Leseprobe - Julia Kleinschmidt - Venus auf Landpartie

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--- LESEPROBE ---

Venus auf Landpartie Sterne l端gen nicht

Julia Kleinschmidt


„[…] Eine spannende und witzige Geschichte, die nah bei der Wirklichkeit bleibt und keine lange Weile aufkommen lässt. Ich habe dieses Buch sehr genossen.“ Severina auf Amazon

„.Eine wunderschöne Liebesgeschichte für Großstadtpflanzen und Landmenschen, bei der Spaß garantiert ist - sehr empfehlenswert.“ A.W. auf Amazon

„[…] Witzig und spannend, mit sympathischen Charakteren. Ich kann das Buch nur weiterempfehlen. “ Katrin F. via E-Mail


Über das Buch Nicole ist 34, erfolgreich und liebt vor allem ihren Job. Landleben erträgt die ehrgeizige Großstadt-Bankerin höchstens beim Ausspannen in einem luxuriösen WellnessTempel. Doch ihr geplanter Trip in die Gesundheitsoase – ein Geschenk ihres Verlobten Axel – verläuft anders als geplant. Bei einem unfreiwilligen Zwischenstopp gibt‘s statt Erholung im Nobelhotel jede Menge Turbulenzen auf dem platten Land. Nicht nur die Suche nach dem kleinen Nik und die „Schnitzeljagd“ nach Ferkel Fredy halten Nicole in Atem. Vor allem der smarte Agraringenieur Hendrik treibt den Puls der Karrierefrau mächtig in die Höhe. Als dann unerwartet auch noch Axel aufkreuzt, steht die Welt der sonst so souveränen Bankerin Kopf ...

Über die Autorin Julia Kleinschmidt, 1972 in Köln geboren, arbeitete jahrelang als Lokalredakteurin bei einer Tageszeitung. In Bonn studierte sie Germanistik, bevor sie nach erfolgreichem Abschluss zum Volontariat nach Ostwestfalen kam – und dort blieb. Während ihrer Elternzeit erfüllte sie sich einen lang gehegten Wunsch und schrieb ihren ersten Roman. Julia Kleinschmidt ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt mit ihrer Familie auf einem Bauernhof. Die Autorin arbeitet heute freiberuflich als Journalistin.


Impressum Venus auf Landpartie (1. Auflage 2014) Autor: Julia Kleinschmidt Lektorat: Iris Bachmeier Covergestaltung: Jasmin Waisburd Bild: © Bigstockphoto.com Copyright © 2014 Roman Verlag http://www.romanverlag.com 207 Taaffe Place, Office 3A Brooklyn, NY11205, USA Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Vervielfältigung des Werkes oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und MarkenschutzGesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Trotz sorgfältigem Lektorat können sich Fehler einschleichen. Autor und Verlag sind deshalb dankbar für diesbezügliche Hinweise. Jegliche Haftung ist ausgeschlossen, alle Rechte bleiben vorbehalten.

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Prolog Gemeinsames Singen stärkt das Wirgefühl. Doch musste es ausgerechnet die italienische Nationalhymne sein? Nicole sah zur Tafel. „Fratelli d’Italia, L’Italia s’è desta …“ Wo sonst Kinderhände ungelenk Sätze wie „Uli trägt einen grünen Pulli“ hinkritzelten, ging es jetzt heroisch zu. Aber Nicole sprach kein Italienisch. Und sie hatte auch keinen blassen Schimmer, warum sie ausgerechnet heute damit anfangen sollte. Ob es den anderen genauso ging? Sie warf einen Blick in die Runde. Wenn ja, ließen es sich die meisten jedenfalls nicht anmerken. Wie selbstverständlich und mit einem Lächeln auf den Lippen wiederholten sie laut, was Klassenlehrerin Frau Rosenbändel ihnen vorsang. Um den Lernprozess zu vereinfachen, fuhr die energische Blondine mit einem altmodischen Zeigestock die Zeilen an der Tafel entlang. Zum Glück hatte sie sich auf eine Strophe beschränkt. Jetzt folgte der Refrain: „Stringiamoci a coòrte …“ Auch Frau Rosenbändel lächelte. Ja, sie strahlte regelrecht, während ihr Zeigestock von Wort zu Wort hüpfte. Dann, endlich, hatte der Stock das Ende der letzten Zeile erreicht. Der Gesang verstummte. Frau Rosenbändel senkte den Arm, seufzte einmal tief und blickte dann zufrieden in die Gesichter der Eltern. „Sehen Sie, meine Lieben, das habe ich vorhin gemeint, als ich sagte: Gemeinsam kann man fast jede Herausforderung meistern. Und so wie Sie sich gerade so wunderbar an diesem italienischen Gesang probiert haben,

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so werden auch Ihre Kinder künftig jede Herausforderung meistern können. Gemeinsam mit uns Lehrkräften.“ Nicole unterdrückte ein Gähnen. Wann kam die gute Frau endlich zum Ende? Zuviel Pathos am Morgen konnte sie nicht vertragen. Wobei: In einem Punkt hatte die Paukerin recht. Die Mütter und Väter hatten eine große Herausforderung gemeistert: Sie saßen – und sangen – seit geraumer Zeit auf Stühlchen, die auf die Größe von Grundschülern abgestimmt waren. Um einem Krampf vorzubeugen, streckte Nicole das rechte Bein ein wenig aus und schlug es über das linke. Dabei fiel ihr Blick auf ihre Fußnägel. Ups, was hatte sie da denn gemacht? Am rechten kleinen Zeh hatte sich eine hässliche verhornte Stelle gebildet. Und sie hatte es nicht gemerkt. Wie peinlich. Und das bei ihren offenen Sandalen! Sie stellte das rechte Bein wieder zurück und schob den Fuß unauffällig ein wenig nach hinten. Da erhielt sie einen Rempler von rechts. „Geht Ihnen das auch immer so?“, wisperte die dralle Rothaarige neben ihr. „Ich hab’ auch ständig Probleme mit Hornhaut und weiß einfach nicht, was ich dagegen tun soll. Und das mitten in der Sandalen-Saison. Eincremen hat jedenfalls nicht geholfen.“ „Probieren Sie’s doch mal mit einem elektrischen Pediküregerät“, flüsterte Nicole zurück. „Wie bitte?“ Die Rothaarige hatte offenbar nicht nur Hornhaut am Fuß, sondern auch Verhärtungen im Gehörgang. „Elektrische Pediküre“, zischte Nicole etwas lauter. Laut genug.

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„Ich merke schon, meine Lieben, Sie werden langsam ungeduldig.“ Frau Rosenbändel hob die Stimme noch ein wenig mehr. Ihr Blick blieb an Nicole haften. Sie hob missbilligend die Brauen. „Störungen dulde ich nicht. Weder von Kindern noch von deren Eltern“, sagte dieser Blick. Doch ihre Stimme blieb freundlich. Sie wandte sich wieder an alle: „So, dann wollen wir Ihre Kinder mal nicht länger auf die Folter spannen. Ich würde sagen, holen Sie nun Ihre Buben und Mädchen herein und wir heißen sie gemeinsam in ihrem neuen Klassenzimmer willkommen.“ Erleichtertes Seufzen begleitete das allgemeine Stühlerücken. Alles strömte zur Tür, um den eigenen Nachwuchs als Erstes ins Klassenzimmer zu führen. Nicole ließ sich etwas Zeit. Das Gedränge war groß genug. Sie fand es überhaupt eine schwachsinnige Idee, am Einschulungstag erst die Eltern in die Klasse zu bitten, während die IDötzchen samt Schultüten draußen auf dem Flur warten mussten. Aber na ja, offenbar regelte das jede Schule anders. Langsam wurde Nicole im Gedränge nach vorne geschoben. An der Tür wartete Frau Rosenbändel. „Na, Frau Lohmanns, die Aufregung hat Sie wohl auch ganz schön ergriffen.“ Erneut traf Nicole ein Blick unter hochgezogenen Brauen. „Wo ist denn Ihr Sohn? Oder ist’s ein Mädel?“ Nicole stutzte. Warum musste sie überlegen? „Ja, ja, ich schaue, wo er, äh, sie steckt“, antwortete sie ausweichend und trat auf den Flur. Hier war das Gewusel noch größer. Zu den Eltern hatten sich noch die rund 25 Erstklässler nebst Geschwisterkindern und diversen anderen Verwandten gesellt. Ein heilloses Durcheinander. Fast ratlos sah sie sich um. Wonach suchte sie hier eigentlich? Oder besser: Wen suchte sie?

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Und wieder hörte sie Frau Rosenbändels Stimme hinter sich. „Alles klar, Frau Lohmanns? Vielleicht ist er bei Ihrem Mann?“ Häh? Moment mal: er? Wieso er? Und wo war ihr Mann? Weg? Durchgebrannt? Mit Kind? Wirre Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie schob sich aus dem Pulk heraus. Sie brauchte unbedingt frische Luft und ging den Flur entlang. „Frau Lohmanns, hallo, was ist denn mit Ihnen? Geht’s Ihnen nicht gut?“ Frau Rosenbändels Stimme tönte wie eine Fanfare durch die Menge. Die Frau nervte nur noch. Nicole musste unbedingt hier weg. Ihr Schritt wurde schneller. Sie begann zu laufen. Der Flur schien kein Ende zu nehmen. Rechts und links Türen, Türen, Türen. Wo ging’s hier hinaus?! Endlich, eine Glastür führte ins Freie. Ein frischer Windhauch blies Nicole ins Gesicht. Tief sog sie die Luft durch die Nase ein. Und wachte auf.

Eine leichte Brise bewegte die Gardinen am geöffneten Schlafzimmerfenster. Die Brise war mild. Die Luft roch nach Sommer und ein wenig nach Regen. Kein Wunder nach dem Unwetter am Nachmittag. Nicole setzte sich im Bett auf und atmete einige Minuten lang ruhig ein und aus. Es war bereits das zweite Mal, dass sie in dieser Nacht aufwachte. Aber was war das denn um Himmels willen für ein Traum gewesen? So etwas hatte sie ewig nicht mehr erlebt. Aber in ihrem Leben war es auch lange nicht so turbulent zugegangen wie in den vergangenen Wochen. Einschulungstag, so ein Käse! Sie hatte doch gar keine Kinder. Und ihren Kerl hatte sie auch noch gesucht! Lautes Schnarchen verriet, dass es wirklich nur ein Traum gewesen

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war. Nicole drehte sich zur Seite. Zärtlich fuhr sie mit der Hand durch das Haar, das unter der Decke hervorlugte. Tatsächlich. Er hatte sich eingemummelt bis zur Nasenspitze. Und das bei den Temperaturen! Das Schnarchen ging in ein zufriedenes Grunzen über. Nicole lächelte und wandte ihren Kopf dem Nachttisch zu. 4.30 Uhr zeigte der kleine Wecker an. Noch hatte sie ein bisschen Zeit. Sie ließ sich ins Kissen zurücksinken, gähnte herzhaft und schloss die Augen. Minuten später schlief sie tief und fest.

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Kapitel 1 „Großartig, Nicole, Sie waren einfach wieder großartig! Was täten wir nur ohne Sie?“ Dr. Heinrich Tietzbrink strahlte über das ganze Gesicht. Und das wollte etwas heißen. Der Endfünfziger zählte körperlich nicht zu den Größten, was er durch mehr Masse allerdings spielend ausglich. Jetzt leuchteten seine Augen, die Wangen hatten sich tief rot verfärbt, und Freude und Julihitze gleichermaßen trieben ihm die Schweißperlen auf die Stirn. Kein Wunder. Der gelungene Vertragsabschluss mit der Hamburger Reederei bescherte dem privaten Bankhaus – und damit natürlich vor allem seinem Boss Dr. Heinrich Tietzbrink – unterm Strich bares Geld. Nicole setzte ein bescheidenes Lächeln auf. Dabei wusste sie genau, dass das gute Geschäft maßgeblich ihr Verdienst war. „Ich bitte Sie, Dr. Tietzbrink“, sagte sie und strich sich charmant und nur scheinbar verlegen eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr, „ich habe doch nur meinen Job gemacht.“ „Ach, Frau Lohmanns, wenn alle meine Mitarbeiter ihre Aufgaben so engagiert erledigen würden wie Sie.“ Seit mehr als einer Minute schüttelte er ihr schon die Hand, als wolle er sie nicht mehr loslassen. Geschmeichelt hatte Nicole ihn gewähren lassen, doch jetzt reichte es. „Wie gesagt, ich habe einfach nur meinen Job gemacht, und den mache ich, wie Sie wissen, sehr gerne“, betonte sie und befreite ihre Rechte – immer noch bescheiden lächelnd – mit sanftem Nachdruck aus seiner verschwitzten Klaue.

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„Ja, ja, ich weiß, ich weiß, und darum will ich Sie auch nicht mehr länger von ihrem wohlverdienten Feierabend fernhalten. Sie werden sicherlich etwas Schönes vorhaben, gerade bei diesem Traumwetter.“ Noch einmal schickte der Bankenboss sein Strahlen zu Nicole hinauf und heizte die Temperatur auf dem Flur damit um gefühlte weitere drei Grad an. Dann schritt er in seinem maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug rasch von dannen und verschwand hinter der dick gepolsterten Tür seines Chefbüros. „Puh, geschafft.“ Nicole verharrte noch einen Moment, atmete tief durch und rieb verstohlen ihre rechte Hand am Rock ihres Kostüms trocken. Im Grunde war ihr Boss ein feiner Kerl, doch seine Gefühlsausbrüche waren im ganzen Haus berüchtigt – so oder so. Nur, dass sie zumeist die Sonnenseite abbekam. Wenn Tietzbrink einen Mitarbeiter bei einer Nachlässigkeit erwischte, konnte er fürchterlich wütend werden. Nicole verkniff sich ein Grinsen, als sie an Tietzbrinks frühere Sekretärin Gisela dachte, inzwischen im Ruhestand. Die Arme hatte versehentlich wichtige Inhalte einer Geschäftsvorlage an einen Mitbewerber gefaxt statt an den Kunden – und dem Boss damit beinahe ein Riesengeschäft vermasselt. Trotz gepolsterter Türen war Tietzbrinks Gebrüll nahezu im ganzen Haus zu hören gewesen. Doch jetzt war wirklich Zeit für den Feierabend. Die Verhandlungen mit der Reederei waren langwierig gewesen, aber letztlich hatten sich Ausdauer und Engagement ausgezahlt. Das Unternehmen gab Nicoles Finanzierungsangebot für die dringend notwendigen Neuinvestitionen den Vorzug, die Mitbewerber schauten in die Röhre. Das musste gefeiert werden. Nicole schritt den Flur hinab zum Aufzug. Während sie wartete, bis sich die Türen öffneten, warf sie einen Blick in den Spiegel an der

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Wand. Ihre dunklen, langen Haare hatte sie im Nacken zu einem schlichten Zopf zusammengebunden. Mit ihrem dezenten beigen Kostüm und den passenden Pumps – natürlich nicht zu hoch – trug sie ein ihrem Job entsprechendes Outfit. Das schlichte Make-up und die kleinen Perlenohrringe unterstrichen ihre elegante Erscheinung. Natürlich ging’s in der Businesswelt in erster Linie um Kompetenz, doch im Lotterlook gab’s hier nun einmal keinen Blumentopf zu gewinnen. Die Türen des Aufzugs öffneten sich und Nicole trat ein. Sie wählte das Erdgeschoss, und mit einem leisen Surren schlossen die Türen wieder. Kaum merklich ging es abwärts. Nicoles Blick wanderte zu der kleinen Aktentasche, die unter ihrem linken Arm klemmte. Sie hatte zum Glück alle wichtigen Unterlagen dabei, das ersparte ihr einen erneuten Gang in ihr Büro und somit auch den möglichen Kontakt mit einigen Kollegen. Nicht, dass das Betriebsklima im Hause schlecht gewesen wäre. Doch überall wurde mit harten Bandagen gekämpft, und sie hatte einfach keine Lust auf den neidischen Blick so manch ehrgeizigen Nachwuchsbankers. Denn dass Nicole zum Chef zitiert worden war und warum, hatte natürlich längst die Runde gemacht. Mit einem sanften Ruck blieb der Aufzug stehen, die Türen öffneten sich und Nicole betrat die Eingangshalle. Hier herrschte trotz reger Geschäftigkeit eine gedämpfte Geräuschkulisse. Dicker Teppich, elegantes Mobiliar; kleine Sitzecken luden die Kunden zum Verweilen ein, bis sie von ihren Beratern in die Büros gebeten wurden. Gediegen, das war das Stichwort. Nicole sog die Luft durch die Nase ein und musste ein wenig grinsen. Hier konnte man das Geld buchstäblich riechen. Und das trotz Finanzkrise. Denn während viele Großbanken weltweit auf das schnelle Geld mit riesigen Gewinnen gesetzt hatten, hielt das private

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Geldinstitut an seiner Jahrzehnte bewährten konservativen Marschroute fest. Und das zahlte sich jetzt aus. Die meisten

Kunden haben ohnehin so viel Kohle, dass sie auf den schnellen Gewinn gar nicht angewiesen sind, dachte Nicole und wandte sich zielstrebig dem Ausgang zu. Draußen brannte die Julisonne vom wolkenlos blauen Himmel – obwohl man den zwischen den hohen Häuserzeilen des Geschäfts- und Bankenviertels kaum zu sehen bekam. Es sei denn, man verrenkte sich den Hals. Die akkurat bepflanzten Blumenrabatten sorgten zwischen so viel Beton für ein paar bunte Farbtupfer, doch auch sie konnten nicht verhindern, dass sich die Hitze zwischen den Blöcken beinahe unerträglich staute. Rasch schritt Nicole die Straße entlang, bog einmal rechts um die Ecke und erreichte bald den Eingang zum Parkhaus, wo sie ihren kleinen Cityflitzer untergebracht hatte. Sie schloss die Fahrertür auf, setzte sich hinters Lenkrad und legte ihre Aktentasche auf den Beifahrersitz. Kaum dass sie mit ihrem Wagen beim Herausfahren die Schranke passiert hatte, ließ sie das Verdeck zurückklappen. „Es geht doch nichts über oben ohne“, freute sie sich und steuerte den Wagen stadtauswärts. Nach einen guten Viertelstunde bog sie in die Tiefgarage ein und stellte den Wagen auf ihren Parkplatz. Mit dem Aufzug ging’s hinauf in die vierte Etage: Dachgeschoss. Es dauerte einen kurzen Moment, bis Nicole den Wohnungsschlüssel in der Tasche entdeckte. Er hatte sich in einer kleinen Falte versteckt. Dann schloss sie auf und ließ die Tür sacht hinter sich in Schloss fallen. Angenehme Kühle empfing sie. Die Klimaanlage hatte ganze Arbeit geleistet. Unterm Dach wäre die Hitze im Sommer sonst kaum auszuhalten gewesen. Nicole schlüpfte aufatmend aus ihren Pumps, hängte ihren Blazer an die Garderobe und legte die Tasche ab. Dann entledigte sie sich

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noch schnell ihrer Nylonstrümpfe und trat barfuß ins Wohnzimmer. Durch die Terrassentür und das große Fenster flutete das Sonnenlicht herein. Auf zu viel Mobiliar hatte Nicole nicht nur im Wohnzimmer, sondern in der gesamten Wohnung verzichtet. Eine Couchecke mit Tisch, zwei kleine Schränke, ein Sideboard – das war’s. Dennoch wirkte der Raum nicht kahl. Die in einem zarten Gelbton getünchten Wände und der helle Parkettboden mit zwei kleinen Teppichen sorgten für wohnliche Atmosphäre. Nicole öffnete die Terrassentür und ging hinaus. Die Dachterrasse war nicht riesig, aber sie verriet Nicoles guten Geschmack. In Tongefäßen versprühten Oleander, Jasmin und ein kleines Olivenbäumchen mediterranes Flair. In einer Ecke luden zwei Stühlchen und ein kleiner Tisch ein, dort lange Sommerabende zu genießen. Nicole trat über die terrakottafarbenen Fliesen an die Brüstung, atmete tief durch und genoss den Blick auf die Stadt. Es war eine ruhige Straße, in der Nicole wohnte. Gepflegte Mehrfamilienhäuser, vorwiegend mit Eigentumswohnungen, prägten das Bild. Und doch schlug das Herz der Großstadt nur wenige Autominuten entfernt. Und das war genau das, was Nicole liebte. Sicher zog sie sich am Abend gern ein wenig von Großstadtlärm und Hektik zurück. Doch auf das pulsierende Stadtleben mit seinen Geschäften, auf das Treiben in Cafés, Bars und Restaurants wollte sie nicht verzichten. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer warf Nicole einen Blick auf ihren Anrufbeantworter. Ein rotes Lämpchen blinkte. Das war bestimmt Axel. Und richtig, als Nicole die Wiedergabetaste drückte, erklang Axels markante Stimme im Raum: „Hallo, mein Engel! Wo steckst du denn? Ich schau’

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nachher bei dir vorbei. Ich habe eine Überraschung für dich!“

Typisch, dachte Nicole und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Der Anruf war um kurz vor fünf eingegangen, jetzt war es halb sechs. Und wenn Axel „nachher“ meinte, konnte es sich nur noch um Minuten handeln, bis er vor der Tür stand. Bingo. Nicole hatte sich im Bad gerade ein wenig frisch gemacht und sich in der Küche ein Glas Wasser eingegossen, als es an der Tür schellte. „Ich bin’s, mein Engel“, quakte Axels Stimme durch die Sprechanlage. Nicole drückte den Türöffner. Kurz darauf hielt der Aufzug in der vierten Etage, und Axel steuerte zielstrebig auf Nicole zu, die ihn an der geöffneten Wohnungstür empfing. „Hallo, mein Engel!“ Axel Gutsohn, 39, sah aus, wie man sich einen erfolgreichen Manager in der Werbebranche vorstellte. Groß, schlank, gepflegt. Seine Haut zeigte eine gesunde Bräune, und angesichts der Hitze draußen fiel gar nicht auf, dass er mit regelmäßigen Sonnenbankbesuchen nachhalf. Das dunkelbraune Haar trug er kurz geschnitten, sein Dreitagebart verlieh ihm eine verwegene Note. Doch der erste Eindruck täuschte. Axel war kein Werbemann. Erfolgreich ja, allerdings als Boss eines renommierten Bauunternehmens. Axels Eltern hatten die florierende Firma aufgebaut, und Betriebswirt Axel mit seinem exzellenten Händchen fürs Geschäft schickte sich an, die erfolgreiche Unternehmensgeschichte fortzusetzen. Edeltraut und Maximilian Gutsohn, seine Eltern, hatten inzwischen solches Vertrauen in das unternehmerische Geschick ihres einzigen Sprösslings, dass sie sich weitgehend aus den Geschäften zurückgezogen hatten. Stattdessen genossen sie die Früchte ihrer harten Arbeit; zurzeit befanden sie sich auf einer Kreuzfahrt in der Karibik.

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„Mein Engel“, wiederholte Axel, stieß mit einem Fuß die Wohnungstür hinter sich zu, drückte Nicole fest an sich und umgab sie mit einer Wolke seines intensiven Rasierwassers. Seine Hände glitten sanft an Taille und Hüfte seiner Freundin hinab. „Ich wusste, dass du die Beste bist“, flüsterte er ihr ins Ohr. Dann schob er sie ein Stück von sich weg, sah ihr in die Augen und grinste: „Dein Verhandlungsgeschick ist erste Sahne. Ich sag ja immer: Wenn du von deiner Bankerei mal die Nase voll hast, komm zu mir in die Firma. Wir wären ein unschlagbares Team. Wobei, das sind wir ja ohnehin schon“, ergänzte er und klapste Nicole mit der rechten Hand auf den Po. „Hey, wir sind hier nicht auf einer deiner Baustellen.“ Mit gespielter Empörung wehrte sich Nicole gegen diese Art der Liebkosung, gleichwohl wissend, dass dies für Axel typisch war. Sie gingen durchs Wohnzimmer und hinaus auf die Terrasse. „Ach, es ist doch immer wieder schön bei dir.“ Axel reckte sich genüsslich. „Das klingt fast so, als ob du in einem Ein-ZimmerApartment im Souterrain hausen würdest, ohne Balkon und Garten“, lästerte Nicole und dachte an Axels schicken EdelBungalow mit Pool und Sauna am Stadtrand. Den hatten die Arbeiter – natürlich größtenteils eigene Beschäftigte – innerhalb kürzester Zeit hochgezogen. Überwiegend schwarz, versteht sich. „Nichts gegen mein bescheidenes Eigenheim, aber deine Wohnung hat was. Sie hat Stil, genau wie du“, grinste Axel und drückte sie wieder an sich, seine Hände suchten den Reißverschluss ihres Rocks. „Hey, langsam, Freundchen“, lachend wehrte Nicole ihn ab. „Erstens habe ich jetzt einen

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Bärenhunger und zweitens hast du eine Überraschung angekündigt, schon vergessen?“ „Aber nein, mein Engel. Dein Wunsch sei mir Befehl. Ich habe übrigens bei Alonso für uns etwas Schnuckeliges zu essen bestellt.“ – er warf einen Blick auf seine Armbanduhr – „Müsste bald hier sein. Und sobald wir uns gestärkt haben, sage ich dir, was ich für dich habe.“ Es klingelte an der Tür. „Ich gehe schon, Engel. Such du uns doch inzwischen ein schönes Fläschchen Wein raus“, sagte Axel und ging in die Wohnung. Nicole folgte ihm, schlüpfte an der Garderobe in ein Paar offene Sandaletten und ging in die Küche. Im Kühlschrank lagerten noch drei Flaschen guter Rotwein. „Mist, natürlich viel zu kalt“, murmelte sie. Na, egal, bei der Wärme draußen hatte der Rebensaft sicher schnell die gewünschte Temperatur. Sie griff in einer Schublade nach dem Korkenzieher, öffnete die Flasche und stellte sie in einen Messinghalter. Zusammen mit dem Wein packte sie Besteck, Servietten und Gläser auf ein Tablett und stellte es auf den kleinen Tisch auf dem Balkon. An der Wohnungstür hörte sie Axel mit dem Mann vom Bringdienst palavern. Dann fiel die Tür ins Schloss, und Axel kam mit einer riesigen Tüte nach draußen, gefüllt mit jeder Menge kleiner Schachteln, aus denen es verführerisch duftete. Nicole warf einen Blick auf die große Tüte, ging dann noch einmal hinein und kam mit einem klappbaren Beistelltisch zurück. „So, jetzt haben wir Platz.“ Sie deckte den Tisch, während Axel die zahlreichen Schachteln aus der Tüte auf dem Klapptisch ausbreitete. „Mmh, wie das duftet!“ Nicole ließ sich seufzend auf einen der beiden Stühle fallen und betrachtete beinahe andächtig die italienischen Köstlichkeiten. Bruschetta, knuspriges Pizzabrot, Melone mit Schinken, Tomate mit Mozzarella und

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Basilikum ... „Alonso“ war keiner der üblichen Pizzabringdienste, wie es sie in jeder Stadt zuhauf gab: Zwei Salate und zehn Pizzen auf der Karte, und dabei musste man immer noch damit rechnen, dass die Pizza kalt ankam. Und wer Pech hatte, bei dem klebte zudem beim Öffnen des Kartons die Hälfte des Pizzabelags am Deckel. „Da Alonso“ war ein Edel-Italiener mit exklusiver Küche, die er auf Wunsch auch nach Hause bringen ließ. Das hatte natürlich seinen Preis. Aber für Axel spielte das keine Rolle. Er lebte, um Geld zu verdienen und erfolgreich zu sein, und damit natürlich auch seinen exklusiven Lebensstil zu finanzieren. Und wenn Axel eines konnte, dann war es Geld machen. Nicht nur, dass er über großes unternehmerisches Geschick verfügte, dank seiner jovialen Art konnte er selbst bei großem Konkurrenzdruck immer wieder Auftraggeber und Geschäftspartner ins Boot holen. Und Nicole war in Axels Augen das ideale weibliche Gegenstück: eine ehrgeizige, erfolgreiche Frau, die außerdem noch blendend aussah. Nicht unwichtig für einen Mann, der seinen Wohlstand und Erfolg gerne nach außen zeigte. Nicole hatte sich die ersten Bissen genussvoll auf der Zunge zergehen lassen. Sie legte Gabel und Messer beiseite und lehnte sich im Stuhl zurück. „Jetzt geht es mir wesentlich besser!“ „Na, das klingt ja gerade so, als ob es dir vorher schlecht gegangen wäre“, grinste Axel. „Aber bei dem Deal, den du dem alten Tietzbrink beschert hast, ist das doch wohl kaum möglich.“ Axel hob sein Glas und prostete Nicole zu. „Mein Engel, ich bin stolz auf dich! Du bist die großartigste Frau, die mir je begegnet ist. Und so viel Geschäftstüchtigkeit und Engagement sollte man belohnen.“ Er griff nach seinem Jackett, das er über die Stuhllehne gehängt hatte, und zog

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aus der Innentasche einen Umschlag hervor. „Hier, mein Engel, das ist meine kleine Überraschung für dich. Ich hoffe, du freust dich.“ Und er reichte ihr das Kuvert über den Tisch. Neugierig öffnete Nicole den Umschlag und zog eine Karte heraus. „Gutschein“ stand obendrauf. „Hey, du bist ja verrückt“, freute sich Nicole, nachdem sie den Text überflogen hatte. Es war ein Gutschein über eine Woche in einem Wellnesshotel in Norddeutschland. „Du wirst staunen. Von Yogi-Tee über Massagen, Sauna und Whirlpool bis hin zu Moorbädern kannst du dir dort alles aussuchen. Es ist das ultimative All-inclusive-Verwöhn- und Relaxprogramm. Das hast du dir verdient, mein Engel. Und der Laden ist wirklich spitze. Ich hab den Tipp von einem Geschäftspartner bekommen. Der ist regelmäßig dort.“ „Landschlösschen“, las Nicole laut den Namen vor. „Keine Sorge, Engel“, grinste Axel, der Nicoles Abneigung gegen zu viel „Gegend“ gut kannte. „Dieser Luxustempel liegt zwar sehr ländlich, aber du brauchst keine Angst zu haben, dass du morgens als Erstes einen langen Spaziergang über einsame Wiesen und Felder machen musst, umhüllt vom zarten Duft frisch abgelegter Kuhfladen. Im Schlösschen wird dir so viel geboten, du brauchst das Haus gar nicht groß zu verlassen. Es gibt sogar eine kleine Bar und ein Restaurant dort. Für den Fall, dass du mal lieber ein Viertel Roten schlürfen möchtest statt Yogi-Tee. Und wenn’s dich doch nach Frischluft dürstet, gibt’s hinterm Haus eine herrliche Terrasse mit angrenzendem Pool.“ „Na, dann“, schmunzelte Nicole. „Aber warum hast du nur für eine Person gebucht? Kommst du nicht mit?“

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„Ich würde gerne“, entgegnete Axel mit echtem Bedauern in der Stimme, „aber ich habe im Moment so viel um die Ohren; außerdem läuft die Ausschreibung für den Bau der Rathauserweiterung bald aus. Da müssen wir noch an unserem Angebot feilen. Aber vielleicht kann ich mir ja ein oder zwei Tage freinehmen.“ Nicole sah sich bereits entspannt auf einer Massageliege, von kräftigen Männerhänden durchgeknetet, da zuckte sie zusammen: „Mensch, ich habe doch noch gar keinen Urlaub!“ „Na, hör mal, Engel. Der alte Geldsack wird ja wohl kein Problem damit haben, dir kurzfristig ein paar Tage freizugeben, nach allem, was du gerade erst wieder für seine Firma geleistet hast.“ „Könnte schon sein, ansonsten müsste ich die Fahrt auf später verschieben.“ „Ach was, das wird schon klappen. Und jetzt im Sommer ist das Ausspannen doch am schönsten. So, und darauf trinken wir jetzt einen.“ Erneut griff er zum Glas und stieß mit Nicole an. „Du könntest doch auf dem Weg auch mal bei deinen Eltern vorbeischauen“, meinte Axel nach einiger Zeit der Stille, in der beide mit Genuss aßen. „Soweit ich weiß, liegt das fast auf der Strecke. Und wohnt deine Schwester nicht auch dort?“ „Ja, du hast recht, das wäre gar nicht verkehrt. Sobald ich mit Tietzbrink wegen des Urlaubs verhandelt habe, werde ich mal bei ihnen durchklingeln.“ „Tu’ das. Aber jetzt genug der Worte.“ Axel legte das Besteck beiseite, schob seinen Teller zurück und stand auf. Er ging um den Tisch herum und zog Nicole von ihrem Stuhl hoch. Dann drückte er sie fest an sich und flüsterte ihr ins

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Ohr: „Es gibt da noch ganz andere wichtige Dinge, die ich jetzt unbedingt sofort klären möchte.“ Langsam schob er sie über die Türschwelle zurück ins Wohnzimmer. Dort tastete er sich zum Reißverschluss ihres Rocks vor und begann ihn zu öffnen. „Und das wäre?“, fragte Nicole leise, während sich eine wohlige Gänsehaut über ihren ganzen Körper auszubreiten begann. „Trägst du was Schwarzes oder was Helles drunter …?“

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Kapitel 2 Nicoles Blick schweifte zu der langsam dahinkriechenden Blechkarawane, die sich nur etwa 50 Meter von ihr entfernt über die Autobahn gen Norden quälte. Unglaublich, es war doch jedes Jahr das Gleiche. Die großen Ferien hatten just begonnen, da quetschten sich ganze Familien mit Kind und Kegel in die Autos. Sie waren vollgepackt mit Koffern und Taschen, und das Heck des Wagens schwebte nur wenig über dem Asphalt. Bei diesem Anblick drängte sich die Frage nach dem zulässigen Gesamtgewicht förmlich auf. Und kaum hatte sich die Vorfreude auf sonnige Strände, Meer und Sandburgen so richtig ausgebreitet – soweit sie in den überfüllten Benzinkutschen überhaupt noch Platz fand –, beendete ein Stau abrupt den Urlaub. Normalerweise rief dieses fast schon rituelle Urlaubsverhalten bei Nicole nur verständnisloses, nein, mitleidiges Staunen hervor. Sie flog lieber. Und die Hauptferienzeit mied sie sowieso. Doch an diesem Tag sorgte der Megastau bei ihr für Ärger, denn bis soeben hatte Nicole mittendrin gestanden. Es war Samstagnachmittag, und sie war auf dem Weg zu ihrer Familie in Niedersachsen. Das heißt, eigentlich wollte sie seit zwei Stunden dort sein. Doch gerade jenes beschriebene Urlaubsphänomen war der Grund, dass sie erst mal eine Pause eingelegt hatte. Unter normalen Umständen schaffte sie die rund 450 Kilometer lange Strecke in gut viereinhalb Stunden – und ohne Pause. Doch das ständige Stop-and-go zermürbte. An der nächsten Raststätte

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hatte sie angehalten, getankt und sich erst einmal einen starken Kaffee besorgt. Jetzt stand sie auf dem Parkplatz an die Beifahrertür ihres Wagens gelehnt, den Pappbecher aus dem Tankstellenshop in der rechten Hand. Sie betrachtete den blechernen Bandwurm, der kein Ende zu nehmen schien. „Dass auch immer alle zur gleichen Zeit loseiern müssen“, seufzte sie und nippte an ihrem Kaffee. Nach Essen war ihr im Moment gar nicht zumute. Ganz anders im Wagen nebenan. Dort nahm ein älteres Ehepaar gerade einen ausgiebigen Imbiss ein, vielleicht das verspätete Mittagessen. Soweit Nicole erkennen konnte, hatten die Senioren nicht nur reichlich Kartoffelsalat und Frikadellen eingepackt. In den verschiedenen Tupperdosen lagen auch hart gekochte Eier, belegte Brote und Gürkchen. Und das Armaturenbrett zierte eine Tube Senf. Na denn, Mahlzeit. Ein Auto weiter trompetete ein dunkelhaariger Machotyp lautstark in sein Handy. Durch das geöffnete Seitenfenster ließ er nicht nur seinen Gesprächspartner oder seine Gesprächspartnerin, sondern auch die Umstehenden wissen, dass er alle Autofahrer – sich selbst ausgenommen – für das herrschende Verkehrschaos verantwortlich machte. Er bezeichnete sie als „Idioten und Penner“. Und natürlich sei er der Einzige weit und breit, der überhaupt richtig Autofahren konnte ... Während der Kerl sich immer weiter in Rage redete, fuchtelte er mit der rechten Hand wild in der Luft herum, als habe er eine lästige Fliege im Auto. Ein Stück weit entfernt tobten zwei Kinder unter den wachsamen Augen ihrer Eltern mit einem Dackel über ein Rasenstück. Papa und Mama nutzten ihr „Pinkelpäuschen“ zudem, um den Zustand des Gepäcks im und auf dem Wagen zu kontrollieren. Keine schlechte Idee, bei der Beladung, überlegte Nicole. Gegenüber auf den Busparkplätzen hatte soeben ein Reisebus gehalten. Er voll

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mit Fußballfans, wie man an den Trikots eines norddeutschen Vereins unschwer erkennen konnte. Und offensichtlich waren die Anhänger sehr siegessicher. Die strahlenden Gesichter in dem feuchtfröhlichen Fanpulk, der sich nach und nach aus den Türen zwängte und gen Toilettenhäuschen strebte, sprachen Bände. „Hey, Deern, Lust auf’n Bier?“ Ein junger Mann, über dessen Bauch das Vereinstrikot deutlich spannte, hatte Nicoles Blick offenbar missverstanden und winkte ihr fröhlich zu. Nee, das fehlte mir jetzt gerade noch, dachte Nicole, trank seufzend ihren Becher aus, zerknüllte ihn und warf ihn in den nächsten Papierkorb. Dann setzte sich wieder hinters Steuer. Zu ihren Eltern war es nicht mehr weit, unter normalen Umständen vielleicht noch eine halbe Stunde. Beim Zurücksetzen warf sie einen letzten Blick auf das Ehepaar im Wagen nebenan. Satt und zufrieden sahen die beiden aus. Salat und Butterbrote waren verspeist, und auch die Senftube hatte der ältere Herr jetzt weggenommen, sicherheitshalber. Vielleicht, weil er nicht wusste, wie sich die starke Sonneneinstrahlung auf die Haltbarkeit des Tubeninhalts auswirken würde?! Mit einem Schmunzeln reihte sich Nicole wieder in die Blechlawine ein. Die beiden Herrschaften hatten sie an ihre Eltern erinnert. Vor allem an die Zeiten, als Vater und Mutter noch mit Nicole und ihrer kleinen Schwester Sandra gemeinsam in den Urlaub gefahren waren; zumeist in die Berge, denn plattes Land gab’s zu Hause genug. Der Kombi von Friedhart Lohmanns war ebenso vollgepackt gewesen wie die Wagen all der anderen Urlauber, die sich gerade mit Nicole über die Autobahn quälten. Gut, dass Vater zwei Außenspiegel am Wagen gehabt hatte, denn durch die

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Heckscheibe war kein Blick mehr möglich gewesen. Koffer, Taschen und Tüten stapelten sich bis unter die Decke. Jedes Mal hatte das Beladen des Wagens beinahe zu einem Riesenkrach geführt. Friedhart war stets der Meinung, die Hälfte des Gepäcks sei überflüssig. Eine Behauptung, der Mutter Rosalind heftig widersprach. Schließlich könne man ja nie wissen, wie das Wetter im Urlaub werden würde. Man müsse ja auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Und überhaupt: „Wenn irgendwas fehlt, dann sagst du immer: ‚Warum hast du’s nicht eingepackt?‘“, war die Standardantwort der Mutter. Das sei ja wohl etwas ganz anderes, moserte Friedhart dann zurück. Schließlich und endlich gelang es aber doch immer wieder, das ganze Gepäck im Wagen unterzubringen. Den Vogel abgeschossen hatte allerdings einmal Nicoles Schwester Sandra: Weil sie kurzfristig keine Urlaubsbetreuung für ihre beiden Goldfische gefunden hatte, stand sie am Reisetag mit einem Einmachglas in der Hand vor dem Auto. Das Gefäß war mit einer durchlöcherten Zellophanfolie abgedeckt. Vater Friedhart bekam fast einen Tobsuchtsanfall. Schließlich fuhren die Goldfische aber doch mit. Übrigens ihre erste und letzte Reise; sie wurden wohl durch das Geschaukel im Auto seekrank und gingen wenig später ein. Lautes Hupen ließ Nicole erschrocken zusammenfahren. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass es kurzzeitig zügiger voranging, vor ihr klaffte eine große Lücke in der Kolonne. Sie hob entschuldigend die Hand und schloss wieder zu ihrem Vordermann auf. Ja, es war eine typisch gutbürgerliche Familienidylle, die ihre Kindheit geprägt hatte. Und als sie klein war, hatte sie das alles geliebt: das hübsche Einfamilienhaus, den gepflegten Garten mit Schaukel und Klettergerüst, den üppigen grünen Rasen, den der Vater samstags mähte. Felder und Wiesen umschlossen das kleine

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Städtchen, im Sommer sahen die Kinder den Bauern bei der Ernte zu, im Herbst machten sie auf den Feldern „Stoppelschlachten“. Ihr Vater hatte einen gehobenen Job in der Stadtverwaltung, ihre Mutter blieb der Kinder wegen zu Hause, kümmerte sich neben dem Wohle ihrer Sprösslinge um Haus und Garten. Ja, sie und ihre Schwester hatten es sehr gut gehabt, und noch heute blickte Nicole voller Dankbarkeit auf dieses Elternhaus. Doch es war der Tag gekommen, als sie dieser Idylle einfach überdrüssig wurde. Sie wollte raus, mehr erleben, mehr sehen. Sie wollte in die großen Städte, dort, wo das Leben brodelte und vor allem die jungen Menschen lockte. Das laute Hupen ihres Hintermannes unterbrach Nicoles Gedanken erneut. „Ja, ja, ist ja schon gut!“, murmelte sie, während der Typ hinter ihr wild gestikulierte. Ach, das war doch der Handy-Macho von vorhin. Klar, jetzt fühlte er sich in seiner Einschätzung über andere Autofahrer bestätigt. Egal. Trotzdem, Nicole beschloss, sich jetzt doch ausschließlich auf den Verkehr zu konzentrieren, damit sie nicht auf den letzten Metern auch noch einen Unfall baute. Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Je näher ihr Heimatstädtchen rückte, umso mehr begann es in ihrem Bauch zu kribbeln. Seit Weihnachten hatte sie ihre Familie nicht gesehen, sie freute sich auf ihre Lieben. Und für ein, zwei Tage ließ sich das gutbürgerliche Idyll sicher ertragen. Außerdem war ihre Mutter eine exzellente Köchin und hatte anlässlich des Besuchs ihrer Ältesten sicherlich etwas Gutes gezaubert. Klar, Kartoffelsalat mit Würstchen und Senf, dachte Nicole.

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