mariá Trénor)

der vergleichsweise unschuldige Kuss. Auch so kann man die Kritik am gegenwärtigen gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität formulieren. Ganz anders verfährt der spanische Animationsfilm On qué la lavaré aus dem Jahr 2003. Darin kehrt ein Mann in Minirock und Stöckelschuhen einsam im Morgengrauen heim und schminkt sich ab. Noch einmal gehen ihm Bilder der vergangenen Nacht durch den Kopf: der schwitzende Freier im Auto, die Bar mit den anderen schrillen Tunten auf dem Sofa und dem Macker an der Bar, der blonde Engel, der sich in das Etablissement verirrt und mit dem Macho abzieht, und wie er die beiden beim Quickie im nächtlichen Park beobachtet, Tränen in den Augen. Wer sich hier an Jean Genets Roman „Notre-Damedes-Fleurs“ erinnert fühlt, liegt durchaus nicht falsch. Dabei kommt der 10-minütige Film von Mariá Trénor ganz ohne Dialoge aus. Es wurde ihm jedoch eine einzigartige Musik unterlegt: Montserrat Figueras singt, von ihrem Gatten Jordi Savall auf der Gambe begleitet, jenes melancholische Renaissancelied aus dem Liederbuch des Herzogs von Kalabrien, das dem Film den Titel gibt: „Womit soll ich sie waschen / Die Haut meines Gesichts? / Womit soll ich sie waschen? / Mein Leben ist so betrübt.“ Und als wäre das an sich nicht schon camp genug, zitiert der Film auch noch eine Reihe der kitschig-bunten Bilder des französischen Künstlerduos Pierre et Gilles, die zu Leben erwachen und Stimmen im Chor des Liedes übernehmen. À propos camp, in ihren viel zitierten Anmerkungen zu diesem Thema hat Susan Sontag Genets Roman ausdrücklich nicht in ihren darin erstellten Kanon aufgenommen, da ihr dessen Stil schlicht zu gehoben war. Wenn Mariá Trénor nun die Geschichte einerseits in das ‚irreale‘ Medium des Zeichentricks überträgt und andererseits noch Bilder schwuler Ikonen wie Jean Cocteau, Tom of Finland und Rainer Werner Fassbinder integriert, dann ist das Resultat eben jener homosexuelle Ästhetizismus und jene Ironie, die Sontag in Anschluss an Christopher Isherwood als konstituierend für das Konzept „camp“ ansieht. Sicherlich einer der stärksten Filme auf den beiden DVDs ist Barbara Hammers A Horse Is Not a Metaphor. Auch hier wird man quasi mit der Nase auf Susan Sontag gestoßen. Allein schon der Titel des Films spielt mit einer gehörigen Portion Ironie auf Sontags Buch „Illness as Metaphor“ von 1978 an. Sontag, damals an Brustkrebs erkrankt, vertrat darin die Ansicht, die Gesellschaft werte eine Krankheit wie Krebs als Ausdruck einer Verdrängung von Gefühlen. Sie meinte, fasse man Krankheiten solcherart als Metapher auf, brächte dies Patienten wirksam zum Verstummen. G enau dagegen wehrt sich Barbara Hammer. In ebenso verstörenden wie anrührenden 30 Minuten präsentiert die Regisseurin,

die zugleich ihre eigene Hauptdarstellerin ist, eine künstlerisch überhöhte Darstellung der Behandlungsschritte ihrer Chemotherapie. In Mehrfachüberblendungen, unterlegt mit der alles andere als einfachen Musik von Meredith Monk, wird der versehrte Leib der 70-Jährigen in den Blick genommen, ihre Leiden auf der Behandlungscouch sowie ihre vitale Freude an Pferden. O-Ton: „Wenn du auf einem Pferd sitzt, ist das alles, woran du denkst, es ist die absolute Meditation.“ So so, denkt der Betrachter, der sich gar nicht sicher ist, ob für ihn das Glück der Erde auch auf dem Rücken dieser Tiere liegt. Gewiss wohl dann nicht, wenn die Regisseurin und Hauptdarstellerin die Kamera beim Reiten selbst in der Hand hält. Da frage ich mich doch ernsthaft, ob man auch auf Pferden seekrank werden kann. Je länger ich der wackelnden Handkamera durch die Wüste folge, desto schwindliger wird mir. Höchste Zeit, die Cola gegen etwas Magenfreundlicheres einzutauschen. Doch insgesamt ist die Wirkung von Hammers Film eine sehr positive. Ihre starken und sehr persönlichen Bilder bleiben lange im Gedächtnis, und diese Bestandsaufnahme eines bedrohten Lebens thematisiert eben auch ganz selbstverständlich und unangestrengt ein Lesbisch-Sein. Dass diese Pionierin des queeren Kinos auch 2011 ihre beiden jüngsten Filme auf der Berlinale vorgestellt hat und dafür wieder den Kurzfilm-Teddy erhielt, sei hier am Rande erwähnt. Und was bleibt dem mit Kurzfilmen nun geradezu gemästeten Begutachter abschließend noch zu sagen? Vielleicht, dass der abwechslungsreiche Parcours durch fünfundzwanzig Jahre queeren Filmschaffens von bestimmten Themen ganz besonders geprägt wird: von dem Aufbegehren gegen eine heterosexuelle Majorität beziehungsweise von dem Widerstand, den diese einer anders gearteten sexuellen Orientierung entgegenbringt, von der Lust und dem Frust mit Sex und Liebe, von der Angst vor dem Sterben. Vielleicht aber auch nur, dass er einen jeden der Filme auf seine Art ausgezeichnet fand. s

25. Teddy-Award · Der queere Filmpreis der Berlinale – Die Kurzfilme 1987–2009, 315 Minuten, OF+OmU

Auf DVD

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

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profil

Zurück zum Wir-Gefühl von T obi a s R ausch e r

Kinos müssen manchmal überredet werden, von der Lokalpresse wird man ignoriert, das Publikum möchte doch lieber Mainstream sehen und die Freunde verstehen nicht, warum man sich für andere so aufreibt. Queer Cinema zu präsentieren ist manchmal Einzelkämpferarbeit. Warum es trotzdem wichtig ist, schwule Kinoprogramme zu organisieren, wissen drei Männer, die dafür kämpfen, dass Filme-Sehen ein Gemeinschaftserlebnis bleibt.

Icestorm Entertainment

s Warum noch ins Kino gehen? Blickt man zurück auf die letzten Jahrzehnte Mediengeschichte und sieht sich die aktuelle Verfügbarkeit von Filmen auf allen Kanälen an, kommt einem das Kino wie ein anachronistisches Relikt vor. Das betrifft auch das, was die Sissy so schön als „nicht-heterosexuellen Film“ bezeichnet. Konnte man früher oft nur in Kinos und auf Festivals schwule oder lesbische Filme sehen, hat sich die Situation mittlerweile grundlegend verändert. Wer im 21. Jahrhundert aufwächst, braucht sein Haus nicht mehr zu verlassen, um die Geschichten von Coming-Out und Emanzipation, Diskriminierung und erster Liebe erzählt zu bekommen. Das Streaming-Portal Maxdome zum Beispiel verzeichnet unter dem Stichwort „queer“ allein 223 Einträge, videoload.de schafft es mit „schwul“ auf ganze 334 Titel. Von illegalen Downloads ganz zu schweigen. Schon zu Beginn der 1980er erweiterte die VHS-Kassette die Verbreitungsmöglichkeiten von Filmen, die DVD brachte Mitte der 90er die Originalversionen in die Städte und heute ist das Internet zur alternativlosen Multimediaplattform gewachsen. Warum also noch ins Kino gehen? eil das Internet vieles kaputt macht, antwortet Martin Wolkner darauf. Er beobachtet seit einigen Jahren, dass DatingPlattformen wie Gayromeo nicht nur das Potential haben, Menschen zusammenzubringen, sondern auch dazu führen, dass die Leute lieber zu Hause vor ihrem Computer sitzen, anstatt sich in Cafés und Bars zu treffen. Das gleiche lässt sich über gemeinsames Filmegucken sagen. Wo eine schwul-lesbische „Community“ sich wenigstens noch durch gemeinsames, örtlich gebundenes Erleben und Zusammensein auszeichnet, bietet die „Online-Community“ überhaupt keinen direkten Kontakt mehr. Martin Wolkner wollte etwas unternehmen, gegen die „eingefahrenen Strukturen“ in der Szene im Ruhrpott und gegen die zunehmende Tendenz, dass Leute die virtuelle Isolation einem gemeinsamen Filmabend vorziehen. Seit 2009 organisiert er die Filmreihe „homochrom“ in fünf Städten im Ruhrgebiet und erzählt enthusiastisch von der ersten Vorführung. Er hatte sich für Coming Out entschieden, den mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten DDR-Film über einen heterosexuell lebenden Lehrer, der sich seiner verdrängten Homosexualität bewusst wird. Wolkner hatte den Film alleine zu Hause gesehen und empfand die Geschichte als sehr ernsthaft und melancholisch und war gespannt, wie das Publikum darauf reagieren würde. Als dann etwa 50 Besucher zur Vorstellung kamen, passierte etwas, was nur im Kino passieren kann und Wolkner sehr berührte: Die Zuschauer kommentierten schon in den ersten Minuten enthusiastisch und teilweise belustigt Frisuren und Moden der damaligen 36

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Oben: „Coming Out“ (Heiner Carow 1989); unten: „Blue“ (Derek Jarman 1993)

Zeit und der an sich ernste Film wurde zu einem fröhlichen und ausgelassenen Gruppenerlebnis. „Zusammen Filme zu gucken ist schöner als alleine“, resümiert Wolkner mit einigem Understatement. Seitdem zeigt der junge Mann, der Anglistik, Germanistik und Film- und Fernsehwissenschaft studiert hat, einmal im Monat in kleinen Kunstfilmkinos in Dortmund, Düsseldorf, Bochum, Köln und Oberhausen Filme von Der Zauberer von Oz über Lola + Bilidikid bis I Killed My Mother. Dadurch, dass derselbe Film in fünf Städten gezeigt wird, kann Wolkner die Verleihgebühren gering halten, verdient an der Filmreihe selbst allerdings keinen Cent und arbeitet


profil

freiberuflich als Autor, unter anderem für das Portal cineclub.de. Von der Programmierung bis zur Pressearbeit macht er bei homochrom alles selbst, nur bei der Grafik für Flyer und Homepage bekommt er Unterstützung von Freunden. Viel Idealismus und eine große Liebe zum Kino sind Wolkners Motoren, die ihn bei seiner Arbeit aber nicht vor Ernüchterung und gelegentlichen Frustrationen schützen. So berichtet er, dass er im letzten Sommer kurz davor war, „alles hinzuschmeißen“, als wetter- und Fußball-WM-bedingt die Zuschauer ausblieben, die Unterstützung der lokalen Presse zudem gering ausfiel, und es außerdem Kommunikationsschwierigkeiten mit einem Kino und einem Verleiher gab. Trotzdem kämpft Wolkner weiter dafür, durch das soziale Erlebnis Kino ein „Wir-Gefühl“ zu erhalten, das seiner Meinung nach immer mehr zersplittert. Für ihn geht es darum, „gemeinsam Emotionen zu erleben“.

MÄRZ 2011

Sascha von Dennis Todorovic

APRIL 2011

Stadt Land Fluss von Benjamin Cantu

Ä

hnlich sieht es Thomas Goersch aus Stuttgart. Der gelernte Bankkaufmann wollte nach zehn Jahren aus seinem „bürgerlichen Beruf“ ausbrechen und hat sich voll und ganz dem Film verMAI 2011 schreiben. „Kino ist der Ursprung aller erzählten Geschichten“, sagt Goersch, der jetzt als Schauspieler arbeitet und zusätzlich ehrenamtlich Arbeiten bei regionalen schwulen Medien wie „SchwulstTV“ von Gregg Araki oder „SchwulFunk“ gemacht hat. „SchwulstTV“, das von Goersch gegründet wurde, ist ein kostenloses Onlineportal, auf dem man neben Infosendungen auch unabhängig produzierte schwul-lesbische Serien ansehen kann. Eine schöne Ergänzung zum Kino, aber kein Eine Veranstaltung von CinemaxX und der Edition Salzgeber mit freundlicher Unterstützung durch DU & ICH und GAY-PARSHIP Ersatz. Goersch geht es politisch darum, neue Bilder von Schwulen und Lesben zeigen zu können, jenseits von Quotenfiguren in Mainstream-Produktionen und jenseits schwuler Pornowelten. Filmfan ist Goersch, seit er denken kann, aber erst mit Beginn der von ihm moderierten Gay-Filmnacht in Stuttgart begann er sich intensiver mit schwulen Filmen zu beschäftigen. Die Gay-Filmnacht findet seit Oktober 2008 monatlich in 15 verschiedenen Kinos in Deutschland statt und geht auf eine Kooperation von Salzgeber und der CinemaxX-Kette zurück. Obwohl es vor allem die Multiplexe sind, GNACHT_sissy_1101_103x138.indd 1 die gerade in Kleinstädten für ein massenhaftes Sterben der ArthausKinos gesorgt haben, ist die Gay-Filmnacht in Städten wie Oldenburg oder Magdeburg die einzige Chance für viele Menschen, regelmäßig und gemeinsam schwule Filme im Kino zu sehen. Die Filmnacht in Stuttgart ist dabei die besucherstärkste außerhalb Berlins, was Thomas Goersch dazu motivierte, ein eigenes schwul-lesbisches Filmfestival auf die Beine zu stellen. Immerhin gilt Süddeutschland diesbezüglich als Vorreiter: Bereits 1984 fand in Würzburg eines der ersten schwulen Filmfeste Deutschlands überhaupt statt und seit 1985 gibt es in Freiburg ohne Unterbrechung jährlich die Schwule Filmwoche. Aber wie so oft scheiterte das ambitionierte Projekt am Geld. Goersch, der neben der Schauspielerei noch andere Jobs machen muss, um sich finanziell über Wasser zu halten, konnte das Geld für Saalbelegung und Filmkopien nicht vorstrecken und wurde von den zuständigen Förderanstalten im Stich gelassen. Nachdem es mit „SchwulstTV“ zu Meinungsverschiedenheiten kam, gab Thomas Goersch auch hier seine Ämter ab. Zuvor hatte er im Rahmen der Gay-Filmnacht Beiträge mit Regisseuren und Darstellern für den Online-Kanal produziert. Die Stuttgarter Filmnacht bezeichnet Goersch als „Kino am Rande des Events“. Die „Hochstimmung“ und das große Publikumsinteresse sind für ihn das Wichtigste an solchen Abenden. Das Kino ist für ihn auch eine einmalige Chance, gemeinsam Film zu erleben und Reaktionen zu teilen. Der dunkle Saal, die fehlenden Ablenkungen und die Ruhe sind für Goersch das Entscheidende: „Im Kino konzentriert sich alles auf den Film, man genießt den Augenblick.“

u einem Sehnsuchts- und Traumort ist das Kino auch für den Brandenburger Manuel Schubert geworden. Aber auch er weiß von internen Streitigkeiten zu berichten, die in seinem Fall allerdings wesentlich fruchtbarer endeten. Nachdem der aus Landesmitteln 37

23.02.2011 16:1

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WIR SIND DABEI!

Kaboom


Martin Wolkner

Thomas Goersch

geförderte CSD Brandenburg von Ort zu Ort gezogen, aber nie fest in den einzelnen Städten verankert war, entschloss sich Schubert, zusammen mit Freunden den CSD Potsdam zu gründen, und half mit, das kulturelle Angebot um Gottesdienste, Ausstellungen und Filmvorführungen zu erweitern. Dies entstand im Fahrwasser des Potsdamer Queensday, der „größten Tunten-Transgender-Trash-Open-AirShow Bandenburgs2 (Selbstdarstellung der Homepage). Es entstand eine Kooperation mit dem Filmmuseum Potsdam und 2008 kuratierte Manuel Schubert das, was er selbst als „kleine Abendvorstellung mit Null-Budget“ beschreibt: die erste Schwule Filmnacht Potsdam, die passender Weise das Thema „Streit!“ hatte. Das erste Filmprogramm bestand aus Rosa von Praunheims Klassiker Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt, dem Surferdrama Tan Lines und François Ozons Camp-Musical 8 Frauen. Auf die Frage, wann für ihn ein Film denn „schwul“ sei, antwortet Schubert mit drei einfachen Kriterien. Entweder wurde der Film vom einem nicht-heterosexuellen Regisseur gemacht, behandelt ein nicht-heterosexuelles Thema oder er zeigt nicht-heterosexuelle Figuren. Die erste Filmnacht war mit 120 Besuchern ein Erfolg und Schuberts Sprung ins kalte Wasser ein Wagnis, das sich gelohnt hatte. 2009 war das Leitthema der Filmnacht „Mütter, Väter, schwule Söhne“ und 2010 ging es um die Zahl „drei“ und ihre Bedeutungen in queeren Kontexten. Auf die Frage, weshalb er die Filmreihe mache, sagt Schubert, er wolle Gedanken anstoßen und Sichtweisen ändern und letztlich natürlich das mangelnde Kulturangebot der Provinz Potsdam für Schwule und Lesben attraktiver machen. Die von ihm programmierten Filme sind selten gefällige Publikumslieblinge oder schwule Unterhaltung. Als er zum Welt-Aids-Tag in der neuen Filmreihe „Celluloid Against Aids“ Derek Jarmans Blue zeigte, war sein Publikum sichtlich überrascht und teilweise überfordert von einem Experimentalfilm, der anderthalb Stunden „nur“ eine blaue Leinwand und Stimmen aus dem Off präsentiert. Anders als Martin Wolkner im Ruhrgebiet schafft es Manuel Schubert in Potsdam schon rein zeitlich nicht, bei den Vorführungen selbst dabei zu sein und bekommt somit die Zuschauerreaktionen nur nach dem Film mit. Überraschenderweise zieht es aber gerade viele ältere Potsdamer Schwule ins Kino, die das Filmangebot dankbar annehmen und keine Lust haben, für einen Kinobesuch nach Berlin zu fahren. Manuel Schuberts Eigenbeschreibungen rei38

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profil

Manuel Schubert, Plakat der Schwulen Filmnacht Potsdam (2010)

chen von „Cineast“ bis „Filmfreak“, auch er verdient keinerlei Geld an seiner Filmarbeit, lebt von Transferleistungen und Aushilfsjobs, wenn er nicht gerade für seinen Blog filmanzeiger.de Rezensionen verfasst. Anders als Martin Wolkner und Thomas Goersch ist Manuel Schubert vor aber allem über das Fernsehen sozialisiert worden, bis er seine Liebe zum Kino entdeckte. In einem dunklen Raum an eine große Leinwand gefesselt zu sein beschreibt Schubert als „positive Gefangenschaft“. Das Schönste ist es für ihn, wenn Kino wieder zum Massenort wird und viele Menschen gemeinsam für eine bestimmte Zeit das Gleiche erleben. Die „einzigartige Fokussierung auf eine Geschichte“ gibt es für Schubert weder zu Hause am eigenen Laptop noch am Fernseher. Gerade der Charme des Orts mit seinen oft alten Sitzen, teilweise antiquierten Einrichtungen und einer Innenausstattung aus vergangenen Jahrzehnten kann für ihn kein Heimkino ersetzen. Hätte Schubert etwas Geld, würde er seine Filmreihe in anderen Städten Brandenburgs weiterführen.

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o unterschiedlich die drei Filmvermittler Schubert, Goersch und Wolkner in ihren Biografien und Temperamenten auch sind, vereint sie ein großer Idealismus und eine fast existentielle Liebe zum Kino im Allgemeinen und zum schwulen Kino im Besonderen. Alle drei hadern mit der Finanzierung und alle drei machen trotzdem irgendwie weiter, weil sie wissen, weshalb sich der Weg ins Kino lohnt. Denn DVD und Streaming und Internet zum Trotz wird es immer wichtiger, ein Zeichen zu setzen, in und gegen eine(r) Zeit, in der wir scheinbar immer mehr machen können, aber dabei immer häufiger allein bleiben. Es lohnt sich weiterhin, für das Kino, für ein Wir-Gefühl und für eine Gemeinsamkeit zu kämpfen, die vielleicht vorbei ist, wenn das Licht wieder angeht, aber durch keine technische und mediale Neuerung jemals ersetzt werden kann. s www.homochrom.de www.cineclub.de www.thomasgoersch.de www.schwulst.de/tv www.filmanzeiger.de www.schwulefilmnacht.blogspot.com www.celluloidagainstaids.blogspot.com


wir verreisen

Auf Stromlinie von A n dr é W en dl e r

Weil im Berlinaleprogramm traditionell viele Queerfilme laufen, hat SISSY einen Autor hingeschickt. Abseits von den Partys, Outdoor-Teppichen und Preisverleihungen hat er vor allem eines gemacht: sich ins Kino gesetzt. Hier sein Fazit zum Festivalauftritt des Queer Cinema.

keit zelebrieren, neue Kategorien erfinden und Akzeptanz einfordern statt um Mitleid zu bitten. Entsprechend unterschiedlich sind ihre Herangehensweisen. Sie lassen bewusst Dokumentarfilm und fiktionalen Film aufeinandertreffen wie Stadt Land Fluss, suchen sich Themen und Protagonist_innen, die in keine Schublade passen wie The Ballad of Genesis und Lady Jaye (ist das ein Biopic über zwei Künstler_innen oder eine Doku über Industrial?), sie suchen Geschichten,

Bruce LaBruce, der eher Filme der anderen Art macht. Meine eigenen Präferenzen sind klar: Ich sehe tausendmal lieber einen Film, der mich überfordert, herausfordert und am Ende vielleicht abstößt, als mir den hundertsten stromlinienförmigen Streifen anzuschauen, bei dem ich am Anfang schon weiß, was den armen Unterdrückten am Ende passieren wird. Dass sich diese unterschiedlichen Konzeptionen queeren Kinos gegenüberstehen, zeigt mir aber vor allem

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s Auf der diesjährigen Berlinale liefen mehr als vierzig Filme mit mehr oder weniger queeren Inhalten. Das sind ungefähr zehn Prozent aller gezeigten Filme. Was würde man über queeres Leben denken, wenn man nur diese Filme gesehen hätte? Die Berlinale kennt drei Arten von nichtheterosexuellen Filmen. Erstens solche, die von vorn bis hinten massentauglich aufpoliert sind: Queerness in der richtigen Dosierung, um nicht abschreckend zu wirken, verständliche Dramaturgien, Plots mit altbekannten Klischees, die am laufenden Meter Wiedererkennungseffekte produzieren und auch im öffentlich-rechtlichen Programm ab 22 Uhr zur Geltung kommen können. Die durchschnittlichen Zuschauer_innen werden sich das ansehen und irgendetwas Mitleidiges murmeln, bevor sie ins Ehebett steigen. Romeos und Ausente sind die z.T. preisgekrönten Musterbeispiele dafür. Auch wenn ich persönlich ein Problem mit ihnen habe, kann man ihr Begehren doch klar benennen (und so vielleicht auch tolerieren): Sie wollen so sein wie die anderen. Die queeren Menschen in ihnen leiden deshalb daran, dass sie sich unterscheiden. Sie erfahren Ausgrenzung und Ablehnung und müssen sich sehr hart ein ganz klein wenig Toleranz erkämpfen. Diese Filme bitten um Verständnis und zeigen uns, die wir nicht ganz normal sind, wie schwer es ist, das zu werden und wie begehrenswert es deshalb sein muss. Sie erklären, was an den Andersartigen anders ist, und versuchen es dadurch erträglich zu machen für diejenigen, die glauben, genauso wie der Rest zu sein. Schon auf ästhetischer Ebene kann man sehen, zu welch traurigem Einheitsbrei das führt. Perfekt ausgeleuchtete Filme mit perfekt gestylten Schauspieler_innen, dieses Jahr wahlweise in hell-weiß überbelichtet oder in knallfarbig zu haben. Dann gibt es die wenigen Filme, die sich dem widersetzen und Alternativen (ver)suchen. Das sind Filme, in denen queere Leute keine Klischees bedienen, in denen Schwule nicht an der Gesellschaft leiden, Transmenschen mit Lust ihre Andersartig-

Nicht stromlinienförmig, trotzdem vom Autor ungeliebt: „Swans“ von Hugo Vieira da Silva, im diesjährigen Berlinale-Forum

in deren Verlauf manches aufgedeckt, aber noch viel mehr undeutlich wird, wie in Auf der Suche. Diese Filme lassen mir Raum zum Atmen, fordern meine Identitätsvorstellung über mich und andere heraus. Sie lassen eine Welt ungesehener Bilder auf der Leinwand erscheinen und verlangen von denen, die sie sehen, viel. Sie sind oft keine leichte Kost und werden gehasst oder geliebt, selten etwas dazwischen. Es sind Filme, die eine Vorstellung davon haben, was sie sind und was sie wollen, und nicht um Verständnis dafür bitten, sondern Akzeptanz einfordern. Und dann gibt es die Filme, in denen sich die beiden anderen begegnen, so wie in The Advocate of Fagdom, einer wahnsinnig konventionellen Talking-Heads-Doku über

eins: Sowenig es DEN queeren Film gibt, gibt es DAS queere Begehren. Wir sind anders. Alle. Die einen wollen das mehr, die anderen weniger. Die einen suchen nach festen Identitäten, die anderen leiden unter ihnen und wollen sie auflösen. Die Vielfalt queeren Lebens und queeren Kinos liegt darin, beide Möglichkeiten offen zu halten, transgressiven und normorientierten Menschen Filme zu zeigen, von denen sie sich angesprochen, vielleicht sogar vertreten fühlen. Die diesjährige Berlinale hat eine deutliche Schlagseite zum Massentauglichen und Wiedererkennbaren gehabt. Hoffen wir, dass Vielfalt, vor allem auch unbequeme, in den nächsten Jahren wieder ein bisschen größer geschrieben wird. s 39


kool film

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Der Moment Sch r i f tst e l l e r se h en f i lm e · V e r ena St e fa n ü be r „ x x y “

1975 erschien „Häutungen“ von Verena Stefan. Der vielschichtige Roman über selbstbestimmte weibliche Sexualität wurde zum Klassiker der sogenannten „Neuen Frauenliteratur“ und ist bis heute ein internationaler Bestseller. Die 1947 in Bern geborene Autorin, Übersetzerin und Dozentin für kreatives Schreiben veröffentlichte zuletzt „Fremdschläfer“ (Ammann, 2007) und, zusammen mit Chaim Vogt-Moykopf, „Als sei ich von einem andern Stern. Jüdisches Leben in Montreal“ (Verlag Das Wunderhorn, 2011). Seit 1999 lebt sie in Montreal.

s Viele Momente. Ungefähr 1970, in einem Berliner Krankenhaus, Innere Medizin, Ausbildung zur Krankengymnastin. Ein Arzt will uns etwas Besonderes zeigen, führt uns zum Bett einer älteren Patientin, schlägt mit ein paar jovialen Worten die Bettdecke zurück, wir sehen einen Penis, halten die Luft an. Der Arzt deckt die Patientin gleich wieder zu. Ihr Lächeln: Seid freundlich oder zumindest anständig mit mir. Wie oft wurde sie während ihres Krankenhausaufenthalts vorgeführt? Ein echter Hermaphrodit, sagt der Arzt draußen im Flur, das sieht man selten. Die Krankenhäuser waren voll mit wilden und grässlichen Variationen des Normalen, wir waren jung und ignorant, eine Gender-Debatte noch nicht einmal am Horizont sichtbar. Hermes und Aphrodite in einem Körper, wie viel anschaulicher und sinnlicher ist dies als das technokratische „intersexed“. Bei Alex, der argentinischen Filmheldin aus XXY, stellt man zwei Monate vor der Geburt diese „Krankheit“ fest. Die Geburt soll gefilmt, das Kind sofort operiert werden. Die Eltern weigern sich. Sie war vollkommen, als sie zur Welt kam, sagt ihr Vater: perfekt. Um dem Gerede zu entgehen, zieht die Familie aus Buenos Aires weg in einen kleinen Fischerort an der uruguayischen Küste. Die Filmhandlung beginnt mit der fünfzehnjährigen Alex, die sich mit den Fragen ihres zweifachen, zweideutigen Geschlechtslebens herumschlagen muss. Ihr Kindheitsfreund und einziger Vertrauter hat ihr Geheimnis ausgeplaudert, die Jugendlichen im Ort machen Jagd auf sie. Die Mutter tendiert aus Angst um ihr Kind doch zu einer „eindeutigen“ Entscheidung und hat ein befreundetes Ehepaar mit Sohn Alvaro aus Buenos Aires eingeladen. Der Mann ist Chirurg und soll Alex über die Möglichkeiten einer Operation aufklären. Dazu kommt es nicht. Alex unterwandert mit ihrer unbestechlich direkten und gleichzeitig subversiven Art alle Pläne der Erwachsenen. 40

Der sechzehnjährige Alvaro und sie umkreisen einander wie zwei verlaufene verwandte Seelen und Körper, die einander ebenso heftig anziehen wie abstoßen. Alex bringt die Dinge auf den Punkt. Sie ist es leid, als exotisch oder monströs zu gelten, sie will so, wie sie ist, gesehen und begehrt werden. Macht es dir mehr aus, mich nicht mehr zu sehen, oder dass du ES nicht gesehen hast? Fragt sie Alvaro einen Augenblick vor der Abreise. Und stellt ihn einmal mehr auf die Probe: Willst du ES sehen? Das eingeladene Ehepaar kommt wie Mr. und Mrs. Mainstream an. Sie streicht sich mit einer einstudierten Geste die Haare hinters Ohr, damit der Perlmuttohrring und das feine Öhrchen zur Geltung kommen: Schaut her, alles an mir ist perfekt feminin. Er ist davon überzeugt, mit dem Skalpell alles in Ordnung zu bringen, was von der Norm abweicht. Nachts studiert er Fachlektüre, sie liegt neben ihm und verteilt mit Andacht eine Creme auf ihrem Gesicht. Er beugt sich hinüber, streicht kurz mit dem Daumen an ihren Jochbogen entlang: Braves Mädchen. Absolut faszinierend, wie Lucía Puenzo mit einzelnen kleinen Gesten Rollenverhalten demonstrieren und später demontieren lässt. Bei der Abfahrt ist der Lack ab, die Selbstgefälligkeit erschüttert. Strähnige Haare, keine Ohrringe, keine Handbewegung mehr, auch kein süßes Lächeln. Seine Niederlage: Weder Alex noch die Eltern wollten seine chirurgischen Vorschläge hören. Der kälteste Moment: Magst du mich? Fragt Alvaro den Chirurgen. Du bist mein Sohn, antwortet er achselzuckend. Glaubst Du, dass ich einmal etwas Wichtiges erreichen werde? Fragt Alvaro verzweifelt. Nein, sagt der Vater. Alex übernachtet bei einer Freundin, die ihr kichernd erzählt, sie habe es einige Male mit ihrem Cousin gemacht. Auch an diesem Mädchen demonstriert jede Geste, jeder Gesichtsausdruck Attraktivität für das andere Geschlecht. Am Morgen waschen sie sich unter der Dusche gegenseitig die Haare, ein Kindheitsritual, dem sie gerade entwachsen. Die Freundin dreht sich zu Alex um und streicht ihr lange über Haare und Gesicht, als wollte sie ihre eigene konditionierte Weichheit in sie hineinmassieren. Die Geste wirkt wie eine eindringliche Frage und Beschwörung: Bist du Mädchen? Bleib ein Mädchen! Bis Alex mit einer Eigenbewegung die Regie übernimmt und sich heftig die Haare rubbelt. Die wundersamen Momente des Films: Die Eltern lieben Alex und verteidigen sie. Ihr Universum hat einige Grade mehr Körpertemperatur als die genormte Welt. Junge oder Mädchen?! Wird irrevelant. Uneindeutigkeit, Vieldeutigkeit bekommen ihren Platz. s

XXY

von Lucía Puenzo AR/FR/ES 2007, 87 Minuten, DF+OmU

Auf DVD

Kool Film, www.goodmovies.de

Häutungen

von Verena Stefan 160 Seiten, S. Fischer

Fremdschläfer

von Verena Stefan 219 Seiten, Meridiane · Ammann


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Neu auf DVD Von K e r st i n W e l z en h ei m e r (K W ), Pau l Sch u l z (PS), Ch r ist oph M e y r i ng (CM) u n d Ja n K ü n em u n d (J K)

LONDON NIGHTS GB 2009, Regie: Alexis dos Santos, Indigo/Good Movies!

Alexis dos Santos’ verträumte Erzählung von feierlaunigen und erinnerungsgestörten Teenagern, deren Wege sich wie Lichtstrahlen aus unterschiedlichen Quellen kreuzen. „Wahrscheinlich gibt es solche Filme erst, seitdem in den Credits Colourists auftauchen, die digitale Farbwerte nach Belieben vergolden, abkühlen oder erröten lassen können und die wissen, dass man auch oder vielleicht nur mit ‚standardized beams of energy‘ Menschen auf und vor der Leinwand glücklich machen kann. Um sich die Nächte in Londoner Clubs oder Kinos um die Ohren zu schlagen, ist Schlaflosigkeit vielleicht die größte Tugend. Das ist der geheime Orden des Lichts, in den Axl, Vera und wir eintreten, wenn London Nights beginnt.“ (André Wendler in SISSY 2/10)

ben, doch der Schein trügt, denn seine konservative Familie, die ihn vehement zur Heirat drängt, setzt ihm arg zu. Äußerst konservativ ist auch Lena (sehenswert: Margaret Laurena Kemp) eingestellt, die mit ihrem Sohn nach Eleuthera in die Obhut des liberal eingestellten Reverend Clyde Ritchie flieht, da sie sich von ihrem Ehemann Ralph hintergangen fühlt. Ralph, ein homophober christlicher Eiferer, in Wirklichkeit aber selbst an schnellem Sex mit Männern interessiert, hat sie nämlich mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt. Nachdem die gemischte Gesellschaft auf Eleuthera zunächst eine Zeit lang Ruhe und Erholung gefunden hat, wird die Idylle jäh gestört. Denn kurz nacheinander treffen Romeos sittenstrenge Mutter, seine bislang verschwiegene Verlobte und Lenas intoleranter Ehemann auf der Insel ein. Ob die nun mit neuer Heftigkeit aufflammenden Konflikte zu einem positiven oder einem tragischen Ende führen werden, steht noch in den Sternen … cm

DRIFTING FLOWERS TW 2007, Regie: Zero Chou, Edition Salzgeber

KINDER GOTTES BS 2010, Regie: Kareem Mortimer, Pro-Fun Media

Wer die Bahamas lediglich als sonnendurchflutetes Urlaubsparadies kennt, den belehrt Kareem Mortimers preisgekröntes Drama Kinder Gottes insofern eines Besseren, als es auch die Schattenseiten des karibischen Inselstaates zeigt, nämlich die festverwurzelte MachoKultur und die grassierende, religiös verbrämte Homophobie. Der aufwendig produzierte und grandios aufgenommene Film, der nur selten die Zone des kitschigen Pathos’ streift, unternimmt dies, indem er die Geschichten mehrerer, zum Teil äußerst gegensätzlicher Handlungsfiguren geschickt miteinander verwebt. Da ist zunächst Johnny, ein junger weißer Kunststudent, offensichtlich schwul, aber ebenso verschüchtert und verklemmt. Da seine Professorin in seinen Gemälden Gefühl vermisst, verdonnert sie ihn zu einem kreativen Zwangsurlaub in ihrem Ferienhaus auf der entlegenen Insel Eleuthera. Dort lernt Johnny den dunkelhäutigen Musiker Romeo kennen und – nach anfänglichem Sträuben – auch lieben. Romeo scheint sehr selbstbewusst und frei zu le-

„Die Eisenbahnfahrt ist das verbindende Element im Episodenfilm der taiwanesischen Regisseurin Zero Chou. In drei Kapiteln und individuellen Perspektiven erzählt sie von drei Frauen, deren Lebenswege sich zu verschiedenen Zeitpunkten kreuzen. Der Tunnel ist zugleich Schnittbild wie Metapher für Übergang und Veränderung. (…) Wieder ein Blumentitel. Als Metapher für Menschen, die in verschiedene Richtungen wachsen und doch immer wieder zu ihren Wurzeln zurückfinden. Fließend, mit einem unverkennbaren Gespür für Besetzung und das Verweben von Handlungsfäden, findet Chou dafür den richtigen Rhythmus. ‚There has always been the fragrance of flowers‘, singt Jing für ihre kleine Schwester, wenn die sie am Arm durch dunkle Straßen führt. Und die junge Diego trällert mit Lily auf der Kirmesbühne im Duett: ‚This train is marching on with no regrets.‘ Ihre Bilder zusätzlich in Musik zu übersetzen, ist typisch für die Asiatin. Die Lieder spiegeln nicht nur Gefühle, sie verankern auch die kulturelle Identität ihrer Figuren.“ (Maike Schultz in SISSY 4/10)

PLEIN SUD – AUF DEM WEG NACH SÜDEN FR 2009, Regie: Sébastien Lifshitz, Edition Salzgeber

Der geheimnisvolle Sam ist auf dem Weg nach Süden, um eine Familientragödie zu beenden. Seine Mitfahrer wollen den Sommer genießen und sich verlieben. „Mit Plein Sud gibt es eine neue Möglichkeit, sich mit dem Kino von Sébastien Lifhitz auseinanderzusetzen. Auch dieser Film zerschneidet die üblichen Konstellationen, die filmischen wie die sozialen, setzt die Fragmente in Bewegung, holt Luft und ordnet sie neu. Wieder wird es am Ende keine Menschen geben, die sich gefunden haben, kein Liebesglück, kein HappyEnd. Dafür aber das langsame Zurruhekommen einer Wasseroberfläche, nachdem ein schöner Männerkörper dort eingetaucht ist. Darauf ein Glitzern von letzten Abendsonnenstrahlen. Und ein trauriger Song von Marie Modiano.“ (JK in SISSY 3/10)

DAS VERRÜCKTE LIEBESLEBEN DES SIMON ESKENAZY FR 2009, Regie: Jean-Jacques Zilbermann, Edition Salzgeber

„Simon träumt von trauter Zweisamkeit mit Rafael, dem schüchternen Philosophiestudenten. Der gefällt sogar Mutter Bella. Doch leider zeigt sich, dass Rafael nicht gerade ein Ausbund an Temperament, um nicht zu sagen eine wandelnde Schlaftablette ist. Und so wacht Simon am Morgen des 14. Juli neben Naim, der sicherlich schönsten Transe mit algerischem Migrationshintergrund, die Paris zu bieten hat, auf, die er als Bedienung in einem Kabarett abgeschleppt hat. (…) Bemerkenswert, wie der Regisseur die vielen Handlungsstränge, jüdisches Milieu und die multikulti-schwule Liebesgeschichte miteinander verbindet, ohne je die Kontrolle zu verlieren. Die Komik ist eher leise, selbstironisch und durch Bellas Tod gebrochen. Das HappyEnd gönnt man den Überlebenden dieser Tour de Force um so mehr.“ (Jessica Ellen in SISSY 04/10) 41


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SPÄTE ENTSCHEIDUNG – LA SURPRISE FR 2007, Regie: Alain Tasma, Edition Salzgeber

„Es ist ein Film, der vor allem den Prozess einer Bewusstwerdung zeigen will. Eine Frau schwimmt ans andere Ufer, will manchmal umkehren, manchmal lieber untergehen. Liebe passiert einfach jenseits von Ideologie, erzählt der Film. Besonders Mireille Perrier als Marion zeigt schmerzhaft und genau den inneren Kampf einer Frau, die gleichgeschlechtliche Verliebtheit zunächst als Identitätskrise erlebt. Die Darstellerin der Claude, Rachida Brakni, spielt wiederum dramatisch herb und extrem verletzbar die ganz normale Furcht eines Menschen, sich nach einer kaum überstandenen großen Liebe neu auf jemanden einzulassen. So sind die Hindernisse beidseitig, aber auch die Annäherungen.“ (Angelika Nguyen in SISSY 3/10)

leo und die Liebe (EL CUARTO DE LEO) UY/AR 2009, Regie: Enrique Buchichio, Bildkraft

Das Verhalten des jungen Studenten Leo wirkt merkwürdig unschlüssig: Obwohl es mit seiner Freundin Andrea im Bett gar nicht mehr klappen will, stellt er sie ausgerechnet jetzt endlich seiner Mutter vor. Die Initiative für die kurz darauf erfolgende, längst überfällige Trennung überlässt er dann ganz passiv Andrea. Als die Mutter ihn später fragt, ob er denn schon eine neue Freundin – oder vielleicht einen Freund – habe, überquert er die ihm gebaute Brücke nicht und bleibt ausweichend. Dabei kontaktiert er bereits schwule Männer im Internet und lernt auf diesem Weg den sympathischen Seba kennen. Der hat aber bald auch genug davon, sich ständig von Leo unter fadenscheinigen Vorwänden („Wir wollen gemeinsam lernen“) an dessen – ohnehin dauerbekifften – Mitbewohner vorbei in das kleine WG-Zimmer ein- und wieder ausschleusen zu lassen. Selbst gegenüber seinem Therapeuten, der den Braten natürlich schon in der ersten Sitzung gerochen hat, redet Leo hartnäckig um den heißen Brei herum. Und was will er eigentlich von seiner ehemaligen Schulkameradin Caro, die er eines Tages zufällig in einem Supermarkt wiedertrifft? Dass Caro hochgradig depressiv ist, scheint er jedenfalls kaum zu bemerken, auch nicht, dass sie geradewegs auf eine ernsthafte Krise zusteuert … Das Aufregende an Enrique Buchichios Coming-Out-Geschichte, die zwar in Uruguay spielt, sich aber genauso 42

gut in Westeuropa zutragen könnte und auch thematisch keineswegs Neuland betritt, ist – um es paradox zu sagen – ihre Unaufgeregtheit. Denn gerade durch den Verzicht auf hohles Pathos, Hysterie und Gefühlsüberschwang erreicht der Film seine große Eindringlichkeit und Glaubwürdigkeit, zu der auch Martín Rodriquez’ nuanciertes Spiel einen entscheidenden Beitrag leistet. So bleibt es spannend, dabei zuzusehen, wie Leo am Ende – wir haben es geahnt – aus seinem engen Zimmer und seiner inneren Befangenheit herausfindet. cm

ELENA UNDONE US 2010, Regie: Nicole Conn, Pro-Fun Media

Als sich Elena, Mutter und Frau eines streng katholischen sowie passender Weise homophoben Pastors und die toughe und offen lesbische Schriftstellerin Peyton zum ersten Mal begegnen, wird schnell klar, dass die beiden nicht nur starke Disparitäten verbinden. Eine intensive Freundschaft, die bald schon nicht mehr nur eine solche ist, nimmt ihren Lauf, mit der Chance für Elena, endlich aus allem auszubrechen, wenn es doch so einfach wäre. „Do you believe in soulmates?“ Als gleich zu Beginn des Films in die Lehre der Seelenmetrie eingeführt wird, bewegt sich Elena Undone auf dem schmalen Grat zum Kitsch, kriegt jedoch glücklicherweise noch elegant die Kurve, gewinnt an Dramatik und gipfelt im bis dato längsten Kuss des lesbischen Films. Wer hätte auch Anderes von Nicole Conn erwartet, die bereits lange zuvor Erfolg feierte mit dem Buch zu und der Regie von Claire Of The Moon. Mit Elena Undone schafft sie den Spagat zwischen Komödie und (von zerreißendem Verlangen und Sehnsucht geprägtem) Drama. kw

Role/Play USA 2010, Regie: Rob Williams, Pro-Fun Media

Soaps haben ja einen großen Vorteil: Sie sind unglaublich schlicht. Schöne Menschen tun vor der Kamera unschöne Dinge und niemand muss das ernst nehmen, weil nichts davon ernst gemeint ist. Inklusive Aussehen oder Benehmen der Menschen, die diese Geschichten durchleiden, weil deren Darsteller deutlich länger in der Maske verbringen als im Probenraum. Regisseur Rob Williams stellt in Role/ Play die Frage, was passiert, wenn sich ein Soapdarsteller per Internet-Sexvideo outet. Dazu schickt er seinen Hauptcharakter Gra-

ham in die Wüste, wo er sich auf der Flucht vor den Medien in einem Motel versteckt. Dort trifft er auf Try, Amerikas bekanntesten Homo-Ehe-Aktivisten, der sich gerade von seinem Mann hat scheiden lassen. Die beiden Gefallenen beginnen ein tagelanges Gespräch über die Erwartungen der Gesellschaft, über sich entwickelnde schwule Rollenmuster und darüber, wie man die durchbricht oder eben nicht. Unterbrochen wird das Ganze nur vom Sex, den die beiden miteinander haben. Role/Play ist ein bisschen, wie ein schlauer, schöner Mann, den man erst ein bisschen betrunken machen muss, um ihn aus der Reserve zu locken. Heißt: Wenn man die ersten 20 Minuten überstanden hat und sich einlassen kann, hat man mit Role/Play einen wirklich netten Abend. ps

ICH, TOMEK PL/DE 2009, Regie: Robert Glinski, Edition Salzgeber

In Glinskis Spielfilm geht es um Kinderprostitution an der deutsch-polnischen Grenze. „Der Film zeigt etwas, das unglaublich, im strengen Sinn undarstellbar, monströs und schrecklich ist und doch unsere Blicke fesselt. In Frage gestellt wird damit vor allem unser, im Wortsinn, spektakuläres Verhältnis zur Welt: unser Drang, nur dem Wirklichkeit oder Realität zuzusprechen, was wir auch sehen. Manchmal sind aber die Dinge am wirklichsten, die sich nicht sehen lassen. Ich, Tomek ist ein Versuch, das Kino als Werkzeug zur Erforschung dieser Dinge zu gebrauchen. Am Ende tippt Tomek paralysiert auf seinem Handy herum, um dem Unfassbaren ein Geräusch zu verleihen. Ich tippe auf meinem Rechner herum, um diesem Kino und der von ihm gemeinten Welt die Worte zu geben, die ich brauche, um damit umzugehen. Was Ich, Tomek zeigt, ist nur durch die Leinwand hindurch zu ertragen, weshalb ich dankbar dafür bin, dass es ihn gibt, weil ich sonst die Augen vor dem verschließen müsste, was gleich hinter der deutsch-polnischen Grenze stattfindet.“ (André Wendler in SISSY 1/10).

WO WARST DU? ES, CA 2008, Regie Iván Noel, CMV Laservision

Pablo, der zusammen mit seiner Mutter in einem winzigen Dorf in Südspanien lebt, ist ein einsamer, verschlossener und etwas verloren wirkender Dreizehnjähriger. Auf einem seiner täglichen Streifzüge über die Felder und Hügel trifft er auf einen Fremden, den eine Autopanne zum Halten gezwungen hat. Der Mann, der sich


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ihm als Paco vorstellt, wirkt geheimnisvoll und sehr undurchsichtig auf Pablo, aber auch seltsam anziehend. So kommt es, dass die beiden Freundschaft schließen, und, solange der Wagen repariert wird, nun gemeinsam durch die Natur wandern. Auf diese Weise erregt das eigentümliche Paar schnell die Neugier und den Argwohn der Dörfler. Bald brodelt die Gerüchteküche über – und das nicht völlig grundlos. Denn woher kennt dieser Fremde eigentlich Pablos verstorbenen Vater? Ist er wirklich rein zufällig hier gestrandet? Hat man ihn hier nicht früher schon einmal gesehen? Und vor allem: Warum interessiert er sich so für einen pubertierenden Knaben, der offenkundig auch noch schwärmerisch zu ihm aufschaut? Als in einem nahe gelegenen See ein anderer Junge in Pablos Alter tot aufgefunden wird, droht die angespannte Lage vollends zu eskalieren … Der Spanier Iván Noel inszeniert das emotionale Drama einer schwierigen Pubertät als Psychokrimi unter sengender Sonne. Neben beeindruckenden Landschaftsaufnahmen sorgen die betörenden Gitarrenklänge eines äußerst hörenswerten Soundtracks für die enorme atmosphärische Dichte des Films, dessen Schlusswendung zu überraschen versteht. cm

gisseur ist nicht zu Unrecht auf der Berlinale 2010 sehr gelobt worden, weil er handwirklich so gut wie perfekt ist. Shahada ist aber, trotz oder vielleicht gerade wegen seines Themas, ein unendlich deutscher Film geworden. Der Regisseur problematisiert in den vier Kapiteln seiner „Türken in Berlin“-Geschichte ständig, man hat das Gefühl, er könnte sich sonst nicht ernst nehmen. Die einzelnen Vignetten beschäftigen sich mit Ehebruch, Abtreibung, Homosexualität und Freiheit im Islam und schenken ihrem Publikum wenig. Dass man trotzdem zwei schöne Stunden mit Shahada verbringen kann, liegt an den wunderbaren Darstellern und tollen Bildern des Films. ps

Davids Geburtstag Italien 2009, Regie: Marco Filiberti, Pro-Fun Media

Manchmal sagen Pressetexte einfach, wie’s so ist. Der zu Davids Geburtstag lautet: „Mit der Ankunft des 18jährigen David (Versace Supermodell Thyago Alves), dessen umwerfenden Schönheit und pulsierenden sexuellen Ausstrahlung, gerät das Leben Matteos völlig aus SHAHADA dem Ruder. Gleich Odysseus der Circe, erliegt DE 2009, Regie: Burhan Qurbani, Polyband & Toppic der scheinbar glücklich verheiratete FamilienVideo/WVG vater dem ungeschliffenen Rohdiamanten und erotisierenden Abbild Michelangelos.“ ÜberDer Vorsitzende des Zentsetzung: „Wir reißen uns jetzt mal zusammen, ralrats der Muslime in die Herren. Sie da links rollen ihre Zunge wieDeutschland Aiman Mader ein, klappen die Kinnlade hoch und legen zyek sagte nach der Berlidas ‚Italienisch für Fortgeschrittene‘ weg. Dann ner Filmpremiere von gucken Sie sich dieses hübsche, aber auch bissShahada: „Wenn das Lechen schlampig gedrehte Melodram von Marco ben von Muslimen in Filiberti nochmal an und achten dieses Mal bitDeutschland wirklich so te auch auf die Glanzleistung von Alessandro deprimierend wäre, könnGassman und nicht nur auf das Lächeln und die te ich meinen Job an den Nagel hängen.“ Was er Bauchmuskeln des deutlich über seinem Niveau damit meinte: Burhan Qurbanis Debüt als Reanzeige_sissi_06_2010:cover_msk 13.05.10 14:18 Seite 1

spielenden Thyago Alves. Dann hängen wir noch den Odysseus/Circe-Vergleich zurück in den ‚So doch nicht!‘-Schrank und alles ist schick im Sommer in Italien.“ Davids Geburtstag ist schön bunt, schön warm und schön traurig. Also im kalten deutschen Frühling genau das Richtige. ps

DIE QUAL DER LIEBE IT 1986, Regie: Gianni da Campo, CMV Laservision

Dem Unterricht des jungen, engagierten und soeben erst von der Universität entlassenen Aushilfslehrers Lozenzo folgt vor allem der zwölfjährige Bauernbursche Duilio mit gesteigertem Interesse, das allerdings weniger dem Lernstoff gilt. Vielmehr scheint der Schüler eines seiner großen braunen Augen auf den hübschen „Professore“ geworfen zu haben, was diesem auch nicht lange verborgen bleibt. Lorenzo, gerade in eine unterkühlte Affäre mit einer verlobten Frau verstrickt, fühlt sich von dem Jungen ebenfalls irgendwie angezogen: Ist der selbst noch etwas orientierungslos und jungenhaft wirkende Pädagoge womöglich pädophil, oder erkennt er in Duilio lediglich einen Teil seines eigenen Charakters wieder? Angesichts der Tatsache, dass Lorenzo mittlerweile in Duilios Elternhaus aus und ein geht, stellt sich die argwöhnische Stiefmutter des Knaben bald ähnliche Fragen – und in dem kleinen Dorf bei Venedig – Gustav von Aschenbach lässt dezent grüßen – droht ein hässlicher Skandal … Dass Regisseur Gianni da Campo zweifellos stark vom italienischen Neorealismus beeinflusst ist, zeitigt in seinem Drama aus dem Jahr 1986 eher einen antirealistischen Effekt. Denn die Schilderung des äußerst schlichten Landlebens und der ebenso schlichten

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Landbevölkerung, die direkt aus Rossellinis Stromboli oder Bertoluccis Novecento rekrutiert sein könnte, wirkt merkwürdig aus der Zeit gefallen. Nicht minder anachronistisch klingen die eigenartig plakativen Dialoge in zeitgenössischen Ohren. Überraschenderweise gelingt es dem Film dennoch, die Gefühlslagen der beiden ungleichen Protagonisten in ihrer Verschwommenheit und Ambivalenz sensibel zum Ausdruck zu bringen. cm

schen Indie-Produktion dabei sein. Dialoge zum Niederknien, Robert Stadlobers Arsch, ein bisschen Gewalt und Selbstironie im Übermaß: Wäre Unter Strom ein Mann, man würde ihn sofort in die nächste dunkle Ecke zerren, um dort sonstwas mit ihm anzustellen.“ (PS in SISSY 4/09)

BearCity

Gott nimmt es bei der Auswahl seines Bodenpersonals offenbar nicht so genau. Anders ist es kaum zu erklären, welche Schwachköpfe sich gerade in den USA berufen fühlen, religiösen Gemeinschaften vorzustehen und Schwulen und Lesben das Leben schwer, wenn nicht unmöglich zu machen. Aber es gibt Hoffnung. Denn manchmal schaffen es schwule und lesbische Kinder, ihre Eltern zu vernünftigen Menschen erziehen. Daniel Karslake hat für seinen Film vier Familien begleitet, die tief religiös sind, es aber geschafft haben, Gottes Sohn und ihre Söhne oder Töchter am Abendbrottisch zu versammeln, ohne dass es Streit gibt. Von diesen persönlichen und oft tief berührenden Geschichten ausgehend, lässt Karslake Menschen wie den offen schwulen Erzbischof Gene Robinson oder Nobelpreisträger Desmond Tutu erklären, wie die Kirchen sich weiterentwickelt haben und auf wie viel Widerstand progressive Diener Gottes dabei stoßen. Im Namen der Bibel ist ein schlauer, lehrreicher, berührender und, wenn Kirche auf moderne Welt kracht, stellenweise auch sehr komischer Film. Unbedingt sehenswert, auch für Atheisten. ps

USA 2010, Regie: Douglas Langway, GM-Films

BearCity ist fett! Und haarig. Und voller echter Kerle. Und auf der Bärenjagd nach einem anderen Schönheitsideal als dem des Mitte-20-jährigen, haarlosen Epheben. Besser gesagt: Es ist das haarlose Bürschchen Tyler, das im Sommer in New York versucht, das Fell des Bären zu seinem Schlafplatz zu machen und sich in einen Mann verliebt, der so ganz anders ist als die Männer seiner Freunde. Regisseur Douglas Langway hat seine schwierigen Fragen über Identität, Schönheitsideale und das richtige Leben im falschen in eine oberflächliche Komödie verpackt. BearCity ist Sex and the City, nur dass sich niemand die Achseln oder irgendwas anderes rasiert und keiner in Manolos rumläuft. Aber, genau wie die Serie, packt auch die Bärenfilmvariante heiße Eisen mit leichter Hand an und kommt damit – mal abgesehen von ein, zwei wirklich dämlichen Witzen – davon, ohne sich die Haaren abzusengen. Für Kenner der europäischen Bärenszene ist das Körperbild der Bären hier manches Mal ein bisschen überzeichnet, aber für amerikanische Verhältnisse sind viele der massiven Darsteller geradezu normal. BearCity ist nicht tiefgründig, aber auf oberflächliche Art klug genug, um wunderbar zu unterhalten. ps

Im Namen der Bibel USA 2007, Regie: Daniel Karslake, CMV Laservision

DANIEL SCHMID – LE CHAT QUI PENSE CH 2010, Regie : Benny Jaberg, Pascal Hofmann, Edition Salzgeber

UNTER STROM DE 2009, Regie: Zoltan Paul, Edition Salzgeber

Ein sich gerade im hasserfüllten Scheidungsprozess befindendes Paar wird von einem Kleinganoven entführt. Diverse Unschuldige werden mit ins Chaos gerissen. „Zoltan Paul hat für seine LowBudget-Produktion ein beeindruckendes Ensemble aus Theaterstars und deutschen Jungschauspielern zusammengetrommelt: Unter anderem Robert Stadlober, Anna Fischer, Sunnyi Melles, Catrin Striebek, Hanno Koffler, sowie Ralph Herforth und Tilo Nest als schwules Paar wollten in der deut44

Ein liebevolles und schwereloses Porträt von Daniel Schmid, dessen Bedeutung für das Queer Cinema dadurch endlich erschlossen werden kann: „Ein Filmemacher aus der provinziellen Mitte Europas konstituiert für sich selbst und für das Kino einen Sehnsuchtsort, der die Herkunft transzendiert – einen Himmel des Ästhetischen, zugleich politische Utopie und anachronistische Politik, ein Bubentraum, in dem der Protagonist allmählich lernt, auf Spezialeffekte zu verzichten. Er wird erwachsen, aber er steht doch kompromisslos quer / queer zu der Zeitordnung des linearen

Fortschritts. Eine Kraft der Vergangenheit, deren Sprengkraft nicht selten unterschätzt wird.“ (Bert Rebhandl in SISSY 3/10)

THEATER IN TRANCE DE 1981, Regie: Rainer Werner Fassbinder, Arthaus/Kinowelt

1981 zuckt noch die 2. RAF-Generation, liegen die Kölner Hausbesetzerträume seit der Räumung der Stollwerck-Schokoladenfabrik begraben, schicken Kraftwerk zu den Live-Aufführungen ihrer „Computerwelt“ statt ihrer selbst Roboter auf die Bühne. 1981 drehte Rainer Werner Fassbinder seinen einzigen Dokumentarfilm, im Auftrag des ZDF über das erste „Theater der Welt“-Festival in Köln. Über Theater hätte Fassbinder selbst viel zu sagen gehabt, er überlässt den Kommentar aber Antonin Artaud, dessen Ideen zur anarchistischen Eigenständigkeit der Bühnenkunst, der das Leben zu folgen hat und nicht umgekehrt, er mit lasziv müder Stimme vorliest. Darunter liegen einzelne, aus dem Zusammenhang geschnittene Szenen aus zumeist experimentellen Inszenierungen internationaler Off-Theater-Gruppen, aber auch aus Stücken von Savary, Pina Bausch und Yoshi Oida. Theater in Trance fängt mit Computerwelt und Hausbesetzertransparenten an, bevor Fassbinder eine eigene Art von absurdem Theater filmt: den Slalom eines Kellners beim Festivalempfang durch schlipstragende, bierdurstige Kulturbonzen. Demgegenüber soll das Theater auf „eine zentrale Haltung, eine zentrale Notwendigkeit“ (Artaud) zurückgeführt werden, die keine Lösungen für das Leben bereithält. Spannend, die Härte wiederzusehen, mit der Pina Bauschs TänzerInnen den Geschlechterkampf in Formation bringen – ganz ohne den dreidimensionalen Tanzzauber der gerade abgefeierten Wenders-Pina, die für nationalheilige Kultur steht und für die sogar die Bundeskanzlerin die 3D-Brille aufgesetzt hat. jk

RAGING SUN, RAGING SKY MX 2009, Regie: Julián Hernández, Pro-Fun Media

Der Gewinner des Spielfilm-TEDDYS von 2009. Mehr dazu auf Seite 28.

25. TEDDY AWARD · DER QUEERE FILMPREIS DER BERLINALE – DIE KURZFILME UK, FI, US, CA, DE, CH, AU, FR, NO, ES, AR, BR 1987– 2009, diverse Regisseure, Edition Salzgeber

Die TEDDY-Kurzfilmgewinner aus 25 Jahren. Mehr dazu auf Seite 34.


profil

Von Helden und Sagen von M ich a e l Roe s

privat

Eine „Hommage“ nennt unser Autor seinen Text über den Berliner Buchladen Eisenherz. Ihr schöner, etwas nostalgischer Ton soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Eisenherz nach wie vor die erste Adresse in Berlin für nicht-heterosexuelle Literatur, Foto- und Filmkunst ist.

dern in den angrenzenden Büschen oder auf der damals noch gut besuchten Klappe. Und der Gummiknüppel zwischen den Beinen hatte noch nicht Fetischcharakter, sondern war so unappetitlich wie der dazu passende Begriff Herrschaftsinstrument. Auch dazu hätte der Buchliebhaber die passende Lektüre im Prinz Eisenherz gefunden, Guy Hocquenghem, George Bataille oder auch Bernhard Dieckmanns und François Pescatores „Elemente einer homosexuellen Kritik“. Aber nicht die Literatur, die hier präsent war, sondern die Normalität des Ortes stellte das eigentlich Avantgardistische und Revolutionäre dieses Buchladens dar, kein Sexshop mit einer Alibiecke für „Erotische Literatur“, keine Bahnhofsbuchhandlung mit dem üblichen Schweinkram unter der Theke, sondern de Sade neben George Sand und Pasolini zwischen Pasternak und Poe im Ikearegal. Ein halbes Leben – wenn ich die Lektürereisen dazuzähle, dann viele Leben – begleiten wir einander schon, in denen wir nicht nur Mythen gelesen, sondern auch Mythen gestiftet haben. Ich erinnere nur an die Berlinale-Vorabende, an denen Manfred Salzgeber im schwitzwassertrüben Laden auf die schwulen (oder auch schwulenfeindlichen) Filme im Festivalprogramm aufmerksam gemacht hat. Wie viele Cinephile haben sich hier zusammengedrängt und nach einem prinz- und herzerwärmenden Februarabend fortan gemeinsam dieser und weiterer obskurer Leidenschaften gefrönt? Ja, dieser Buchladen war nicht nur Agora, sondern immer auch Marktplatz. Einmal kam mein Verleger Arnulf C., ein grauhaariger älterer Herr mit aristokratischen Manieren, zweifacher Ehemann und vielfacher Vater, zu einer meiner Lesungen im Eisenherz und setzte sich, war es Zufall oder geheimes Begehren, genau ans Hardcore-Pornoregal. Natürlich war hier nichts in diskrete Versandhüllen eingeschweißt. Ganz wie Gott oder Michelangelo sie geschaffen hatten, reckten sich ihm die erigierten Pimmel und haarigen Ärsche entgegen. Zwei

Stunden lang wandte mein väterlicher Verleger nicht einmal den Blick von mir ab. Jedes Mal, wenn ich den Laden betrete, in den Anfängen meines damals noch lebensund lesehungrigen Poetendaseins mindestens einmal monatlich, nun, der inzwischen müder gewordenen Augen und gesunkenen Einkünften aus selbständiger Arbeit wegen alle zwei, drei Monate, winkt mir als erstes DIE BERÜHMTE ROES-KISTE entgegen, prallgefüllt mit jener Zukunft (oder das, was die Literatur sich von ihr einverleibt hat), die nun zum größten Teil schon hinter uns liegt. So ist diese Kiste natürlich ein nur allzu deutliches Memento mori für den Weg allen Fleisches und seiner Sublimationen. Dann folgt die Umarmung der Buchhändler, auf so ritterliche, eisenherzhafte Namen wie Roland oder Franz getauft, die angesichts der mahnenden Kiste bereits wie ein tröstliches Kondolieren wirkt. Ja, wir haben gemeinsam Rost angesetzt. Aber es war doch eine gute Zeit, nicht wahr? s Michael Roes ist Schriftsteller und Filmemacher. Zuletzt erschienen „Geschichte der Freundschaft“ (Roman, Matthes & Seitz, Berlin) und „Timimoun“ (DVD, Edition Salzgeber). Roes lebt und arbeitet in Berlin.

auch privat

s Ja, wir haben Rost angesetzt, das Eisenherz und ich. Haben es aufgegeben uns ständig zu liften oder mit Hilfe von Fitnessberatern unserer verlorenen Jugend hinterherzuhecheln. Aber wir hatten eine gute Zeit miteinander. Als unsere Herzen sich fanden, waren es noch die Herzen von Prinzen. Wir schrieben das Jahr 1979. Eine Mauer trennte das Andere Ufer vom Stillen Don und sollte noch nahezu zehn Jahre Wuwu-Tunten und Café-Central-Homopunks vor Wowereits und Westerwellen schützen. Und das war auch gut so. Hier, in Westberlin, bereitete sich eine Revolution vor, deren Früchte heute so selbstverständlich scheinen: Die Simulation der Normalität. Ein Café, das aussieht wie andere Cafés, an einer normalen Straße liegt, den üblichen Käsekuchen und Milchkaffee serviert und durch eine große Scheibe zur Straße hin die Sicht auf diese Normalität freigibt, sich unverständlicherweise aber Anderes Ufer nennt. Dasselbe große Schaufenster in der Bülowstraße, der Blick zufälliger Passanten fällt auf Bücher, Bücher berühmter und geläufiger Autoren, Thomas Mann, Jean Genet, Arthur Rimbaud, ein ganz normaler Buchladen für Leseratten also, und der Name, na ja, läßt an Kinder- und Jugendliteratur denken, Astrid Lindgren und Walter Scott, Richard Löwenherz, Artus und die Tafelrunde, überwiegend Männer natürlich, was gibt’s Normaleres? Die Steine blieben aus. Dabei wurden in Westberlin doch schon aus nichtigeren Gründen Schaufenster eingeworfen! Ja, es trauten sich sogar Kunden hinein, Gäste ins Andere Ufer, Buchliebhaber ins Prinz Eisenherz. Sicher, die Christopher Street gab es bereits, und das Stonewall, und den ständigen Ärger einiger New Yorker Transen mit der Polizei, aber von einem Christopher Street Day wagte niemand auch nur zu träumen. Die Zusammenstöße mit Polizisten fanden noch nicht beim Bullenpogo auf dem Umzugswagen des Verbands schwuler Polizeibediensteter an der Siegessäule statt, son-

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