Bochum Drawings Part2, German

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Bart Lodewijks Bochum Drawings 2 Bobiennale Deutschland vom 13. bis 23. Juni 2019



Es ist ein halbes Jahr her, seit ich das letzte Mal lange von zu Hause weg gewesen bin. Damals war ich in Indien. Die Zeichnungen, die ich dort gemacht habe, sind denen hier in Bochum ähnlich: Ihnen fehlen dieselben Ecken, als wären Sie nicht ganz komplett. In Bochum habe ich siebzehn und eine Zeichnung gemacht. Diese eine, die die erste werden sollte, erhält eine besondere Erwähnung, denn eigentlich ist es keine Zeichnung, weil dafür keine Kreide zum Einsatz gekommen ist, auch wenn sie viel Arbeit gekostet hat. Ich bin an einer fehlenden Erlaubnis gescheitert. Was von meinen Anstrengungen übrig geblieben ist, ist eine fehlende Ecke, eine Geschichte von einer Zeichnung, die nicht zustande kam.



EIN SCHLECHTER ANFANG MIT EINEM GUTEN AUSGANG Genau wie Menschen haben auch Gebäude Wurzeln, und das versuche ich, mit meinen Zeichnungen sichtbar zu machen. 11-06-2019 
 Nach einem kräftigen Frühstück wandere ich ins glühend heiße Bochum hinein, vorbei an einer Tankstelle der Firma Aral. Die verchromten Teile der Tanksäulen und die überwiegend blau gelackte, mit Aluminiumblech verkleidete Tankstelle funkeln mir entgegen. Glänzende Sportwagen, Four-Wheel-Drives und luxuriöse Kombis von bekannten deutschen Marken fahren langsam auf das Gelände und wieder herunter. Der perfekte Hintergrund für einen Reklamespot.


Ein Automobilist führt das Tankritual beinahe mechanisch aus. Das Gleichgewicht zwischen Mensch und Maschine beunruhigt mich sehr. Vom Bürgersteig holpert ein Elektromobil mit einem zusammengebastelten Anhänger auf das Gelände. Der Anhänger ist mit Einkaufstaschen beladen und neigt durch einen nahezu leeren Hinterreifen gefährlich nach rechts. Der Fahrer trägt eine Sonnenbrille und eine ausgebleichte Motorradjacke aus Leder mit Emblemen, die mit Gaffer-Tape festgeklebt sind – wahrscheinlich Trophäen aus einem früheren Leben. Unter seiner Kappe aus Jeansstoff schauen graue Haarsträhnen hervor. Am Lenker des Elektromobils sind eine Hupe und ein großer Rückspiegel montiert. So einer, wie man ihn für gewöhnlich bei amerikanischen Lastwagen sieht. Er parkt sein gesamtes Hab und Gut vor einer grauen Betonwand, an der eine Reifenpumpe montiert ist. Er schleppt sich aus dem Elektromobil und als ich sehe, wie er mit dem Reifen und dem Ventil herumpfuscht, eile ich im zur Hilfe. ,Ihr Ventil passt nicht auf eine Luftpumpe für Autoreifen‘, sage ich. ,Sie brauchen ein Aufsatzstück, sonst kommt keine Luft in den Reifen.‘ ,Scheiße‘, sagt er. ,All diese Systeme, die nicht zusammenpassen.‘ Mein Blick bleibt auf der grauen Betonwand hängen: Die Oberfläche ist perfekt für eine


Zeichnung, denke ich bei mir. Hinter der Glaswand des Verkaufstresens schüttelt die Kassiererin den Kopf. ,Wir haben kein Aufsatzstück,‘ sagt sie, als ich im Verkaufsraum stehe. ‚Kann ich vielleicht den Chef sprechen?‘, frage ich. Sie zeigt auf einen Mann im blauen Arbeitsanzug, der auf einer Trittleiter steht und eifrig die Regale mit Erfrischungsgetränken befüllt. ‚Entschuldigen Sie‘, sage ich. ‚Ich arbeite an einem großen Zeichenprojekt und ich wollte Sie fragen, ob ich auf die graue Wand hinter der Reifenpumpe ein paar Kreidelinien zeichnen darf.‘ Er reagiert, als würde er aus allen Wolken fallen. Habe ich etwas Falsches gesagt? Er hat doch gesehen, wie ich dem Fahrer des Elektromobils helfen wollte und kann sich denken, dass ich keine bösen Absichten habe. ‚Sie sind offensichtlich hier, um nach einem Adapter zu fragen‘, sagt er verärgert und schaut zum unglücklichen Elektromobilfahrer herüber, der noch immer mit Ventil und Luftschlauch kämpft. ‚Er wird sich auf die Suche nach einem Fahrradladen oder etwas in der Art machen müssen‘, sagt der Chef kurz angebunden. Warum gibt es auch so viele verschiedene Systeme? frage ich mich. ‚Ich kann Ihnen nicht helfen‘, unterbricht der Chef meinen Gedankengang. ‚Einen Aufsatz für ein Reifenventil haben wir nicht und über die Wand habe


ich nichts zu sagen. Dazu müssen Sie beim Hauptsitz von Aral um Erlaubnis fragen, direkt hier gegenüber.‘ Ich schaue zur anderen Straßenseite und mir rutscht das Herz in die Hose. Da steht ein riesiges Gebäude aus Glas und Beton. Eine modernistische Burg mit Zinnen und Fenstern, durch die man wohl nach draußen, aber nicht ins Innere schauen kann, ein Spiegelpalast, in dem eine Legion von Geschäftsleuten wer weiß was ausheckt; wo keiner im Blick hat, was der andere genau im Schilde führt und es erst recht unmöglich sein wird, die richtige Person zur Erteilung einer Erlaubnis für eine Kreidezeichnung zu finden, oder jemanden, der weiß, wo die Adapter für Reifenventile liegen.
 Als ich nach draußen komme, fährt mir der Elektromobilfahrer hoffnungsvoll entgegen, sein Anhänger lehnt noch mehr nach rechts als vorher. ‚Scheiße, es ist nur noch mehr Luft aus dem Reifen gegangen‘, schimpft er, als ob er schon wüsste, dass ich nichts erreicht habe. ‚Ich frage im Gebäude hier gegenüber, ob sie einen Ventilaufsatz für Sie haben‘, verspreche ich. ‚Bei Aral?‘ ‚Ja, gehen wir zusammen hin.‘ Mutig und unerschrocken überqueren wir die Straße. ‚Wohnen Sie in Bochum?‘, frage ich. ‚Ja, in dem Mehrfamilienhaus hinter der Tankstelle.‘ An der Drehtür des Bürogebäudes erklärt er, dass er lieber draußen


warten will. Also betrete ich das Gebäude alleine.
 ‚Dass der Chef der Tankstelle Ihnen nicht gleich eine Erlaubnis gegeben hat, ist natürlich logisch‘, sagt Marcus, ein flotter Typ, der für die Sicherheit in der Firmenzentrale verantwortlich ist. ‚Die Leute können sich anstellen, und wir wollen alle unseren Job behalten‘, fährt er fort. ‚Haben Sie vielleicht einen Adapter, um ein Fahrradventil an eine Autoreifenpumpe anzuschließen?‘, wechsele ich das Thema. Marcus amüsiert sich köstlich, dass ich ihn nach diesem Kleinod frage. ‚Kommen Sie mal mit‘, sagt er.
 Durch ein Labyrinth von Gängen und Sicherheitstüren begeben wir uns in den Keller des Gebäudes. Ohne langes Suchen holt er den heißbegehrten, kupfernen Aufsatz aus einer stählernen Werkzeugkiste. Beim Abschied frage ich ihn, wie ich nun am besten mit meinem Zeichenvorhaben verfahren soll. ‚Im Grunde gehört die Wand zur Rückseite des Mehrfamilienhauses. Wenn die Bewohner einverstanden sind, haben Sie freie Hand‘, schließt er ab.
 Froh über seine Worte gehe ich durch die Drehtür nach draußen, aber zu meinem Schrecken steht der Fahrer des Elektromobils nicht mehr an der verabredeten Stelle. Verdammt; jetzt, wo ich ihn brauche, ist der Vogel ausgeflogen, fluche ich in mich


hinein. Aber Kopf hoch, als Bewohner des Mehrfamilienhauses wird er mich sicher nicht davon abhalten, auf die Wand zu zeichnen, dafür ist er einfach nicht der Typ, sage ich mir. Plötzlich habe ich es eilig: Es ist schon beinahe Mittag und ich habe noch keinen einzigen Kreidestrich gezogen. Ich betrete den Verkaufsraum der Tankstelle, um dem Chef mitzuteilen, dass die Erlaubnis zum Zeichnen in Sack und Tüten ist. ‚Ich habe die Erlaubnis‘, sage ich. Das ist so nahe an der Wahrheit, dass es überzeugend klinkt. ‚Ich verbiete Ihnen, auf die Wand zu zeichnen‘, reagiert er prompt. ‚Aber gerade haben Sie gesagt, dass ich in der Firmenzentrale gegenüber um Erlaubnis fragen sollte. Das habe ich nach Ihrer Anweisung auch getan…,‘ reagiere ich gekränkt. Er lässt mich nicht ausreden. ‚Nein, ich will das nicht.‘ ‚Neben der Wand steht ein Hochdruckreiniger. Ich verspreche Ihnen, dass ich die Zeichnung selbst entferne, wenn ich fertig bin. Warum stellen Sie sich jetzt quer?‘ ‚Weil ich es nicht will‘, sagt er. Ich habe Lust, ihm zu sagen, was ich von all dem halte, aber mehr als ‚Sie sind ein Quertreiber‘ bringe ich nicht heraus. Frustriert verlasse ich den Laden. Um ein Haar hätte mich dabei ein soeben vollgetanktes Auto erwischt; der Fahrer macht eine wütende Geste und drückt auf die Hupe. Als ob es in einem Land, das sich


jeden Tag für seine Freiheiten lobt, nicht erlaubt wäre, sein Leben aufs Spiel zu setzen, wettere ich zu mir selbst. Ich halte den Ventilaufsatz wie ein Stück Kreide, mit dem nicht gezeichnet werden kann, in meiner Hand fest. Ich gehe zu der grauen Wand und lege es auf die Reifenpumpe. So, wie es sich gehört.


12-06-2019 Als ich in Bochum ankomme, bricht das Unwetter los. Die Stadt wird sauber gespült, bevor ich mich an die Arbeit mache. Auf der Suche nach einem Unterschlupf lande ich vor einem Nachtclub, dessen Fassade im Windschatten liegt. Ein Ort, der mir Schutz vor dem Regen bietet. Ich drücke meinen Rücken unter der Neonreklame Golden Girls tabledance an die Wand und warte, dass der Schauer voreizieht. Menschen mit hochgezogenen Kragen und offenen Regenschirmen hasten vorbei, niemand, der auf mich achtet. Im


strömenden Regen fange ich an, auf die Mauer zu zeichnen.


12-06-2019 Die cremefarbene Backsteinfassade hat eine feine Struktur, sie reflektiert das Licht auf angenehme Weise und die Kreide kommt gut zur Geltung. Es gibt viele Nachtclubs in Bochum, dessen Aussehen sich seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kaum verändert hat. Oberflächlich betrachtet haben diese Clubs etwas verlebtes, entseeltes. Nur dem, der ein Auge dafür hat, fällt ihre Schönheit auf.


12-06-2019 Ich lasse den Kalkrand stehen, der sich am Rand des Zeichenlineals bildet, sodass kleine Rillen entstehen, ein Relief, das Schatten wirft. Es ist eine Art Akkupressur: Konzentration an einer Stelle schaffen. Indem ich hier und dort kleine Flächen wiederhole, versuche ich, ein Viertel zu umspannen.


12-06-2019 Später am Tag weist mich ein Architekt darauf hin, das die Fassade des Nachtclubs geschützt ist. „Vor Jahren hat der Besitzer sie gegen eine sexier aussehende Fassade ausgetauscht und das ist ihm teuer zu stehen gekommen“, sagt der Architekt. „By the way, Ihre Zeichnung erinnert mich an die Flagge von Jasper Johns.“


13-06-2019 Als ich an die Stelle komme, an der ich anfangen wollte, werde ich von der großen Menge an Graffitis weggeblasen. Es gibt fast keine freie Stelle mehr. Auf die Wand sind Namen, Worte, Zeichen und Abkürzungen gesprüht, Tags, die vor allem „I was here“ zu sagen scheinen. Ich werde gelegentlich mit meinen illusteren Vorgängern über einen Kamm geschoren, aber mit meinen Zeichnungen suche ich gerade die Annäherung an die Bewohner. Das ist das genaue


Gegenteil der „Hit-and-run“-Mentalität von „I was here“.


13-06-2019 Eine Bewohnerin führt ihren Zwergpekinesen aus; der kleine Kläffer springt an mit hoch. „Er kennt mich noch von vor drei Jahren, als ich auf die Reklametafel gezeichnet habe“, sage ich. Es ist ein bisschen Spekulation, denn ich bin mir nicht sicher, dass damals ein Zwergpekinese an mir hochgesprungen ist. „Ist das schon wieder drei Jahre her?“, sagt die Frau erstaunt. „Ja“, sage ich und merke, dass ich, wenn ich einen Schwanz hätte, jetzt auch damit wedeln würde.


13-06-2019 “Was Sie mit den Kreidelinien meinen, entgeht mir, aber rechts unten sieht es aus wie Spinnweben“, sagt die Besitzerin des Zwergpekinesen, als Sie vom Spaziergang zurückkommt.


14-06-2019 Indem ich die Zeichnung an der Straßenseite auf den Parkplatz überblende, stelle ich eine Verbindung zum privaten Teil her. Aber kein Lebenszeichen von den Bewohnern, es ist, als würde sich niemand um diesen Ort kümmern.


14-06-2019 Abgesehen von der Begegnung mit der Besitzerin des Zwergpekinesen ereignet sich wenig Sensationelles auf der Rottstraße.


14-06-2019 Graffitisprayer suchen sich Orte aus, die nicht mehr genutzt werden, denn dort können sie ungesehen arbeiten. Für mich sind diese Stellen weniger gut. Meine Zeichnungen kommen erst in dicht besiedelten Gegenden richtig zur Geltung, wo sich nicht vorhersagen lässt, was passiert, wenn man ungefragt anfängt, auf Wände zu zeichnen.


14-06-2019 Bevor ich die Rottstraße verlasse, zeichne ich neben der Reklametafel einen großen, halb offenen Rahmen.


14-06-2019 Es scheint, als würden die Kreidestriche in der Wand verschwinden, um an einer anderen Stelle in der Stadt wieder zum Vorschein zu kommen.


15-06-2019 Eine Fahrradtour durch die Stadt führt mich nach Bochum Hamme, ein dicht besiedeltes Wohnviertel, auf das ich schon voriges Jahr ein Auge geworfen hatte.


15-06-2019 Passanten lächeln, als sie mich bei der Arbeit sehen. An der Subtilität der Kreidelinien und den Entscheidungen in der Zeichnung lässt sich ablesen, dass die Menschen hier nicht so gleichgültig sind wie in der Rottstraße. Ich fühle mich entspannt, als dürfte ich überall zeichnen.


15-06-2019 Etwas weiter entfernt, in der Hermannstraße, zeichne ich ohne auf- oder umzuschauen weiter, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt wäre.


15-06-2019 Mit der Frage anzuklopfen, ob auf dem Wohnhaus mit Kreide gezeichnet werden darf, würde unvermeidlich zu einer Verzögerung des Zeichenprozesses führen, und das wäre Zeitverschwendung, bei den sieben Tagen, die mir noch bleiben.


15-06-2019 Im vorigen Jahr zur selben Zeit stand das lila Fahrrad an genau derselben Stelle. Überall stoße ich auf Fahrräder und für meinen Versuch, die Zeichnungen zu einem Teil der Stadt werden zu lassen, sind das ansprechende Orte.


15-06-2019 Ich werde vom Räuspern eines mürrisch schauenden, alten Mannes aufgeschreckt, der einen ausgeblichenen, blauen Arbeitskittel trägt und mich von der Türöffnung des Wohnhauses aus beobachtet. Ist das Herrmann, der Herr, nach dem die Straße benannt ist?


15-06-2019 “Hermann” verschanzt sich in der Türöffnung und weist, ohne die Zeichnung eines Blickes zu würdigen, auf das Kreidepulver, das auf den Bürgersteig gerieselt ist. Ob ich den „Dreck“ auch selbst wieder aufräume? „Ich schätze, dass mir der Regen heute Abend dabei helfen wird“, sage ich. Er denkt sich seinen Teil und verschwindet wieder im Haus.


16-06-2019 Von der anderen Straßenseite aus schaue ich mir die Zeichnungen an und bin noch lange nicht zufrieden, beschließe aber, es dabei zu belasen; vielleicht bringt der morgige Tag neue Einsichten. Es fällt mir erst jetzt auf, dass sich auf Höhe der Straßenlaterne ein großer Fleck auf der Fassade befindet. Ein Fleck mit demselben Umfang, wie das auf den Bürgersteig gerieselte Kreidepulver. Es hat nicht direkt etwas mit Herrmann zu tun, und doch habe ich das Gefühl, dass er mich darauf hingewiesen hat.


16-06-2019 Am nächsten Morgen sind alle Zeichnungen in der Hermannstraße verschwunden und das ist offensichtlich nicht durch den Regen gekommen, denn dann bleiben winzige Kreideteilchen auf der Wand zurück. Wahrscheinlich hat Herrmann für diesen unerbittlichen Regenschauer gesorgt.


16-06-2019 Die gemütliche Stimmung auf der Straße macht es mir schwer, mich auf das Zeichnen zu konzentrieren. „Es ist Sonntag!“, höre ich jemanden sagen.


16-06-2019 An diesem Sonntag wie aus dem Bilderbuch finde ich eine merkwürdige Art von Entspannung: Ich zeichne bis zum höchsten Punkt, den ich ohne Hilfsmittel erreichen kann; mit meinem Armen über dem Kopf strecke ich mich auf den Zehen so weit wie möglich in die Höhe.


16-06-2019 Die Zeichnung ist zusammen mit den Straßenpfosten und den Bäumen ein Teil der Straße.


17-06-2019 Durch die Anspannung beim Zeichnen, das schöne Wetter und die Tatsache, dass sich niemand um mich kümmert, droht die Straße für mich im Hintergrund zu verschwinden.


17-06-2019 Die weiße Kreide ist ein Kontrast zur kohleschwarzen Vergangenheit dieses Viertels, das übrigens viel wohlhabender ist, als ich dachte.


17-06-2019 Mütter auf Transporträdern mit Kindersitzen und dem dazugehörigen Nachwuchs fahren durch die Straße. Nur ab und zu kommen alte Menschen vorbei, die das Gewicht der industriellen Vergangenheit bei sich tragen; in ihren Augen schwelen die letzten Steinkohlereste.


18-06-2019 Nach einer dreiviertelstündigen Fahrradtour erreiche ich den Rand von Bochum, eine grüne Gegend, in der sich die Universität befindet und wo in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hohe Wohntürme aus Beton gebaut wurden, um den massiven Zustrom von Studenten und Arbeitern aus Süd- und Osteuropa aufzufangen.


18-06-2019 Je länger ich mich hier herumtreibe, desto stärker beschleicht mich das Gefühl, dass ich hier nichts zu suchen habe. Worauf soll ich zeichnen? Der öffentliche Raum ist von Autos in Beschlag genommen, es gibt Parkplätze, Geschäfte, einen Leichtathletikplatz und Grünanlagen mit eingezäunten Freilaufflächen für Hunde. Der funktionale und kontrollierte Charakter dieser Umgebung, in der wirklich alles in Bahnen gelenkt wird, lässt mich beinahe umkehren. Bis ich Im Westenfeld lande, einer gewundenen Dorfstraße mit


gepflegten Reihenhäusern, die zwischen Hochhäusern und einem U-Bahnhof eingeklemmt sind.


18-06-2019 Im Westenfeld sticht ein rot angestrichenes Haus von den anderen ab. Die Farbe ist ungleichmäßig verteilt, wodurch eine Art Flächeneinteilung auf der Fassade entstanden ist.


18-06-2019 In diesem roten Haus wohnt die Familie Tahiri, eine Familie mit zwei Töchtern und einem Sohn. 1992 haben Sie den Kosovo verlassen, um ihr Glück in Bochum zu versuchen. „Deutschland ist gut zum Geldverdienen, aber die Leute kümmern sich nicht wirklich um dich. Damit habe ich meinen Frieden gemacht“, sagt die Frau des Hauses.


18-06-2019 In meinen Gedanken projiziere ich eine Zeichnung auf die rechte Seite, in der Nähe des Fensters. Frau Tahiri schaut mich fragend an. Der Grund für meinen unerwarteten Besuch lässt sich nicht erraten.


18-06-2019 “Es sieht so aus, als hätten Sie irgendwann Briefe auf die Fassade geklebt“, sage ich. „Ich habe Deutsch, Englisch und ein bisschen Französisch gelernt, um hier zurecht zu kommen, aber am meisten hat mir meine Familie im Kosovo geholfen. Wir haben uns oft angerufen und viel geschrieben.“ „Sehen Sie?“, sage ich. „Ihre Korrespondenz lässt sich an der Fassade ablesen.“


18-06-2019 „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich eine Kreidezeichnung auf Ihrem Haus mache, unten rechts beim Küchenfenster?", fragte ich Frau Tahiri. „Eine Kreidezeichnung?", reagiert sie überrascht, aber nicht abwehrend. „Ja, eine Zeichnung, die zu Ihrem Briefwechsel mit Ihrer Familie im Kosovo passt, ein Rahmen, eine Art leeres Blatt Papier.“ Mit meinen Händen deute ich die ungefähre Größe der Zeichnung an. „Ich bin mit dem Fahrrad durch Bochum gestreift, um eine geeignete Stelle zum Zeichnen zu finden. Ihr


Haus hat die poetischste Fassade, die ich gesehen habe", sage ich. „Ich will nicht unhöflich klingen, aber können wir sie wieder abwaschen, wenn uns die Zeichnung nicht gefällt?". Ich nicke und bin froh, dass ich mich an die Arbeit machen darf: "Sobald die Zeichnung fertig ist, gehört Sie Ihnen und Sie können damit machen, was Sie wollen". „Möchten Sie Kaffee?“, fragt Herr Tahiri und betrachtet die Zeichnung. „Sie ähnelt dem linierten Briefpapier, auf dem wir früher geschrieben haben“, sagt er, während er die Bohnen in einer Kaffeemühle aus dem Kosovo mahlt.


19-06-2019 Frau Andrea wohnt gegenüber der Familie aus dem Kosovo und sie ist schon ein paar Mal nach draußen gekommen um zu schauen, was ich im Schilde führe. Mit einem kaum einem Jahr alten Mädchen auf dem Arm beobachtet sie mich bei der Arbeit. Als ich neben den beiden stehe, sagt sie: ‚Ich kann nicht einordnen, was Sie da tun, aber ich finde es schon interessant, weil ich Musiklehrerin in einem Kindergarten bin. Dort wird auch viel mit Kreide gearbeitet. Dieser kleine Racker ist


meine Enkeltochter Mira. Wir zwei sind ein Herz und eine Seele.‘


19-06-2019 ‘Vielleicht wäre es schön, wenn ich die Zeichnung von den Nachbarn gegenüber auf Ihrem Haus fortsetze‘, schlage ich Andrea vorsichtig vor. ‚Hier so‘, sagt sie entschlossen und deutet mit ihrem freien Arm auf die Wand rund um das Küchenfenster, während sie die kleine Mira mit dem anderen Arm fest im Griff hält. ‚Genau so eine Kreidearbeit wie bei den Nachbarn, das ist eine schöne Idee, nicht wahr, Mira?‘ Das kleine Mädchen weist mit ihrem molligen Ärmchen gebieterisch zur Wand. Ich habe keine Wahl mehr.


19-06-2019 Bevor ich mich an die Arbeit mache, versorgt mich Andrea mit einem umfangreichen Mittagessen, das wir gemeinsam in ihrer kleinen, geschmackvoll eingerichteten Küche genießen. ‚Meine beiden Töchter wohnen auch in Bochum‘, erzählt sie. ‚Meine Eltern wohnen ein paar Straßen weiter und mein Sohn sitzt in Frankfurt, kommt aber jedes Wochenende nach Hause. Ich wohne hier mit meinem Mann jetzt schon fast zwanzig Jahre. Man kann es sich kaum vorstellen, aber nach dem Krieg wurde dieses Haus für zwei Familien


gebaut: Eine Familie im Erdgeschoss und eine Familie im ersten Stock. Fast zehn Menschen auf einer Fläche, die so groß ist, wie eine Briefmarke,‘


20-06-2019 Ich arbeite immer mit einem vorgefassten Plan, um Halt an einem Ort zu finden, aber der Prozess des Zeichnens ist unberechenbarer, als die geraden Linien vermuten lassen. Die Umgebung ist konstant in Bewegung: Motorroller, Autos und spielende Kinder sorgen für hohe Dezibelzahlen. Gelegentlich lenkt der Verkehr so ab, dass es mir nicht gelingt, zu zeichnen. Auch wenn es Momente gibt, an denen man eine Kanone abfeuern könnte, ohne dass ich es merken würde.


20-06-2019 Eine kräftig gezogene Linie enthält ungefähr ein Stück Kreide.


20-06-2019 Manchmal frage ich mich, wie viel Kreidepulver ich im Laufe der Jahre eingeatmet habe.


20-06-2019 Es ist eine Überraschung, das auch Nachbar Achim eine Zeichnung auf seinem Haus haben möchte.


20-06-2019 Achim und die Familie Tahiri kommen gut miteinander aus.


20-06-2019 Ein kurzer Regenschauer sorgt für vorrübergehende Panik bei Familie Tahiri. Sie wollen die Zeichnung mit Plastikfolie abdecken, damit sie nicht von der Fassade gespült wird.


20-06-2019 Der Schauer zieht vorbei, aber angesichts der hohen Luftfeuchtigkeit und der hohen Temperatur von vast 30 Grad gibt es heute Abend bestimmt ein Unwetter und dann verschwindet die Zeichnung doch noch.


20-06-2019 So lange es trocken bleibt, ist alles in Ordnung. Andreas Haus bietet eine perfekte Aussicht auf die Arbeit von heute.


21-06-2019 Am nächsten Tag erzählen die Tahiris, dass ihre Nachbarn, eine junge Familie, die mich schon seit zwei Tagen mit Argusaugen beobachtet, sie zu den Kreidezeichnungen ausgefragt haben. ‚Typisch deutsch, dass sie damit zu uns kommen, und nicht direkt zu Ihnen‘, sagt Frau Tahiri. ‚Wir wussten nicht, was wir antworten sollten. Worum geht es bei den Zeichnungen eigentlich?‘, fragt sie. ‚Sie gehören zu einer großen Kreidezeichung, die quer über die Welt verläuft‘, sage ich. Das Ehepaar sieht mich fragend an. ‚Gebäude


haben Wurzeln, genau wie Menschen, und das versuche ich, mit meinen Zeichnungen sichtbar zu machen.‘ Herr Tahiri nickt zustimmend: Warum auch nicht, scheint er zu denken. ‚Aber darf ich fragen, warum Ihr Haus rot ist?‘, frage ich. Er zeigt mir auf seinem Mobiltelefon ein Foto von einem rot lackierten Boot, das offenbar auf einem See im Kossovo treibt. Auf den Bug ist ein schwarzer, doppelköpfiger Adler gemalt. ‚Die Flagge der Kosovaren ist rot, mit einem schwarzen, doppelköpfigen Adler in der Mitte. Einen schwarzen Adler auf mein Haus zu malen ging mir zu weit‘, lacht er spöttisch. ‚Aber die Farbe der Flagge schien mir akzeptabel‘.


21-06-2019 ‘Sie dürfen auch auf unser Haus zeichnen’, sagt Nachbarin Alex aus dem Blauen heraus. Ich werde von Ihrer Einladung etwas überfallen, denn ihr Mann und ihr kleiner Sohn würdigen mich noch immer keines Blickes.


21-06-2019 ‚Eine Zeichnung auf Ihrer gelben Fassade wird weniger gut zu sehen sein, als auf einem roten Hintergrund. Vielleicht wird sie sogar unsichtbar. Darin liegt ein gewisses Risiko‘, sage ich und ich frage mich, ob ich mich über ihre Einladung freue oder oder ob ich mich dagegen sträube. ‚Darf ich fragen, warum Ihr Haus gelb ist?‘ ‚Hinter der Fassade befinden sich Isolierblöcke und durch den Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen entsteht eine Art Blockstruktur auf der Fassade. Wir müssen unser Haus alle paar Jahre neu anstreichen,


sonst sieht es einfach nicht aus. Wir haben uns für gelb entschieden, aber es hätte genauso gut blau sein können.‘, sagt sie.


22-06-2019 Frau Andrea erzählt, dass ihr Großvater im Krieg an der Ostfront war. ‚Er schickte gemalte Briefe nach Hause und führte Tagebuch. Wir haben immer gedacht, dass Opa es seiner künstlerischen Inspiration zu verdanken hat, dass er Schrecken des Krieges überleben konnte.‘ Sie legt einige Briefe aus dieser Zeit auf den Küchentisch. Es sind liebevolle Berichte an Frau und Kinder, aber auch das Leid der Soldaten wird geschildert. ‚Nach dem Krieg hat Opa weiter gemalt, im


Wohnzimmer hängt eine Arbeit von ihm aus dem Jahr 1954.‘


22-06-2019 Wir stehen vor dem Gemälde von Opa, das eine deutsche Alpenlandschaft zeigt. ‚Können Sie auch so malen?‘, fragt Andrea. ‚Das ist sehr schwierig, dazu ist jahrelange Übung nötig. Mein Opa hat auch gemalt. Vielleicht wage ich in einem nächsten Leben einen Versuch‘, sage ich. ‚Kreidelinien sind eher Ihr Ding, was?‘, sagt sie. ‚Vielleicht kann ich etwas auf die Wand zeichnen, um Opas Zeichnung herum.‘ ‚Mit Kreide?‘, fragt sie. ‚Ich glaube schon‘, sage ich. Kurz darauf zeichne ich auf die Wohnzimmerwand. Andrea stellt


sich neben mich und sagt: ‚Die Wolken auf dem Gemälde und die Kreidelinien passen zusammen.‘


22-06-2019 Die Zeichnung in der Graf-Engelbertstraße kommt unter besonderen Umständen zustande. Bewohner Marko spielt Geige bei den Bochumer Symphonikern. Während des Zeichnens stehen die Fenster der Wohnung offen und ich lasse mich von seinem Spiel verführen.


22-06-2019 Marko und seine Frau Nika unterstützen meine Teilnahme an der Bobiennale; die Zeichnung ist eine Danksagung.


23-06-2019 Niemand kann mir sagen, wann der Vogel sich an der Fassade des Hauses Am Alten Stadtpark 68 niedergelassen hat und zu welcher Art er gehört.


23-06-2019 Sein Schnabel ist zu kurz für einen Pelikan. Außerdem haben Pelikane einen ziemlich langen Hals und keine Krallen, sondern Schwimmhäute.


23-06-2019 Pelikane sind ein Symbol für aufopferungsvolle Mutterliebe. Oft werden sie mit einer Wunde auf der Brust dargestellt, die sie sich selbst mit dem Schnabel zugefügt haben, um ihre Jungen mit Blut zu füttern.


23-06-2019 ,Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Pelikan ist. Meine Kinder sind in diesem Haus aufgewachsen und sie haben es nie schlecht gehabt‘, sagt die Bewohnerin.


23-06-2019 Ich betrachte den Vogel und stelle mir vor, wie Bochum im Flug aussieht.



Kolophon Bart Lodewijks – Bochum Drawings Zeichnungen, Text, Fotografie: Bart Lodewijks Redaktion Niederländisch: Danielle van Zuijlen Endredaktion Niederländisch: Lucy de Boer Übersetzung Niederländisch-Deutsch: Katja van Driel Bildbearbeitung: Huig Bartels Design: Roger Willems und Dongyoung Lee Verlag: Roma Publications Dieses Projekt ist Teil von bobiennale festival der freien szene bochum. Auf Einladung von adhoc, galerie januar, Kunstverein Bochum Mit besonderem Dank an Christian Gode, Hugo Koch, Nika und Marco Genero © Bart Lodewijks, 2019




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